1.1 Hintergrund der Arbeit

Der Stellenwert der Trigonometrie in den Kernlehrplänen der Sekundarstufe I und II variiert deutlich in den unterschiedlichen Bundesländern. In Nordrhein-Westfalen reicht es beispielsweise, die Ableitung der Sinusfunktion schlichtweg zu nennen (KLP II NRW 2014), wohingegen sich die Schülerinnen und Schüler in Bayern die Ableitungsfunktion auf graphischem Weg plausibel machen sollen (KLP Bayern 2009). In Berlin sollen die Schülerinnen und Schüler den Sinus- und Kosinussatz nutzen, um in beliebigen Dreiecken Seitenlängen zu bestimmen (KLP Berlin 2006), während in Niedersachsen die beiden Sätze nicht auftauchen. Schaut man sich den aktuellen Kernlehrplan für Nordrhein-Westfalen der Sekundarstufe I für Gymnasien (KLP I NRW 2019) im Fach Mathematik an, so kann man feststellen, dass die Trigonometrie sowohl in der Geometrie, zur Berechnung unbekannter Größen in beliebigen Dreiecken, als auch im Bereich der Funktionen, zur Beschreibung periodischer Prozesse, wieder eine wichtigere Rolle spielt. Vergleicht man den Kernlehrplan mit der Vorgängerversion aus dem Jahr 2007, sieht man, dass die Inhalte in der Trigonometrie erweitert wurden: In der Geometrie hat der Kosinussatz wieder Einzug gehalten und im Bereich der Funktionen sollen Schülerinnen und Schüler die Sinus- und Kosinusfunktion als Verallgemeinerung der trigonometrischen Definition des Sinus und des Kosinus am Einheitskreis erläutern. Darüber hinaus wird das Bogenmaß wieder thematisiert und die Parameter \(a\) und \(T\) in der Funktionsgleichung \(f(t) = a \cdot \sin \left( {t \cdot \frac{2\pi }{T}} \right)\) sollen als Amplitude und Periode periodischer Vorgänge gedeutet werden.

Diese Änderungen stellen sich gegen den Trend der letzten Jahrzehnte, in denen die Trigonometrie zunehmend aus den Kernlehrplänen verschwand und als Schulstoff in einigen Bundesländern kaum noch sichtbar war. Diese Vernachlässigung wird umso deutlicher, wenn bedacht wird, dass am Ende des 19. Jahrhunderts die Trigonometrie in der Himmelskunde als krönender Abschluss der Oberprima gehandelt wurde und ihr nunmehr in der Oberstufe allenfalls eine Nebenrolle zugeordnet wird (vgl. Abschnitt 4.1). Besonders eindringlich zeigt sich dieser Kontrast im Übergang von der Schule zur Hochschule, da in mathematischen Fachvorlesungen Wissen über trigonometrische Zusammenhänge – das einst wichtiger Teil des Schulstoffes war – oft vorausgesetzt wird. Bei angehenden Lehrerinnen und Lehrern, denen dieses Wissen nicht in adäquater Form zugänglich gemacht wird, kann dies zu einer Tradierung von Nichtwissen führen, unter der besonders zukünftige Schülerinnen und Schüler leiden.

Für die Lehrerausbildung wird im Lichte dieser Tatsachen zwei Fragen besonderer Nachdruck verliehen: Welche inhaltlichen Kompetenzen sollten angehenden Lehrkräften in der Trigonometrie vermittelt werden? Mit welchen inhaltlichen Kompetenzen sind Lehramtsstudierende im Bereich Trigonometrie tatsächlich ausgestattet?

In zahlreichen empirischen Studien wurde herausgefunden, dass Studierende ihr Studium zum Teil mit erheblichen Defiziten im Umgang mit trigonometrischen Funktionen beginnen. In diesen Studien wurden unter anderem Probleme im Umgang mit dem Bogenmaß aufgezeigt (Akkoc 2008), Schwierigkeiten beim Übergang vom Einheitskreis zum Funktionsgraphen der Sinusfunktion identifiziert (Brown 2005) sowie mangelnde fachliche Kenntnisse im Bereich der Trigonometrie (Fi 2003) festgestellt. Studien, welche die Situation an deutschen Universitäten untersuchen, sind bisher nicht bekannt. Ergebnisse der vorliegenden Studie an der Universität Bielefeld lassen darauf schließen, dass die Situation sich ähnlich darstellt.

Welche inhaltlichen Kompetenzen angehende Lehrende im Bereich der Trigonometrie entwickeln sollten, variiert je nach Blickwinkel und entsprechendem Anforderungskatalog (Katter 2020a). Dazu wird im Folgenden ein Blick auf verschiedene Zielgruppen geworfen, die sich mit der Trigonometrie auseinandersetzen und an die unterschiedlichen Anforderungen gestellt werden: Schülerinnen und Schüler, Mathematikstudierende und Lehramtsstudierende. Zu diesen drei Zielgruppen lassen sich jeweils inhaltliche Anforderungen auf den folgenden Grundlagen formulieren:

  • Inhaltliche Anforderungen der Kernlehrpläne an die Schülerinnen und Schüler.

  • Inhaltliche Anforderungen des mathematischen Fachstudiums an Mathematikstudierende.

  • Inhaltliche Anforderungen des Lehramtsstudiums an Lehramtsstudierende.

Die inhaltlichen Anforderungen der Kernlehrpläne sind klar definiert. Sie beziehen sich auf einen verständigen Umgang mit der Sinusfunktion in Sachkontexten, an Dreiecken, am Einheitskreis und auf analytischer Ebene als Funktionsterm bzw. Funktionsgraphen.

Das mathematische Fachstudium fordert darüber hinaus eine klare analytische Charakterisierung bzw. Einordnung der Sinusfunktion in das jeweilige formale System. Dies kann z. B. durch die Definition der Sinusfunktion als Taylorreihe oder als Lösung der Differentialgleichung \(y{``} + y = 0\) geschehen.

Das Lehramtsstudium fordert eine Vernetzung der oben genannten Inhalte. Lehramtsstudierende sollten erlernen, Schülerinnen und Schülern die Zusammenhänge im Bereich der Trigonometrie verständlich zu erklären. Zusammenhänge können beispielsweise zwischen realweltlichen Anwendungskontexten und mathematischen Definitionen hergestellt werden (z. B. zwischen Landvermessungen und der Definition des Sinus am rechtwinkligen Dreieck). Solche Verknüpfungen bilden die Grundlage zum Aufbau adäquater Grundvorstellungen (vom Hofe 1995). Weitere Zusammenhänge können zwischen unterschiedlichen mathematischen Definitionen und Darstellungen hergestellt werden (z. B. der Definition am rechtwinkligen Dreieck und der Definition am Einheitskreis), wodurch Grundvorstellungen miteinander vernetzt und flexibel genutzt werden können. Darüber hinaus nennt Winter (1992) im Zusammenhang mit dem Lehramtsstudium drei Wissensbereiche, die weder in den fachmathematischen Vorlesungen noch im Referendariat genügend berücksichtigt werden:

  • Wissen um Genese und kulturelle Kontexte mathematischer Ideen

  • Wissen um Heuristiken zur Lösung mathematischer Aufgaben und zur gedächtnismäßigen Organisation mathematischer Inhalte

  • Wissen um Anwendungen, Verkörperungen, Realisierungen mathematischer Begriffe und Theorien, also auch Wissen um die allgemeine Bedeutung der Mathematik in Wissenschaft und Gesellschaft.

    (Winter 1992, S. 16)

Diese Wissensbereiche machen nach Winter einen wesentlichen Teil der pädagogischen Dimension des Lehrberufs aus und sollten daher besonders im Lehramtsstudium berücksichtigt werden.

1.2 Ziele der Arbeit

Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine explorative Studie, die sich mit schul- und studiumsrelevanten Themen der Trigonometrie beschäftigt. Das Lernen und Lehren der Trigonometrie beinhaltet einige aus didaktischer Sicht besondere Herausforderungen. Diese Herausforderungen sind zum einen darin begründet, dass es sich bei den trigonometrischen Funktionen um nicht algebraische Funktionen handelt, zum anderen darin, dass der Sinusbegriff in verschiedenen Sachzusammenhängen genutzt werden kann und durch diese unterschiedliche Bedeutung bekommt. Erkennbar wird dieser Bedeutungswechsel beispielsweise bei der Anwendung des Sinus am Einheitskreis und am rechtwinkligen Dreieck. Darüber hinaus wird der Sinus eingesetzt um periodische Prozesse zu modellieren und er ist ein wichtiges innermathematisches Werkzeug bei der Fourieranalyse. Diese und weitere Sachzusammenhänge bilden die Grundlage für eine Reihe neuer Grundvorstellungen, die dem Sinus aus normativer Sicht zugeschrieben werden können und über die bekannten allgemeinen funktionalen Grundvorstellungen (Vollrath 1989) hinaus gehen. Zur Herleitung von Grundvorstellungen zu einem mathematischen Begriff wird in dieser Arbeit eine didaktisch orientierte Sachanalyse in Hinblick auf die historische, logische und individuelle Genese des Sinusbegriffs durchgeführt.

Das didaktische Ziel einer solchen Bestimmung von Grundvorstellungen leitet sich aus der Annahme ab, dass diese im Individuum ausgebildet werden können (vom Hofe 1995). Diese individuellen Schülervorstellungen bilden den deskriptiven Aspekt des Grundvorstellungskonzepts ab und können im Einzelfall qualitativ erfasst werden. Der Vergleich normativ intendierter und individuell konstruierter Vorstellungen ermöglicht es schließlich, Konsequenzen für den individuellen Lernprozess zu ziehen. Welche individuellen Vorstellungen Lehramtsstudierende ausbilden und welche Entsprechungen es zu den normativ intendierten Grundvorstellungen gibt, wird im empirischen Teil beantwortet. Zusammenfassend lassen sich die folgenden drei Ziele formulieren:

  1. 1.

    Durchführung einer didaktisch orientierten Sachanalyse unter Berücksichtigung der logischen, historischen und individuellen Genese.

  2. 2.

    Herleitung von normativen Grundvorstellungen auf der Basis der didaktisch orientierten Sachanalyse.

  3. 3.

    Rekonstruktion und Analyse von Denkprozessen von Studierenden im Umgang mit dem Sinusbegriff mithilfe des Grundvorstellungskonzeptes.

Bei der Rekonstruktion und Analyse von Denkprozessen wird außerdem untersucht, inwieweit die neuen funktionsklassenspezifischen Grundvorstellungen zur Sinusfunktion eine geeignete Erweiterung der allgemeinen funktionalen Grundvorstellungen – Zuordnungsvorstellung, Kovariationsvorstellung und Objektvorstellung – darstellen.

1.3 Gliederung der Arbeit

Die vorliegende Arbeit besteht aus sieben Kapiteln. Bei dem ersten Kapitel handelt es sich um die Einleitung, in der der Hintergrund, die Ziele und die Gliederung der Arbeit vorgestellt werden.

Im zweiten Kapitel wird der Stand der didaktischen Forschung im Bereich der Trigonometrie dargestellt. Dazu wird im ersten Abschnitt 2.1 ein kurzer Überblick über die didaktische Forschung im Allgemeinen gegeben, anschließend werden in Abschnitt 2.2 exemplarisch relevante, empirische Studien zur Didaktik der Trigonometrie vorgestellt. Im dritten Abschnitt 2.3 werden aus den vorgestellten Studien Forschungsdesiderata abgeleitet.

Im dritten Kapitel wird der konzeptionelle Rahmen der theoretischen Analyse vorgestellt. Zunächst wird in Abschnitt 3.1 geklärt, was unter Darstellungen mathematischer Objekte zu verstehen ist. Darstellungen mathematischer Objekte dienen in dieser Arbeit als Träger von Grundvorstellungen, die in Abschnitt 3.2 erläutert werden. Die Klärung des Grundvorstellungskonzeptes beinhaltet eine Diskussion der normativen, deskriptiven und konstruktiven Aspekte, die Unterscheidung zwischen primären und sekundären Grundvorstellungen, allgemeine funktionale Grundvorstellungen, den Prozess der Sinnkonstituierung sowie den Zusammenhang zu fachlichen Charakterisierungen eines mathematischen Begriffs. In Abschnitt 3.3 werden unterschiedliche Sichtweisen auf didaktisch orientierte Sachanalysen geschildert und erklärt, wie eine solche Analyse dabei helfen kann, normativ intendierte Grundvorstellungen zu einem mathematischen Begriff zu finden. Anschließend wird in Abschnitt 3.4 auf der Grundlage des genetischen Prinzips und den drei Aspekten der logischen, historischen und individuellen Genese ein Vorgehensweise vorgestellt, mit der in vier Schritten eine didaktisch orientierte Sachanalyse durchgeführt und normativ intendierte Grundvorstellungen identifiziert werden können.

Im vierten Kapitel wird eine didaktisch orientierte Sachanalyse durchgeführt, mit deren Hilfe normative Grundvorstellungen zum Sinus formuliert werden. In Abschnitt 4.1 wird ein Überblick über die Geschichte der Trigonometrie im mathematischen Unterricht vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis heute gegeben. Diese Darstellung dient dem Ziel, die normativ intendierte individuelle Genese der Trigonometrie nachzuvollziehen, die anhand idealtypischer Lernwege in der Schule veranschaulicht wird. In Abschnitt 4.2 wird die geschichtliche Genese der Trigonometrie betrachtet. Beginnend 1650 vor Christus und dem Bau der Pyramiden, führt dieser Exkurs zu den Anfängen der sphärischen Trigonometrie in der Astronomie bei den Griechen um 600 vor Christus, bis hin zu einer Weiterentwicklung der Werkzeuge und Methoden in Indien ca. 500 nach Christus. Anschließend wird in Abschnitt 4.3 in einer Auseinandersetzung mit den fachlichen Charakterisierungen des Sinus und den möglichen Zusammenhängen zwischen ihnen, die logische Genese herausgearbeitet. Hierbei geht es um eine systematische, mathematische Klärung des Begriffs. In Abschnitt 4.4 werden ergänzend Anwendungskontexte der Trigonometrie zusammengetragen. In Abschnitt 4.5 wird eine erste Klassenbildung vorgenommen. Dazu werden die gesammelten Sachzusammenhänge den unterschiedlichen Darstellungen der Sinusfunktion zugeordnet. In Abschnitt 4.6 wird diese Einteilung verfeinert und es werden sechs normative Grundvorstellungen mit passenden Grundkenntnissen zum Sinus formuliert. Die Formulierung dieser Grundvorstellungen markiert das Ende des Theorieteils.

Mit Kapitel 5 fängt der empirische Teil der Arbeit an. In Abschnitt 5.1 werden zunächst die Forschungsfragen konkretisiert. Insgesamt werden drei Fragen formuliert, mit denen die Denkprozesse der Studierenden, funktionsklassenspezifischen Grundvorstellungen zum Sinus und mögliche Schwierigkeiten beim Umgang mit der Sinusfunktion untersucht werden. In Abschnitt 5.2 wird die Konzeption der Studie vorgestellt. Es wurden insgesamt acht Paare von Master Lehramtsstudierenden dabei gefilmt, wie sie in Partnerarbeit drei trigonometrische Probleme lösen, in denen der Sinus am rechtwinkligen Dreieck, am Einheitskreis und als Modellfunktion eines periodischen Prozesses behandelt wird.

In Kapitel 6 werden die Auswertungen der Fallstudien vorgestellt. In den Abschnitten 6.1, 6.2, 6.3 werden die drei Aufgaben vorgestellt und mithilfe qualitativer Methoden analysiert.

In Kapitel 7 wird die Arbeit zusammengefasst und es werden Perspektiven entwickelt. Im Abschnitt 7.1 werden die Ergebnisse des Theorie- und Empirieteils zusammenfassend dargestellt. Abschließend werden in Abschnitt 7.2 Forschungsperspektiven sowie Perspektiven für den Unterricht entwickelt.