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Postkoloniale Politische Theorie und die Überwindung des Eurozentrismus

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Grundlagen der Politischen Theorie
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Zusammenfassung

Postkoloniale Theorien setzen sich kritisch mit den bleibenden Wirkungen des Kolonialismus und Imperialismus auseinander. Diese Wirkungen sehen sie nicht rein politisch und ökonomisch, im Sinne einer andauernden Machtunterlegenheit und Abhängigkeit ehemals kolonialisierter Gesellschaft, sondern auch mit Blick auf Diskurse und Konzepte. Die Diskursdominanz des Globalen Nordens über den Globalen Süden setzt demnach eine "epistemische Gewalt“ fort, die es nichtwestlichen Gesellschaften verunmögliche, mit einer eigenen Stimme zu sprechen bzw. wahrgenommen zu werden. Die Entwicklung des politischen Denkens wird in einem komplizierten Verhältnis der zumindest teilweisen Komplizenschaft mit der Dominanz des Globalen Nordens gesehen. Selbst progressiv-emanzipatorische Konzepte wie die Menschenrechte müssten so kritisch gesehen werden und überhaupt der Kanon des politischen Denkens einer grundlegenden Kritik unterzogen werden. Zugleich macht eine Befassung mit postkolonialen Theoretikerinnen* deutlich, dass sie sich meist nicht als Feinde universalistischer Prinzipien verstehen, sondern deren Verwicklung in westliche Dominanzkonstrukte und Verengung auf westliche Erfahrungen kritisieren. Es geht um eine Überwindung des Eurozentrismus, von Dipesh Chakrabarty in der Forderung nach einer „Provinzialisierung Europas“ gefasst. Theoretiker wie Edward Said, Stuart Hall, Gayatri Chakravorty Spivak und Homi K. Bhabha setzen sich mit der Frage auseinander, wie die Konstruktion nicht-„westlicher“ Gesellschaften als „die Anderen“ überwunden und zugleich der kritische Gehalt von politischen Konzepten der Moderne gewahrt bleiben kann. Sie bieten keine neuen Modelle der Demokratie oder Theorien der Gerechtigkeit, sondern entwickeln Ansätze der kritischen Machtanalyse und der Thematisierung der im dominanten Diskurs unsichtbar Bleibenden.

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Notes

  1. 1.

    So hatten die nordischen Länder Europas selbst keine Kolonien (der Fall Grönland/Dänemark wäre gesondert zu diskutieren), sind aber Teil einer Welt, in der der Globale Norden eine dominante Position innehat, die nicht ohne die Geschichte des Kolonialismus verstanden werden kann. Diese Dominanz steht in einer diskursiven Nähe etwa zur Rechtfertigung des Umgangs mit indigenen Minderheiten (wie der Samen in Europas Norden). Umgekehrt haben etwa die lateinamerikanischen Gesellschaften größtenteils früh ihre staatliche Unabhängigkeit errungen, waren aber auch danach von einer Dominanz europäischer Kultur und der damit verbundenen, oft biologistisch kodierten („rassifizierten“) Hierarchie ethnischer Gruppen bestimmt. Die zugeschriebene Nähe zu Europa, in diesem Fall vor allem zum spanischen „Mutterland“ (auch dies eine biologisierende, Machteffekte produzierende Metapher!) ist bis heute mit höheren gesellschaftlichen Positionen verbunden. „Indigene“ Gruppen sind hingegen bis heute stark marginalisiert. Zugleich haben die USA immer wieder massiv Einfluss auf die politische und gesellschaftliche Entwicklung in den lateinamerikanischen Ländern genommen, was man nicht zuletzt als Strategie der Stabilisierung einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung, die den Profitinteressen der US-amerikanischen Wirtschaft dient, verstehen kann.

  2. 2.

    Vgl. https://www.sueddeutsche.de/reise/voluntourismus-einsaetze-in-waisenhaeusern-oder-kinderheimen-sind-ein-grosses-problem-1.3905360; https://utopia.de/ratgeber/voluntourismus-ausbeutung-des-globalen-suedens/, abgerufen am 13.01.2023.

  3. 3.

    So Markus Steinmayer in der FAZ vom 1.04.2021, der beklagt, dass Foucault nicht zuletzt von Said zum „Säulenheiligen“ von Postkolonialismus und Identitätspolitik gemacht worden sei.

  4. 4.

    Dass „epistemische Gewalt“ eng mit „realer“ verbunden ist, zeigt auch das Beispiel der Kategorisierung von Hutu und Tutsi als ethnischen Gruppen durch die deutsche und die belgische Kolonialmacht in Ruanda. Die derart eingeführte rassifizierende Zuordnung auf der Grundlage einer vormals sozioökomischen Unterscheidung war letztlich die Grundlage für den „Völkermord“ 1994.

  5. 5.

    Für den Status der „Zivilisiertheit“ reicht es dann womöglich nicht mehr, Lesen, Schreiben und Rechnen zu können – gefragt sind dann etwa intime Kenntnis klassischer Literatur oder Musik – ein Anspruch, dem auch in den Kolonialgesellschaften nur eine kleine Minderheit überhaupt gerecht werden kann. Erhöhte Ansprüche an religiöse Frömmigkeit und Reinheit geraten in einen immer deutlicheren Widerspruch zur profanen Logik der eigenen Lebensweise. Die Kolonisatorinnen* entblößen sich in dem Sinne selbst.

  6. 6.

    Ein schönes Beispiel aus jüngerer Zeit dafür ist ein Leserbrief eines Bundeswehrobersts zum Abzug aus Afghanistan und der vermeintlichen „Idealisierung“ der einheimischen „Ortskräfte“. „Gut zu wissen: Ein Afghane definiert sich ausschließlich über seine Familien- beziehungsweise Stammeszugehörigkeit; Individualismus ist unbekannt. […] Innerlich verachten uns diese Menschen, was sie aus nachvollziehbaren Gründen natürlich nie zugeben werden. Sie wollen ja etwas erreichen: den Wohlstandsmagneten Deutschland“ (FAZ, 26.08.21, „Es lohnt sich, für uns zu arbeiten“).

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Haus, M. (2023). Postkoloniale Politische Theorie und die Überwindung des Eurozentrismus. In: Grundlagen der Politischen Theorie. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-41176-3_12

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