Ziel dieser Studie ist es, die Zusammenhänge zwischen Religion und Religiosität, freiwilligem Engagement und sozialem Vertrauen in der Schweiz zu untersuchen und damit einen Beitrag zur Klärung dieser wechselseitigen Beziehungen zu liefern. Konkret stellen sich drei Forschungsfragen: (1) Welchen Einfluss haben Religion und Religiosität auf freiwilliges Engagement in der Schweiz? (2) Welchen Einfluss haben Religion und Religiosität auf soziales Vertrauen in der Schweiz? (3) Welchen Einfluss hat freiwilliges Engagement auf soziales Vertrauen in der Schweiz?

Ausgehend von Theorie, Erklärungsmechanismen und bisherigem Forschungsstand stelle ich zu diesen Forschungsfragen drei zu prüfende Hypothesen auf: (1) Es gibt einen positiven Zusammenhang zwischen Religion und Religiosität und freiwilligem Engagement. (2) Es gibt einen positiven Zusammenhang zwischen Religion und Religiosität und sozialem Vertrauen. (3) Es gibt einen positiven Zusammenhang zwischen freiwilligem Engagement und sozialem Vertrauen. Diese Thesen prüfe ich basierend auf den Daten des KONID Survey 2019 für die Schweiz.

In diesem letzten Diskussionskapitel 9 fasse ich in einem ersten Teil die Ergebnisse zusammen (Abschnitt 9.1). In einem zweiten Teil gehe ich auf die Limitierungen der Studie und damit auch der Ergebnisse ein (Abschnitt 9.2). Im abschliessenden dritten Teil diskutiere ich die Ergebnisse mit Blick auf ihre wissenschaftliche und gesellschaftspolitische Relevanz (Abschnitt 9.3). Dabei wage ich einen Ausblick in die Zukunft und mache aufmerksam auf neue, aber auch (noch) nicht beantwortete Fragen.

1 Ergebniszusammenfassung

Aufgrund der Analyse der Daten des KONID Survey 2019 für die Schweiz in den Ergebniskapiteln 7 und 8 ergibt sich folgendes Ergebnis.

1.1 Religiöse Praxis führt zu Raum für Koordination und Motivation von freiwilligem Engagement

Die Hypothese zur ersten Forschungsfrage ist, dass es einen positiven Zusammenhang zwischen Religion und Religiosität und freiwilligem Engagement gibt. Diese kann angenommen und bestätigt werden.

Religiosität hängt positiv mit freiwilligem Engagement zusammen, wobei dieser Effekt auf die öffentliche religiöse Praxis zurückzuführen ist. Personen, die monatlich oder häufiger öffentliche Rituale wie Gottesdienste oder Freitagsgebete besuchen, sind auch häufiger freiwillig engagiert. Religionen bieten Gelegenheitsstrukturen für freiwilliges Engagement selbst wie auch für die gesellschaftliche Koordination solchen Engagements. Dieses Engagement findet nicht nur in religiösen Gelegenheitsstrukturen, sondern auch darüber hinaus im nicht-religiösen Bereich statt. Ein weitergehender, sozialisierender Effekt der religiösen Zugehörigkeit, Überzeugung, Ausrichtung oder Erfahrung kann nicht belegt werden. Auf Kontextebene lässt sich ein Zusammenhang zwischen der historisch konfessionellen Prägung und freiwilligem Engagement belegen. Eine historisch konfessionelle reformierte Prägung des Kontexts hängt im Vergleich zu einer historisch konfessionellen katholischen Prägung positiv mit freiwilligem Engagement zusammen.

1.2 Religion wirkt auf die Ausbildung sozialen Vertrauens ambivalent – ausschlaggebend ist die Ausrichtung der Religiosität

Die Hypothese zur zweiten Forschungsfrage ist, dass es einen positiven Zusammenhang zwischen Religion und Religiosität einerseits und sozialem Vertrauen anderseits gibt. Diese Hypothese kann nur teils angenommen und bestätigt werden. Der Zusammenhang ist ambivalent. Es gibt positive und negative Effekte.

Positiv auf soziales Vertrauen wirken öffentliche religiöse Praxis und religiöse Erfahrung, dies aufgrund der integrierenden Wirkung religiöser Rituale. Positiv wirkt auch eine liberal ausgerichtete Religiosität, dies aufgrund von weniger Vorurteilsbildung. Negativ auf soziales Vertrauen wirkt andererseits eine exklusivistisch-fundamentalistisch ausgerichtete Religiosität, dies aufgrund von mehr Vorurteilsbildung. Das bedeutet: Religiosität wirkt bei der Ausbildung sozialen Vertrauens in ambivalenter Art und Weise. Hinsichtlich der Kontextfaktoren ist zu berichten, dass ein religiös fragmentiertes und damit diversifiziertes Umfeld, aber auch eine historisch reformierte Prägung des Kontexts in einem positiven Zusammenhang mit sozialem Vertrauen steht. Ersteres bestätigt die Kontakthypothese, letzteres verweist auf wirksame historische Pfadabhängigkeiten.

1.3 Kein allgemeiner Zusammenhang zwischen Engagement und sozialem Vertrauen

Die Hypothese zur dritten Forschungsfrage lautet, dass es einen positiven Zusammenhang zwischen freiwilligem Engagement und sozialem Vertrauen gibt. Diese muss zurückgewiesen werden, sie kann nicht bestätigt werden.

Es kann kein Zusammenhang zwischen freiwilligem Engagement und sozialem Vertrauen belegt werden. Grund für das statistisch gleichzeitige Auftreten von freiwilligem Engagement und sozialem Vertrauen sind gleiche Faktoren mit derselben Wirkrichtung, die sowohl zu freiwilligem Engagement als auch zu sozialem Vertrauen führen. Die identifizierten gemeinsamen Faktoren sind eine extravertierte Persönlichkeit, der Bildungsgrad, materielle Deprivation, direkte Migrationserfahrungen, der Vollzug öffentlicher religiöser Praxis sowie die historisch konfessionelle Prägung des Kontexts.

Die drei gestellten Forschungsfragen lassen sich also wie folgt beantworten (vgl. Abb. 9.1):

Abbildung 9.1
figure 1

Forschungsfragen und Ergebnisse. (Abbildung: Eigene Darstellung)

(1) Es gibt einen positiven Zusammenhang zwischen Religion und Religiosität und freiwilligem Engagement. (2) Es gibt einen ambivalenten Zusammenhang zwischen Religion und Religiosität und sozialem Vertrauen. Und (3) es gibt keinen Zusammenhang zwischen freiwilligem Engagement und sozialem Vertrauen.

2 Limitierungen und Chancen

Bevor ich die Ergebnisse diskutiere, möchte ich in der gebotenen Kürze auf Limitierungen hinweisen. Ich habe dies im Rahmen der Studie auch laufend an den jeweiligen Stellen getan. Drei Punkte scheinen mir aber zentral: Sie beziehen sich auf die Daten, die Operationalisierungen und die Modelle.

Die Ergebnisse beruhen auf Querschnittsdaten. Damit können weder Langzeiteffekte noch kausale Wirkmechanismen statistisch belegt werden. Das ist aber kein Problem für die vorliegenden Ergebnisse, weil die Studie als Korrelationsstudie angelegt ist. Aufgrund der Art der Stichprobenziehung des KONID Survey 2019 sind dafür die Resultate und gefundenen Zusammenhänge repräsentativ für die Schweizer Bevölkerung. Aufgrund der Stichprobengrösse und der thematisch breiten Anlage der Umfrage sind umfangreiche Regressionsmodelle möglich. Diese erlauben es, vertieft und detailliert auf mögliche Alternativerklärungen hin zu kontrollieren. Die sich daraus ergebenden Belege und vor allem die Hinweise mit Blick auf die theoretisch erwarteten erklärenden Mechanismen sind allgemeiner Art. Sie wirken in dem Sinn allgemein, als dass sie einen theoretischen Erklärungsansatz stützen oder nicht. Insbesondere dort, wo sie den theoretisch abgeleiteten Erwartungen widersprechen, wie hier zum Beispiel beim Zusammenhang zwischen freiwilligem Engagement und sozialem Vertrauen, weisen sie ganz besonders über die Daten hinaus, verlangen nach zusätzlichen Erklärungen und setzen damit wichtige Fragezeichen für die weitere Forschung.

Umfragen bedingen häufig, dass einzelne Konstrukte messökonomisch effizient erfragt werden. Zum Beispiel wurde im KONID Survey 2019 für die Messung der Persönlichkeit ein sehr knappes Messinstrument eingesetzt (BFI-10). Kritisch kann bei solchen knappen Instrumenten eingewandt werden, dass diese nicht valide das messen, was sie vorgeben zu tun. Für die vorliegende Arbeit ist dies aber unproblematisch, weil sich die im KONID Survey 2019 eingesetzten Messinstrumente auf bestehende, anerkannte Instrumente beziehen. Anerkannt heisst insbesondere auch, dass sie im Rahmen anderer Studien hinsichtlich ihrer Validität untersucht und entsprechend entwickelt wurden. Wichtig sind insofern die Kennzeichnung dieser Instrumente und die entsprechenden Belege. Gefundene Probleme hinsichtlich der Konstruktvalidität sind dann als methodologische Hinweise für die Weiterentwicklung dieser Instrumente zu verstehen. Wichtig wäre aber dennoch, dass die Erkenntnisse mit anderen Umfragedaten und dann je nachdem auch mit anderen Messinstrumenten getestet werden, was bedingt, dass andere Umfragen zumindest ähnliche Messkonstrukte verwenden. In der Kumulation gleicher Ergebnisse, basierend auf unterschiedlichen Daten, ergibt sich ein langfristiger, wissenschaftlicher Erkenntnisgewinn.

Für logistische Mehrebenenmodelle sind vielfältige Voraussetzungen zu erfüllen. Und gerade was die Berechnung eines solchen Modells mit Umfragedaten angeht, scheinen Untiefen vorhanden zu sein: Wie wird mit Gewichtungen der Individualebene umgegangen? Wie unterschiedlich werden die Gewichtungen in unterschiedlichen Rechenprozeduren angewandt? Wie sind dadurch entstehende Differenzen inhaltlich zu bewerten? In dieser Studie habe ich diese Probleme dadurch gelöst, dass ich sie klar benenne und dafür jeweils die bestmögliche ad-hoc Lösung einsetze. Auch mit der Interpretation der Regressionskoeffizienten bin ich beispielsweise so verfahren. Der Umgang mit mathematischen Modellen und deren Interpretation kann je nach wissenschaftlicher Fachrichtung unterschiedlich sein. Wichtig ist hier einerseits die Entwicklung und insbesondere die Weitergabe von Best-Practice. Für weitere Forschungsprojekte scheint es mir daher wichtig zu sein, dass solche Best-Practice weiterentwickelt und insbesondere auch sichtbar und zugänglich gemacht wird, was natürlich bedingt, dass solche rechnerischen Modelle auch eingesetzt werden.

Die Limitierungen sind zusammenfassend insofern unproblematisch für die vorliegenden Ergebnisse, als dass diese bewusst benannt werden und dass also für Probleme entsprechende Lösungen bereitgestellt werden können. Doch was heissen diese Ergebnisse nun für den grösseren Kontext?

3 Diskussion der Ergebnisse

Wie sind die vorliegenden Ergebnisse zu verorten und was ist aus ihnen abzuleiten? Ich gehe in fünf Punkten auf diese Frage ein: Ich diskutiere in einem ersten Punkt (Abschnitt 9.3.1) das Null-Resultat hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen freiwilligem Engagement und sozialem Vertrauen und argumentiere, Sozialkapital ernst zu nehmen. In einem zweiten Punkt (Abschnitt 9.3.2) bespreche ich die ambivalente Wirkung von Religiosität und in einem dritten (Abschnitt 9.3.3) die Bedeutung religiöser Rituale. In einem vierten Punkt (Abschnitt 9.3.4) gehe ich auf die gefundenen kontextuellen Pfadabhängigkeiten ein und in einem letzten Punkt (Abschnitt 9.3.5) auf die Wichtigkeit von Differenzierungen, gerade beim Phänomen Religion und Religiosität.

3.1 Sozialkapital ernst nehmen

In dieser Studie habe ich keinen Zusammenhang zwischen freiwilligem Engagement und sozialem Vertrauen gefunden. Ich habe das darauf zurückgeführt, dass gleiche Faktoren in die gleiche Richtung wirken. Was bedeutet diese Tatsache?

Zunächst ist daran zu erinnern, dass diese Resultate nicht neu sind. Sie bestätige bisherige kritische Einwände und ZweifelFootnote 1 (Westle und Roßteutscher 2008; Liedhegener und Werkner 2011, 18), aber insbesondere auch durch neuere Studienergebnisse wie jene von Van Ingen und Bekkers (2015) sowie Sturgis et al. (2017). Neu ist allerdings der empirische Beleg eines solchen Null-Resultats für die Schweiz mit Querschnittsdaten. Das Fehlen dieses Zusammenhangs bedeutet aber nicht, dass der Sozialkapitalansatz an sich problematisch wäre. Vielmehr ist das Anliegen dieses Ansatzes, nämlich dass soziale Beziehungen und Netzwerke einen Wert haben und Wirkung erzeugen, noch ernster zu nehmen – und zwar in mehrfacher Hinsicht.

Differenzierung von Mikromechanismen eröffnet neue Sichtweisen

Schon Levi (1996), Brehm und Rahn (1997, 1000), Portes (1998, 20, 2000, 4) und neuerdings Meißelbach (2019, 124, 168, 211) kritisierten den Putnamschen Sozialkapitalansatz insofern, als dass darin erklärende Mikromechanismen fehlen würden. Ich habe im Theoriekapitel 2.2 versucht, ausgehend vom Sozialkapitalansatz von Coleman (1988, 1990) und Putnam (1993, 2000), jene sozialpsychologischen Mechanismen zu identifizieren und zu untersuchen, die eine Erklärung für den positiven Effekt von freiwilligem Engagement auf soziales Vertrauen liefern. Das ist einerseits der reziproke Altruismus (Trivers 1971), der aber voraussetzungsreich ist und nur im persönlichen Nahbereich funktioniert (Axelrod 1984, 7ff; Levine und Manning 2014, 391; Meißelbach 2019, 239; Taborsky et al. 2021, 145). Und das ist andererseits eine starke Reziprozität und altruistisches Bestrafen (Gintis 2000; Levine und Manning 2014, 391) und damit eine Prädisposition dafür, mit anderen zusammenzuarbeiten, also prosozial zu agieren, und dabei jene zu bestrafen, die abtrünnig werden. Das funktioniert vor allem in geschlossenen Netzwerken. Der Faktor der Informationsweitergabe über Vertrauenswürdigkeit (Putnam 1993, 174; Meißelbach 2019, 256) verweist auf die Wirksamkeit teurer Signale. Freiwilliges Engagement ermöglicht solche kostengünstige Informationsweitergabe und kann als ein solches teures Signal verstanden werden. Nur erklärt auch dieser Mechanismus nicht, warum freiwilliges Engagement zu sozialem Vertrauen führen soll. Ebenso auch nicht die hohen Ausstiegskosten, das heisst die Tatsache, dass ein Ausstieg aus einem sozialen Netzwerk Opportunitätskosten verursacht. All diese Mechanismen liefern plausible Erklärungen dafür, warum es im Rahmen von freiwilligem Engagement zu Nah-Vertrauen oder zu identitätsbasiertem Vertrauen kommen kann, jedoch nicht zu sozialem Vertrauen. Aber letzteres ist es, was dann gesellschaftlich positiv auf Kohäsion und Demokratie wirkt. Der einzige hier identifizierte Mechanismus, der durch freiwilliges Engagement potenziell zu sozialem Vertrauen führt, ist jener der positiven Kooperations- und Kontakterfahrungen. Erfahrungen gelungener Kooperation, die sich wiederholen, verändern demnach die Anreizstruktur für Handlungssituationen positiv, indem sie die Erwartung stärken, dass Kooperation bei einer nächsten Handlungssituation eher gelingen kann (Axelrod 1984; Taborsky et al. 2021, 146f). Und positive Kontakterfahrungen mit Fremden führen gemäss Allport (1954) und Sherif (1961) unter bestimmten Umständen zu Kooperation und weniger Vorurteilen, statt zu Konflikten und mehr Vorurteilen.

Es scheint mir unbestritten, dass es im Rahmen von freiwilligem Engagement die identifizierten Wirkmechanismen geben kann und dass konkret auch Nah-Vertrauen ausgebildet wird. Auch scheint es mir sehr plausibel, dass es im Rahmen von freiwilligem Engagement zu positiven Kooperations- und Kontakterfahrungen kommen kann. Nur folgt daraus nicht zwingend, dass freiwilliges Engagement an sich zu sozialem Vertrauen führt.

Wenn Putnam (2000, 137) die exakten Wirkmechanismen seiner Sozialkapitalkonzeption offenlässt, dann ist dies problematisch, weil von der Theorie abgeleitete Erklärungen inklusive Alternativerklärungen fehlen und damit empirisch vorgefundene Zusammenhänge zu schnell als Kausalitäten angenommen werden. Erst recht problematisch ist dies, wenn ein solcher vermeintlicher Kausalitätsmechanismus zu einer Prämisse für weitere Forschung wird. Dabei wird häufig auf Putnam (1993, 1995, 2000) verwiesen, dass nämlich freiwilliges Engagement «wie allgemein angenommen» zu sozialem Vertrauen führe. Diese Ausgangsprämisse sollte nicht eingenommen werden. Sie muss vielmehr lauten: Es gibt keinen generellen Zusammenhang. Und dieser Standpunkt ist eine Chance.

Einerseits lassen sich beide Konstrukte und ihre erklärenden Mikromechanismen für sich untersuchen und erforschen, wenn wir uns von der Annahme befreien, dass freiwilliges Engagement allgemein zu sozialem Vertrauen führt. Das bringt Klarheit. Ernst nehmen heisst hier zu differenzieren. So habe ich schon im theoretischen Teil klarzumachen versucht, dass es sich um zwei unterschiedliche Konstrukte handelt. Freiwilliges Engagement lässt sich als konkrete Handlung auffassen und mit entsprechenden Handlungsressourcen und Handlungsmotiven erklären. Soziales Vertrauen hingegen ist keine Handlung, sondern eine Einstellung, die von der Persönlichkeit ausgeht, insbesondere durch Sozialisierung und biografische Erfahrungen entsteht und durch Ressourcen gestützt wird. Wichtig ist die Erkenntnis, dass es sich dabei um zwei verschiedene Konzepte mit zwei unterschiedliche erklärende Mikromechanismen handelt.

Andererseits befreit uns eine Differenzierung von der Problematik, dass bei der empirischen Untersuchung von Sozialkapital dieselben Mechanismen (beispielsweise Opportunitäten und Motive) sowohl zu freiwilligem Engagement als auch zu sozialem Vertrauen führen müssen. Strukturelles Sozialkapital entsteht anders als kulturelles. Wenn nicht die Annahme nötig ist, dass dieselben Mikromechanismen beides erklären müssen, dann kann diese Erklärung differenzierter ausfallen. Somit entsteht weniger Diffusität mit Blick auf Entstehung und Wirkung von Sozialkapital.

Freiwilliges Engagement und seine Bedeutung für die Gesellschaft

Freiwilliges Engagement steht in keinem allgemeinen Zusammenhang mit sozialem Vertrauen. Insbesondere die Zivilgesellschaftsforschung setzt sich mitunter intensiv mit der zivilgesellschaftlichen Funktion von freiwilligem Engagement auseinander. Wie wir aber gesehen haben, sind das Sozialkapitalkonzept und das Konzept der Zivilgesellschaft weder deckungsgleich noch einfach aufeinander beziehbar (Liedhegener und Werkner 2011, 17). Zwar wurde und wird auch hier gerne auf den Sozialkapitalmechanismus nach Putnam (1993, 1995, 2000) verwiesen. Diese These stützte immerhin die Wichtigkeit von Zivilgesellschaft für Demokratie. Sie bot dafür auch einen plausiblen Erklärungsmechanismus. Aber Zivilgesellschaft und soziales Vertrauen bedingen sich nicht gegenseitig, zumindest nicht auf theoretischer Ebene. Zwar mag es sein, dass auch die Zivilgesellschaft jener Raum ist, in dem sich Sozialkapital äusserst gut entfalten kann (Fine 2010, 62; Freitag et al. 2016, 261). Aber, und das scheint mir wichtig zu betonen, die beiden Konzepte funktionieren auch unabhängig voneinander.

So ändert die Erkenntnis, dass es keinen Zusammenhang zwischen freiwilligem Engagement und sozialem Vertrauen gibt, nichts an den schon bisher belegten positiven Effekten von freiwilligem Engagement auf politische Partizipation (Verba et al. 1995, 304ff, 340, Erlach 2006, Schäfer 2006, Lippl Bodo 2007, Kunz et al. 2008b, Westle et al. 2008, Born 2014, Quintelier 2013) und ihren monetären Mehrwert für die Gesellschaft (Lawton et al. 2021). Der fehlende Automatismus, dass auf freiwilliges Engagement soziales Vertrauen folgt, ändert nichts am gesellschaftlichen Wert von freiwilligem Engagement an sich. Wenn Menschen freiwillig und ohne Gegenleistung Ressourcen für andere Menschen bereitstellen, dann ist dies höchst lobenswert und löst aus gesellschaftlicher Sicht Probleme und Herausforderungen, die anderweitig schwieriger zu lösen wären (da es beispielsweise kostenintensiver und mit zusätzlichen Strukturen verbunden wäre). Auch ändert diese Erkenntnis nichts an der grundsätzlichen Auffassung, dass die Zivilgesellschaft der zentrale Ort der Vermittlung von Politik und Gesellschaft ist und dass entsprechende vermittelnde Akteure und Räume wichtig sind, in denen Ideen diskutiert, Kritik formuliert und damit unterschiedliche Meinungen entwickelt werden können.

Geht nun der gesellschaftliche Anspruch dahin, freiwilliges Engagement allgemein zu fördern, dann sind jene Faktoren zu begünstigen, die zu entsprechenden Handlungsressourcen und -motiven führen. Konkret sind dies: Bildung fördern, Arbeitsbedingungen und Familienmodelle in Einklang bringen, Zeitressourcen für freiwilliges Engagement eröffnen, Aktivitäten für Kinder und Jugendliche entwickeln und fördern und Sozialraum fördern, auch religiösen, der niederschwellig die Koordination von freiwilligem Engagement ermöglicht. Zusätzlich ist materielle Deprivation, das heisst Armut, zu minimieren.

Anders stellt sich die Lage dar, wenn der gesellschaftliche Anspruch darin besteht, dass freiwilliges Engagement eine zivilgesellschaftliche Wirkung haben soll, die über seine direkte Ressourcenwirkung hinausgeht. Befreit von der Idee, dass freiwilliges Engagement allgemein zu sozialem Vertrauen führt, sollte in zukünftiger Forschung noch umfassender und deutlicher, ganz nach Vortkamp (2007, 159), gefragt werden: Welche Vereine und Strukturen sind tatsächlich zivilgesellschaftliche Einrichtungen und erfüllen die Funktion eines zivilgesellschaftlichen Intermediärs und welche nicht? In welchen Vereinen, Organisationen und Projekten werden welche kulturellen Muster tradiert? Und inwiefern werden unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Motiven angesprochen und mobilisiert? Geht es dabei um zivilgesellschaftliches Engagement oder eben nicht? Oder geht es gar um anti-ziviles Engagement? Zentral ist die Frage Putnams (2000, 338): Welche Netzwerke sind «Schulen der Demokratie»? Unter welchen Bedingungen entstehen solche Netzwerke und unter welchen nicht? Diese Frage lässt sich aber nicht über den von ihm vorgeschlagenen allgemeinen Mechanismus beantworten.

Soziales Vertrauen

Die vielfältigen Effekte von sozialem Vertrauen wurden und werden breit diskutiert (Tan und Vogel 2008, 883; Traunmüller 2011, 2; Shah et al. 2020, 424). Soziales Vertrauen wirkt demnach positiv auf Wirtschaft, Bildungserfolg, sozialen Zusammenhalt und politische Kohäsion; es vermindert Kriminalität und steigert demokratische Performanz und Stabilität.

Gerade mit Blick auf die Frage nach dem gesellschaftlichen Zusammenhalt ist soziales Vertrauen tatsächlich ein zentraler (horizontaler) Faktor für und ein konstitutives Element von sozialer Kohäsion (Delhey et al. 2018). Wichtig hierbei ist die Frage, wie soziales Vertrauen entsteht. Im Wissen darum, dass unterschiedliche Konstrukte auf unterschiedlichen Mikromechanismen beruhen, ist daher danach zu fragen, welche Mikromechanismen zu welchen Push-Faktoren von sozialem Zusammenhalt führen und welche nicht. Welche überlagern sich und welche wirken vielleicht sogar gegenläufig? Wichtige Bausteine zur Lösung dieser Frage scheinen mir in den Mechanismen zur Entstehung sozialen Vertrauens zu liegen: Biografische Erfahrungen und Sozialisierungsorte (Kindheit, Migration, traumatische Erlebnisse etc.) sind ebenso wichtig für die Entwicklung sozialen Vertrauens wie materielle und psychische Ressourcen der einzelnen Individuen.

Auch gesellschaftspolitisch sind die Erkenntnisse zu sozialem Vertrauen relevant. Besteht ein gesellschaftlicher Anspruch darin, soziales Vertrauen zu fördern, dann müsste analog zum freiwilligen Engagement Bildung gefördert und materieller Deprivation, das heisst Armut, entgegengewirkt werden. Auch zu vermeiden wären Erfahrungen relativer Deprivation, das heisst Erfahrungen von Ungleichheit. Zu verhindern wären auch Strukturen oder Institutionen, in denen autoritäre Einstellungen tradiert und katalysiert werden; diese stehen in einem negativen Zusammenhang mit sozialem Vertrauen. Und letztlich zerstören traumatische Erfahrungen soziales Vertrauen, insbesondere Erfahrungen von Not, Leid und Krieg.

3.2 Die ambivalente Wirkung von Religiosität

Vor allem beim sozialen Vertrauen zeigt sich die ambivalente Wirkungsweise von Religiosität. Den Ausschlag gibt die religiöse Ausrichtung. Hier stellt sich unmittelbar eine erste zentrale Anforderung, auch für zukünftige Forschungsprojekte. Wenn untersucht wird, wie Religiosität auf Handlungen und insbesondere auf Einstellungen wirkt, ist die religiöse Ausrichtung mitzudenken. So wurde der starke Effekt religiöser Praxis bei sozialem Vertrauen erst durch die Kontrolle auf diesen Faktor sichtbar. Ohne diese Kontrolle wird dieser Effekt supprimiert, das heisst unterdrückt. Solange die inhaltliche Ausrichtung nicht aufgefächert wird und solange die unterschiedlichen Dimensionen Religiosität ohne inhaltliche Konnotation erfasst werden, besteht das Risiko, dass andere Effekte nicht aufgedeckt werden können.

Die ambivalente Wirkung von Religiosität verweist sodann auf die Tatsache, dass sie sowohl positiv als auch negativ wirken kann. Es kommt eben entscheidend auf die Ausrichtung an. Es ist in diesem Sinne Van Deth (2010, 654) zu widersprechen, der behauptet, insbesondere religiöse Gelegenheitsstrukturen seien Ausgangspunkt von dunklem Sozialkapital. Das ist verkürzt und blendet die Ambivalenz des Religiösen aus. Eine liberale Ausrichtung der Religiosität hat einen positiven Effekt auf soziales Vertrauen, ebenso wie religiöse Praxis und religiöse Erfahrungen. Religiosität kann also, bildlich gesprochen, sowohl eine dunkle als auch helle Seite haben. Dies ist mitzudenken, wenn die Wirkung von Religiosität auf Individuum und Gesellschaft erforscht und diskutiert wird.

Gleichzeitig ist daran zu erinnern, dass nur beim sozialen Vertrauen eine solche ambivalente Wirkung festgestellt werden kann. Beim freiwilligen Engagement gibt es diesen Zusammenhang nicht. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass Personen sich gleichermassen freiwillig engagieren, unabhängig von der religiösen Ausrichtung. Es ist daher davon auszugehen, dass die Motive und Beweggründe, die zu Engagement geführt haben, ebenso unterschiedlich sind. Hier sollte zukünftige Forschung vermehrt ansetzen. Es ist plausibel, dass sich Menschen nicht nur aus altruistischen Motiven engagieren und sich dem Gemeinwohl verpflichtet fühlen, sondern auch aus vielfältigen anderen Gründen.

Der Mechanismus, den Allport (1954) in Zusammenhang mit der ambivalenten Wirkung von Religiosität beschreibt, ist folgender: Eine universalistische Ausrichtung der Religiosität hemmt Vorurteile und Stereotypisierungen, eine exklusivistisch-fundamentalistische Ausrichtung fördert sie aufgrund der Verabsolutierung der eigenen Position bei gleichzeitiger Abwertung des Gegenübers. Dass Stereotype und Vorurteile ihrerseits auch aufgrund religiöser Marker Wirkung haben, zeigt sich in dieser Studie am Beispiel der muslimischen Religionszugehörigkeit, die trotz breiter Kontrolle mit einem niedrigeren sozialen Vertrauen zusammenhängt. Gesellschaftliche Vorurteile und daraus resultierendes Misstrauen führen in logischer Konsequenz bei Muslim:innen zu einer tieferen Erwartungshaltung, dass Menschen allgemein vertrauenswürdig sind.

In diesem Sinn ist in der Forschung und in der gesellschaftlichen Diskussion sowohl der Entstehung als auch der Wirkung von Vorurteilen die nötige Bedeutung einzuräumen. Mit Blick auf Theoriebildung wäre es wichtig, die Vorurteilsforschung noch mehr mit jener der sozialen Identität (SIT) wie auch mit jener teurer Signale zu verbinden, um weitere Erkenntnisse hinsichtlich erklärender Mechanismen zu fördern.

Gesellschaftspolitisch ist der Befund zentral, dass es die religiöse Ausrichtung ist, die ambivalent auf soziales Vertrauen wirkt. Zurückzuweisen sind sowohl Positionen, welche Religion als «Hort des Bösen» schlechthin verschreien, als auch Gegenpositionen, die Religion allein als Phänomen betrachten, das gesellschaftliche Wirklichkeit erzeugt und Kohäsion fördert.

Es ist vielmehr differenziert auf einzelne Strömungen, Positionen und Traditionen zu achten und dabei zu fragen., inwiefern diese oder jene Position eher eine universalistische und offen ausgerichtete Religiosität des Einzelnen oder eher eine exklusivistisch-fundamentalistische und ausgrenzende Religiosität begünstigt. Besteht der gesellschaftliche Anspruch darin, soziales Vertrauen zu fördern, so sind erstere zu unterstützen und zu bevorzugen, letztere eher zurückzuweisen, denn solche exklusivistisch-fundamentalistische Positionen sind dem sozialen Vertrauen nicht zuträglich.

3.3 Wirkung religiöser Rituale

Religiöse öffentliche Praxis und ihre religiösen Rituale ermöglichen und fördern Sozialkapital. Sowohl freiwilliges Engagement als auch soziales Vertrauen hängen positiv mit dem Besuch von Gottesdiensten, Gemeinschaftsgebeten oder anderen religiösen Ritualen zusammen.

Erklärt werden können beide Effekte mit dem Auftreten kollektiver Efferveszenz bei (religiösen) Interaktionsritualen. Durch das Setting religiöser Rituale können kollektive Stimmungen entstehen und sich aufschaukeln, die in kollektive Efferveszenz münden. Diese aufgeladene Stimmung erzeugt ihrerseits emotionale Energie für den Einzelnen, weckt Solidarität in der Gruppe und festigt Moralstandards und Normen.

Die Erklärung für ein erhöhtes freiwilliges Engagement liegt in den Gelegenheitsräumen, die sich nach religiösen Ritualen ergeben: Wenn ein Ritual physisch stattgefunden hat und sich die Gruppe danach nicht sofort auflöst, sind die Bedingungen dafür gegeben, dass sich ein informeller Gelegenheitsraum für den gegenseitigen Austausch ergibt, der gekennzeichnet ist von einem Mindestmass an Gruppensolidarität, emotionaler Energie des Einzelnen und geteilten Normen. Das Informelle dieses Raums ergibt sich auch aus der Abgrenzung vom vorgelagerten formellen Raum des religiösen Rituals. Ein solcher Gelegenheitsraum bietet die nötige Niederschwelligkeit, Offenheit und Stimmung, andere Personen konkret für freiwilliges Engagement anzufragen, aber auch darin zu bestärken. Beim freiwilligen Engagement handelt es sich um strukturelles Sozialkapital. Handlungsressourcen und Handlungsmotive führen dazu, dass sich jemand freiwillig engagiert. Die konkrete Situation des religiösen Rituals eröffnet Zugang (Handlungsressource) und Motivation (Handlungsmotiv). Der Effekt auf freiwilliges Engagement erfolgt dann, zeitlich betrachtet, direkt im Anschluss an das religiöse Ritual. Eine darüberhinausgehende Stimmungs- und Einstellungsänderung beim Einzelnen ist für das Funktionieren dieses Mechanismus nicht nötig.

Mit Gelegenheitsraum verweise ich nicht nur auf eine räumliche oder soziale Struktur an sich. Eine solche Struktur muss auch, damit sie trägt und Wirkung entfalten kann, kulturell entsprechend ausgerichtet sein. Es braucht eine gewisse informelle, kollegiale Atmosphäre, damit sich Personen, die sich sonst nicht begegnen, und das ist bei religiösen Ritualen durchaus der Fall, auch für freiwilliges Engagement sowohl innerhalb als auch ausserhalb des religiösen Bereichs anfragen und sich gegenseitig motivieren. Es sind dann nicht nur, wie häufig betont, Gelegenheitsstrukturen, in denen (religiöses) freiwilliges Engagement geleistet werden kann. Sondern es sind vor allem Gelegenheitsräume, in denen sich diese Menschen treffen und sich gegenseitig für freiwilliges Engagement bestärken und anfragen, die zu einem Mehr an Engagement führen. Und es ist tatsächlich ein Mehr: Personen, die aktiv an religiöser Praxis partizipieren, engagieren sich freiwillig häufiger sowohl im religiösen als auch im nicht-religiösen Bereich, also in mehreren Bereichen.

Die Erklärung für ein erhöhtes soziales Vertrauen liegt demgegenüber weniger in den sich aus religiösen Ritualen ergebenden Gelegenheitsräumen, sondern in einer daraus resultierenden Einstellungsänderung, die sich konsequenterweise erst bei einer starken Intensität religiöser Praxis einstellt. Soziales Vertrauen entsteht nicht aufgrund einzelner, spezifischer Handlungssituationen, sondern, wenn überhaupt, aufgrund häufiger, sich wiederholender Erfahrungen. Erst dann kann sich ein Sozialisierungs- oder Lerneffekt einstellen. Gemäss dem Efferveszenz-Mechanismus sollte eine Einstellungsänderung zudem mit einer gesteigerten religiösen Erfahrung einhergehen. Das ist hier der Fall und zeichnet gerade religiöse Interaktionsrituale aus (Collins 2010, 4). Wichtig dabei ist, dass nicht die Abgrenzung zu Aussenstehenden in eine negative Abwertung mündet. Auf diesen Effekt hin habe ich in dieser Studie kontrolliert.

Der Mechanismus kollektiver Efferveszenz ist eine plausible Erklärung für die statistisch gefundenen Zusammenhänge – gerade auch in Kombination mit religiöser Erfahrung beim sozialen Vertrauen. Es müsste aber in weiterer Forschung vertieft untersucht werden, ob sich nach einem religiösen Ritual tatsächlich diese informelle Stimmung ergibt und ob sich die Beteiligten tatsächlich für freiwilliges Engagement bestärken und anfragen. Und ebenso ist vertieft zu untersuchen, welche Mikrofaktoren religiöser Interaktionsrituale nun genau dazu beitragen, dass diese zu einem erhöhten sozialen Vertrauen führen. Es ist in diesem Sinne nach den explizit religiösen Mikromechanismen zu fragen. So hat Durkheim (1912, 313) die Idee kollektiver Efferveszenz im Rahmen seiner Untersuchungen zum Religiösen entwickelt und das Religiöse in direkten Zusammenhang mit kollektiver Efferveszenz gesetzt. Collins (2005) hat dann aber, basierend darauf und im Anschluss an Goffman (1994), kollektive Efferveszenz im Rahmen von Interaktionsritualen allgemein beschrieben, nicht nur in Zusammenhang mit dem religiösen Bereich. Interaktionsrituale im religiösen Bereich würden sich aber vor allem durch einen starken Symbolbezug und durch die Erzeugung religiöser Erfahrungen auszeichnen (Collins 2010).

In diesem Zusammenhang ist folgende Feststellung relevant: Auf der einen Seite zeigen sich Effekte religiöser Rituale auf freiwilliges Engagement und soziales Vertrauen, auf der anderen Seite zeigen sich keine direkten Effekte, die vom Grad der Säkularisierung des Kontexts ausgehen. Diese Tatsache könnte dazu verleiten, anzunehmen, dass mit zunehmender Säkularisierung freiwilliges Engagement und soziales Vertrauen entsprechend abnehmen würden. Das ist aber nicht der Fall. Dazu drei Erklärungsversuche:

Erstens könnte es sein, dass sich wie bei der Säkularisierung ein negativer Effekt auf freiwilliges Engagement und soziales Vertrauen erst längerfristig als Kohorteneffekt äussert. Aufgrund der Tatsache, dass wir spätestens seit den 1970er-Jahren einen Säkularisierungseffekt feststellen können und dass der Prozess schon einige Jahre früher eingesetzt haben muss, müssten solche Kohorteneffekte schon ihre Wirkung gezeigt haben. Dies ist aber nicht der Fall, wie die zeitlichen Verlaufsdarstellungen belegen (vgl. Abb. 7.1 und Abb. 8.1).

Zweitens wäre danach zu fragen, ob und welche anderen quasi-religiösen Feiern oder weiteren Interaktionsrituale in unserer Gesellschaft vollzogen werden, die einen ähnlichen Communitaseffekt haben. Diese Rituale müssten ebenso zu einem erhöhten sozialen Vertrauen führen und Gelegenheitsräume eröffnen, die zur gesellschaftlichen Koordination von freiwilligem Engagement beitragen. Dabei wäre auch zu beachten, dass sich ehemals religiöse Interaktionsrituale und entsprechende Gelegenheitsräume transformiert und säkularisiert haben können, gegenwärtig anders konnotiert sind (Pickel und Gladkich 2011, 103–104; Pickel 2014, 58), und weiterhin eine solche Wirkung haben. In diesem Zusammenhang ist auch zu fragen, inwiefern die physische Co-Präsenz notwendige Bedingung für einen solchen Communitaseffekt ist. Durch den Trend der Digitalisierung finden stets mehr Aktivitäten im virtuellen Raum statt. Wirken hier dieselben Mechanismen gleich? Oder gibt es Unterschiede? Die diesbezüglichen Effekte auf freiwilliges Engagement und soziales Vertrauen müssten hierbei zukünftig vertieft untersucht werden.Footnote 2

Und drittens ist die zunehmende Komplexität moderner Gesellschaften an sich in Rechnung zu stellen. Hierzu relevant sind beispielsweise die Überlegungen von Walthert (2020, 448) zu religiösen Ritualen und sozialer Ordnung. Demnach ist der Grad an gesellschaftlicher Strukturierung durch rituelle Zentralisierung und generalisierte Symbole in modernen komplexen Gesellschaften weniger stark ausgeprägt. Aufgrund der zunehmenden Komplexität entwickeln sich andere Mechanismen, die zu Konstitution und Reproduktion von Gemeinschaft und Gesellschaft beitragen. «Ihr Vollzug und ihre Wirkungen sind dezentral, schwieriger zu identifizieren und hinsichtlich ihrer Relevanz schwieriger zu beurteilen […]» (Walthert 2020, 451). Dass nun gleichzeitig religiöse Rituale wie auch andere Mechanismen komplexer Gesellschaften auf Sozialkapital wirken, ist dann kein Widerspruch mehr. Vielmehr verweist dies auf die Tatsache, dass mit zunehmender Komplexität auch die zugehörigen Erklärungen mehrschichtiger und komplexer werden.

In diesem Zusammenhang wäre es auf theoretischer Ebene wichtig, den Efferveszenz-Mechanismus (religiöser) Interaktionsrituale (Durkheim 1912; Goffman 1994; Collins 2005; Walthert 2020) mit der Social Identity Theory (Tajfel 1982; Turner et al. 1987) und mit der Kontakthypothese (Allport 1954; Sherif 1961) in Verbindung zu bringen, um ergebnisoffen Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten, mit dem Ziel, soziale Phänomene moderner Gesellschaften besser verstehen und erklären zu können.

Auch gesellschaftspolitisch ist das Wissen um die Wirksamkeit von Ritualen, seien sie religiös oder nicht religiös, relevant. Rituale brauchen Zeit und Raum. Sei es die Festsetzung von Feiertagen, seien es arbeitsrechtliche Bestimmungen, seien es Reglemente zur Benützung von Räumlichkeiten: Menschen und ihre Institutionen brauchen Zeit und Raum für soziale Interaktion und für entsprechende Interaktionsrituale. Besteht darüber hinaus ein gesellschaftlicher Anspruch darin, dass soziales Vertrauen und zivilgesellschaftliches freiwilliges Engagement gefördert werden, dann sind jene Interaktionsräume und -zeiten sowie jene Institutionen zu fördern, in denen Gruppenabgrenzungen nicht mit sozialer Abwertung von Fremdgruppen verbunden werden.

3.4 Kontextuelle Pfadabhängigkeiten

Sowohl freiwilliges Engagement als auch soziales Vertrauen stehen unter kontrollierten Bedingungen in einem Zusammenhang mit der historisch konfessionellen Prägung des Kontexts. Weiter scheint die religiöse Diversität des Kontexts auf lange Sicht positiv mit sozialem Vertrauen zusammenzuhängen.

Der religiöse Kontext der Vergangenheit und auch der Gegenwart hat Einfluss auf Handlungen und Einstellungen auf Individualebene. Diese Faktoren dürfen aber weder über- noch unterschätzt werden. Sie dürfen insofern nicht überschätzt werden, als dass die Individualebene eindeutig mehr Erklärungskraft besitzt als die Kontextebene. Gleichzeitig dürfen Kontextfaktoren nicht unterschätzt werden, da auch sie zur Erklärung von Phänomenen beitragen, hier von freiwilligem Engagement und sozialem Vertrauen. Vielmehr ist das eine spannende und Erkenntnis bereichernde Tatsache: Historische Pfadabhängigkeiten wirken – und diese Wirkungen zeigen sich auch in quantitativen Umfragedaten.

Wichtig ist also, dass kontextuelle Faktoren als solche erkannt und entsprechend mitbedacht werden. So handelt es sich beispielsweise beim Reformierteneffekt auf Sozialkapital gemäss dieser Studie um einen Effekt der Kontext- und nicht der Individualebene. Das heisst: Der Zusammenhang zeigt sich nicht in der evangelisch-reformierte Zugehörigkeit auf Individualebene, sondern in der historischen reformierten Prägung auf Kontextebene. Entscheidend ist also, einen Effekt und seine erklärenden Mechanismen korrekt zu verorten und gleichzeitig adäquat in einem Mehrebenenmodell abzubilden.

3.5 Differenzierungen sind wichtig – gerade bei Religion und Religiosität

Religion ist ein mehrdimensionaler Begriff. Er ist diskursiv der Veränderung und Konstruktion unterworfen und in dieser Hinsicht definitorisch zunächst problematisch. Die Anerkennung dieser Problematik führt zu Differenzierungen, die es ermöglichen, das Phänomen Religion in seinen verschiedenen Facetten zu untersuchen und besser zu verstehen.

Es ist für die vorliegende Studie zentral, zwischen verschiedenen Dimensionen von Religiosität zu differenzieren. Das gilt auch für die Erkenntnisse, die sich daraus ergeben. Ohne diese Unterscheidungen wäre unklar, was genau bei Religiosität zu mehr freiwilligem Engagement führt – und was eben nicht. Und der Effekt religiöser Rituale wäre bei sozialem Vertrauen gar nicht erst aufgetaucht (da unterdrückt durch religiöse Ausrichtung). Es wäre unklar geblieben, was genau bei Religiosität zu mehr sozialem Vertrauen führt.

Diese Erkenntnis ist wichtig, sowohl mit Blick auf die bisherige wie auf die zukünftige Forschung: Wenn nicht differenziert wird, wann bestimmte Dimensionen von Religion und Religiosität ausser Betracht fallen, dann stellen sich diffuse Resultate ein (Tan 2014, 524f; Chuah et al. 2016, 282).

Das Phänomen Religion kann nicht auf einzelne Facetten reduziert werden. Auch die vorliegenden Differenzierungen bleiben in gewisser Hinsicht verkürzt, da sie bestimmten Arbeitskonzeptionen folgen. Es geht stets um den Versuch, einzelne Aspekte unter gewissen Gesichtspunkten zu untersuchen und so Erkenntnisgewinn zu erzielen.