Neben freiwilligem Engagement gilt insbesondere das soziale Vertrauen, die kulturelle Dimension von Sozialkapital, als wichtiger Indikator für den Zustand gesellschaftlichen Zusammenhalts und für eine kooperative Kultur (Freitag 2016, 149). In diesem dritten und letzten Ergebniskapitel will ich nun die zwei weiteren Forschungsfragen beantworten, die das soziales Vertrauen betreffen: Welchen Einfluss haben Religion und Religiosität auf soziales Vertrauen in der Schweiz (vgl. Abschnitte 8.1 und 8.2)? Und welchen Einfluss hat freiwilliges Engagement auf soziales Vertrauen (vgl. Abschnitt 8.3)? Vorab aber noch allgemein zum sozialen Vertrauen in der Schweiz.

1 Soziales Vertrauen in der Schweiz

Soziales Vertrauen als Grundvertrauen in Menschen allgemein ist die Überzeugung und die damit verbundene Erwartungshaltung, dass Menschen allgemein vertrauenswürdig sind. Der schweizerische Bevölkerungsteil, der ein solches Grundvertrauen aufweist, ist in den vergangenen Jahrzehnten gewachsen.

Gemäss des KONID Survey 2019 weisen in der Schweiz rund 68 % der Bevölkerung ein solches Grundvertrauen aus (vgl. Abb. 8.1).

Abbildung 8.1
figure 1

Soziales Vertrauen in der Schweiz 1989–2019. (Anmerkungen: Runde Markierungen = World Values Survey; Quadratische Markierungen = European Values Study; Rauten Markierung = Euromodule; Dreieckige Markierung = KONID Survey 2019. Beachte die Skalierung der Y-Achse von 20 % bis 80 %. Quellen: Haerpfer et al. 2021; EVS European Values Study 2021; Zapf et al. 2004; KONID Survey CH 2019 / Abbildung: Eigene Darstellung)

Waren es 1989 gemäss World Values Survey (WVS) rund 44 %, so stieg dieser Wert gemäss KONID Survey 2019 auf rund 68 % an (vgl. Abb. 9.1). Immer mehr Menschen in der Schweiz haben also in den vergangenen Jahrzehnten die Erwartungshaltung eingenommen, dass Menschen allgemein vertrauenswürdig sind.

2 Soziales Vertrauen durch Religiosität

Um die Frage nach dem Einfluss von Religion und Religiosität auf soziales Vertrauen zu beantworten, werden zuerst die Effekte dargestellt, die von Religiosität auf der Individualebene ausgehen.

2.1 Religiosität und soziales Vertrauen

Die bivariaten Analysen zwischen Religiosität und sozialem Vertrauen zeigen, dass hinsichtlich des sozialen Vertrauens mehrere Effekte auftreten könnten. So konnte ein bivariat positiver Zusammenhang zwischen sozialem Vertrauen und einer evangelisch-reformierten Zugehörigkeit und ein negativer bei einer muslimischen Zugehörigkeit festgestellt werden. Von der religiösen Ausrichtung gingen ambivalente Bezüge aus, wie sie Allport (1954) beschrieben hat: Eine religiös liberale Ausrichtung steht in einem positiven Verhältnis zu sozialem Vertrauen, eine exklusivistisch-fundamentalistische Ausrichtung der Religiosität in einem negativen Verhältnis. Bei der religiösen Überzeugung wurde ein eher kontraintuitiver Zusammenhang entdeckt: Personen, die eine Mittelposition hinsichtlich der Frage nach Gott oder etwas Göttlichem einnehmen, weisen ein etwas tieferes soziales Vertrauen aus als solche, die gar nicht oder wenig und umgekehrt ziemlich oder sehr an Gott oder etwas Göttliches glauben. Hinsichtlich der religiösen Praxis wurde eine schwache Korrelation bei der privaten Praxis, das heisst beim Beten oder Meditieren, gefunden. Kein Zusammenhang ging von der öffentlichen religiösen Praxis aus. Und die religiöse Erfahrung stand bivariat betrachtet in einem kleinen Verhältnis mit sozialem Vertrauen. Inwiefern bestätigen sich diese Resultate nun unter kontrollierten Bedingungen?

Modellentwicklung: Supressionseffekt bei der religiösen Praxis

Das Startmodell, das aus allen Religiositätsvariablen besteht, zeigt auf: Die Religionszugehörigkeit, die religiöse Überzeugung, die Ausrichtung der Religiosität als liberal oder konservativ bzw. als exklusivistisch-fundamentalistisch sowie die religiöse Erfahrung weisen auch unter gegenseitiger Kontrolle einen Zusammenhang mit freiwilligem Engagement auf (vgl. Tab. A8.1).

Ausgehend von der öffentlichen Praxis wird in diesem kontrollierten Modell, im Gegensatz zur bivariaten Analyse, ein starker Zusammenhang sichtbar. Der Grund hierfür besteht darin, dass dieser Effekt öffentlicher religiöser Praxis erst dann zutage tritt, wenn auf die religiöse Ausrichtung hin kontrolliert wird. Ist dem nicht so, weist die öffentliche Praxis keinen Effekt auf. Damit haben wir es hier mit einem Suppressionseffekt zu tun (vgl. Tab. 8.1 das Startmodell und das Supressionsmodell). Dieser kommt dadurch zustande, dass eine konservative und exklusivistisch-fundamentalistische Ausrichtung der Religiosität einen positiven Zusammenhang mit der religiösen öffentlichen Praxis hat (rs = .21 / .42)Footnote 1 und zugleich einen negativen mit sozialem Vertrauen ausweist (OR = .77 / .56)Footnote 2.

Tabelle 8.1 Vergleich von drei logistischen Regressionsmodellen zur Erklärung sozialen Vertrauens mit Religiositätsvariablen

Hinsichtlich der Untersuchung der Beziehung zwischen Religiosität und sozialem Vertrauen ist es allein schon wegen dieses Supressionseffekts relevant, die religiöse Ausrichtung miteinzubeziehen. Noch relevanter wird dieser Einbezug in Anbetracht der Erklärungsleistung, welche die religiöse Ausrichtung mit sich bringt. Unter Kontrolle der religiösen Ausrichtung steigt die Erklärungskraft an und der ROC-Wert steigt von .63 beim Supressionsmodell auf .67 beim Startmodell bzw. Nagelkerkes R2 von .07 auf .13. Das Modell, lediglich bestehend aus den Religiositätsvariablen als unabhängige Variablen, hat dann aufgrund der Interpretation von Cohens f2 nicht mehr nur eine kleine Erklärungskraft (f2 = .07), sondern eine mittlere (f2 = .15). Sowohl die zusätzliche Erklärungsleistung der religiösen Ausrichtung als auch die Gesamterklärungskraft der Religiosität an sich sind bemerkenswert.

Für die weitere Modellbildung wurde ein Kurzmodell erstellt. Die private Praxis und die Selbstdeklaration bezüglich Religiosität und Spiritualität hatten schon bivariat keinen oder nur einen äusserst geringen Einfluss auf soziales Vertrauen. Unter kontrollierten Bedingungen ist hierbei kein Zusammenhang mehr feststellbar. Bei den verbleibenden Religiositätsvariablen führt der Ausschluss dieser Variablen nicht zu problematischen Veränderungen der Effektstärken, was einen solchen rechtfertigt (vgl. Tab. A8.4). Die Güte dieses Kurzmodells (ROC = .67, R2 (f2): .124 (.14)) ist insbesondere, was die Anpassung angeht, noch nicht im akzeptablen Bereich. Die dennoch verhältnismässig gute Voraussagekraft stammt vor allem aus der Ausrichtung der Religiosität und der öffentlichen Praxis.

Eine Verbesserung der Voraussagekraft sollte durch die folgende Hinzunahme der Kontrollvariablen eintreten. Diese wurden theoretisch hergeleitet und uni- und bivariat gesichtet (vgl. Tab. A6.6 und A6.12).Footnote 3 Wiederum wurde im Rahmen der finalen Modellierung ein Modell zwecks Ausreisseridentifikation erstellt – und anhand der Cook Distanzen und der standardisierten Residuen wurden die Ausreisser identifiziert und für die finalen Modelle herausgefiltert (vgl. Tab. A8.6 sowie Abb. A8.1 und A8.2).

Abbildung 8.2
figure 2

Quelle: KONID Survey CH 2019 / Abbildung: Eigene Darstellung)

Individualeffekte zur Erklärung sozialen Vertrauens. (Anmerkungen: Grafische Darstellung der Odds Ratios mit 95 %-Konfidenzintervallen basierend auf logistischem Regressionsmodell mit gewichteten Daten und ausgeschlossenen Ausreissern: n = 1993, -2 Log-Likelihood: 2149.096, Hosmer-Lemeshow-Test: χ2 (8) = 18.488 (.018), ROC (p): .778 (.000), Nagelkerkes R2 (f2): .256 (.34); Vgl. dazu Tabelle A8.5 im elektronischen Zusatzmaterial. Locker gestrichelte vertikale Linie bei .66/1.5: kleiner Effekt; dicht gestrichelte Linie bei .4/2.5: mittlerer Effekt; dicht gestrichelte Linie bei .25/4: starker Effekt. Alle nicht dichotomen Variablen standardisiert. * Aktivität in Kindheit weist auf Individualebene einen Zusammenhang auf, unter Kontrolle von Kontextbedingungen verschwindet dieser (vgl. Abschnitt 8.2.2.). Nicht dargestellt, da kein Effekt vorhanden: andere Religionszugehörigkeit, Geschlecht, Persönlichkeitsfaktoren Gewissenhaftigkeit, Neurotizismus und Offenheit, weitere Ausprägungen Zivilstand, Erwerbstätigkeit, Schichtzuordnung, Kontakthäufigkeit- und Qualität.

Hinsichtlich der Kontrolle auf Multikollinearitäten ist auf das beim freiwilligen Engagement Gesagte zu verweisen, da es sich faktisch um dieselben unabhängigen Variablen handelt.Footnote 4 Die Multikollinearitätsanalyse weist auf keine Probleme für das Gesamtmodell hin (vgl. Modell V in Tab. A7.2).

Modell mit Individualfaktoren zur Erklärung sozialen Vertrauens

Das finale Modell (vgl. Abb. 8.2 sowie Tabelle A8.5) besitzt eine für sozialwissenschaftliche Verhältnisse ziemlich gute Anpassung an die Daten (Hosmer-Lemeshow-Test: χ2 (8) = 33.989 (.000), ROC (p): .776 (.000), Nagelkerkes R2 (f2): .328 (.49)). Der Hosmer-Lemeshow-Test ist signifikant, was auf Anpassungsprobleme hindeutet. Aber in Anbetracht der Stichprobengrösse und der Anzahl Modellvariablen und insbesondere aufgrund der Tatsache, dass auch noch andere Kenngrössen zur Bewertung des Modells verwendet wurden, die auf eine gute Anpassung hindeuten, ist dies unproblematisch. Das Modell besitzt also gesamthaft betrachtet eine gute Erklärungsleistung. Ich gehe im Folgenden zunächst auf die einzelnen Religiositätsvariablen und anschliessend auf die allgemeinen Voraussetzungen für soziales Vertrauen auf Individualebene ein.

Soziales Vertrauen im Spiegel religiöser Zugehörigkeiten

Hinsichtlich der religiösen Zugehörigkeit kann zunächst festgestellt werden, dass hier unter kontrollierten Bedingungen kein Zusammenhang vorliegt. Die religiöse Zugehörigkeit alleine fungiert also zumindest in der Schweiz nicht als Zugangsressource zu Gelegenheitsstrukturen für Sozialisierungs- und Lernerfahrungen von sozialem Vertrauen.

Insbesondere gibt es keinen positiven Zusammenhang zwischen einer evangelisch-reformierten Zugehörigkeit und sozialem Vertrauen, der bivariat noch vorhanden war. Dies steht im Einklang mit bisherigen Erkenntnissen für die Schweiz (Freitag und Bauer 2016, 171, Fussnote 15), die im Gegensatz zu Ergebnissen aus anderen Ländern (Delhey und Newton 2005; Traunmüller 2011, 356), auch einen solchen fehlenden Zusammenhang aufzeigten.

Demgegenüber liegt trotz breiter Kontrolle auch hinsichtlich Migrationshintergrund, Alter und Deprivation ein negativer Zusammenhang zwischen einer muslimischen Zugehörigkeit und sozialem Vertrauen vor (OR = 0.51). Eine plausible Erklärung hierfür liefert der Mechanismus teurer Signale – aber in negativer Art und Weise: Muslim:innen nehmen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum Islam und damit zu einer religiösen Minderheit ein Misstrauen vonseiten der Bevölkerungsmehrheit wahr, das sich auch in konkreten Diskriminierungserfahrungen zeigt (Gianni et al. 2015, 53; Chuah et al. 2016; Liedhegener et al. 2019, 21). Dieses Misstrauen stammt weniger von konkreten negativen Kontakterfahrungen, sondern ist vielmehr Resultat medialer und gesellschaftlicher Diskurse und daraus entstehender Stereotypisierungen und Vorurteile (Behloul 2010, 2011; Gianni 2013; Gianni et al. 2015, 15, 28; Baumann und Tunger-Zanetti 2017; Pickel et al. 2020a; Tunger-Zanetti 2021). Dieses den Muslim:innen entgegengebrachte Misstrauen führt dazu, dass ihre durchschnittliche Erwartungshaltung, dass Menschen allgemein vertrauenswürdig sind, niedriger und damit das soziale Vertrauen tiefer ist. Die religiöse Zugehörigkeit wirkt in diesem Zusammenhang als Marker für gesellschaftliche Stereotype und Vorurteile, in denen damit zusammenhängende Vertrauensverhältnisse spiegelbildlich sichtbar werden.

Religiöse Überzeugung: von Puzzles und Ambivalenzen

Auch unter kontrollierten Bedingungen ist hinsichtlich der religiösen Überzeugung weiterhin ein u-förmiger Zusammenhang feststellbar. Sowohl ein nicht vorhandener (OR = 1.54) als auch ein ausgeprägter (OR = 1.66) Glaube an Gott oder an etwas Göttliches hängen im Vergleich zu einem mittleren und damit indifferentem Gottesglauben positiv mit sozialem Vertrauen zusammen. Es spielt also weniger der Glaube an sich eine Rolle, sondern eine diesbezüglich klare Positionierung an einem der beiden Pole. Dies widerspricht einem Beobachtereffekt, wie er von Meißelbach (2019, 392) beschrieben und in anderem Zusammenhang auch schon belegt wurde (Shariff und Norenzayan 2007; Piazza et al. 2011; Gervais und Norenzayan 2012).Footnote 5 Ein solcher kann vorliegend für soziales Vertrauen nicht bestätigt werden.

Eine unmittelbare Erklärung für diesen u-förmigen Effekt gibt es vorderhand nicht und weitere Forschung drängt sich auf. Eine mögliche Hypothese wäre, dass ein solcher non-linearer Zusammenhang weniger mit der religiösen Überzeugung an sich zu tun hat, sondern mit anderen, hier nicht mitkontrollierten Faktoren, die sich in dieser Mittelpositionierung ausdrücken. Wer eine solche Mittelpositionierung einnimmt, weist keine klare Haltung hinsichtlich der Frage religiöser Überzeugung auf. Diese unklare Haltung und die ihr zu Grunde liegenden Faktoren könnten Auslöser für die niedrigere Vertrauensquote sein. Um dieses Puzzle zu lösen, ist weitere Forschung nötig.

Gerade mit Blick auf das soziale Vertrauen ist neben der Ausprägung der religiösen Überzeugung die religiöse Ausrichtung zentral. So vermutete schon Allport (1954), dass Religion ambivalent und damit sowohl bindend als auch trennend wirken könne. Eine universale und liberale religiöse Ausrichtung sollte, aufgrund ihrer Vorurteile hemmenden Wirkung, einen eher positiven Effekt auf soziales Vertrauen aufweisen, eine exklusivistisch-fundamentalistische und konservative Einstellung hingegen eine eher negative Wirkung. Was sich bivariat schon zeigte, kann unter kontrollierten Bedingungen bestätigt werden: eine liberal ausgerichtete Religiosität hängt positiv (OR = 1.25), eine exklusivistisch-fundamentalistische Religiosität und damit verbundene Einstellungen negativ (OR = 0.71) mit sozialem Vertrauen zusammen. Beide Effekte weisen statistisch betrachtet eher einen Hintergrundcharakter auf. Das heisst nicht, dass explorativ betrachtet keine Effekte sichtbar wären, ganz im Gegenteil (vgl. Abb. 8.3). Es bedeutet aber, dass die nachgewiesenen Effekte zu einem gewissen Grad zwar von der religiösen Ausrichtung selbst ausgehen, aber auch durch andere Faktoren mitbestimmt werden, wie beispielsweise religiös exklusivistisch-fundamentalistische, autoritäre Werteinstellungen oder Eigenarten der Persönlichkeit.

Abbildung 8.3
figure 3

Quelle: KONID Survey CH 2019 / Abbildung: Eigene Darstellung)

Religiöse Ausrichtung und soziales Vertrauen. (Anmerkungen: Proximale Wahrscheinlichkeit für soziales Vertrauen basierend auf einem logistischem Regressionsmodell mit Individualfaktoren (vgl. Tab. A8.5). Gestrichelte Linien: Horizontale Linie bei y = 68 % und vertikale Linie im Mittelpunkt der x-Achse.

Konkret beträgt die proximale Wahrscheinlichkeit für soziales Vertrauen bei Personen, die ihre Religiosität als sehr konservativ einschätzen, rund 44 %. Sie steigt kontinuierlich an bis hin zu jenen Personen, die ihre Religiosität als liberal oder sehr liberal einschätzen. Bei diesen beträgt die proximale Wahrscheinlichkeit für soziales Vertrauen rund 78 %. Wichtig ist zu sehen: Im Wissen darum, dass die Vertrauensquote gesamthaft betrachtet bei rund 68 % liegt (horizontale, gestrichelte Linie in Abb. 8.2), wirkt die religiöse Ausrichtung konsistent ambivalent: Ausgehend von der Skalenmitte (vertikale, gestrichelte Linie in Abb. 8.2) steht eine konservative Ausrichtung in einem negativen und eine positive Ausrichtung in einem positiven Zusammenhang mit sozialem Vertrauen.

Dies zeigt sich auch bei der exklusivistisch-fundamentalistischen Ausrichtung der Religiosität (vgl. Abb. 8.4). Hier besteht gesamthaft betrachtet ein negativer Zusammenhang: Je ausgeprägter eine exklusivistisch-fundamentalistische Ausrichtung der Religiosität ist, desto tiefer das soziale Vertrauen.Footnote 6 Wichtig ist auch hier wiederum zu sehen, dass eine exklusivistisch-fundamentalistische religiöse Ausrichtung ambivalent wirkt. Die Mehrheit der Befragten platziert sich auf der Skala der exklusivistisch-fundamentalistischen Ausrichtung im unteren Bereich (M = 1.44, SD = 0.50). Bei dieser Mehrheit der Personen kann nicht von einer exklusivistisch-fundamentalistischen Ausrichtung die Rede sein, sondern eher im Sinn Allports (1954) von einer universalistischen Ausrichtung ihrer Religiosität. Eine solche wirkt nun eher positiv, soziales Vertrauen fördernd. Demgegenüber wirkt eine exklusivistisch-fundamentalistische Ausrichtung negativ, soziales Vertrauen hemmend.

Abbildung 8.4
figure 4

Quelle: KONID Survey CH 2019 / Abbildung: Eigene Darstellung)

Religiös exklusivistisch-fundamentalistische Ausrichtung und soziales Vertrauen. (Anmerkungen: Proximale Wahrscheinlichkeit für soziales Vertrauen basierend auf einem logistischem Regressionsmodell mit Individualfaktoren (vgl. Tab. A9.5). Anpassungslinie: \(y = 0.88 - 0.11x\), \(R^{2} = .063\). Gestrichelte Linien: Horizontale Linie bei y = 68 %, vertikale Linie von Schnittpunkt abgleitet.

Diese ambivalente Wirkung der religiösen Ausrichtung steht im Einklang mit Allports (1954) Überlegungen zu Vorurteilen und bestätigt bisherige Forschungen (Smidt 1999; Putnam und Campbell 2010, 469; Dingemans und van Ingen 2015, 752; Hsiung und Djupe 2019). Je nach Ausrichtung hemmt oder befördert die religiöse Ausrichtung Stereotypisierungen und Vorurteile gegenüber anderen Menschen und damit die Einschätzung darüber, ob Menschen allgemein vertrauenswürdig sind oder nicht.

Religiöse Praxis und soziales Vertrauen

Die öffentliche religiöse Praxis steht, ähnlich wie mit dem freiwilligen Engagement, auch mit dem sozialen Vertrauen in einem positiven Zusammenhang. Dieser wird aber im Gesamtmodell erst unter kontrollierten Bedingungen, insbesondere unter Kontrolle auf die religiöse Ausrichtung hin, sichtbar. Betrachten wir diesen Effekt etwas genauer, so stellen wir fest: Er tritt, im Gegensatz zum Effekt beim freiwilligen Engagement, bei dem er über die gesamte Bandbreite hinweg wirkt, beim sozialen Vertrauen erst bei äusserst intensiver religiöser Praxis ein. Eine mehrmals jährliche oder monatliche religiöse Praxis weist im Vergleich zu keiner Praxis nur einen knapp kleinen Zusammenhang auf (OR = 1.48), ein wöchentlicher Besuch gar keinen. Erst bei mehrmals wöchentlichem oder gar täglichem Besuch eines religiösen Rituals wächst dann dieser Effekt. Dieser Befund bestätigt bisherige Resultate von Smidt (1999) und Traunmüller (2011, 356). Wichtig hierfür scheint die Kontrolle auf die religiöse Ausrichtung zu sein.

Der Unterschied zum freiwilligen Engagement lässt sich wie folgt erklären: Einerseits besteht ein qualitativer Unterschied zwischen freiwilligem Engagement und sozialem Vertrauen als struktureller versus kultureller Seite von Sozialkapital. Andererseits sind damit verschiedene erklärende Mechanismen verbunden. Das gilt auch für das Auftreten des Effekts bei äusserst intensiver Praxis.

Beim freiwilligen Engagement handelt es sich um strukturelles Sozialkapital und um konkrete Handlungen. Handlungsressourcen und Handlungsmotive führen dazu, dass sich jemand freiwillig engagiert. Öffentliche Rituale erzeugen vermutlich, wie dargestellt, jene efferveszente Stimmung, die dazu führt, dass im Kontext religiöser Rituale einfacher und niederschwelliger als andernorts für freiwilliges Engagement angefragt und motiviert werden kann. Die konkrete Situation des religiösen Rituals eröffnet Zugang (Handlungsressource) und Motivation (Handlungsmotiv). Der Effekt auf freiwilliges Engagement erfolgt dann zeitlich betrachtet direkt im Anschluss an das religiöse Ritual. Eine darüberhinausgehende Stimmungs- und Einstellungsänderung beim Einzelnen ist für das Funktionieren dieses Mechanismus nicht nötig. Das würde auch erklären, warum sich der positive Effekt religiöser Rituale auf das freiwillige Engagement schon auf tiefem Niveau zu zeigen beginnt, im Gegensatz zum Effekt beim sozialen Vertrauen.

Soziales Vertrauen entsteht nicht aufgrund einzelner, spezifischer Handlungssituationen, sondern vielmehr durch Sozialisierung, Lernerfahrungen und genügend Ressourcen. Eine Einstellungsänderung im sozialen Vertrauen ergibt sich nicht aufgrund einer einzelnen Handlungssituation, sondern, wenn überhaupt, aufgrund häufiger, sich wiederholender Erfahrungen. Erst dann kann sich ein Sozialisierungs- oder Lerneffekt einstellen. Dass sich also das soziale Vertrauen aufgrund einzelner Besuche religiöser Rituale nicht ändert, ist plausibel. Vielmehr scheint ein solcher einstellungsverändernder Effekt von religiösen Ritualen erst bei genügend starker Intensität und Häufigkeit auszugehen. Die Erklärung, dass unter diesen Bedingungen soziales Vertrauen entsteht, liefert der Efferveszenz-Mechanismus: Durch das Setting religiöser Rituale können kollektive Stimmungen entstehen und sich aufschaukeln, die in kollektive Efferveszenz münden. Diese aufgeladene Stimmung erzeugt ihrerseits unter anderem emotionale Energie für den Einzelnen und festigt Moralstandards und Normen wie auch soziales Vertrauen. Wichtig für diesen Effekt ist, dass, wie theoretisch beschrieben, die Abgrenzung zu Aussenstehenden nicht in eine negativen Abwertung mündet. Wird auf diese Abgrenzung nicht kontrolliert, sollte sich gemäss dem beschriebenen Mechanismus kein Effekt auf soziales Vertrauen einstellen. Genau dies haben wir mit der Kontrolle auf die religiöse Ausrichtung getan. Insofern ist das Auftreten eines solchen Supressionseffekts auch theoretisch erklärbar.

Gemäss dem beschriebenen Efferveszenz-Mechanismus sollte eine Einstellungsänderung zudem mit einer gesteigerten religiösen Erfahrung einhergehen. Diese sollte sich ergeben, wenn religiöse Rituale bei den Teilnehmenden eine Wirkung erzielen und nicht inhaltsleer und wirkungslos sind. Dass dies beim freiwilligen Engagement nicht der Fall sein muss, ist plausibel: Der Mechanismus, der zu einem vermehrten freiwilligen Engagement führt, ist zeitlich begrenzt auf das religiöse Ritual und kurz danach. Wie steht es also um den Zusammenhang zwischen religiöser Erfahrung und sozialem Vertrauen?

Religiöse Erfahrung

Religiöse Erfahrung steht in einem durchwegs positiven Zusammenhang mit sozialem Vertrauen. Personen, die von sich sagen, dass «eher keine [religiösen Erfahrungen] vorhanden» sind, weisen bereits ein höheres soziales Vertrauen auf, als Personen, die von gar keinen solchen Erfahrungen berichten (OR = 1.81). Auch bei Personen, die tendenziell von solchen Erfahrungen berichten («eher vorhanden»), ist ein erhöhtes soziales Vertrauen feststellbar (OR = 1.55). Ebenso bei Personen, die klar von solchen religiösen Erfahrungen berichten (OR = 2.25). Die Erklärung hierfür schliesst an bisher Gesagtes an. Gerade in Kombination mit dem gefundenen Zusammenhang bei der religiösen Praxis ist dieser Effekt, ausgehend von der religiösen Erfahrung, gut erklärbar durch die Eigenart religiöser Rituale als Interaktionsrituale und durch die Möglichkeit, dass dabei kollektive Efferveszenz entsteht.

Für die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Religiosität und sozialem Vertrauen ergibt sich also eine ambivalente Antwort. Einerseits hängen religiöse öffentliche Praxis und religiöse Erfahrung aufgrund des Efferveszenz-Mechanismus und eine liberal ausgerichtete Religiosität aufgrund weniger Vorurteilsbildung positiv mit sozialem Vertrauen zusammen. Andererseits steht eine exklusivistisch-fundamentalistisch ausgerichtete Religiosität aufgrund vermehrter Vorurteilsbildung in einem negativen Zusammenhang mit sozialem Vertrauen. Religiosität steht also mit sozialem Vertrauen in einem Zusammenhang und zwar auf ambivalente Art und Weise.

2.2 Allgemeine Voraussetzungen für soziales Vertrauen auf Individualebene

Die Effekte zentraler Kontrollvariablen zeigen sich grossmehrheitlich, wie gemäss Forschungsstand und bivariater Erstanalyse erwartet.Footnote 7 Die grosse Ausnahme bildet der fehlende Zusammenhang zwischen freiwilligem Engagement und sozialem Vertrauen (vgl. dazu folgendes Abschnitt 9.3).

Soziales Vertrauen hängt einerseits ab von den äusseren Umständen, von verfügbaren Ressourcen und den damit verbundenen Risiken, Menschen zu vertrauen. Andererseits entwickelt es sich durch Sozialisierung, das heisst durch Verhaltens- und Einstellungsübernahme von Eltern, Peers und weiteren Bezugspersonen sowie durch situationsbedingte Lernerfahrungen (Kontakthypothese).

Zunächst steht soziales Vertrauen wie erwartet auch unter kontrollierten Bedingungen in Zusammenhang mit einer verträglichen Persönlichkeitsstruktur (OR = 1.98) und hintergründig auch mit Extraversion (OR = 1.15). Keine Zusammenhänge ergeben sich unter kontrollierten Bedingungen mit Gewissenhaftigkeit, Neurotizismus und Offenheit. Hinsichtlich sozialisierter Einstellungen ist ein negativer Zusammenhang mit einer autoritären Einstellung belegbar (OR = 0.76).

Wie erwartet steht weiter das Alter in einem positiven Zusammenhang mit dem sozialen Vertrauen (OR = 1.41). Biografisch haben sodann einschneidende negative Erfahrungen durch das Nah-Umfeld eine negativ sozialisierende Wirkung auf soziales Vertrauen. Personen, die geschieden oder getrennt leben, weisen ein tieferes soziales Vertrauen aus als jene, die allein leben (OR = 0.56). Und auch ein Migrationshintergrund wirkt, wie schon bivariat festgestellt, nachteilig auf soziales Vertrauen. Auch unter kontrollierten Bedingungen geht ein mittelstarker Effekt von traumatischen Erlebnissen wie kriegerischen Auseinandersetzungen aus (OR = 0.38).

In einem positiven Zusammenhang, allerdings nur im Individualebenenmodell, stehen Aktivitäten in der Kindheit (OR = 1.48). Auch dieser Effekt konnte erwartet werden. Solche Gruppenaktivitäten können als Sozialisierungs- und Lernorte für soziales Vertrauen verstanden werden. Laurence (2020) konnte belegen, dass gerade im Kindesalter die gemäss Kontakthypothese vorausgesagte hemmende Wirkung von Fremdkontakten auf Vorurteile gut funktioniert und nicht nur kurz-, sondern zumindest auch mittelfristige Wirkung zeigt. Etwas überraschend verschwindet dieser Effekt dann unter Kontrolle auf Kontextbedingungen (vgl. dazu Tab. A8.10). Unter Kontrolle des kantonalen Kontexts ist der Effekt nicht mehr signifikant (OR = 1.27 [0.95, 1.72]). Für die Ermittlung der genauen Gründe bedarf es weiterer Forschung.Footnote 8

Hinsichtlich der Ressourcenausstattung spielt einerseits der Bildungsgrad eine Rolle. Dieser steht in einem positiven Zusammenhang mit sozialem Vertrauen (OR = 1.33). Negativ wirken wie erwartet eine materielle (OR = 0.76) und eine relative Deprivation (OR = 0.81). Diese Ressourceneffekte zeigen sich einzeln eher im Hintergrund und ihre Relevanz wird klar überlagert von jenen der Persönlichkeit und der Biografie.

Keine Zusammenhänge können andererseits festgestellt werden mit dem Geschlecht, der Erwerbstätigkeit, der Schichtzuordnung und mit dem Urbanisierungsgrad sowie mit der Kontakthäufigkeit und der Kontaktqualität.Footnote 9

Zusammengefasst bildet sich in den Kontrollvariablen ab, dass soziales Vertrauen unter kontrollierten Bedingungen von Persönlichkeit, von biografischen Sozialisierungs- und Lernerfahrungen sowie von Ressourcen (Bildung und Finanzen) abhängt.

3 Soziales Vertrauen im Kontext

Wir wissen nun, welche Zusammenhänge zwischen Religiosität und sozialem Vertrauen auf Individualebene unter kontrollierten Bedingungen bestehen. Nun ist die Frage zu klären, ob kantonale Kontextbedingungen einen Einfluss haben und wenn ja, welche. Um diese Kontextvariablen adäquat kontrollieren zu können, wurden wiederum Mehrebenenmodelle erstellt.

Mehrebenenmodelle zur Erklärung sozialen Vertrauens

Zunächst zur Frage, ob ein Mehrebenenmodell rechnerisch betrachtet überhaupt Sinn macht: Die Varianz auf Kantonsebene bzw. die Inter Class Correlation (ICC) ist genügend gross. Das Null-Modell für soziales Vertrauen als abhängige Variable ergibt einen ICC von 0.042. Daher liegen 4.2 % der Varianz auf der Kontextebene der Kantone (vgl. Tab. A8.9).Footnote 10 Das Mehrebenenmodell sollte eine zusätzliche Erklärungsleistung gegenüber dem Individualmodell erbringen.Footnote 11

Das Mehrebenenmodell mit nur Individualfaktoren zur Erklärung von sozialem Vertrauen (vgl. Tab. A8.10) weist im Vergleich zum Individualebenenmodell, wie schon in den Modellen zum freiwilligen Engagement beobachtet, leicht differierende Schätzungen der Regressionskoeffizienten aus (vgl. Tab. A8.11).Footnote 12 Die damit einhergehenden Veränderungen sind aber unproblematisch und modifizieren die Effekte nicht grundsätzlich. Die Veränderung des Effekts bei Aktivitäten in der Kindheit ist nicht auf die unterschiedliche Berechnung zurückzuführen, sondern auf den Einfluss von Kontextfaktoren.

Ergebnisse der Mehrebenenmodelle zur Erklärung sozialen Vertrauens

Im Anschluss an das Mehrebenenmodell mit nur Individualfaktoren wurden zur Frage, welche Kontextfaktoren einen Einfluss auf das soziale Vertrauen haben, sechs Mehrebenenmodelle mit Individual- und Kontextfaktoren gerechnet. Pro Modell wurde ein bestimmter Kontextfaktor bzw. ein einzelnes Set an Faktoren hinzugenommen (vgl. Abb. 8.5).

Abbildung 8.5
figure 5

Quelle: KONID Survey CH 2019 / Abbildung: Eigene Darstellung)

Kontexteffekte zur Erklärung sozialen Vertrauens. (Anmerkungen: Grafische Darstellung der Odds Ratios mit 95 %-Konfidenzintervallen basierend auf sechs logistischen Mehrebenenmodellen mit gewichteten Daten und ausgeschlossenen Ausreissern (vgl. dazu Tab. A8.12 und A8.13 im elektronischen Zusatzmaterial). Locker gestrichelte vertikale Linie bei .66/1.5: kleiner Effekt; dichter gestrichelte Linie bei .4/2.5: mittlerer Effekt; dicht gestrichelte Linie bei .25/4: starker Effekt. Alle nicht dichotomen sind Variablen standardisiert. Alle Variablen der Individualebene sind nicht dargestellt.

Historische Prägung des religiösen Kontexts: Wirksame Pfadabhängigkeiten

Die These einer kollektiven Sozialisierung durch eine historisch bedingte reformierte Prägung des Kontexts lässt sich bestätigen. Eine historisch reformierte Prägung des Kontexts steht unter kontrollierten Bedingungen in einem positiven Zusammenhang mit sozialem Vertrauen (OR = 1.78). Konkret beträgt die proximale Wahrscheinlichkeit für soziales Vertrauen in den nach Abschluss der Reformation katholisch geprägten Kantonen unter Kontrolle aller Individualfaktoren 66 %. Sie ist damit tiefer als in historisch reformiert geprägten Kantonen, in denen diese Quote bei 76 % liegt. In gemischt-konfessionell geprägten Kantonen beträgt die proximale Wahrscheinlichkeit für soziales Vertrauen 73 %.

Dieser bemerkenswerte Zusammenhang spricht für einen kollektiven Sozialisierungsmechanismus, auch in der Schweiz. Er bestätigt die bisherigen Forschungen aus anderen Ländern (Inglehart und Baker 2000; Delhey und Newton 2005; Bjornskov 2006; Traunmüller 2011, 353). Im Gegensatz dazu liegt bei der historischen Prägung aufgrund der Sonderbundmitgliedschaft kein Zusammenhang vor. Auf die Sonderbundmitgliedschaft und auf die damit einhergehende Niederlage der katholischen Kantone 1847 lässt sich also kein Effekt zurückführen.

Wichtig ist nun wiederum zu sehen, dass dieser Zusammenhang aufgrund der historischen Pfadabhängigkeit auch unter Kontrolle auf sprachregionale Unterschiede robust bleibt (vgl. Modell 1b in Tab. A8.12). Das ist erstens umso bemerkenswerter, als dass es im Gegensatz zum freiwilligen Engagement beim sozialen Vertrauen tatsächlich sprachregionale Effekte gibt. Und zweitens ist die Feststellung zentral, dass sich auch unter Kontrolle dieser Kontextbedingungen die Zusammenhänge auf Individualebene nicht verändern, auch nicht diejenigen der religiösen Zugehörigkeit. Die historisch konfessionelle Prägung des Kontexts steht also auch beim sozialen Vertrauen für sich alleine und hat keinen Einfluss auf den Effekt von Religionszugehörigkeit auf Individualebene. Es ist die historisch konfessionelle Prägung eines Gebiets als reformiert und nicht die gegenwärtige reformierte Zugehörigkeit, die einen Zusammenhang mit sozialem Vertrauen begründet.

Eine mögliche Erklärung für diesen Zusammenhang könnte wiederum darin liegen, dass historisch betrachtet in lokalen reformierten Kirchgemeinden hierarchisch-klerikale Strukturen ideologisch eher abgewertet wurden und Laienarbeit gleichzeitig eher eine höhere Bedeutung erfuhr (Liedhegener 2016a, 131). Von Putnam (1993, 173), aber auch von Kriesi (2007, 36), wissen wir, dass Hierarchien, die mit Macht verbunden sind und bei denen sich diese Macht in vertikalen Sanktionsmechanismen zeigt, zwar auch zu gelingender Kooperation führen können, sie aber soziales Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit untergraben, weil sie mit Zwang verbunden sind. Hier zeigt sich auf plausible Weise eine historische Pfadabhängigkeit aufgrund einer hierarchisch-klerikalen Struktur und entsprechender gesellschaftlicher Organisation in historisch katholisch geprägten Kantonen im Vergleich zu einer Gesellschaft, die in reformiert geprägten Kantonen weniger hierarchisch-klerikal organisiert und beeinflusst ist.Footnote 13 Diese Prägung gesellschaftlicher Strukturen bildete sich dann in entsprechenden Kulturen sozialen Vertrauens ab, die durch stetige Sozialisierung weitergegeben wurden und bis heute Spuren hinterlassen. Wichtig ist, abschliessend zu betonen, dass wir hier einen statistischen Zusammenhang erkennen und interpretieren. Ob aber eine solche Kausalität tatsächlich besteht, kann hier nicht abschliessend beantwortet werden. Auch diese Frage bedarf weiterer historischer Forschung.

Religiöse Vielfalt und soziales Vertrauen: der Effekt alltäglichen Kontakts

Die religiöse Vielfalt auf Kantonsebene wurde zweifach vermessen: einerseits metrisch mittels eines Diversitätsindexes, andererseits ordinal mittels eines Masses für die Diversitätsstruktur. Der metrische Indikator religiöser Diversität verweist immerhin mit einem Vertrauensniveau von 90 % für die Konfidenzintervalle auf einen positiven Zusammenhang mit sozialem Vertrauen hin. Der ordinale Index bestätigt dies für die Diversitätsstruktur der Kantone. Eine fragmentierte und damit diverse Religionsstruktur auf Kantonsebene steht in einem positiven Zusammenhang mit sozialem Vertrauen (OR = 2.49). Die proximale Wahrscheinlichkeit für soziales Vertrauen unter kontrollierten Bedingungen beträgt in einem religiös dominant geprägten Kanton 62 %, in einem pluralisierten Kanton 72 % und in einem fragmentierten Kanton gar 78 %.Footnote 14

Wichtig ist zu sehen, dass dieser Zusammenhang auch unter Kontrolle auf sprachregionale Unterschiede relativ robust bleibt (vgl. Modell 4b in Tab. A8.13).Footnote 15 Auch dieser Kontexteffekt verändert die Zusammenhänge auf Individualebene nicht und steht damit für sich alleine.

Die religiöse Vielfalt in der Schweiz als Makrophänomen scheint also gesamthaft betrachtet nicht zu mehr Konflikten und Vorurteilen zu führen. Sie trägt vielmehr zu deren Verminderung bei, was sich im positiven Zusammenhang mit sozialem Vertrauen zeigt. Eine Erklärung hierfür liefert die Kontakthypothese, die in der Annahme besteht, dass eine Mehrheit der konkreten, alltäglichen, transreligiösen Begegnungen in der Schweiz geprägt ist von einer gleichberechtigten und flachen, das heisst nicht-hierarchischen Beziehung. Zudem ist seit den 1970-Jahren ein Wandel im Gang. Die religiöse Landschaft diversifiziert sich, es treten neue religiöse Gemeinschaften auf und der Anteil an Personen ohne Religionszugehörigkeit wächst. Ein allfälliger negativer Kurzfristeffekt, wenn es denn diesen gegeben hätte, wäre einem längerfristigen positiven Effekt gewichen. Dieser Befund steht im Einklang mit ähnlichen Ergebnissen von Dingemans und van Ingen (2015, 753), basierend auf den Daten der European Values Study (EVS) und Mehrebenenmodellen mit 44 Ländern.

Dieses Resultat steht auf den ersten Blick im Widerspruch zum Ergebnis auf Individualebene, nämlich dass eine muslimische Religionszugehörigkeit negativ mit sozialem Vertrauen zusammenhängt. Dies wird, wie auch hier, mit Vorurteilen und entsprechendem Misstrauen erklärt. Hier sind aber zwei Gesichtspunkte zu beachten: Einerseits entsteht dieses Misstrauen nicht aufgrund konkreter, alltäglicher Kontaktsituationen (um die es in der Kontakthypothese geht), sondern aufgrund von medialen und gesellschaftlichen Diskursen, die davon mehr oder minder abgekoppelt sind. Andererseits ist hierzu nach den Ursachen der zunehmenden religiösen Diversifizierung in der Schweiz zu fragen. Sie liegen zwar auch im Auftreten neuer religiöser Traditionen, vor allem aber im Rückgang bei den zwei grossen christlichen Religionsgemeinschaften und in der Zunahme an Personen ohne Religionszugehörigkeit.

Säkularisierungsthese: Nein – aber!

Der Anteil an Personen ohne Religionszugehörigkeit steht aber, wiederum für sich selbst betrachtet, in keinem Zusammenhang mit sozialem Vertrauen. Eine in diesem Zusammenhang formulierte Erwartung, dass nämlich der Anteil an Personen ohne Religionszugehörigkeit in einem negativen Zusammenhang mit sozialem Vertrauen steht, kann nicht bestätigt werden. Das ist dahingehend interessant, dass gerade dieser Zuwachs, der zu einer höheren religiösen Diversität führt, wiederum einen positiven Effekt auf soziales Vertrauen hat. Gleichzeitig lässt sich kein Zusammenhang allein von der Tatsache ableiten, dass die Anzahl an Personen ohne Religionszugehörigkeit in den verschiedenen Kantonen unterschiedlich gross ist. Das ist aber kein Widerspruch: So kamen beispielsweise Pickel und Gladkich (2011, 101) zum Schluss, dass soziales Vertrauen bei einem höheren Modernisierungsgrad nicht erodieren (wie von Putnam vorausgesagt), sondern eher ansteigen würde. Säkularisierung im Schweizer Kontext bedeutet in der Gegenwart in den meisten Kantonen insbesondere auch eine Diversifizierung der religiösen Landschaft.Footnote 16 Und genau dies führt dazu, dass Abgrenzungstendenzen zwischen religiösen Gruppen abnehmen und damit gesellschaftliche Integration allgemein gefördert wird (Pickel und Gladkich 2011, 103). Die Abgrenzungstendenzen werden also nicht minimiert, weil der Anteil an Personen ohne Religionszugehörigkeit wächst, sondern weil damit eine Vielfalt entsteht.

Sprachregionale Unterschiede

Wie wir bisher gesehen haben, liegen diverse Kontexteffekte im religiösen Bereich vor. Der einschlägigste Kontexteffekt ist der sprachregionale. Die französischsprachige Schweiz weist ein tieferes Vertrauensniveau auf als die deutschsprachige Schweiz. Dieser Effekt bleibt auch robust, wenn auf Wirtschaftsleistung und Ungleichheit hin kontrolliert wird. Personen aus dem französischen (OR = 0.46) und dem italienischen Sprachgebiet (OR = 0.65) weisen unter kontrollierten Bedingungen ein tieferes soziales Vertrauen aus als solche aus dem deutschen Sprachgebiet.Footnote 17 Keinen Einfluss hat die kontextuelle Wirtschaftsleistung und die ökonomische Ungleichheit auf Kontextebene, was bemerkenswert ist. Mit Blick auf den bisherigen Forschungsstand hätte ein solcher sprachregionaler Effekt vor allem beim freiwilligen Engagement auftreten müssen, was aber nicht geschieht. Dieser erfolgt unter kontrollierten Bedingungen nur hier beim sozialen Vertrauen. Die Erklärung hierfür könnte einerseits in einer unterschiedlichen Rolle der Familie und damit der sozialen Organisation liegen (Bühlmann und Freitag 2004, 334). Andererseits wird mit der Sprache auf unterschiedliche sprachlich gesonderte und länderübergreifende Diskursräume referenziert. Personen in der französischen Schweiz orientieren sich auch an Diskursen in Frankreich, Personen in der Deutschschweiz an solchen in Deutschland und Österreich etc. Es würde daher nicht verwundern, wenn bis zu einem gewissen Grad hier auch soziales Vertrauen mitsozialisiert wird. Für dieses Argument spricht, dass gemäss des World Values Survey (W7, 2017–2020) die Quote des sozialen Vertrauens in den deutschsprachigen Ländern (AUT = 49.8 %, DEU = 39.5 % und CHE = 57.1 %) tatsächlich über derjenigen von Frankreich (26.3 %) und Italien (26.6 %) liegt.

Weiter wäre es plausibel gewesen, dass die ökonomische Ressourcenausstattung und das regionale Ungleichheitsniveau einen Einfluss auf soziales Vertrauen haben. Dies scheint in der Schweiz insofern nicht der Fall zu sein, als dass diese Faktoren auf Individualebene den erwarteten Effekt haben. Es gibt keinen diesbezüglichen zusätzlichen Kontexteffekt.

Zusammengefasst besteht also auf Kontextebene ein Zusammenhang mit sozialem Vertrauen, und zwar ausgehend von sprachregionalen Unterschieden und, was Religion betrifft, von der historischen konfessionellen Prägung sowie von der religiösen Diversität, die ihrerseits durch Säkularisierungstendenzen vorangetrieben wird.

Somit kann nun die zweite Forschungsfrage abschliessend beantwortet werden. Religion und Religiosität wirken bei der Ausbildung sozialen Vertrauens in ambivalenter Art und Weise. Einerseits wirken öffentliche religiöse Praxis und religiöse Erfahrung sowie eine liberal ausgerichtete Religiosität positiv auf soziales Vertrauen. Andererseits wirkt eine exklusivistisch-fundamentalistisch ausgerichtete Religiosität negativ auf soziales Vertrauen. Und auf Kontextebene ist feststellbar, dass eine historisch konfessionelle Prägung als reformierter Kanton und religiöse Diversität einen positiven Einfluss auf soziales Vertrauen haben.

4 Fehlender Zusammenhang zwischen freiwilligem Engagement und sozialem Vertrauen

Wir kommen zur dritten Forschungsfrage: Gibt es einen Zusammenhang zwischen freiwilligem Engagement und sozialem Vertrauen? Die Kernidee von Sozialkapital ist, dass soziale Beziehungen einen Wert haben. Das zentrale Argument von Putnams Konzeption lautet, dass Sozialkapital im Sinne eines öffentlichen Gutes zum Funktionieren von Demokratien und zur sozioökonomischen Entwicklung beiträgt. Er sieht den Hauptgrund im sozialen Vertrauen. Und dieses würde im Rahmen von freiwilligem Engagement ganz besonders gedeihen. Die zentrale, hier zu prüfende These lautet also, ob soziales Vertrauen im Rahmen von freiwilligem Engagement entsteht und mit ihm in einem Zusammenhang steht. Die Gründe bzw. Mechanismen, die dazu führen und als Argument dienen, sind der reziproke Altruismus, die starke Reziprozität mit Bestrafung, fliessende Informationen über Vertrauenswürdigkeit, hohe Ausstiegskosten aus Netzwerken sowie Erfahrungen gelungener Kooperation und positiven Kontakts. Insbesondere letzterer Mechanismus ist zentral.

Neuerdings kamen aber Van Ingen und Bekkers (2015, 291) sowie Sturgis et al (2017, 85–87) aufgrund der Auswertung von Panel-Daten, unter anderem jenen des SHP, zum Schluss, dass es sich bei diesem vermuteten Kausalzusammenhang zwischen freiwilligem Engagement und sozialem Vertrauen eher um einen Selektionseffekt handle. Damit ist gemeint, dass es Faktoren gibt, die sowohl für freiwilliges Engagement als auch gleichzeitig für soziales Vertrauen selektieren, also einen Einfluss auf beide haben. In Frage hierfür kämen insbesondere Persönlichkeitsmerkmale und pro-soziale Werthaltungen, die in bisherigen Umfragen häufig nicht miterfasst wurden. Zudem sollte ein Augenmerk auf die frühen Entwicklungsphasen der Kindheit und Jugend gelegt werden (van Ingen und Bekkers 2015, 292; Sturgis et al. 2017, 17). Im Rahmen des KONID Surveys 2019 wurde neben wichtigen anderen Variablen auch nach Persönlichkeitsmerkmalen und retrospektiv nach Aktivitäten in der Kindheit gefragt.

Die gestellte Forschungsfrage lässt sich sodann klar beantworten: Freiwilliges Engagement und soziales Vertrauen weisen unter kontrollierten Bedingungen keinen Zusammenhang auf (OR = 1.051 [0.830, 1.332]). Die Hypothese, dass freiwilliges Engagement und soziales Vertrauen in einem Zusammenhang stehen, muss verworfen werden. Damit werden die Ergebnisse und auch die Vermutungen von Van Ingen und Bekkers (2015) sowie Sturgis et al (2017) bestätigt.

Grund für Scheinkorrelation: gemeinsame Determinanten mit gleicher Wirkungsrichtung

Es stellt sich die Frage, warum der Zusammenhang zwischen freiwilligem Engagement und sozialem Vertrauen, trotz seiner theoretisch starken Begründung und Herleitung, einer empirischen Überprüfung, hier mit Daten aus der Schweiz, nicht standhält und sich als Scheinkorrelation erweist. Als solche stellt sich ein Zusammenhang dann heraus, wenn bestimmte Faktoren sowohl mit der abhängigen als auch mit der unabhängigen Variablen mit derselben Ausrichtung (positiv / negativ) in Zusammenhang stehen (Diaz-Bone 2019, 112–114). Wird auf diese Variablen hin kontrolliert, verschwindet die zuvor gesichtete Korrelation.

Beide Sozialkapitalarten, freiwilliges Engagement und soziales Vertrauen, sind für sich allein jeweils relativ stark voraussetzungsreich. Sind für freiwilliges Engagement konkrete Handlungsressourcen und Handlungsmotive notwendig, so führen Sozialisierung, Lernerfahrungen und genügend Ressourcen zu sozialem Vertrauen. Bei genauerem Hinsehen ist zu erkennen, dass sich die konkreten Voraussetzungen bis zu einem gewissen Grad decken. Diese Tatsache führt dazu, dass ähnliche Umstände und Faktoren sowohl zu erhöhtem freiwilligem Engagement als auch zu einem erhöhten sozialen Vertrauen führen und dass sich der bivariat plausible Zusammenhang zwischen freiwilligem Engagement und sozialem Vertrauen unter kontrollierten Bedingungen entsprechend als Scheinkorrelation herausstellt (vgl. Abb. 8.6).

Abbildung 8.6
figure 6

Gemeinsame Determinanten für freiwilliges Engagement und soziales Vertrauen. (Anmerkungen: Grafische Darstellung aller Determinanten, die sowohl auf freiwilliges Engagement als auch auf soziales Vertrauen wirken basierend auf Vergleich in Tab. A9.1. Dünne Linien: Hintergrundeffekte; Dicke Linien: kleine – grosse Effekte; x: n.s. Abbildung: Eigene Darstellung)

Eine extravertierte Persönlichkeit, der Bildungsgrad und der Vollzug öffentlicher religiöser Praxis sowie historisch reformierte Gebiete als Kontextfaktor stehen in einem positiven Zusammenhang sowohl mit freiwilligem Engagement als auch mit sozialem Vertrauen. Materielle Deprivation und direkte Migrationserfahrung (1. Migrationsgeneration) stehen in einer negativen Korrelation sowohl mit freiwilligem Engagement als auch mit sozialem Vertrauen. Unter den hier verwendeten Faktoren gibt es keinen, von dem eine divergierende Korrelationsrichtung auf freiwilliges Engagement und soziales Vertrauen ausgeht und daher mit dem einen in einem positiven und mit dem anderen in einem negativen Zusammenhang steht (vgl. dazu Tab. A9.1). Die Tatsache, dass es einerseits mehrere Faktoren gibt, die in einem gleich gerichteten Zusammenhang sowohl mit freiwilligem Engagement als auch mit sozialem Vertrauen stehen, und andererseits zugleich keine Faktoren, die unterschiedlich wirken, führt dazu, dass sich der Zusammenhang zwischen freiwilligem Engagement und sozialem Vertrauen als eine Scheinkorrelation herausstellt.

Mögliche Alternativerklärung: Verträgliche Persönlichkeitsstrukturen

Die Tatsache, dass kein Zusammenhang gefunden wurde und ein Nullresultat vorliegt, könnte nun auch damit erklärt werden, dass in der Modellierung auch die Verträglichkeitsdimension der Persönlichkeitsstruktur miteinbezogen wurde. Dass diese beiden Konstrukte, das heisst die Verträglichkeitsdimension und soziales Vertrauen, Ähnlichkeiten aufweisen, habe ich schon in den entsprechenden Theorie- und Methodenpassagen angemerkt.Footnote 18 Die gefundene Scheinkorrelation könnte also darauf beruhen, dass die abhängige und eine unabhängige Variable schlicht dasselbe oder etwas sehr Ähnliches sind. Wenn dem so ist, dann müsste unter Ausschluss der Verträglichkeitsdimension aber wieder ein entsprechender Zusammenhang auftauchen. Dem ist aber nicht so. Wird die Verträglichkeitsdimension aus der Modellierung ausgeschlossen, bleibt nicht nur das Null-Resultat bestehen, vielmehr bleibt das Zusammenhangsmass mit Ausnahme der Grenzen für die oberen und unteren Konfidenzintervalle exakt dasselbe: OR = 1.051 [0.838, 1.317] (vgl. Tab. A8.7 und A8.8). Mit dem Ausschluss verändert sich ein Doppeltes: Die Extraversion weist einen ausgeprägteren Effekt als vorher auf und von einer neurotizistischen Persönlichkeitsstruktur geht neu auch ein (erwartungsgemäss) negativer Zusammenhang aus. Ebenfalls eine starke Veränderung erfährt dadurch der Faktor «Migration wegen Krieg»; er wird etwas schwächer in seiner Ausprägung. Offensichtlich interagiert die Kriegserfahrung mit der Verträglichkeitsdimension der Persönlichkeit in einer besonderen Weise. Das ist plausibel, denn bei den Persönlichkeitsstrukturen wird davon ausgegangen, dass diese nach ihrer Ausbildung relativ stabil bleiben (Fetvadjiev und He 2018). Ausnahmen bilden traumatische Erlebnisse wie beispielsweise Kriegserfahrungen, die persönlichkeitsverändernd wirken.Footnote 19

Zusammengefasst kann also die dritte Forschungsfrage nach dem möglichen Zusammenhang zwischen freiwilligem Engagement und sozialem Vertrauen wie folgt beantwortet werden: Diesen Zusammenhang gibt es nicht. Grund für das gleichzeitige Auftreten von freiwilligem Engagement und sozialem Vertrauen sind gleiche Faktoren mit derselben Wirkrichtung. Sie führen sowohl zu erhöhtem freiwilligem Engagement als auch zu einem erhöhten sozialen Vertrauen und lassen damit diesen Zusammenhang als Scheinkorrelation erscheinen. Was dies theoretisch bedeutet, werde ich im Abschlusskapitel (Kapitel 9) diskutieren.

5 Fazit zu sozialem Vertrauen und seinen Entstehungsbedingungen

Als Fazit zum sozialen Vertrauen und seinen Entstehungsbedingungen ist zunächst festzustellen, dass soziales Vertrauen auf vielfältigen und komplexen Voraussetzungen beruht (vgl. Abb. 8.7).

Abbildung 8.7
figure 7

Determinanten für soziales Vertrauen im Überblick (Anmerkungen: Grafische Darstellung der Determinanten für soziales Vertrauen basierend auf Tab. A9.1. Dünne Linien: Hintergrundeffekte; mittel-dicke Linien: kleine Effekte; dicke Linien: mittlere und grosse Effekte. Linke Seite: Kontrollvariablen, rechte Seite: Variablen Religion und Religiosität. Abbildung: Eigene Darstellung)

Unter Einbezug sowohl der individuellen als auch der kontextuellen Faktoren ergibt sich zusammenfassend eine Vielzahl von Determinanten für soziales Vertrauen. Drei Punkte erscheinen dabei zentral:

(1) Soziales Vertrauen ist voraussetzungsreich

Erstens ist hinsichtlich allgemeiner Prädiktoren für soziales Vertrauen zu berichten, dass zunächst die Persönlichkeit eine Rolle spielt. Verträgliche und extravertierte Persönlichkeiten stehen in einem positiven Zusammenhang, Persönlichkeiten mit autoritären Zügen in einem negativen Zusammenhang mit sozialem Vertrauen. Des Weiteren spielen verschiedene Ressourcen eine Rolle. So stehen ein erhöhter Bildungsgrad und damit ein erhöhtes Humankapital in einem positiven, materielle und relative Deprivation und damit mangelnde Ressourcen in einem negativen Zusammenhang mit sozialem Vertrauen. Und letztlich spielen biografische Faktoren und Erlebnisse eine Rolle. Das Alter steht in einem positiven Zusammenhang mit sozialem Vertrauen. Negative Erfahrungen mit Mitmenschen, sei es nun eine Scheidung, eine Trennung oder auch die Erfahrung von Migration wegen Not und Krieg, stehen in einem negativen Zusammenhang mit sozialem Vertrauen.

(2) Religion und Religiosität haben eine ambivalente Wirkung

Ebenso wie die allgemeinen Faktoren, so sind auch die religiösen Faktoren verschieden. Personen mit einer muslimischen Religionszugehörigkeit weisen zunächst ein tieferes soziales Vertrauen aus als Personen ohne Religionszugehörigkeit. In einem starken bzw. mittleren positivem Zusammenhang stehen sodann die öffentliche religiöse Praxis und die religiöse Erfahrung. Und die religiöse Ausrichtung wirkt ambivalent: Ein religiös liberales Verständnis der eigenen Religiosität steht in einem positiven, ein konservatives sowie ein exklusivistisch-fundamentalistisches Religionsverständnis steht in einem negativen Zusammenhang mit sozialem Vertrauen. Hinsichtlich der kantonalen Kontextfaktoren ist festzustellen, dass ein religiös fragmentiertes Umfeld, aber auch eine historisch reformierte Prägung des Kontexts in einem positiven Zusammenhang mit sozialem Vertrauen stehen.

(3) Kein allgemeiner Zusammenhang zwischen Engagement und sozialem Vertrauen

Und schliesslich kann festgehalten werden, dass es keinen Zusammenhang zwischen freiwilligem Engagement und sozialem Vertrauen gibt. Beide Sozialkapitalarten sind für sich nicht nur jeweils stark voraussetzungsreich, sondern auch eigenständig. Die Voraussetzungen decken sich bis zu einem gewissen Grad und führen daher unter gleichen Umständen sowohl zu erhöhtem freiwilligem Engagement als auch zu erhöhtem sozialem Vertrauen. Diese gemeinsamen Prädiktoren sind eine extravertierte Persönlichkeit, der Bildungsgrad, materielle Deprivation, direkte Migrationserfahrungen, der Vollzug öffentlicher religiöser Praxis sowie die historisch konfessionelle Prägung des Kontexts.