Dieses Kapitel bereitet inhaltlich und statistisch auf die Folgekapitel 7 und 8 vor, in denen dann die Forschungsfragen bearbeitet werden. Wie eingangs erwähnt, eignet sich die Schweiz und ihre Bevölkerung für diese Studie so gut, weil sie in ihrer religiösen Ausgestaltung sowohl auf Individual-, als auch auf Kontextebene äusserst vielfältig und facettenreich ist. Doch was heisst das? Im Folgenden gehe ich zuerst auf diese kontextuellen Faktoren und im Rahmen eines kurzen religionshistorischen Abrisses auf ihre Entstehungsbedingungen ein. Anschliessend wende ich mich der Individualebene zu. Dabei werde ich neben der univariaten Darstellung und Charakterisierung der einschlägigen Variablen auch einen Blick auf die unkontrollierten, bivariaten Zusammenhänge mit Sozialkapital, das heisst mit freiwilligem Engagement und sozialem Vertrauen, werfen.Footnote 1 Dies bereitet die Ergebnisse der multivariaten Modelle vor.

1 Religiöse Landschaften und Eigenheiten: der lange Schatten der Geschichte

Die Gründe für die Vielfalt und den Facettenreichtum der Schweiz und ihrer Kantone sind geografischer, kultureller und politischer Natur. In geografischer Hinsicht liegt der Kleinstaat Schweiz inmitten Europas, im Alpenraum rund um den Gotthard. Berge und Gewässer zerklüfteten ihr Gebiet, umgrenzen oder beleben Talschaften und Kleinregionen, die bis heute Räume für mannigfaltige Entwicklungen und Eigenständigkeiten bieten, so auch in religiösen Fragen. In kultureller Hinsicht wird dieses Gewebe dadurch herausgefordert, dass hier der deutsche, französische, italienische und rätoromanische Kulturraum aufeinandertreffen. Das zeigt sich vordergründig in der Vielsprachigkeit, spiegelt sich aber auch in unterschiedlichen kulturellen Nuancierungen.

In politischer Hinsicht entwickelten sich in diesem kleinräumigen Geflecht volksnahe, föderale Institutionen, in denen unterschiedliche Formen von Selbstverwaltung und direkter Demokratie zum Tragen kommen (Linder 2012, 172 ff; Lang 2020, 74–88). Staatlichkeit besteht heute auf kantonaler und nationaler Ebene: Der Bundesstaat umfasst 26 Gliedstaaten. Es ist gemäss Bundesverfassung § 72 Abs. 1 die kantonale Ebene, die zuständig ist für die Regelung des Verhältnisses zwischen Staat und Religionsgemeinschaften: «Für die Regelung des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat sind die Kantone zuständig.» Diese Tatsache führt dazu, dass die Kantone ihr Verhältnis zu Religionsgemeinschaften durchaus unterschiedlich regeln (Liedhegener 2022b). Politik und Religion ist in der Schweiz bis heute ein komplexes Gefüge komplexer Grössen (Liedhegener 2022c).

Religiöse Vielfalt in der Schweiz

Mit Blick auf die religiöse Zugehörigkeit ihrer Bevölkerung ist die Schweiz gegenwärtig stark pluralisiert (Baumann und Stolz 2007; Liedhegener und Odermatt 2018, 34). Dabei können zunächst drei Grossgruppen unterschieden werden: einerseits die beiden historisch verankerten christlichen Kirchen römisch-katholischer sowie evangelisch-reformierter Tradition; andererseits die Bevölkerung, die sich selbst als keiner religiösen Vergemeinschaftung angehörig betrachtet.

Juden lebten schon in römischer Zeit auf dem Gebiet der heutigen Schweiz und bildeten im Mittelalter städtische Gemeinschaften (Picard 2007, 184). Diese wurden in der frühen Neuzeit auf einzelne Siedlungen zurückgedrängt und bis tief ins 19. Jahrhundert hinein lebten sie fast ausschliesslich in den beiden Gemeinden Endigen und Lengnau im aargauischen Surbtal (Dellsperger et al. 1994, 252; Picard 2007, 185; Picard und Bhend 2020, 12; SIG / FSCI 2022). Erst 1866, beziehungsweise mit der Totalrevision der Bundesverfassung 1874 erhielten sie die Niederlassungsfreiheit und volle Ausübung der Bürgerrechte (Dellsperger et al. 1994, 251; Picard 2007, 186; Lang 2020, 62–65). 1872 entstand die altkatholische (heute christkatholische) Kirche durch Abspaltung von der römisch-katholischen (Conzemius 1969; Krüggeler und Weibel 2007, 111). Aufgrund protestantischer Abspaltungs- und Differenzierungsprozessen entstanden diverse evangelikale Gruppierungen (Favre und Stolz 2007) und im 19. Jahrhundert wanderten verschiedene christliche Sondergruppen, wie Endzeitgemeinden oder Apostolengemeinden ein (Weibel 2007). Das Aufkommen weiterer religiöser Traditionen rundet das Bild der religiös pluralen Schweiz ab. So entwickelte sich der Islam in den vergangenen 40 Jahren kontinuierlich zur zahlenmässig stärksten nichtchristlichen Religionsgemeinschaft in der Schweiz (Behloul und Lathion 2007; Allenbach und Sökefeld 2010). Und seit dem 19. Jahrhundert prägen auch buddhistische Gruppen (Sindemann 2007) und insbesondere aufgrund Fluchtbewegungen in den 1980er und 1990er Jahren hinduistische Gemeinschaften die religiöse Vielfalt in der Schweiz (Baumann 2007).

Diese heutige pluralisierte Situation der religiösen Landschaft lässt sich durch drei Faktoren erklären: Die zwei christlichen Grosskirchen entwickelten sich aufgrund der historischen Vorgänge rund um Reformation, Sonderbund und konfessionelle Milieubildung. Die auch in der Schweiz wirkende Säkularisierung bedeutet, dass heute ein Drittel der Bevölkerung keiner Religion angehört. Und das Auftreten neuerer Religionen geht zurück auf Arbeitsmigration, auf globale Mobilität und für die Schweiz insbesondere auf die Kriegsmigration infolge der Balkankriege in den 1990er-Jahren.

1.1 Historische Pfadabhängigkeiten: Reformation, Kulturkampf, Milieubildung

Die Schweiz ist gegenwärtig ein religiös pluralisiertes, historisch betrachtet aber vor allem ein bi-konfessionell gemischtes Land. So standen sich im 19. Jahrhundert und bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts eine reformierte Mehrheit von rund 60 % und eine katholische Minderheit von circa 40 % gegenüber (Seitz 2014, 41).Footnote 2 Diese Zweiteilung ist nicht nur numerischer, sondern auch stark räumlicher Natur. Dies erklärt sich historisch.

Reformation und Religionskonflikte

Entscheidend für die religiöse Zweiteilung der Schweiz war die Reformationsgeschichte des 16. Jahrhunderts. Aufgrund des Wirkens des Zürcher Reformators Ulrich Zwingli begannen sich ab den 1520er-Jahren katholisch, reformiert und gemischt geprägte «Orte», bzw. spätere Kantone, zu bilden (hier und folgend: Maissen 2010, 82–103).Footnote 3 Damit öffnete sich ein Graben zwischen zwei Lebens- und Denkwelten: zwischen sogenannten «altgläubigen», eher dezentralen und konservativeren Land-Orten und «neugläubigen», eher zentralistischen und progressiveren Stadt-Orten.

Die Grabenbildung erfolgte kriegerisch und blutig. Der Erste Kappelerkrieg zwischen den «altgläubigen» und «neugläubigen» Orten im Jahr 1529 endete aufgrund Vermittlung der neutralen Orte noch kampflos mit dem ersten Kappeler Landfrieden. Es wurde vereinbart: Jeder Ort und in den «gemeinen Herrschaften», das heisst gemeinsamen Untertanengebieten, jede Gemeinde sollten durch Mehrheitsbeschluss den alten oder neuen Glauben annehmen können.Footnote 4 Diese Abmachung hielt aber nicht lange. Der Konflikt entbrannte zwei Jahre später erneut. Im Zweiten Kappelerkrieg erlitten die «Neugläubigen» am 11. Oktober 1531 eine Niederlage. Ulrich Zwingli fiel. Dreizehn Tage später wurde der Krieg in der grausamen Schlacht am Gubel zugunsten der «altgläubigen» Orte entschieden.Footnote 5 Die Friedensverhandlungen führten zum Zweiten Kappeler Landfrieden. Die katholischen Orte konnten darin, neben Territorialgewinnen, auch eine politische Vormachtstellung innerhalb der Eidgenossenschaft erwirken. Dieser zweite Landfrieden ermöglichte, dass fortan jeder Stand selbst über die Konfession auf seinem Territorium entscheiden konnte. Es wurde jenes «cuius regio – eius religio»-Prinzip («wessen Herrschaft, dessen Religion») angewandt, das dann durch den Augsburger Religionsfrieden von 1555 bekannt werden sollte. Aber der Konflikt zwischen den katholischen und reformierten Orten der Eidgenossenschaft schwelte weiter und führte zu den beiden Villmergerkriegen. Der erste fand 1656 statt, endete mit dem Dritten Landfrieden und sicherte noch einmal die politische Hegemonie der Katholiken (Maissen 2010, 119). Der Zweite Villmergerkrieg 1712 führte zum Vierten Landfrieden. Er beendete schliesslich die Vormachtstellung der katholischen Orte (Pfister 1974, 3; Maissen 2010, 130–133).

Kulturkampf und Sonderbund

Zu einer schwierigen Herausforderung kam es im 19. Jahrhundert, wie auch in anderen europäischen Nationen, in der Frage der Bildung und Ausgestaltung eines liberalen Bundesstaates. Dabei überlagerten sich die konfessionellen Grenzziehungen mit politischen Abgrenzungen und luden sich gegenseitig auf (Seitz 2014, 33; Lang und Meier 2016, 5–14). Die liberale, grösstenteils reformierte, Mehrheit stritt mit der konservativen, mehrheitlich katholischen Minderheit. Setzte sich die liberale Mehrheit für eine demokratische, liberale Gesellschaftsordnung ein, verteidigte die konservative Minderheit die alte Ständeordnung (Stolz et al. 2014, 47 ff; Seitz 2014, 33). Ideologisch unterfüttert wurde die konservativ katholische Minderheit insbesondere durch den sich ausbreitenden kämpferischen Ultramontanismus, der sich gegen jegliches Liberale sperrte. In den lokalen Lebensrealitäten gab es aber auch liberale Katholik:innen, die sich für einen liberalen Bundesstaat einsetzten, und umgekehrt konservative Reformierte, die dagegen waren (Stolz et al. 2014, 48; Lang und Meier 2016, 11f).

Der Konflikt um den liberalen Bundesstaat war zur Mitte des 19. Jahrhunderts konfessionell so stark aufgeladen, dass sich die Stände Luzern, Uri, Schwyz, Unterwalden, Zug, Freiburg und Wallis zu einem Sonderbund zusammenschlossen, der im Sonderbundskrieg von 1847 eine Niederlage erlitt.Footnote 6 Dieser Sieg der liberalen, meist reformierten Kantone, ebnete den Weg für die entsprechend ausgestaltete Bundesverfassung von 1848 und die Schaffung der modernen Schweiz als liberale Demokratie. Innerhalb des sich entwickelnden politischen Systems entstanden die Parteien entlang konfessioneller Grenzen (Lipset und Rokkan 1967, 37). Die Konflikte wurden nun nicht mehr kriegerisch entschieden, sondern im Rahmen demokratisch-politischer Prozesse ausgetragen.

Dies zeigt sich exemplarisch in der Teilrevision der Bundesverfassung von 1874, die in die aufgewühlte Zeit nach dem ersten Vatikanischen Konzil von 1869/1970 und der damit verbundenen Unfehlbarkeitserklärung des Papstes unter Papst Pius IX fiel (zu letzterem: Wolf 2020). So enthielt die revidierte Bundesverfassung diverse Bestimmungen, die bewusst gegen den Ultramontanismus ausformuliert waren, beispielsweise den Bistumsartikel §72 Abs. 3 BV, der es den Katholiken verbot, weitere Bistümer zu gründen (Linder 2012, 42).Footnote 7

Konfessionelle Milieus

Die räumliche Trennung zwischen mehrheitlich katholischen und mehrheitlich reformierten Kantonen begünstigte nach der Gründung des Bundesstaats soziale Abschliessung und Distanzierung entlang der Konfessionen. Innerhalb der geografisch abgegrenzten «Stammlande», aber auch in den reformierten Städten Zürich und Basel, in denen nun aufgrund von Industrialisierung und Binnenmigration Katholik:innen lebten, verdichtete sich das katholische Milieu (Altermatt 1989, 1995, 2009; Conzemius 2001; Altermatt und Metzger 2007; Lang und Meier 2016). Dasselbe geschah ansatzweise umgekehrt im reformierten Milieu (Hofmann 2013), besonders in Grenzregionen, in denen Reformierte aufgrund der Industrialisierung in katholischen Gebieten lebten (Johner 2019). Die Verselbstständigung der reformierten und katholischen Gesellschaft führte zu unterschiedlichen Lebensrealitäten, die sich stark an die jeweiligen Glaubens- und Moralvorstellungen anlehnten und nach aussen hin mit starken sozialen Abgrenzungen einhergingen (Altermatt 1989, 2009). Diese Abgrenzungen zeigten sich beispielsweise im Familiären in Heiratsverboten über Konfessionsgrenzen hinweg oder im Gesellschaftlichen in der Gründung konfessionell bestimmter Musik- Turn- und Jugendvereine.Footnote 8 Das katholische Milieu, geprägt von Ideen des Ultramontanismus, führte zu einer Kultivierung des Religiösen und damit zu dessen Stabilisierung trotz Säkularisierungsdruck. Die Konflikte rund um die konfessionellen Unterschiede brannten sich tief in die religiöse Erinnerungskultur der Schweiz ein.

Der lange Schatten der Geschichte

Der lange Schatten der Geschichte zeigt sich heutzutage darin, dass die historisch pfadabhängige Grenzziehung zwischen reformierten und katholischen Gebieten auch in der gegenwärtigen religiösen Zusammensetzung der Kantone noch sichtbar ist (vgl. Abb. 6.1). Die historisch katholisch geprägten Kantone Uri, Appenzell Innerrhoden, Wallis, Ob- und Nidwalden, Jura, Tessin, Luzern, Freiburg, Schwyz und Zug sind bis heute diejenigen Kantone, in denen sich eine klare Mehrheit der Bevölkerung als katholisch zugehörig deklariert. Im historisch katholisch geprägten Kanton Solothurn bezeichnet sich heute die Mehrheit der Bevölkerung als zu keiner Religion zugehörig, gefolgt von den Katholiken. Eine reformierte Mehrheit besteht heute noch in den historisch reformiert geprägten Kantonen Bern, Schaffhausen, Appenzell Ausserrhoden, Thurgau und Glarus. In den historisch reformiert geprägten Kantonen Basel-Stadt, Neuenburg, Zürich, Waadt und Glarus bezeichnet sich die Mehrheit der Bevölkerung als zu keiner Religion zugehörig, gefolgt jeweils von den Reformierten. Die historisch betrachtet gemischt-konfessionell geprägten Kantone Aargau, Basel-Land, Graubünden und St. Gallen sind auch heute noch im Mittelfeld und sind betreffend ihrer religiösen Diversitätsstruktur entweder pluralisiert oder fragmentiert (vgl. Tab. A6.4 im elektronischen Zusatzmaterial).

Abbildung 6.1
figure 1

Religionszugehörigkeit im kantonalen Vergleich. (Anmerkung: Reihenfolge von oben nach unten nach Anteil Römisch-katholisch. Quelle: Bundesamt für Statistik 2021d / Abbildung: Eigene Darstellung)

Doch wirkt die historisch konfessionelle Prägung auch in der Intensität des freiwilligen Engagements und in der Stärke des sozialen Vertrauens? Aufgrund von Theorie und Forschungsstand steht die Vermutung im Raum, dass historisch reformiert geprägte Kantone in einem positiven Zusammenhang mit freiwilligem Engagement und sozialem Vertrauen stehen.Footnote 9 In den historisch reformiert geprägten Kantonen ist die Engagementquote mit 51 % tatsächlich höher als in den katholisch geprägten Kantonen mit 44 % (vgl. Abb. 6.2 sowie Tab. A6.8).

Abbildung 6.2
figure 2

Historisch konfessionelle Prägung der Kantone und freiwilliges Engagement. (Quelle: KONID Survey CH 2019 / Abbildung: Eigene Darstellung)

Die konfessionelle Prägung gesamthaft und das freiwillige Engagement stehen bivariat betrachtet in einem ZusammenhangFootnote 10, von dem aber gemäss Kontingenzanalyse kein nennenswerter Effekt ausgeht (CV = .06). Im Rahmen einer univariablen logistischen Regression zeigt sich ebenfalls kein Effekt von gemischt-konfessionell geprägten Kantonen im Vergleich zu katholisch geprägten, aber doch ein Hintergrundeffekt ausgehend von historisch reformiert geprägten Kantonen (OR = 1.34)Footnote 11. In Bezug auf die historische Zugehörigkeit eines Kantons zum Sonderbund besteht kein ZusammenhangFootnote 12 mit freiwilligem Engagement. Von der historischen Prägung eines Kantons als reformiert geht also bivariat betrachtet ein potenzieller Zusammenhang mit freiwilligem Engagement aus, der aber höchstens als Hintergrundeffekt zu verstehen wäre. Kein Zusammenhang ist aufgrund der historischen Sonderbundmitgliedschaft feststellbar.

Hinsichtlich des sozialen Vertrauens zeigt sich ein ähnliches Bild (vgl. Abb. 6.3). In den traditionell reformiert geprägten Kantonen sagen 72 % der Befragten, dass man den meisten Menschen vertrauen kann, in den katholisch geprägten Kantonen sind es 64 % (vgl. detaillierter auch Tab. A6.10).

Abbildung 6.3
figure 3

Historisch konfessionelle Prägung der Kantone und soziales Vertrauen. (Quelle: KONID Survey CH 2019 / Abbildung: Eigene Darstellung)

Die historisch konfessionelle Prägung und das soziale Vertrauen stehen in einem ZusammenhangFootnote 13, von dem aber gesamthaft wiederum kein nennenswerter Effekt ausgeht (CV = .076). Genauer betrachtet zeigt sich aber auch hier ein im Vergleich zu katholisch geprägten Kantonen ausgehender Hintergrundeffekt von reformiert geprägten Kantonen (OR = 1.43). Und im Fall des sozialen Vertrauens ist auch ein, wenn auch äusserst kleiner Effekt, ausgehend von der historischen Zugehörigkeit des Kantons zum Sonderbund, feststellbar (OR = 0.81). Mit der Prägung eines Kantons als reformiert bzw. als Sonderbundmitglied besteht also bivariat betrachtet ein Zusammenhang mit sozialem Vertrauen.

Es ist zu prüfen, ob diese von der konfessionellen Prägung der Kantone ausgehenden Zusammenhänge auf unterschiedliche Ausprägungen auf Individualebene zurückgeführt werden können oder auch multivariat Bestand haben. Ersteres würde bedeuten, dass die historische Prägung spätestens in der Gegenwart vollends in individuelle Differenzen aufgegangen ist.Footnote 14 Zeigt sich trotz Kontrolle auf Individualfaktoren aber weiterhin ein Effekt, würde dies darauf hindeuten, dass die konfessionelle Prägung des Kontexts ausgehend von Reformation und Kulturkampf bis heute zumindest im Hintergrund mitschwingt und gewisse Wirkung zeigt.

1.2 Säkularisierung und religiöse Vielfalt

Die heutige pluralisierte Situation der religiösen Landschaft in der Schweiz lässt sich aber nicht nur historisch erklären. Sie erklärt sich insbesondere auch durch Entwicklungen der Säkularisierung und durch das Auftreten neuer religiöser Gemeinschaften.

Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts stand der reformierten Mehrheit von circa 60 % eine katholische Minderheit von circa 40 % gegenüber. Die geschilderte milieuhafte Ausgestaltung dieser beiden Bevölkerungsgruppen inklusive der damit einhergehenden sozialen Abgrenzungen begann sich seit der Mitte des letzten Jahrhunderts aufzulösen (Altermatt 1993; Krüggeler 2004, 2016; Hofmann 2013). In den 1950er-Jahren setzten vielschichtige Modernisierungs- und Säkularisierungsprozesse ausgehend von Wirtschaftsboom und Wertewandel die weg von einer industriellen Gesellschaft in eine Ich-Gesellschaft führten (Stolz et al. 2014, 55). In der Folge wächst die Gruppe der Personen ohne Religionszugehörigkeit seit den 1960er-Jahren kontinuierlich an (vgl. Abb. 6.4).

Abbildung 6.4
figure 4

Religiöse Zugehörigkeit in der Schweiz im Zeitverlauf seit 1910. (Anmerkungen: Ständige Wohnbevölkerung ab 15 Jahren. Die Daten von 1910 bis 1960 wurden diesbezüglich zusätzlich zur Harmonisierung des BfS an die Strukturerhebung 2010 und folgende geglättet. Die Volkszählung 1940 wurde aufgrund der Mobilmachung der Armee wegen des Zweiten Weltkriegs ins Jahr 1941 verschoben. Quelle: Bundesamt für Statistik 2021e / Abbildung: Eigene Darstellung)

Gehörte bis 1970 die klare Mehrheit der Bevölkerung einer der beiden christlichen Kirchen an, pluralisierte sich die religiöse Landschaft seither. Der Anteil an Personen ohne Religionszugehörigkeit wuchs stetig an, wobei seit dem Beginn des neuen Jahrtausends eine zusätzliche Beschleunigung dieses Prozesses sichtbar wird, was besonders in der Entwicklung der absoluten Zahlen erkennbar ist. Bei den beiden christlichen Traditionen fällt zudem auf, dass der Schwund an Mitgliedern bei den Reformierten zahlenmässig deutlicher ausfällt als bei den Katholiken.

Dies ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass der Kohortenverlust im katholischen Bereich durch die Immigration von Katholik:innen aus anderen Ländern ausgeglichen wird (Winter-Pfändler 2021). Insbesondere die Immigration aus Italien, Portugal und Spanien führt dazu, dass die absolute Zahl der katholischen Bevölkerung in der Schweiz nicht abnimmt, sondern konstant bleibt. Dies zeigt sich auch in der vielfältigeren Zusammensetzung der katholischen Bevölkerung nach Nationalität im Vergleich zu den Reformierten (vgl. Tab. 6.1).

Tabelle 6.1 Zusammensetzung der Katholiken und Reformierten nach Nationalität

Bei der Säkularisierung in der Schweiz handelt es sich wie in anderen Ländern auch hauptsächlich um eine Säkularisierung via Kohorteneffekten (Crockett und Voas 2006; Stolz und Tanner 2019, 8 ff; Stolz 2020b, 288; für die Schweiz: Stolz und Senn 2022). Demnach ersetzen jüngere, weniger religiöse Generationen ältere, religiösere. Treiber für die schwächere Ausprägung der Religiosität der jeweiligen Folgegenerationen sind ein stetig höherer Grad an Sicherheit, Bildung und damit einhergehende individuelle Freiheiten (Inglehart 2021), eine stärkere religiöse Pluralisierung und damit einhergehende schwindende Plausibilitätsstrukturen sowie eine erhöhte Konkurrenz säkularer Angebote (Stolz 2020b, 299). Damit stehen mehrere gesellschaftliche Faktoren, welche die Religiosität der jeweiligen Generation im Vergleich zur vorausgehenden hemmen, den religiösen Vorstellungen der Eltern als den wichtigsten Pushfaktor für die Weitergabe von Religiosität gegenüber. Diese geben ihre Religiosität unter solchen Bedingungen vor allem dann weiter, wenn ihnen ihre eigene Religiosität besonders wichtig bzw. wenn sie die Weitergabe von Religiosität an ihre Kinder an sich wichtig finden. Das Umfeld oder das Milieu übernimmt oder unterstützt diese Aufgabe nicht mehr so wie in der Vergangenheit.

Unterschiedlich wird bewertet, was die Folgen der Säkularisierung auf freiwilliges Engagement und soziales Vertrauen sind. Gemäss Putnam sollte sich die Säkularisierung negativ auf das Sozialkapital auswirken, gemäss den Modernisierungstheoretiker:innen eher positiv. Ein allfälliger Säkularisierungseffekt müsste sich im Verhältnis zwischen dem Bevölkerungsanteil jener, die keiner Religion angehören, da für sie Religion keine Bedeutung mehr hat, und dem freiwilligen Engagement bzw. dem sozialen Vertrauen zeigen. Die Kantone in der Schweiz scheinen sich in unterschiedlichen Stadien der Säkularisierung zu befinden. So gehörten im Kanton Appenzell Innerrhoden auch 2019 noch 89 % der Bevölkerung einer Religionsgemeinschaft an, im Kanton Basel-Stadt waren es noch 47 % (vgl. Tab. 6.1). Die entsprechenden bivariaten Analysen weisen aber auf Folgendes hin: Im Vergleich zur Bevölkerung ohne Religionszugehörigkeit gibt es sowohl hinsichtlich des freiwilligen Engagements als auch des sozialen Vertrauens bezüglich Säkularisierungsgrad keine Unterschiede (vgl. Tab. A6.2). Bestätigt sich dieser Befund in den multivariaten Analysen, so ist das zumindest für die Schweiz als Indiz dafür zu bewerten, dass die Säkularisierungstendenzen keine direkten Effekte auf freiwilliges Engagement und soziales Vertrauen haben.

Zunehmende religiöse Vielfalt

Im historischen Zeitverlauf zeigt sich neben der Auflösung der Milieus und dem Einsetzen der Säkularisierung auch eine Diversifizierung der religiösen Zugehörigkeitslandschaft. Der Grund liegt einerseits in der Zunahme der Bevölkerung ohne Religionszugehörigkeit, andererseits im Aufkommen und Auftreten neuer Religionen durch globale Mobilität und Migration. Insbesondere der Anteil an Personen mit muslimischem Hintergrund ist aufgrund der Kriegsmigration angestiegen, die durch die Balkankriege in den 1990er-Jahren ausgelöst wurde. Die religiöse Vielfalt ist aber in den verschiedenen Kantonen unterschiedlich. Die Kantone unterscheiden sich hinsichtlich ihres Diversitätsgrads markant (vgl. Tab. 6.2).

Tabelle 6.2 Religiöse Zugehörigkeit und Vielfalt im kantonalen Vergleich

Einerseits dürfen diese Unterschiede nicht überschätzt werden. Denn die religiösen Grenzziehungen überlagern sich nicht mehr eins zu eins mit anderen Merkmalen wie der Sprache oder der politischen und anderen Einstellungen. Die Verwobenheit unterschiedlicher Zugehörigkeiten mit der zunehmenden Binnenmigration und einer föderalen Ordnung mit ganz unterschiedlichen Kantonen und Gemeinden, inklusive den jeweiligen direktdemokratischen Instrumenten, tragen dazu bei, dass Differenzen und Vielfalt hier von unterschiedlichen Gemeinsamkeiten und dort von ebensolcher Vielfalt überlagert werden (Hermann 2016). Andererseits dürfen die Unterschiede auch nicht unterschätzt werden. Der Unterschied zwischen religiös fragmentierten und dominanten Kantonen ist vergleichbar mit dem Unterschied zwischen einem religiös fragmentierten Deutschland und einem religiös dominanten Polen oder Spanien (Liedhegener und Odermatt 2022).

Aufgrund der Kontakthypothese und aufgrund der Tatsache, dass religiöse Vielfalt in der Schweiz kein neues Phänomen ist und seit den 1970er-Jahren zunimmt, gehe ich davon aus, dass religiöse Vielfalt auf der Kantonsebene in einem positiven Zusammenhang mit sozialem Vertrauen steht. Wie der diesbezügliche Zusammenhang mit freiwilligem Engagement aussieht, ist eine offene Frage. Bivariat betrachtet gibt es zumindest keinen Zusammenhang zwischen religiöser Vielfalt auf Kontextebene und freiwilligem Engagement.Footnote 15 Anders verhält es sich hinsichtlich des sozialen Vertrauens (vgl. Abb. 6.5 und Tab. A6.10).

Abbildung 6.5
figure 5

Religiöse Diversitätsstruktur der Kantone und soziales Vertrauen. (Quelle: KONID Survey CH 2019 / Abbildung: Eigene Darstellung)

In religiös dominanten Kantonen sagen 60 %, dass man den meisten Menschen vertrauen könne. In religiös pluralisierten Kantonen weisen 68 % soziales Vertrauen aus. Und in religiös fragmentierten Kantonen, welche die höchste Diversität ausweisen, sagen 72 %, dass man den meisten Menschen vertrauen kann. Die religiöse Diversitätsstruktur und soziales Vertrauen stehen in einem ZusammenhangFootnote 16, von dem aber gesamthaft kein nennenswerter Effekt auszugehen scheint (CV = .08). Genauer betrachtet zeigt sich aber ein kleiner Effekt im Vergleich von dominanten zu fragmentierten Kantonen (OR = 1.72).Footnote 17

Es wird auch hier zu prüfen sein, ob dieser Zusammenhang zwischen religiöser Vielfalt und sozialem Vertrauen standhält, wenn er auf Individualvariablen hin kontrolliert wird. Tut er dies, scheint die religiöse Vielfalt in der Schweiz weniger ein Problem für gegenseitiges Vertrauen zu sein, sondern vielmehr eine Chance für mehr soziales Vertrauen.

Zusammengefasst haben die Schweiz und ihre Kantone eine äusserst facettenreiche religiöse Zugehörigkeitslandschaft, die auch historisch geprägt ist. Im bivariaten Vergleich ergeben sich schwache Zusammenhänge zwischen der religiös konfessionellen Prägung und freiwilligem Engagement und sozialem Vertrauen sowie zwischen der religiösen Diversität und sozialem Vertrauen. Der Säkularisierungsgrad hingegen weist keinen Zusammenhang mit freiwilligem Engagement und sozialem Vertrauen auf.

2 Religiosität in der Schweiz und ihr Einfluss auf freiwilliges Engagement und soziales Vertrauen im Direktvergleich

Im Folgenden geht es nun um die Religiosität auf Individualebene. Um sie adäquat erfassen zu können, unterscheide ich zwischen den vier Dimensionen Zugehörigkeit, Überzeugung, Praxis und Erfahrung. Ich werde die Dimensionen mit jenen Variablen beschreiben, die im Rahmen der weiteren Untersuchung verwendet werden.Footnote 18 Die vollständige uni- und bivariate Statistik aller verwendeten Variablen ist im Kapitel A6 im elektronischen Zusatzmaterial einsehbar.Footnote 19

2.1 Zugehörigkeit zu religiöser Tradition und Symbolsystem

Gemäss den Daten des KONID Survey 2019 betrachten sich 37 % der ständigen Wohnbevölkerung über 16 Jahren in der Schweiz als römisch-katholisch, 24 % als evangelisch-reformiert und 26 % als keiner Religion zugehörig (vgl. Abb. 6.6).

Abbildung 6.6
figure 6

Religionszugehörigkeit in der Schweiz im KONID Survey 2019. (Quelle: KONID Survey CH 2019 / Abbildung: Eigene Darstellung)

Mehr als 7 % gehören einer sonstigen christlichen Glaubensgemeinschaft an: 2.5 % betrachten sich als evangelisch-freikirchlich, 2.6 % als christlich-orthodox und 2 % als zugehörig zu einer anderen christlichen Gruppierung.Footnote 20 Als muslimisch verstehen sich 5 % der befragten Personen, wovon sich der grösste Teil zur sunnitischen (4 %) oder zu keiner muslimischen Glaubensrichtung (0.6 %) zählt (Liedhegener et al. 2019, 9). Etwas mehr als 2 % gehören einer anderen Religionsgemeinschaft an. So sehen sich 0.6 % einer buddhistischen Tradition, 0.4 % dem Judentum und 0.3 % einer hinduistischen Tradition zugehörig (Liedhegener et al. 2019, 8). Weitere 0.8 % gehören einer anderen Religionsgemeinschaft an. Das religiöse Feld in der Schweiz ist also geprägt durch die beiden christlichen Mehrheiten, durch einen weiteren grossen Teil an Personen ohne Religionszugehörigkeit sowie durch eine Reihe religiöser Minderheiten. Wie im vorherigen Kapitel beschrieben, werden aber die Erfahrungen religiöser Vielfalt je nach kantonalem Kontext, in denen sich die einzelnen Personen befinden, unterschiedlich sein.

Hinsichtlich des Zusammenhangs der religiösen Zugehörigkeit mit freiwilligem Engagement und sozialem Vertrauen ist zu erwarten, dass die Religionszugehörigkeit insbesondere als Zugangsressource zu Gelegenheitsstrukturen für freiwilliges Engagement bzw. für Sozialisierungs- und Lernerfahrungen für soziales Vertrauen wirkt. Im direkten Vergleich sollten daher Zusammenhänge sichtbar sein, was auch der Fall ist (vgl. Abb. 6.7).

Religionszugehörigkeit und freiwilliges Engagement stehen in einem Zusammenhang und es besteht mit Cramer’s V = .16 ein kleiner Effekt.Footnote 21 Insbesondere eine evangelisch-reformierte (OR = 1.82) und eine andere christliche Zugehörigkeit (OR = 1.88) stehen in einem positiven Zusammenhang mit freiwilligem Engagement (vgl. Tab. A6.7). Letzteres ist vermutlich auf das starke freiwillige Engagement unter Personen mit evangelisch-freikirchlichem Hintergrund zurückzuführen. Eine muslimische Zugehörigkeit (OR = 0.62) weist demgegenüber bivariat betrachtet einen negativen Zusammenhang zu freiwilligem Engagement auf.

Soziales Vertrauen steht bivariat betrachtet ebenfalls im Zusammenhang mit der Religionszugehörigkeit, wobei hier der Effekt mit CV = .17 etwas grösser ist als beim freiwilligen Engagement.Footnote 22 Auffällig beim sozialen Vertrauen ist wiederum der positive Zusammenhang bei Personen mit einer evangelisch-reformierten Zugehörigkeit (OR = 1.60) und der negative Zusammenhang bei denjenigen mit einer muslimischen Zugehörigkeit (OR = 0.30).

Abbildung 6.7
figure 7

Religionszugehörigkeit und freiwilliges Engagement sowie soziales Vertrauen. (Anmerkungen: * Die Ausprägung bei Personen anderer Religionszugehörigkeit basiert auf 19/12 (Engagement) bzw. auf 13/14 (soziales Vertrauen) Beobachtungen und sind daher mit grösster Vorsicht zu geniessen: Das 95 %-Konfidenzintervall reicht dann hier von 23 % bis 56 % (Engagement) bzw. 34 % bis 70 % (soziales Vertrauen) und besagt, dass basierend auf den Daten des KONID Survey 2019 faktisch nichts über die Personen mit anderer Religionszugehörigkeit ausgesagt werden kann. Quelle: KONID Survey CH 2019 / Abbildung: Eigene Darstellung)

Diese Erstergebnisse unterstützten zunächst die Vermutung, dass Zugehörigkeiten eine Rolle spielen hinsichtlich freiwilligem Engagement und sozialem Vertrauen. Ob diese Zusammenhänge aber auch unter kontrollierten Bedingungen Bestand haben werden oder im Verbund mit weiteren Kontrollvariablen verschwinden, wird sich zeigen.

Selbstverständnis als religiös oder spirituell

Neben der nominalen Zugehörigkeit zu religiösen Vergemeinschaftungen der sozialen Ebene gilt es, das religiöse Selbstverständnis als religiös bzw. als spirituell zu betrachten. Gesamthaft fühlen sich die Befragten eher spirituell denn religiös: der Mittelwert auf einer 11er-Skala von 0 (gar nicht religiös/spirituell) bis 10 (sehr religiös/spirituell) liegt bei 3.8 für religiös und bei 4.4 für spirituell. Sowohl die Selbstdeklaration als religiös als auch jene als spirituell weisen zwar einen signifikanten Zusammenhang mit freiwilligem Engagement auf, dieser ist aber in seiner Stärke zu gering, als dass er aussagekräftig wäre.Footnote 23 Hinsichtlich des sozialen Vertrauens ist kein Zusammenhang feststellbar.Footnote 24 Das Eigenverständnis als religiös bzw. als spirituell scheint also keinen Einfluss zu haben auf die Ausübung eines freiwilligen Engagements oder auf die Ausprägung des sozialen Vertrauens.

2.2 Überzeugung als zentraler Bestandteil der Religiosität

Mit der Dimension der Überzeugung wird die Übernahme von religiösen Symbolen in die eigene Sinngebung erfasst und damit verbunden auch auf entsprechende Motivlagen. Sie beinhaltet einerseits Positionierungen zu Glaubensinhalten – hier die Zustimmung zur Existenz Gottes oder von etwas Göttlichem – und andererseits die Ausrichtungen der eigenen Religiosität als liberal oder exklusivistisch-fundamentalistisch.

Glaube an Gott oder etwas Göttliches

Der Glaube an Gott oder etwas Göttliches ist in der Schweiz relativ weit verbreitet. Rund die Hälfte der Bevölkerung (51 %) sagt von sich, dass sie ziemlich oder sehr daran glaubt, dass Gott oder etwas Göttliches existiert. 16 % sind sich in dieser Frage etwas unsicher und beanspruchen eine Mittelposition, ebenfalls 16 % glauben wenig an die Existenz von Gott oder von etwas Göttlichem. 17 % der Befragten gaben an, dass sie gar nicht daran glauben, dass Gott oder etwas Göttliches existiert. Diese hohe Zustimmung mag zunächst überraschen, gleichzeitig bestätigen Umfragen regelmässig, dass die Schweizer Bevölkerung im europäischen Vergleich in dieser Frage stets hohe Werte ausweist (Bertelsmann Stiftung 2009, 772; Pew Research Center 2018, 99).

Aufgrund der bisherigen Forschungen und mit Blick auf einen möglichen Beobachtermechanismus steht die Erwartung im Raum, dass die religiöse Überzeugung in einem positiven Zusammenhang mit freiwilligem Engagement steht. Religiöse Überzeugung sollte eine positive Wirkung auf freiwilliges Engagement haben, da Glaube ein potenziell starkes Motiv für Engagement ist. Im Direktvergleich lässt sich zwar ein Zusammenhang feststellen, dieser hat aber gesamthaft mit CV = .07 keine praktische Bedeutung.Footnote 25 Insbesondere ein stark ausgeprägter Glaube an Gott oder an etwas Göttliches scheint aber gleichwohl in einem, wenn auch nur kleinen, dennoch positiven Zusammenhang mit freiwilligem Engagement zu stehen (OR = 1.49). Ob es sich hierbei aber um einen eigenständigen, robusten Effekt, der auch unter kontrollierten Bedingung standhält, wird sich zeigen.

Gemäss dem dargestellten Beobachtermechanismus sollte es auch einen positiven Zusammenhang zwischen dem Glauben an Gott oder an etwas Göttlichem und sozialem Vertrauen geben. Dies kann vorderhand im Direktvergleich nicht bestätigt werden. Beim Zusammenhang von religiöser Überzeugung und sozialem Vertrauen handelt es sich bivariat betrachtet um einen leicht u-förmigen Zusammenhang (vgl. Abb. 6.8).

Abbildung 6.8
figure 8

Glaube an Gott oder etwas Göttliches und soziales Vertrauen. (Quelle: KONID Survey CH 2019 / Abbildung: Eigene Darstellung)

Personen, welche die Mittelposition hinsichtlich der Frage nach Gott oder etwas Göttlichem eingenommen haben, weisen mit 60 % ein tieferes soziales Vertrauen aus als solche, die gar nicht oder wenig (70 %, OR = 1.52) oder umgekehrt ziemlich oder sehr (71 %, OR = 1.57) an Gott oder etwas Göttliches glauben.Footnote 26 Dies ist ein kontraintuitiver Befund. Mögliche Erklärungen könnten Überlagerungen von unterschiedlichen Mechanismen sein. Auf diese Frage ist zurückzukommen, wenn sich in den Folgekapiteln herausstellen sollte, dass dieser Zusammenhang auch unter kontrollierten Bedingungen Bestand hält.

Religiös liberale Ausrichtung und exklusivistisch-fundamentalistische Ausrichtung

Neben dem Glauben an Gott oder etwas Göttliches ist die Frage der individuellen Ausrichtung der Religiosität relevant. Rund 51 % der Bevölkerung sehen sich gemäss der Daten des KONID Surveys 2019 als liberal oder sehr liberal, was ihre religiöse Einstellung angeht. 31 % gaben an, eher liberal zu sein, 14 % eher konservativ. 5 % bezeichnen sich selbst als konservativ oder sehr konservativ. Es handelt sich hier also, wie bei der exklusivistisch-fundamentalistischen Ausrichtung der Religiosität, um eine höchst rechtsschiefe Verteilung – und dies bei allen religiösen Traditionen (vgl. Abb. 6.9). Eine exklusivistisch-fundamentalistische Ausrichtung der Religiosität ist zunächst nur bei einer kleinen Minderheit der Bevölkerung zu finden. Die Mehrheit der Befragten platziert sich auf der Skala der exklusivistisch-fundamentalistischen Ausrichtung im unteren Bereich (M = 1.44, SD = 0.50). Bei diesen Personen kann nicht von einer exklusivistisch-fundamentalistischen Ausrichtung die Rede sein, sondern eher im Sinn Allports (1954) von einer universalistischen Ausrichtung ihrer Religiosität.

Abbildung 6.9
figure 9

Exklusivistisch-fundamentalistische Ausrichtung und Religionszugehörigkeit. (Anmerkungen: * Die Ausrichtungen bei Personen anderer Religionszugehörigkeit basieren auf weniger als 50 Beobachtungen und sind daher mit grösster Vorsicht zu geniessen. Quelle: KONID Survey CH 2019 / Abbildung: Eigene Darstellung)

Sodann gibt es exklusivistisch-fundamentalistisch ausgerichtete Personen über alle religiösen Traditionen hinweg, wobei bei Personen mit einer Zugehörigkeit zu einer Religion in einer Minderheitenposition der diesbezügliche Anteil leicht erhöht ist. Eine exklusivistisch-fundamentalistische Ausrichtung ist aber kein Alleinstellungsmerkmal einer einzelnen Tradition. Wie sieht der diesbezügliche Zusammenhang mit freiwilligem Engagement und sozialem Vertrauen aus?

Die aufgrund der Theorie und des Forschungsstands geäusserte Erwartung ist, dass eine liberale Ausrichtung positiv mit freiwilligem Engagement und sozialem Vertrauen zusammenhängt, eine exklusivistisch-fundamentalistische Ausrichtung hingegen negativ. Bivariat betrachtet besteht aber kein solcher Zusammenhang sowohl zwischen einer liberalen (OR = 0.98 [0.91, 1.05]Footnote 27) als auch zwischen einer exklusivistisch-fundamentalistischen Ausrichtung (OR = 1.01 [0.87, 1.17]) und freiwilligem Engagement. Freiwilliges Engagement findet also ganz unabhängig von der religiösen Ausrichtung beziehungsweise bei Personen mit jeglicher religiöser Interpretationsrichtung in gleichen Massen statt (Liedhegener et al. 2019, 28).

Anders steht es um den Zusammenhang zwischen der religiösen Ausrichtung und sozialem Vertrauen. Die Erwartung ist, dass es hier zu ambivalenten Effekten, wie von Allport (1954) beschrieben, kommt. Eine universale und liberale religiöse Ausrichtung sollte in einem positiven Zusammenhang mit sozialem Vertrauen stehen, eine exklusivistisch-fundamentalistische und konservative Einstellung in einem negativen. Beides wird im Direktvergleich bestätigt. Eine religiös liberale Ausrichtung steht in einem positiven Zusammenhang mit sozialem Vertrauen (OR = 1.30), eine exklusivistisch-fundamentalistische Ausrichtung der Religiosität in einem negativen Zusammenhang (OR = 0.56). Sollten sich diese Zusammenhänge als robust erweisen, wäre dies ein wichtiges, da neues, Resultat hinsichtlich des Zusammenhangs von Religion und sozialem Vertrauen – dieser wäre nämlich nicht wie bisher angenommen eher positiv, sondern ganz im Sinne Allports ambivalent.

2.3 Praxisdimension von Religiosität

Die Praxisdimension umfasst die Intensität der Teilnahme an religiösen Ritualen (öffentliche Praxis) einerseits und die Durchführung von Ritualen im Privaten (private Praxis) andererseits.

Öffentliche Praxis

Die öffentliche Praxis bezieht sich je nach Religionszugehörigkeit auf den Besuch von Gottesdiensten (Christen), Gemeinschaftsgebeten (Muslimen) oder spirituellen Ritualen und religiösen Handlungen (alle anderen). Rund ein Drittel der Bevölkerung (33 %) besucht nie ein öffentliches religiöses Ritual, ein weiteres Drittel nur selten (33 %). Ein Viertel (25 %) besucht mehrmals pro Jahr oder monatlich einen Gottesdienst, ein Gemeinschaftsgebet oder ein anderes religiöses Ritual. Nur 5 % der Bevölkerung besuchen wöchentlich ein religiöses Ritual, 3 % mehrmals wöchentlich oder sogar täglich. Der Besuch öffentlicher religiöser Rituale gehört also für die Mehrheit der Befragten nicht zum Alltag. Die Häufigkeit des Besuchs öffentlicher religiöser Rituale unterscheidet sich über die verschiedenen religiösen Traditionen hinweg (vgl. Abb. 6.10).

Abbildung 6.10
figure 10

Religionszugehörigkeit und öffentliche religiöse Praxis. (Anmerkungen: * Die Ausprägungen bei Personen anderer Religionszugehörigkeit basieren auf weniger als 50 Beobachtungen und sind daher mit grösster Vorsicht zu geniessen. Quelle: KONID Survey CH 2019 / Abbildung: Eigene Darstellung)

Von den Personen ohne Religionszugehörigkeit besuchen nur 3 % wöchentlich oder häufiger ein spirituelles Ritual oder eine religiöse Handlung. Das ist vergleichbar mit den Reformierten; hier besuchen nur 3 % einen Gottesdienst wöchentlich oder häufiger. Bei den Katholiken sind es 8 %. Im Unterschied zu den Personen ohne Religionszugehörigkeit besuchen aber bei den Reformierten 29 % und bei den Katholiken 35 % mehrmals pro Jahr oder monatlich einen Gottesdienst. Von den sonstigen Christen besuchen 36 % einen Gottesdienst wöchentlich oder häufiger, was unter anderem mit der Intensität unter den Personen mit evangelisch-freikirchlichem Hintergrund erklärbar ist. 30 % besuchen bei den sonstigen Christen einen Gottesdienst mehrmals jährlich oder monatlich, ein Viertel (24 %) unter ihnen besucht nie oder seltener einen Gottesdienst.

Bei den Muslimen besuchen rund 21 % wöchentlich oder häufiger ein Gemeinschaftsgebet. 25 % besuchen ein solches mehrmals pro Jahr oder monatlich. Mehr als die Hälfte der befragten Muslim:innen (55 %) besuchen seltener oder nie ein Gemeinschaftsgebet. Aufgrund unterschiedlicher geschlechtsspezifischer Rollenerwartungen gibt es hier klare Unterschiede (Ohlig 2000, 154 ff; Ruthven 2000, 141 ff). So besuchen rund 27 % der männlichen Muslime wöchentlich oder häufiger ein Gemeinschaftsgebet, bei den weiblichen Muslima tun dies 14 %. Umgekehrt besuchen 68 % der weiblichen Muslima und 42 % der männlichen Muslime selten oder nie ein Gemeinschaftsgebet.

Öffentliche religiöse Praxis, so die Erwartung, hängt aufgrund des damit verbundenen Zugangs zu Gelegenheitsstrukturen positiv zusammen mit freiwilligem Engagement. Auch für die Schweiz wird in der bisherigen Forschung von einem positiven Zusammenhang ausgegangen.

Öffentliche religiöse Praxis und freiwilliges Engagement hängen tatsächlich zusammen. Es besteht mit CV = .18 ein kleiner, aber klarer Effekt (vgl. Tab. 6.3).

Tabelle 6.3 Öffentliche religiöse Praxis und freiwilliges Engagement

Liegt die Engagementquote bei jenem Drittel der Befragten, die nie ein öffentliches religiöses Ritual besuchen, bei rund 39 %, so steigt diese Quote beim weiteren Drittel, das seltener ein solches Ritual besucht, auf 49 % und beim Viertel der Bevölkerung, das mehrmals jährlich oder monatlich einen Gottesdienst oder ein Gemeinschaftsgebet besucht auf 57 %. Beim kleinen Teil der Bevölkerung (5 %), der wöchentlich ein öffentliches religiöses Ritual besucht, steigt die Engagementquote sogar auf 73 % an. Wichtig ist zu sehen, dass diese bei der Kleinstgruppe (3 %), die mehrmals wöchentlich oder täglich einen Gottesdienst oder ein Gemeinschaftsgebet besucht, nicht noch weiter ansteigt, sondern auf 57 % zurückgeht. Diese Kurve bildet sich auch in den Standardresiduen der Kontingenzanalyse (–4.5 / –0.2 / +3.0 / +4.3 / +1.1) und den OR der univariablen logistischen Regression (1.5, 2.1, 4.3, 2.1) ab. Aus bivariater Sicht kann die Praxisthese also gestützt werden. Dabei handelt es sich nahezu um einen linearen Zusammenhang. Nur Personen, die mehrmals in der Woche bzw. täglich ein öffentliches religiöses Ritual besuchen, sind nicht so engagiert wie solche, die monatlich oder wöchentlich praktizieren. Sollte sich dieser Zusammenhang inklusive seiner Nicht-Linearität im oberen Skalenbereich unter kontrollierten Bedingungen als robust erweisen, ist vertieft darauf einzugehen. Kontrolliert werden muss hier insbesondere auf mögliche Alterseffekte oder Effekte der religiösen Ausrichtung. Sollte die Nicht-Linearität trotz solcher Kontrollen bestehen bleiben, könnte sie, und das sei vorweggenommen, plausibel mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen erklärt werden: Werden die individuellen Zeitressourcen primär für religiöse Praxis eingesetzt (und das ist bei jenen, die mehrmals wöchentlich oder täglich einen Gottesdienst oder ein Gemeinschaftsgebet besuchen, der Fall), fehlen diese Ressourcen für freiwilliges Engagement andernorts.

Öffentliche religiöse Praxis sollte gemäss Theorie und Forschungsstand auch mit sozialem Vertrauen in einem positiven Zusammenhang stehen. Wer öffentlich häufig religiöse Rituale besucht, ist dicht in religiöse Netzwerkstrukturen verhängt und sollte aufgrund der dabei stattfindenden brückenbildenden Kontakte entsprechendes soziales Vertrauen aufbauen. Die bisherigen Forschungsresultate sind aber, was diesen Zusammenhang angeht, divergent. Im bivariaten Direktvergleich ist auch in dieser Studie kein Zusammenhang feststellbar.Footnote 28

Private Praxis

Über die private Praxis, das heisst beten oder meditieren, kann zunächst berichtet werden, dass rund ein Drittel der Bevölkerung (32 %) nie oder nur sehr selten betet oder meditiert. 18 % praktizieren ein paar Mal pro Jahr im Privaten, 8 % etwa einmal pro Monat und 9 % wöchentlich. 11 % beten oder meditieren mehrmals pro Woche und knapp ein Viertel (23 %) tut dies täglich oder mehrmals am Tag. Im Direktvergleich ist ein kleiner Zusammenhang (CV = .11) sowohl mit freiwilligem EngagementFootnote 29, als auch mit sozialem Vertrauen (CV = .10) feststellbar.Footnote 30 Relevant ist hier auch die Frage, ob diese Zusammenhänge einer Kontrolle mit anderen religiösen Variablen, insbesondere der öffentlichen religiösen Praxis, standhalten oder nicht.

2.4 Religiöse Erfahrungen

Die Dimension der religiösen Erfahrung bezieht sich auf Erfahrungen, die Individuen im Sinne eines religiösen Symbolsystems deuten und als religiös erleben, als Reaktion auf entsprechende Stimmungen, erzeugt durch kulturelle Symbolsysteme, die emotional wirken. Dabei geht es um das Gefühl, dass Gott oder etwas Göttliches in das Leben eingreift oder um das Gefühl, mit allem eins zu sein. Ein Drittel der Bevölkerung (35 %) sagt von sich, dass es keine solche Erfahrungen gemacht hat oder macht. Zwei Fünftel (41 %) der Bevölkerung beschreiben, dass solche religiösen Erfahrungen tendenziell («eher») vorhanden sind. Ein Viertel (24 %) der Befragten bestätigt solche religiösen Erfahrungen.

Hinsichtlich des Zusammenhangs mit freiwilligem Engagement ist, basierend auf der Tatsache, dass religiöse Motive für freiwilliges Engagement potenziell auch mit religiösen Erfahrungen zusammenhängen, eine positive Korrelation anzunehmen. Bivariat kann zwar ein solcher Zusammenhang festgestellt werden, es geht davon aber gesamthaft kein relevanter Effekt aus (CV = .09).Footnote 31 Interessant ist nun zu sehen, dass bei genauerer Betrachtung bei jenem Viertel der Befragten, die eine religiöse Erfahrung bestätigen, ein kleiner, aber dennoch relevanter bivariater Zusammenhang zu freiwilligem Engagement besteht (OR = 1.72).

Gemäss dem Efferveszenz-Mechanismus könnte ein positiver Zusammenhang der religiösen Erfahrung insbesondere gemeinsam mit der religiösen Praxis auftreten. Eine erste bivariate Sichtung dieses Zusammenhangs ergibt zwar einen solchen; von ihm geht tatsächlich ein kleiner Effekt aus (CV = .10).Footnote 32 Bei genauerer Betrachtung der Effekte der Einzelausprägungen ist insbesondere wiederum bei jenem Viertel der Bevölkerung, das religiöse Erfahrungen eindeutig bestätigt, ein relevanter bivariater Zusammenhang mit sozialem Vertrauen feststellbar (OR = 1.92).

Zusammengefasst ergibt die Sichtung der bivariaten Zusammenhänge zwischen Religiosität und Sozialkapital, das heisst freiwilligem Engagement und sozialem Vertrauen, folgenden ersten Eindruck: Freiwilliges Engagement hängt potenziell positiv zusammen mit einer evangelisch-reformierten Religionszugehörigkeit, der öffentlichen, aber auch privaten religiösen Praxis sowie mit der religiösen Erfahrung. Einen negativen Zusammenhang weist eine muslimische Religionszugehörigkeit aus. Keine Zusammenhänge konnten zwischen freiwilligem Engagement und der Selbsteinschätzung als religiös bzw. als spirituell und der religiösen Überzeugung (weder Gottesglaube noch Ausrichtung) festgestellt werden. Soziales Vertrauen weist positive Zusammenhänge mit einer evangelisch-reformierten Religionszugehörigkeit, mit der religiösen Ausrichtung als liberal bzw. negativ mit einer exklusivistisch-fundamentalistisch Ausrichtung, positiv mit der religiösen privaten Praxis und der religiösen Erfahrung auf. Keine Zusammenhänge konnten hinsichtlich des Gottesglaubens und auch hinsichtlich der öffentlichen religiösen Praxis festgestellt werden.

2.5 Wechselwirkungen von Dimensionen von Religiosität

Bevor wir im nächsten Kapitel auf die Ergebnisse der logistischen Regressionsanalysen eingehen, sind mögliche Wechselbeziehungen der verschiedenen Dimensionen von Religiosität untereinander zu untersuchen. Zusätzlich wird im Rahmen der Regressionsanalysen nochmals auf Multikollinearität hin geprüft. Dabei geht es um die Frage, ob einzelne unabhängige Variablen so stark durch die anderen erklärt werden, dass sie faktisch durch diese substituiert werden. In diesem Fall müssen einzelne Variablen ausgeschlossen werden. Aufgrund dieser Analysen war dies der Fall für die subjektive Religionszugehörigkeit und die Gemeindeorientierung, da erstere durch die objektive Religionszugehörigkeit und die Gemeindeorientierung wie auch durch die Zugehörigkeit und zusätzlich durch die Praxisdimension erklärt wurde.Footnote 33

Eine Korrelationsanalyse unter den verschiedenen Dimensionen und Variablen der Religiosität lässt zunächst die Feststellung zu, dass mit Ausnahme der Selbstdeklaration als spirituell und einer religiös liberalen Ausrichtung alle anderen Variablen zumindest im Rahmen eines kleinen Effekts zusammenhängen (vgl. Tab. 6.4). Dies ist insofern erwartbar, da alle Variablen einen bestimmten Aspekt desselben Konstrukts, nämlich der individuellen Religiosität eines Individuums, erfassen. Insofern bestätigt die Verwobenheit der verschiedenen Dimensionen, dass eine einzelne Variable nicht etwas völlig anderes erfasst. Zugleich ist aber auch erkennbar, dass keine der Variablen in einem so starken Zusammenhang mit einer anderen Variablen steht, dass es sich dabei um dasselbe handeln würde. Der stärkste Zusammenhang besteht zwischen der Selbstdeklaration als religiös und dem Glauben an Gott oder etwas Göttliches (rs = .73). Dies erscheint plausibel, wenn man sich vor Augen führt, dass die Selbstdeklaration als religiös eine Zugehörigkeit zum religiösen Symbolsystem ausdrückt und die Dimension der Überzeugung auf die Übernahme von religiösen Symbolen in die eigene Sinngebung und die damit verbundenen Motivlagen verweist. Es weist aber auch darauf hin, dass in der Schweiz wohnhafte Personen die Selbstbezeichnung als religiös stark mit einem Glauben an Gott oder etwas Göttlichem verbinden.

Die Religionszugehörigkeit steht in starkem Zusammenhang mit der Selbstbeschreibung als religiös, mit dem Glauben an Gott oder etwas Göttliches sowie mit der öffentlichen und privaten Praxis.Footnote 34 Eine nominale Zugehörigkeit steht also in einem starken Zusammenhang mit religiöser Überzeugung und Praxis, was durchaus als ein Muster traditioneller Religiosität betrachtet werden kann. Die religiöse Erfahrung weist nur einen mittleren Zusammenhang mit religiöser Zugehörigkeit auf. Einen starken Zusammenhang weist sie hingegen mit der Selbstbeschreibung als spirituell auf (rs = .52). Diese Selbstzuschreibung steht ihrerseits auch nur in einem mittleren Zusammenhang mit der Religionszugehörigkeit. Dieses Muster indiziert seinerseits auf das Vorhandensein alternativer Formen von Religiosität in der Bevölkerung, die sich durch weniger Zugehörigkeit, weniger öffentliche Praxis und dennoch mehr religiöser Erfahrung auszeichnen.

Tabelle 6.4 Zusammenhänge bei Religionsvariablen

Der Glaube an Gott oder etwas Göttliches steht in einem starken Zusammenhang mit religiöser Praxis und religiöser Erfahrung. Auch die private Praxis steht mit der öffentlichen Praxis sowie mit der religiösen Erfahrung in einer starken Relation. Nicht in einem starken Zusammenhang stehen aber etwas überraschend die öffentliche religiöse Praxis und die religiöse Erfahrung (r s = .37). Der häufige Besuch von Gottesdiensten, Gemeinschaftsgebeten oder anderen spirituellen oder religiösen Feiern weist zwar relativ stark auf einen Glauben an Gott oder etwas Göttliches hin, aber nur mittelmässig auf religiöse Erfahrungen. Religiöse Erfahrungen weisen also auf eine zusätzliche, nochmals anders gelagerte Qualität individueller Religiosität hin. Gerade im Spiegel des skizzierten Efferveszenz-Mechanismus ist dies relevant, da sich dort religiöses Ritual und religiöse Erfahrung gegenseitig bedingen.

Eine religiös liberale Ausrichtung hängt nicht stark mit den anderen Dimensionen zusammen und steht mit allen anderen Variablen in einem negativen Zusammenhang. Das bedeutet, dass Personen, die sich als religiös konservativ betrachten, etwas ausgeprägter glauben, praktizieren und auch entsprechende Erfahrungen machen als jene, die sich als religiös liberal betrachten. Die Zusammenhänge sind hier fast überall nur klein. Der stärkste negative Zusammenhang besteht mit einer religiös exklusivistisch-fundamentalistischen Ausrichtung. Auch das erscheint plausibel, da die Einstellungen, die für eine exklusivistisch-fundamentalistische Religiosität stehen,Footnote 35 nur schwer mit einem allgemein liberalen Verständnis in Einklang zu bringen sind. Hinsichtlich dieses Zusammenhangs ist es nun wichtig zu sehen, dass es sich nicht um dasselbe Konstrukt handelt. Ein Zusammenhang ist zwar klar vorhanden (r s = .35), aber dieser weist nicht darauf hin, dass es sich dabei um dasselbe Messkonstrukt handeln würde.

Es bestehen gesamthaft betrachtet Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Dimensionen von Religiosität, die in ihren Nuancen und Mustern Unterschiedlichkeiten hervorzubringen vermögen. Dies bestätigt die theoretische Verortung und Dimensionierung von Religiosität insofern, als dass die Messungen plausibel sind und solche Nuancierungen auch sichtbar machen.

2.6 Zusammenfassung

Dieses Kapitel verfolgte das Ziel, Religion und Religiosität in der Schweiz sowohl in ihren kantonalen Kontexten als auch auf individueller Ebene empirisch zu erfassen und zu verorten. Hierfür bin ich zunächst auf die Faktoren der kantonalen Kontextebene eingegangen. Bei der Schweiz und ihren Kantonen handelt es sich um eine äusserst facettenreiche religiöse Zugehörigkeitslandschaft, die geprägt ist von der Geschichte der letzten Jahrhunderte, von Säkularisierungsprozessen seit der Mitte des letzten Jahrhunderts und von Migration vor allem seit den 1990er-Jahren. Die historische religiös konfessionelle Prägung weist bivariat betrachtet einen Zusammenhang mit freiwilligem Engagement und sozialem Vertrauen auf. Mit letzterem, dem sozialen Vertrauen, steht bivariat auch religiöse Diversität in einem Zusammenhang. Der Säkularisierungsgrad seinerseits weist keinen Zusammenhang auf, weder mit freiwilligem Engagement noch mit sozialem Vertrauen.

In einem zweiten Teil habe ich Religiosität in der Schweiz auf der Individualebene verortet. Die Schweizer Bevölkerung weist auch hier markante Unterschiede auf. Die Anteile an Personen, die keiner Religion angehören (26 %), weder privat (32 %) noch öffentlich (33 %) religiös praktizieren und auch von keinen religiösen Erfahrungen berichten (35 %), sind markant. Es sind keine kleinen Minderheiten. Gleichzeitig sagt rund die Hälfte der Bevölkerung (51 %), dass sie an Gott oder etwas Göttliches glaubt. Die Spannweite, ob und wie sich Religiosität auf individueller Ebene ereignet bzw. vorhanden ist, ist gross. Umso relevanter ist daher die Frage, wie Religiosität mit freiwilligem Engagement und sozialem Vertrauen genau zusammenhängt.

Eine erste bivariate Sichtung möglicher Zusammenhänge ergab, dass freiwilliges Engagement positiv korreliert mit einer evangelisch-reformierten Religionszugehörigkeit, mit der öffentlichen und privaten Praxis sowie mit der religiösen Erfahrung. Eine negative Beziehung weist eine muslimische Religionszugehörigkeit aus. Keine Zusammenhänge konnten zwischen freiwilligem Engagement und der Selbsteinschätzung als religiös bzw. als spirituell und der religiösen Überzeugung festgestellt werden. Auch soziales Vertrauen weist einen positiven Zusammenhang mit einer evangelisch-reformierten Religionszugehörigkeit, mit der religiösen privaten Praxis, mit der religiösen Erfahrung und mit einer religiösen Ausrichtung als liberal auf. Eine negative Korrelation besteht mit einer exklusivistisch-fundamentalistischen Ausrichtung der Religiosität. Keine Zusammenhänge konnten hinsichtlich des Gottesglaubens und der öffentlichen religiösen Praxis festgestellt werden.