In diesem ersten Theoriekapitel führe ich in die zentralen Konzepte Religion und Religiosität (Abschnitt 2.1) und Sozialkapital (Abschnitt 2.2) ein. Ziel ist, die verwendeten Begriffe und Konzepte zu definieren, damit sie in der Folge valide gemessen und analysiert werden können. Um das Konzept Sozialkapital von anderen Konzepten abzugrenzen, setze ich es in Bezug zu jenen der Zivilgesellschaft, des sozialen Zusammenhalts und des «Dark Social Capital», das heisst der dunklen Seite von Sozialkapital (Abschnitt 2.3).

1 Religion und Religiosität

Religion taucht in gegenwärtigen Diskursen unterschiedlich konnotiert auf. Mal ist es Religion ganz allgemein, die eine gesellschaftliche Wirkung haben soll; mal sind es einzelne Personen mit einer bestimmten Religionszugehörigkeit, die etwas tun; mal ist es eine religiös gefärbte Einstellung, die zum Gelingen von Gemeinschaft beiträgt.

Religion ist ein mehrdimensionaler, diskursiv der Veränderung und Konstruktion unterworfener Begriff und daher definitorisch problematisch. Denn jede Definition entspricht nur einem zeitlich und perspektivisch begrenzten Blick und bleibt damit zwangsläufig hinter jeglicher Beschreibung von Realität zurück (Pollack und Rosta 2015, 59 ff; Pollack 2017, 11). Begrenztheit und ständige Veränderung führen dazu, dass der Begriff stets mit einer Unschärfe behaftet ist (Pickel 2011, 16; Pollack und Rosta 2015; Liedhegener 2016b). Des Weiteren erklärt sich daraus die Tatsache, dass es eine Vielfalt an Definitionen gibt und dass keine davon einheitlich allgemein verwendet wird (Stolz und Baumann 2007, 21 f; Hildebrandt und Brocker 2008; Schlieter 2010). Umso zentraler für die Forschung ist darum jeweils die Erstellung von Arbeitsdefinitionen mit Rekurs auf die entsprechende Literatur.

Üblicherweise wird zwischen funktionalen und substanziellen Definitionen unterschieden sowie häufig polythetisch auf mehrere Dimensionen verwiesen. Funktionale Definitionsansätze stellen die Funktion von Religion und Religiosität in den Mittelpunkt. Sie fragen nach deren Leistung für die Gemeinschaft, die Gesellschaft und das Individuum. So beschreiben klassische funktionale Definitionen die integrative Leistung von Religion für die Gemeinschaft (Durkheim 1912) oder ihre Leistung bezüglich Kontingenzbewältigung (Luhmann 1977), Komplexitätsreduktion (Habermas 1979) oder Sinnstiftung (Kaufmann 1989) für den Einzelnen. Substanzielle Definitionsansätze unterstreichen demgegenüber nicht die Leistung, sondern die Inhalte von Religion und Religiosität. Es wird danach gefragt, was ein Phänomen, ein System, oder eine Tatsache als religiös auszeichnet und von anderen unterscheidet. Die diesbezügliche Kennzeichnung als religiös wird definitorisch häufig mit Verweis auf Heiliges oder Transzendentes gesetzt. Beide Definitionsarten weisen Vor- und Nachteile auf, führen aber insbesondere bei strikter einseitiger Ausrichtung zu blinden Flecken. Dieser Gefahr begegnen polythetische Definitionsansätze dadurch, dass sie versuchen, Religion anhand verschiedener Kriterien zu bestimmen und Religiosität mit Blick auf ihre unterschiedlichen Dimensionen zu beschreiben (Hock 2002, 19; 2017, 9).

Ich folge in dieser Studie einem polythetisch-substanziellen AnsatzFootnote 1 und unternehme dabei den Versuch, die substanzielle und funktionale Perspektive zu kombinieren (so auch Pollack und Rosta 2015, 63). Dies ermöglicht eine Integration beider Definitionsansätze und eine damit verbundene hohe Anschlussfähigkeit an bestehende Ansätze (Hock 2002, 14 ff; Hildebrandt und Brocker 2008, 18 ff; Schlieter 2010, 21 ff). Der Schwerpunkt eines solchen Definitionsversuchs liegt auf substanziellen Merkmalen. Durch die Integration der funktionalen Perspektive geraten die vielfältigen Leistungen und die damit verbundenen wichtigen Hinweise aber nicht aus dem Blickfeld (Pollack 2017, 9).

Religion, und so lautete meine Arbeitsdefinition, verstehe ich als kulturelles Symbolsystem im Sinne von Clifford Geertz (1987 [1983], 48) und damit als «Symbolsystem, das darauf abzielt, starke, umfassende und dauerhafte Stimmungen und Motivationen in den Menschen zu schaffen, indem es Vorstellungen einer allgemeinen Seinsordnung formuliert und diese Vorstellungen mit einer solchen Aura von Faktizität umgibt, dass die Stimmungen und Motivationen völlig der Wirklichkeit zu entsprechen scheinen». Dieses kulturelle Symbolsystem wird durch religiöse Vergemeinschaftungen getragen und vermittelt und bildet sich beim Individuum als Religiosität im Sinne einer Positionierung zu Religion ab. Um Religiosität adäquat beschreiben zu können, unterscheide ich zwischen den vier Dimensionen Zugehörigkeit, Überzeugung, Praxis und Erfahrung.

1.1 Strukturelle Verortung von Religion und Religiosität

Religion ist ein vielschichtiges Phänomen. Im Anschluss an Talcott Parsons (1975, 12 ff) differenziere ich analytisch zwischen einer kulturellen, sozialen, personellen und biologisch-organischen Ebene. Diese Ebenen verschränke ich mit substanziellen Inhalten und der jeweiligen funktionalen Leistung (vgl. Abb. 2.1). Mit Blick auf diese vier Ebenen kann das Phänomen Religion analytisch verortet und in Beziehung gesetzt werden. Damit eröffnet sich die Möglichkeit einer klaren Differenzierung zwischen der Beschreibung von Religiosität auf personaler Ebene und von Religion auf sozialer und kultureller Ebene. Zudem lassen sich unterschiedliche Dimensionen von Religiosität klar benennen und beschreiben. Der dadurch konzipierte Religionsbegriff verschränkt funktionale, substanzielle und strukturelle Konzepte zu einem vielschichtigen Konzept von Religion und Religiosität.Footnote 2

Abbildung 2.1
figure 1

(Abbildung: Eigene Darstellung in Anlehnung an die Systematik von Parsons (1975) und die Überlegungen von Schneider (2008, 112) und Stolz (2012, 79))

Verortung von Religion und Religiosität.

Aspekte auf kultureller und sozialer Ebene beschreibe ich als Aspekte von Religion, Aspekte auf personeller Ebene als Religiosität. Auf biologisch-organischer Ebene ist weder Religion noch Religiosität zu finden, jedoch haben die anthropologischen Grundlagen eine Auswirkung auf die Konzipierung auf den anderen Ebenen.

Kulturelle Ebene: Religion als Symbolsystem mit Transzendenzbezug

Auf kultureller Ebene lässt sich Religion also als kulturelles Symbolsystem nach Geertz (1987 [1983], 44 ff) verorten. Mit Symbolsystem ist gemeint, dass Religion ähnlich funktioniert wie die Sprache. Sie hilft dem Menschen, durch in Symbolen ausgedrückte Vorstellungen einer allgemeinen Seinsordnung die Welt und das Leben zu deuten, zu verstehen und zu artikulieren. Symbole eines religiösen Symbolsystems, verstanden als Objekte, Ereignisse, Handlungen oder Sachverhalte, zeichnen sich durch einen Transzendenzbezug aus (Stolz und Baumann 2007, 22).Footnote 3 Transzendenzbezug meint den Bezug auf eine die Alltagswelt überschreitende, transzendente Wirklichkeit.Footnote 4 Mit Stimmungen und Motivationen verweist Geertz auf die Wichtigkeit der personellen Ebene. Substanziell kann also Religion auf kultureller Ebene als Symbolsystem mit Transzendenzbezug umschrieben werden. Zentrale Funktion von Religion auf kultureller Ebene ist als Symbolsystem, ganz nach Parsons (1972, 12 f), die Normenerhaltung und der Normenwandel. Die Tatsache, dass Religion nicht nur eine allgemeine Seinsordnung und damit auch Normen formuliert, sondern gemäss Geertz diese Vorstellungen auch mit einer Aura von Faktizität umgibt und damit die Normen in den Stimmungen und Motivationen des Einzelnen als Wirklichkeit erscheinen, lässt Religion Normen wandeln und erhalten.

Soziale Ebene: Religiöse Vergemeinschaftungen als Trägergruppen des Symbolsystems

Auf sozialer Ebene manifestiert sich Religion substanziell in Religionsgemeinschaften und religiösen Vergemeinschaftungen. Diese fungieren als Trägergruppen des religiösen Symbolsystems der kulturellen Ebene (Stolz und Baumann 2007, 29 f). Dabei implementieren sie das jeweilige religiöse Symbolsystem in ihre institutionellen Strukturen und Strategien sowie gemeinschaftlichen Umgangsformen. Es sind die religiösen Vergemeinschaftungen, in denen Rituale organisiert und begangen werden. Diese Rituale überliefern und vermitteln das Wissen um religiöse Symbolsysteme und Vorstellungen einer allgemeinen Seinsordnung und umgeben diese Vorstellungen mit einer «Aura von Faktizität». Konstituiert werden religiöse Vergemeinschaftungen durch all jene, die sich in irgendeiner Form zur Vergemeinschaftung positionieren.Footnote 5 Getragen werden sie aber vor allem durch jene, die sich im weitesten Sinne auch tatsächlich als Teil der Vergemeinschaftung betrachten.

Religiöse Vergemeinschaftungen auf sozialer Ebene fungieren vermittelnd zwischen kultureller und personeller Ebene. Die soziale Ebene und damit religiöse Vergemeinschaftungen haben eine integrative Funktion (Parsons 1972, 13). Religiöse Vergemeinschaftungen sind sie, indem sie Vorstellungen einer Seinsordnung als einer Vergemeinschaftung gemein darstellen (Durkheim 1912, 60) und gemeinsame Stimmungen und Motivationen durch Rituale erzeugen (Durkheim 1912, 300 f, 313).

Personelle Ebene: Religiosität

Auf personeller Ebene bildet sich Religion als Religiosität einzelner Individuen ab. Religiosität ist religionspsychologisch als Relevanz innerhalb von Identität zu verstehen, mit der einzelne Individuen das Symbolsystem der kulturellen Ebene in ihre Sinngebung übernehmen, darüber nachdenken, an sozialen Erscheinungsformen von Religion der sozialen Ebene partizipieren und sich dazu positionieren (Allport 1950; Glock 1962; Batson und Ventis 1982; Gorsuch und McPherson 1989; Huber 2003; Stolz et al. 2011). Im Sinne Parsons (1972, 12 f) und der Zielverwirklichung als zentraler Funktion der personellen Ebene wirken Religiosität und die damit in Bezug genommene Religion potenziell sinnstiftend und kontingenzbewältigend (Luhmann 1977; Habermas 1979; Lübbe 1986; Kaufmann 1989).

Religiosität auf personeller Ebene ist besonders relevant für die vorliegende Studie, da der empirische Zugriff auf dieser Ebene erfolgt: Die zu analysierenden Daten stammen aus einer Umfrage, bei der einzelne Individuen zu ihrer Religiosität befragt wurden. Sodann sind aber insbesondere die Verbindungen zur sozialen und zur kulturellen Ebene von Relevanz, da aus funktionaler Sicht erwartet werden kann, dass Religion hier integrativ (soziale Ebene) und normenerhaltend (kulturelle Ebene) wirkt.

Biologisch-organische Ebene: anthropologische Grundlagen

Auf biologisch-organischer Ebene gibt es definitorisch betrachtet weder Religion noch Religiosität. Jedoch schärft der Blick auf die anthropologischen Grundlagen die Überlegungen zu Religion auf kultureller und sozialer Ebene sowie zu Religiosität auf personeller Ebene.

Biologisch-organisch betrachtet setzen sich Menschen als weltoffene und weltzugewandte Entitäten mit ihrer Umwelt auseinander und machen dadurch sich selbst überschreitende, transzendente Erfahrungen (Luckmann 1991 [1963], 166 ff; Berger und Luckmann 2009 [1966], 191 f; Piaget 1992 [1967], 100 f; Plessner 1975, V, 293 f). Diese stetige Erfahrung und ihre Folgen werden von den Menschen gedeutet, artikuliert, intersubjektiv rekonstruiert und legitimiert (Luckmann 1991 [1963], 166 f; Berger und Luckmann 2009 [1966], 41, 72 f, 109, 111 f). «Auf diesen Rekonstruktionen bauen weitere Vorgänge gesellschaftlicher Kommunikation auf, in denen manche Rekonstruktionen aufgenommen, andere verworfen, systematisch aufeinander bezogen werden und als Zeugnisse einer ‹anderen› Wirklichkeit zur gesellschaftlichen Ontologisierung subjektiver Transzendenzerfahrung führen» (Luckmann 1991 [1963], 166).

Hier schliesst sich der Kreis: Transzendenzerfahrungen auf biologisch-organischer Ebene, reflektiert und artikuliert auf personeller Ebene, führen durch kommunikative Aushandlungsprozesse zu Vergemeinschaftungen auf sozialer Ebene und zu Symbolsystemen auf kultureller Ebene. Diese Symbolsysteme vermögen die Erfahrungen in Bezug auf eine andere, transzendente Wirklichkeit zu verorten. Dabei sind die einzelnen Symbole noch nicht von sich aus religiös. Erst ihre gegenseitige Bezugnahme, ihre Syntax und ihr Bezug auf eine dichotome, die Alltagswelt in Kontrast setzende und damit normierende transzendente Wirklichkeit lässt ein religiöses Symbolsystem entstehen (Luckmann 1991, 93 ff).

Der menschliche Organismus macht anthropologisch betrachtet sich überschreitende, das heisst transzendierende Erfahrungen. Ein definitorischer Fehlschluss wäre nun aber der Syllogismus, dass der menschliche Organismus von sich aus transzendierende Erfahrungen macht, Symbolsysteme mit Transzendenzbezug Religion sind und darum alle menschlichen Organismen automatisch religiös seien. Hier geht analytische Klarheit und Differenzierung verloren. Überschreitend und transzendierend sind zwar viele menschliche Erfahrungen. Nicht jede Überschreitung des Alltäglichen ist aber zugleich eine Transzendenz im religiösen Sinne (Joas 2012, 213). Religiöse Symbolsysteme verweisen auf eine transzendente Wirklichkeit, die in Anspruch nimmt, die gesamte kulturelle, soziale, personelle und biologisch-psychologische Wirklichkeit zu überschreiten.Footnote 6

Ebenso wenig macht es Sinn, Religion nur auf ihre psychischen und biologischen Ursachen hin zu dekonstruieren und damit Religion als Konstrukt ohne Bedeutung darzustellen, so wie es bisweilen Marx, Freud oder gegenwärtig Dawkins im Rahmen ihrer Religionskritik tun (Pollack 2017). Ein solches Vorgehen wird der Tatsache nicht gerecht, dass Religionsangehörige so praktizieren, wie sie praktizieren, so glauben, wie sie glauben, und sich so zusammenschliessen, wie sie sich zusammenschliessen. Als Sozialwissenschaftler, der um eine Aussensicht bemüht ist, wäre es absurd, zu behaupten, dass all diese Personen einer Selbsttäuschung unterliegen und darum einfach irren, und davon abzuleiten, dass dies darum nicht relevant sei. Die Aussensicht muss in diesem Sinne stets Rücksicht nehmen auf die religiöse Innensicht und diese ernst nehmen (Pollack 2017, 26).

Religion verstehe ich also als kulturelles Symbolsystem nach Geertz (1987 [1983]), das sozial getragen und vermittelt wird durch religiöse Vergemeinschaftungen. Religiosität ist die entsprechende Relevanz innerhalb der Psyche und der Identität einzelner Individuen. Sie ergibt sich aus der Übernahme von Symbolsystemen in die Sinngebung und in die damit verbundenen Motivlagen des einzelnen, aus der Intensität des Abrufens bestimmter Symbole in konkreten Handlungen, aus der Intensität der Partizipation an sozialen Erscheinungsformen von Religion und aus der Erfahrung von einschlägigen Stimmungen.

1.2 Dimensionen von Religiosität

Die Religiosität ist besonders relevant für diese Studie, da der empirische Zugriff auf personeller, das heisst individueller Ebene erfolgt. Im Sinne einer polythetischen Beschreibung differenziere ich die Religiosität in verschiedene Dimensionen. Damit werde ich der Tatsache gerecht, dass Religion und damit auch Religiosität äusserst vielschichtig ist. Dies ermöglicht im Verlauf der Studie unterschiedliche erklärende Mechanismen und daraus hervorgehende Effekte von Religiosität zu beschreiben und empirisch zu erfassen. Insbesondere für diese empirische Ausrichtung ist der Dimensionen-Ansatz passend (Pollack 2017, 18).

Will man Religiosität polythetisch mit Blick auf mehrere Dimensionen beschreiben, stellt sich weniger die Frage, wie viele Dimensionen denkbar wären, sondern vielmehr, wie wenige (!) nötig sind, um diese sachgerecht und adäquat zu beschreiben. Der amerikanische Soziologe Charles Glock (1962, 98 f) führte hierzu zunächst die fünf Dimensionen Ideologie, Praxis, Erfahrung, Wissen und Konsequenzen ein. Zusammen mit Rodney Stark strich er später diejenige der Konsequenzen und differenzierte zwischen öffentlicher und privater Praxis (Stark und Glock 1968, 19 ff). Ursula Boos-Nünning (1972, 48, 50 ff) wiederum ergänzte die Dimensionen von Glock mit jener der Zugehörigkeit. Der Religionspsychologe Stefan Huber (2003; 2009, 18, 22; 2012) übernahm im Rahmen der Entwicklung seiner Zentralitätsskala wiederum die Dimensionen von Stark und Glock und ergänzte sie um Überlegungen aus Sicht der Persönlichkeitspsychologie. Und die Religionssoziologen Rodney Stark und Roger Finke (2000, 103) sowie die Politikwissenschaftler Geoffrey Layman (2001, 55), Corwin Smidt, Lyman Kellstedt und James Guth (2009, 4) unterschieden in ihren Arbeiten sodann nur zwischen den drei Dimensionen Zugehörigkeit (belonging), Glauben bzw. Überzeugungen (believing) und Praxis (behaving), so neuerdings auch die Religionssoziologen Detlef Pollack und Gergely Rosta (2015, 68).

Welche Dimensionen sind also nötig, um Religiosität sachgerecht und adäquat so zu beschreiben, dass analytisch ein Erkenntnisgewinn resultieren kann? Die drei Dimensionen Zugehörigkeit, Überzeugungen und Praxis scheinen Minimalkonsens zu sein.Footnote 7 Eine eigene Dimension hinsichtlich der Konsequenzen mag aus Sicht einer rein deskriptiven Betrachtungsweise von Religiosität Sinn machen, die alltäglichen Konsequenzen von Religiosität sind zu betrachten. Aus analytischer Perspektive macht dies aber keinen Sinn. Gerade diese Effekte sollen ja untersucht werden. Aus diesem Grund verwende ich diese Dimension nicht.

Hinsichtlich der Wissensdimension stellt sich die Frage der Validität: Ist jemand, der viel über Religion weiss, gleichzeitig auch tatsächlich religiöser? Das Problem ist, dass jemand aus ganz unterschiedlichen Gründen viel über Religion wissen oder darüber nachdenken kannFootnote 8: Weil es die soziale Erwartung an religiöse Menschen ist, weil in religiös pluralen Gesellschaften mehr Wissen über unterschiedliche Religionen generiert und kommuniziert wird, weil sich eine Person wissenschaftlich damit auseinandersetzt oder auch weil sich jemand aufgrund Konversion oder Abwendung von Religion intensiv damit befasst. Die Validität scheint mir nicht gegeben zu sein. Aus diesem Grund verwende ich diese Dimension nicht (so auch Pollack und Rosta 2015, 68; Pollack 2017, 18).Footnote 9

Bleibt die Frage nach der Erfahrungsdimension: Zwar mag es stimmen, dass die religiöse Erfahrung und der religiöse Glaube (ebenso aber auch die private Praxis) hohe Zusammenhänge zeitigen (Pollack und Rosta 2015, 68; Kecskes und Wolf 1996, 66). Ausser der theoretischen Voranzeige, dass hier MultikollinearitätenFootnote 10 auftreten könnten, erkenne ich aber kein inhaltliches Argument für den vorzeitigen Ausschluss der Erfahrungsdimension. Vielmehr scheint mir eine eigenständige Erfahrungsdimension gerade mit Blick auf die gemachte Religionsdefinition als kulturellem Symbolsystem äusserst relevant, da damit die zentralen Stimmungen und Motivationen analytisch verortet und erfasst werden. Mit der religiösen Erfahrung wird damit potenziell auch jene emotionale religiöse Ergriffenheit (Otto 1917) adressiert, die sich durch die Sinneserfahrungen von religiöser Kunst, Musik etc. einstellen können (Eliade 2007; Meyer 2014; Schwaderer und Waldner 2020).

Damit ergeben sich vier Dimensionen von Religiosität: Zugehörigkeit, Überzeugung, Praxis und Erfahrung (vgl. Tab. 2.1).

Tabelle 2.1 Dimensionen von Religiosität

Die Zugehörigkeitsdimension umfasst die objektive und subjektive Zugehörigkeit zu religiösen Vergemeinschaftungen und Traditionen sowie die Orientierung an lokalen Gemeinschaften, das heisst Zugehörigkeitsverhältnisse zur sozialen Ebene. Mit der objektiven, formalen Religionszugehörigkeit ist das Wissen gemeint, dass man zu einer Vergemeinschaftung oder Tradition dazugehört (Liedhegener und Odermatt 2014, 132 f; 2017a, 136 f; 2017b, 93; 2018, 17–20). Gerade im europäischen und insbesondere im schweizerischen Kontext beschreibt diese objektive Zugehörigkeit eine institutionelle und rechtlich relevante Beziehung, die gar in Steuerpflichten mündet. Demgegenüber beschreibt die subjektive Zugehörigkeit die emotional gefühlte Bindung zu einer bestimmten religiösen Vergemeinschaftung. Die objektive und subjektive Zugehörigkeit beschreibt das Verhältnis zu Grossgruppen und Traditionen. Neben diesen Grossgruppen gibt es auch die lokalen Vergemeinschaftungen und religiösen Netzwerke. Gerade die Zugehörigkeit und Verbundenheit mit diesen lokalen sozialen religiösen Gruppen darf nicht vergessen werden und ist ebenfalls unter die Zugehörigkeitsdimension zu fassen.

Neben der Zugehörigkeit zu Vergemeinschaftungen der sozialen Ebene gilt es auch, die Zugehörigkeit zur kulturellen Ebene mitzudenken. Dabei geht es um das religiöse Selbstverständnis als religiös und damit als sich subjektiv zu einem religiösen Symbolsystem zugehörig betrachtend. Mit der Selbstbeschreibung, wie religiös sich eine Person selbst sieht, drückt sie mitunter auch die Tatsache aus, ob und wie stark sie sich in ihrem eigenen Selbstverständnis und insbesondere auch unter Beachtung des jeweiligen Kontexts einem kulturellen Symbolsystem zugehörig fühlt.

Die Dimension der Überzeugung beschreibt die Stärke der Übernahme von Symbolen und einer allgemeinen Seinsordnung in die eigene Sinngebung und die damit verbundenen Motivlagen des Einzelnen. Sie umfasst einerseits die Positionierung zu Glaubensinhalten, wie etwa zu Gottesvorstellungen, und die Ausprägung einer solchen Vorstellung, aber auch das religiös liberale bzw. konservative oder exklusivistisch-fundamentalistische Selbstverständnis und damit die Ausrichtung der Religiosität (Allport 1954, 451, 456; Pickel et al. 2020a, 12).

Die Praxisdimension umfasst die Intensität der Partizipation an Ritualen von religiösen Vergemeinschaftungen (öffentliche Rituale) einerseits sowie die Durchführung von Ritualen im Kontext der Anrufung religiöser Symbole des kulturellen Symbolsystems, zum Beispiel des Göttlichen, andererseits (private Rituale).

Die Dimension der Erfahrung umschreibt schliesslich die Tatsache, dass Menschen Erlebnisse (aufgrund ihres biologisch-organischen Menschseins) je nach Verfügbarkeit und Relevanz im Sinne eines religiösen Symbolsystems deuten und religiös erfahren, aber gleichzeitig, dass kulturelle Symbolsysteme auch entsprechende Stimmungen erzeugen. Tatsächlich gehen die meisten Religionen davon aus, dass religiöse Menschen in einer gewissen Form einen Zugang zu einer letzten Realität haben bzw. dass sie von religiösen Emotionen erfasst werden (Boos-Nünning 1972, 46).

Zusammengefasst verstehe ich also Religion als kulturelles Symbolsystem im Sinne von Geertz (1987 [1983]), das durch religiöse Vergemeinschaftungen getragen und vermittelt wird und sich beim Individuum als Religiosität im Sinne einer Positionierung zu Religion im weiteren Sinne abbildet. Um Religiosität adäquat beschreiben zu können, unterscheide ich zwischen den vier Dimensionen Zugehörigkeit, Überzeugung, Praxis und Erfahrung. Ausgehend von dieser Definition von Religion und Religiosität und der analytischen Unterscheidung verschiedener Dimensionen wird es möglich, religionswissenschaftlich fundiert Mechanismen der Wirksamkeit von Religiosität zu erörtern, in diesem Fall auf freiwilliges Engagement und soziales Vertrauen und damit auf Sozialkapital.

2 Sozialkapital

Die zentrale Forschungsfrage der Studie lautet, welchen Einfluss Religion auf freiwilliges Engagement und soziales Vertrauen und damit auf Sozialkapital hat. Nach einer kurzen Einführung zur historischen Entwicklung des Sozialkapitalansatzes werden folgend zunächst die klassischen Sozialkapitalkonzeptionen in den Arbeiten von James S. Coleman (1988, 1990) und Robert D. Putnam (1993, 2000) vorgestellt. Darauf aufbauend diskutiere ich die Kernidee von Sozialkapital und die damit in Verbindung stehenden Erklärungsmechanismen. Diese Mechanismen erörtert, fokussiere ich dann auf die beiden Komponenten von Sozialkapital, das heisst auf freiwilliges Engagement und soziales Vertrauen.

Historische Entwicklung des Sozialkapitalansatzes

Der Sozialkapitalansatz entwickelte sich in mehreren voneinander zunächst unabhängigen Strängen im Verlauf des 20. Jahrhunderts (Euler 2006, 10 ff). In den 1980er und 1990er-Jahren erfolgte dann eine Intensivierung der Beschäftigung mit dem Konzept (Euler 2006, 13): zunächst vor dem Hintergrund der Arbeiten des französischen Soziologen Pierre Bourdieu (1983) zu verschiedenen Arten von Kapital und ihrer Rolle hinsichtlich gesellschaftlicher Ungleichheit. Parallel dazu entwickelte sich der Ansatz in der Linie der ökonomischen Tradition von James M. Buchanan (1986) (Schuller et al. 2000, 3).Footnote 11

Zentral für die Konzeptualisierung und sozialwissenschaftliche Verwendung wurden dann aber die Arbeiten von Coleman (1988, 1990) und Putnam (1993, 1995a, 2000). Coleman übernahm zentrale Gedanken von Buchanan, Putnam dann wiederum von Coleman (Fine 2010, 41). Insbesondere Putnams Gesellschaftsanalysen zu Italien und den USA lösten eine intensive Auseinandersetzung im wissenschaftlichen Diskurs aus, der weit über die Wissenschaft in die Öffentlichkeit hinein wirkte (Euler 2006, 9 f; Ferragina und Arrigoni 2017). Seither wuchs die Anzahl an Forschungen zu Sozialkapital stetig an (vgl. Abb. 2.2).

Ein Grund für die intensive Verwendung des Sozialkapitalkonzepts ist die Tatsache, dass es fachübergreifend vielfältig anschlussfähig ist (Kriesi 2007, 42 f; Franzen und Pointner 2007, 66). So stammt das Konzept zwar aus den Sozialwissenschaften, wurde aber von verschiedenen Teildisziplinen, insbesondere auch durch die Ökonomie und die Wirtschaftswissenschaften bearbeitet, in denen es gegenwärtig, gemessen an jährlichen Publikationen, am intensivsten verwendet wird. Aber auch in den Gesundheits- und Umweltwissenschaften wird es benutzt, wobei insbesondere in den Umweltwissenschaften in den letzten Jahren ein stark wachsender Trend festzustellen ist. In der Religionsforschung ist es hingegen verhältnismässig wenig verbreitet, wobei die Forschung auch hier seit den 2010er Jahren zunimmt, wenn auch in bescheidenem Ausmass.

Abbildung 2.2
figure 2

(Anmerkungen: Anzahl jährlicher Publikationen nach Forschungsgebiet weltweit seit 1990 mit dem Schlagwort «Social Capital» gemäss Web of Science. Begriffe in Klammern in Legende: Kategorien gemäss Web of Science. Quelle: Web of Science (19.08.2021) / Abbildung: Eigene Darstellung)

Entwicklung der Forschungen zu Sozialkapital in verschiedenen Disziplinen.

Allen Gebieten gemein ist ein ungebrochener Trend nach oben. Das Sozialkapitalkonzept findet also bis heute starken Zuspruch und kommt entsprechend zum Einsatz. Kritisch anzumerken ist eine stetige, bisweilen inflationär anmutende Erweiterung, vereinzelt auch eine Verdünnung des Begriffs. Das ist definitorisch problematisch (Fine 2010, 2). Entsprechend gibt es unterdessen auch unterschiedliche Konzepte von Sozialkapital (Haug 1997; Schuller et al. 2000, 24)Footnote 12, aber kein einheitliches Konzept oder eine allgemein anerkannte Definition (Schuller et al. 2000, 24; Euler 2006, 15). Ich stütze mich in dieser Studie auf die klassischen Sozialkapitalkonzeption von Coleman (1988, 1990) und Putnam (1993, 2000). Es handelt sich dabei um jene Konzeption von Sozialkapital, auf die sich die meisten Forschenden beziehen und die bis heute gerade auch der sozialwissenschaftlichen Forschung sowohl international als auch zur Situation in der Schweiz zu Grunde liegt (Freitag 2016; Freitag et al. 2016; Lamprecht et al. 2018; Lamprecht et al. 2020; Aregger 2012; Traunmüller 2014; Steiner et al. 2021). Zunächst zur Konzeption von Coleman.

2.1 James S. Coleman: Sozialkapital aus Perspektive des Rational-Choice-Ansatzes

Der amerikanische Soziologe James S. Coleman forschte zunächst im Bereich Bildung und Ungleichheit (vgl. ausführlich Field 2003, 20 ff). In seiner Arbeit von 1988 Social Capital in the Creation of Human Capital umschrieb er dann sein Sozialkapitalkonzept und führte es in seinem Werk Foundations of social theory von 1990 weiter aus. Ausgangspunkt seiner Arbeit in den 1980er Jahren war der Versuch, Unterschiede im Humankapital von Schulabgänger:innen zu erklären. So suchte er in seinem Artikel von 1988 nach möglichen zusätzlichen Erklärungen unterschiedlicher Ausstiegsquoten (Dropout Rates) von Schülerinnen und Schülern der High-School. Mit dem verfügbaren Sozialkapital der Eltern konnte er hier entsprechende Erklärungen liefern.

Übergeordnetes und längerfristiges Ziel der Arbeiten von Coleman war es aber, den ökonomischen Rational-Choice-Ansatz in den Sozialwissenschaften fruchtbar zu machen. So gibt es aus seiner Sicht zwei sich gegenseitig konkurrenzierende wissenschaftliche Forschungsrichtungen, die soziale Handlungen erklären (Coleman 1988, 95): Die meisten Soziolog:innen erklären Handlungen von Individuen durch den sozialen Kontext und damit durch Sozialisierung sozialer Normen, Regeln und Vorstellungen. Das Individuum wird in diesem Ansatz als homo sociologicus betrachtet – als soziales und sozial eingebettetes Wesen an sich. Im Gegensatz dazu steht der Rational-Choice-Ansatz aus der Ökonomie, der die Handlungen und Handlungsentscheide von einzelnen Akteur:innen unabhängig von ihrem sozialen Umfeld erklärt. Die Handlungsentscheide erfolgen dann nicht aufgrund des sozialen Umfelds, sondern alleine – rational – aufgrund individueller Interessen und Ziele, nach denen die einzelnen streben. Das Individuum wird hier entsprechend als homo oeconomicus betrachtet. Aus Sicht von Coleman stellt der Sozialkapitalansatz nun eine Verbindung zwischen dem Ansatz des homo oeconomicus und jenem des homo sociologicus dar, indem soziale Strukturen individuelle Handlungsressourcen eröffnen.Footnote 13

Sozialkapital wird bei Coleman funktional definiert: «Social capital is defined by its function. It is not a single entity but a variety of different entities, with two elements in common: they all consist of some aspect of social structures, and they facilitate certain actions of actors – whether persons or corporate actors-within the structure» (Coleman 1988, 98; 1990, 302). Dabei unterscheidet sich Sozialkapital von anderen Kapitalarten dadurch, dass es nicht an eine:n spezifische:n Akteur:in gebunden ist, sondern in den sozialen Beziehungen zwischen unterschiedlichen Akteur:innen steckt: «Unlike other forms of capital, social capital inheres in the structure of relations between actors and among actors» (Coleman 1988, 98, 1990, 302). Sozialkapital erleichtert in diesem Sinne das Handeln der Einzelnen, ist also als Handlungsressource verfügbar, aber keine Eigenschaft des Einzelnen selbst (Roßteutscher et al. 2008, 28). «The function identified by the concept of ‹social capital› is the value of those aspects of social structure to actors, as resources that can be used by the actors to realize their interests» (Coleman 1990, 305).

Sozialkapital taucht gemäss Coleman (1988, 102 ff; 1990, 304 ff) in unterschiedlichen Formen auf: (1) in Form von gegenseitigem Vertrauen und damit verbundenen Erwartungen und Verpflichtungen, (2) in Form von Informationen, die durch die sozialen Beziehungen einfach bezogen werden können und mit denen ein Nutzen generiert werden kann, und (3) in Form von Normen und damit verbundenen Sanktionen. Alle drei Formen sind als Handlungsressourcen zu verstehen. Gegenseitiges Vertrauen führt zu tieferen Transaktionskosten für die einzelnen Akteur:innen, indem sie davon ausgehen können, dass ihr Gegenüber einhält, was es verspricht, oder tut, was es sagt bzw. unterlässt, was es zu unterlassen versprochen hat. Dasselbe gilt für Normen und damit verbundene Sanktionen. Durch Normen können Einzelne davon ausgehen, dass ihr Gegenüber ähnlich oder gleich handelt wie sie selbst bzw. von denselben Handlungsregeln ausgeht. Das Gegenüber wird dadurch einschätzbarer in seinen Reaktionen – Handlungen werden erleichtert. Ebenfalls eine Handlungsressource stellen Informationen dar: Nebenbei oder auch spezifisch und bewusst durch bestimmte Beziehungen erhaltene Informationen müssen nicht zusätzlich kostenintensiv beschafft werden.

Insbesondere für das gegenseitige Vertrauen und für die Normen als Formen von Sozialkapital sind gemäss Coleman geschlossene Organisationen und Kontexte von Vorteil: «Closure of the social structure is important not only for the existence of effective norms but also for another form of social capital: the trustworthiness of social structures that allows the proliferation of obligations and expectations» (Coleman 1988, 107). Mit Geschlossenheit meint Coleman keine Orientierung nach innen als solche, sondern die einfache Tatsache, dass innerhalb eines Beziehungsnetzwerkes alle Beteiligten direkt oder indirekt miteinander verbunden sind. Erst diese Geschlossenheit ermögliche soziale Kontrolle. Ein Verhalten, das den Normen der geschlossenen Gruppe widerspricht, wird sanktioniert und normenkonformes Verhalten wird mit Reputationsgewinn und damit verbundener Vertrauenswürdigkeit belohnt (Coleman 1990, 275). Diese Geschlossenheit führt denn auch dazu, dass ein Ausstieg aus dem Netzwerk zu hohen Kosten im Sinne von Vertrauens- und Reputationsverlusten führen würde. Als beispielhafte Strukturen und Kontexte, in denen Sozialkapital entstehen würde, nennt Coleman die Familie, Freiwilligenorganisationen und die Religion (bei ihm in Form religiöser Privatschulen). Überlagerungen von Kontexten und Vernetzungen führen zu hohem Sozialkapital und damit zu erhöhten Handlungsressourcen für die einzelnen Beteiligten.

Einerseits stellt Sozialkapital, im Sinne von gegenseitigem Vertrauen, von Zugänglichkeit zu Informationen und von allgemeiner Normeneinhaltung, eine Handlungsressource dar; es ist für die Beteiligten, ökonomisch gesprochen, ein privates Gut. Andererseits erzeugt es, im Unterschied zu anderen Sorten von Kapital, auch einen gewinnbringenden Effekt im Sinne eines öffentlichen Guts: «The public goods quality of most social capital means that it is in a fundamentally different position with respect to purposive action than are most other forms of capital» (Coleman 1988, 119). Soziale Beziehungen und darauf basierende Netzwerke bestehen immer aus mehreren Beteiligten – und eine Stärkung dieser Beziehungen und Netzwerke durch einen davon bedeutet zumeist auch eine Stärkung für die anderen. Dadurch, so Coleman, entsteht Sozialkapital im Sinne eines öffentlichen Guts mehr oder weniger als Nebenprodukt individueller Handlungen: «The result is that most forms of social capital are created or destroyed as by-products of other activities. This social capital arises or disappears without anyone’s willing it into or out of being and is thus even less recognized and taken account of in social action than its already intangible character would warrant» (Coleman 1988, 118). Gesellschaftsanalytisch warnt Coleman vor dem aus seiner Sicht gegebenem Verschwinden starker Familien und Gruppen und mithin geschlossener Kontexte; das Sozialkapital würde erodieren und dies hätte negative Folgen insbesondere im Bereich Humankapital.

Zusammenfassend lässt sich mit Coleman festhalten: Sozialkapital ist den einzelnen Beteiligten zwar als Handlungsressource zugänglich, es muss aber aus den sozialen Beziehungen untereinander entspringen und dort festgemacht werden. Insbesondere in geschlossenen Kontexten entsteht Sozialkapital im Sinne von Handlungsressourcen, also etwa gegenseitiges Vertrauen, Verfügbarkeit von Informationen und Aufrechterhaltung von Normen und entsprechende Sanktionierungen. Durch die Aktivierung von Sozialkapital in sozialen Beziehungen entsteht ein individueller Nutzen; ebenso wichtig ist aber das Nebenprodukt: der gesellschaftliche Mehrwert von Sozialkapital im Sinne eines öffentlichen Guts.

2.2 Robert D. Putnam: Sozialkapital aus Sicht politikwissenschaftlicher Gesellschaftsanalyse

Dem amerikanischen Politikwissenschaftler Robert D. Putnam ist es wohl zu verdanken, dass das Sozialkapitalkonzept nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch darüber hinaus äusserst populär wurde. Hierfür übernahm er die konzeptionellen Grundlagen von Coleman und überführte sie in ein politikwissenschaftliches Analysekonzept.

In seiner Italienanalyse Making Democracy work. Civic traditions in modern Italy präsentiert Putnam (1993) die Ergebnisse von Forschungen, die er zusammen mit den Politikwissenschaftler:innen Robert Leonardi und Raffaella Y. Nanetti seit den 1970-Jahren in Italien durchgeführt hat. Dabei handelt es sich im Grund um ein 20-jähriges Forschungsprogramm zur Leistungsfähigkeit italienischer Regionalverwaltungen (vgl. hierzu und folgend: Putnam 1993, 187 ff).

Ausgangspunkt waren qualitative Interviews und begleitende quantitative Survey-Befragungen mit und von 112 Mitgliedern fünf verschiedener regionaler Parlamente im Jahr 1970 (Wiederholungen und geografische Ausweitung der Befragungen 1976, 1981/82 und 1989). Hinzu kamen mehrmalige qualitative Befragungen sowie eine landesweite quantitative Befragung von Bürgermeister:innen, mehrere repräsentative Umfragen der Gesamtbevölkerung, Daten aus den damaligen Eurobarometer-WellenFootnote 14, mehrere Case-Studies zu den Institutionen und zur politischen Planung in den einzelnen Regionen, Politanalysen der regionalen Gesetzgebung sowie ein Experiment zum regional unterschiedlichen Umgang mit Bürgeranfragen.

Die übergeordnete Fragestellung von Putnam (1993, 3) ist «Why do some democratic governments succeed and other fail?» – also eine klassische Frage politischer Kulturforschung, nämlich die Frage nach der Stabilität politischer Systeme (Pickel und Pickel 2006, 51 ff). Putnams Untersuchungsobjekt sind die Regionalverwaltungen und ihre Leistungsfähigkeit. Dabei zeigt er auf, dass der Haupttreiber für diese Leistungsfähigkeit nicht, wie theoretisch angenommen, die sozioökonomische Entwicklung, sondern die zivilgesellschaftliche Beteiligung ist (Putnam 1993, 154 ff). Und eine solche Beteiligung ist dann nicht nur für die demokratische Leistungsfähigkeit ausschlaggebend, sondern auch für die sozioökonomische Entwicklung: «In summary, economics does not predict civics, but civics does predict economics, better indeed than economics itself» (Putnam 1993, 157). In diesem Zusammenhang spricht er auch nicht mehr nur von der gegenwärtigen zivilgesellschaftlichen Beteiligung, sondern auch von entsprechenden Traditionen und damit verbundenen PfadabhängigkeitenFootnote 15. Unter Faktoren für eine hohe zivilgesellschaftliche Beteiligung versteht er, ausgehend vom gesammelten Datenmaterial in Italien, zivilgesellschaftliches Engagement, den hohen Grad an politischer Gleichheit, die gemeinsamen Werte Solidarität, Vertrauen und Toleranz sowie das Wirken zivilgesellschaftliche Vereinigungen (Putnam 1993, 87 ff).

In der Folge überführt Putnam (1993, 163 ff) seine empirischen Beobachtungen hinsichtlich zivilgesellschaftlicher Beteiligung in ein theoretisches Sozialkapitalkonzept, wobei er bei jenem von Coleman ansetzt (Putnam 1993, 167, 170, 1995b, 664)Footnote 16: «Social capital here [daher bei Coleman; Anmerkung A.O.] refers to features of social organization, such as trust, norms, and networks, that can improve the efficiency of society by facilitating coordinated actions» (Putnam 1993, 167). Putnams viel zitierte Definition von Sozialkapital lautet daher im Anschluss an Coleman: «Social capital refers to connections among individuals – social networks and the norms of reciprocity and trustworthiness that arise from them» (Putnam 2000, 19).

Ein besonderes Gewicht in seiner Konzeption verleiht Putnam dem Vertrauen: «Trust is an essential component of social capital» (Putnam 1993, 170). Dabei geht er der zentralen Frage nach, wie personelles und soziales Vertrauen miteinander zusammenhängen: «How does personal trust become social trust?» (Putnam 1993, 171). In Anlehnung an James G. March und Johan P. Olsen (1989)Footnote 17 antwortet er wie folgt: «Social trust in complex modern settings can arise from two related sources – norms of reciprocity and networks of civic engagement» (Putnam 1993, 171). Soziales Vertrauen entsteht also nach Putnam kausal durch Reziprozitätsnormen und Netzwerke des zivilgesellschaftlichen Engagements (Putnam 1995b, 666). Vor allem Netzwerke spielen dabei eine zentrale Rolle: «Networks of civic engagement are an essential form of social capital» (Putnam 1993, 173). Und Netzwerke, die horizontal verbinden, also Personen mit gleichem Rang und Status miteinander verknüpfen, würden ganz besonders zu entsprechender Produktion von Sozialkapital beitragen.Footnote 18 Beispiele, die Putnam für horizontale Organisationen aufführt, sind Nachbarschaftsvereinigungen, Gesangsvereine, Genossenschaften, Sportclubs und Parteien, aber auch Freizeitvereine, Kultur- und Musikvereine – kurzum das gesamte Spektrum freiwilligen Engagements in Vereinen und Verbänden. Mit sozialen Netzwerken zivilgesellschaftlichen Engagements meint Putnam hier also, ganz in der Tradition von Alexis de Tocqueville (1986 [1840]), Organisationen und Netzwerke, in denen sich Personen freiwillig engagieren. Er begründet die Wichtigkeit dieser Organisationen damit, dass in ihnen die Opportunitätskosten für einen Austritt relativ hoch sind, Reziprozitätsnormen eingeübt und gefördert werden, der Informationsfluss über die Vertrauenswürdigkeit von anderen Beteiligten erleichtert wird und dadurch gelungene Zusammenarbeit gelingen kann. Letztere dient sodann als Vorlage für zukünftige Formen des Zusammenwirkens (Putnam 1993, 173 f). Dadurch wird der Radius von personalem Vertrauen erweitert auf soziales Vertrauen – und dieses kann eben nur in horizontalen Organisationen entstehen: «A vertical network, no matter how dense and no matter how important to its participants, cannot sustain social trust and cooperation» (Putnam 1993, 174). Je mehr solche horizontale Netzwerke vorhanden sind, desto institutionell erfolgreicher werden Gesellschaften sein: «Membership in horizontally ordered groups […] should be positively associated with good government» (Putnam 1993, 175). Die Tatsache, dass er diesen Zusammenhang für Italien nachgewiesen sieht, führte dann zur viel zitierten Aussage «Building social capital will not be easy, but it is the key to making democracy work» (Putnam 1993, 185).

Nachdem Putnam sein Analysekonzept in einer ersten Fassung anhand der italienischen Gesellschaft entwickelt hat, fragt er nach dem Zustand der amerikanischen Gesellschaft (Putnam 1995a, 1995b). Dabei fragt er nach historischen Gründen für die Erosion des Sozialkapitals in den USA und gibt konkrete Empfehlungen für dessen zukünftige Verbesserung ab. Die verschiedenen Überlegungen und Untersuchungen gipfeln in seinem Bestseller mit dem einprägsamen Titel Bowling Alone. The collapse and revival of American community (Putnam 2000).Footnote 19

Deskriptiv stellt Putnam (1995a, 66 ff; 1995b, 666 f; 2000, 31 ff) zunächst fest: Sowohl zivilgesellschaftliches Engagement als auch Vertrauen sind in Amerika seit den Nachkriegsjahren erodiert. Analytisch erklärt er diesen Rückgang in erster Linie mit generationellen Veränderungen – Generationen mit stetig tieferem Niveau des Engagements lösten die Generation der hochgradig engagierten (civic generation) ab (Putnam 2000, 183 ff, 283 f).Footnote 20 Das jeweils tiefere Engagementniveau ist wiederum zumindest teilweise mit der Einführung neuer Medien (konkret TV) und mit den damit verbundenen tieferen Zeitressourcen verbunden. Ebenfalls zu tieferen Zeitressourcen für freiwilliges Engagement führten monetärer Druck und damit verbundene höhere Arbeitsbelastung aller. Einen letzten Grund für den Rückgang von Engagement sieht Putnam in der Urbanisierung und Zersiedelung.

Putnams Gedankengang ist folgender: Zivilgesellschaftliches Engagement weist einen starken Zusammenhang mit vielfältigen anderen Faktoren auf, die bei sinkendem Engagement ebenfalls erodieren würden. Sozialkapital, so sein Argument, «makes us smarter, healthier, safer, richer, and better able to govern a just and stable democracy» (Putnam 2000, 290). Er schliesst mit Empfehlungen, wie Sozialkapital zukünftig gefördert werden könne – diese formuliert er normativ und als VisionenFootnote 21 (Putnam 2000, 404 ff). So ruft er dazu auf, das brückenbildende SozialkapitalFootnote 22 bis ins Jahr 2010 wieder auf jenen Stand zu bringen, das es zu «Zeiten der Grosseltern» hatte. Diesem Ziel sollen zum Beispiel folgende Massnahmen dienen: In den Schulen wieder mehr bürgerschaftliches Wissen (civic skills) lehren und Engagement innerhalb der Schulstrukturen fördern; Arbeitsplätze und Arbeitszeiten familien- und engagementfreundlich gestalten; den öffentlichen Raum so gestalten, dass man sich mehr trifft und soziale Kontakte gefördert werden; Religionen tragen dazu bei, sich vertieft zu engagieren, indem sie Toleranz und sozialverantwortliches Handeln vorleben; Freizeit findet nicht passiv und nur individuell vor Bildschirmen statt, sondern fördert soziale Netzwerke; und kulturelle Aktivitäten, die brückenbildend wirken, werden ebenso gefördert wie politische Partizipation.Footnote 23 Putnam formulierte also auf der Grundlage seiner politikwissenschaftlichen Gesellschaftsanalyse weitreichende gesellschaftspolitische Forderungen.

Mit Blick auf die theoretischen Ausformulierungen des Sozialkapitalkonzeptes ergänzt Putnam seinen Ansatz von 1993 nun um folgende vier Punkte:

  1. (1)

    Standen im Zentrum der Italienanalyse Regionalverwaltungen und entsprechende Wirkmechanismen auf Makroebene, so geht er nun davon aus, dass entsprechende Mechanismen ebenso auf der individuellen Ebene wirken: «Members of associations are much more likely than nonmembers to participate in politics, to spend time with neighbours, to express social trust, and so on» (Putnam 1995a, 73).Footnote 24

  2. (2)

    Er verengt die Operationalisierung des Konzeptes auf zivilgesellschaftliches Engagement und soziales Vertrauen, wobei er die entsprechenden starken Korrelationen ins Feld führt: «The close correlation between social trust and associational membership is true not only across time and across individuals, but also across countries» (Putnam 1995a, 73). Dies belegt er mit Daten des World Values Survey 1991.Footnote 25

  3. (3)

    Die Kernidee von Sozialkapital sieht er darin, dass soziale Netzwerke von sich aus wertvoll sind und einen Nutzen haben (Putnam 2000, 18 f). Sozialkapital ist aber normativ betrachtet nicht von sich aus gut für die Gesellschaft: «Social capital, in short, can be directed toward malevolent, antisocial purposes, just like any other form of capital. […] Therefore it is important to ask how the positive consequences of social capital – mutual support, cooperation, trust, institutional effectiveness – can be maximized and the negative manifestations – sectarianism, ethnocentrism, corruption – minimized» (Putnam 2000, 22). Aus diesem Grund führt er in Anlehnung an Gittell und Vidal (1998) die Unterscheidung zwischen brückenbildendem (bridging) und bindendem (bonding) Sozialkapital ein, wobei es dabei nicht um sich gegenseitig ausschliessende Dimensionen geht: «In short, bonding and bridging are not ‹either-or› categories into which social networks can be neatly divided, but ‹more or less› dimensions along which we can compare different forms of social capital» (Putnam 2000, 23). Brückenbildendes Sozialkapital zeichnet sich dadurch aus, dass es sich aus Beziehungen von handelnden Personen ergibt, die sich sonst nicht kennen, also im Rahmen heterogener Strukturen entsteht. Auch wenn diese Beziehungen eher flüchtig und schwach sind, ergibt sich aus ihnen ein erweiterter Kontaktradius. Und entsprechend, so die Idee, entsteht daraus eher soziales und mithin allgemeines Vertrauen. Im Gegensatz dazu steht bindendes Sozialkapital, das aus schon bestehenden, tendenziell starken Beziehungen und entsprechend eher homogenen und exklusiven Strukturen erwächst.

  4. (4)

    Dieses bindende soziale Kapital hat das Potenzial, so Putnam, negative externe Effekte zu zeitigen. Dies ist der Fall, wenn mit einer starken In-group Loyalität eine Out-group Feindseligkeit (antagonism) verbunden wird. Wenn in einer Gesellschaft Werte wie Toleranz nicht hochgehalten werden und gleichzeitig viel (bindendes) Sozialkapital vorhanden ist, besteht demnach das Risiko einer konflikthaften ausgrenzenden Gesellschaft (Putnam 2000, 335).Footnote 26

Zusammenfassend übernimmt Putnam von Coleman den Kerngedanken von Sozialkapital, nämlich dass soziale Beziehungen und Netzwerke von sich aus Wert und Nutzen besitzen: «The core idea of social capital theory is that social networks have value» (Putnam 2000, 19). Fragt aber Coleman nach dem Zusammenhang von Sozial- und Humankapital, also eher nach Wirkmechanismen im Bereich des privaten Guts, fragt der Politikwissenschaftler Putnam nun nach Sozialkapital in seiner Rolle für funktionierende Demokratien, also Sozialkapital als öffentliches Gut, ohne dabei den Nutzen für die einzelnen Handelnden zu vergessen. Von Coleman übernimmt er als Form von Sozialkapital das gegenseitige Vertrauen; bei ihm wird es zum sozialen Vertrauen. Die Coleman’schen Informationen durch soziale Beziehungen und die Normen und damit verbundenen Sanktionen dienen ihm als Erklärung dafür, warum zivilgesellschaftliches freiwilliges Engagement und das darin kausal entstehende Vertrauen so zentral sind. In ihnen werden Reziprozitätsnormen eingeübt sowie gelingende Zusammenarbeit und damit gegenseitiges Vertrauen erfahrbar gemacht. Insbesondere die Erfahrung von brückenbildendem Sozialkapital in horizontalen Organisationen erweitert den Vertrauensradius und lässt soziales Vertrauen entstehen. Dieses dient alsdann als Schmiermittel (Orig.: «WD-40») für Gesellschaft und fördert das Funktionieren einer Demokratie (Putnam 2000, 23).

2.3 Sozialkapital: Kernidee und erklärende Mechanismen

Ausgehend von den klassischen Sozialkapitalkonzeptionen von Coleman und Putnam diskutiere ich folgend die Kernidee von Sozialkapital und den zu Grunde liegenden Sozialkapitalmechanismus, um darauf aufbauend auf freiwilliges Engagement und soziales Vertrauen einzugehen.Footnote 27

Kernidee: Wert sozialer Beziehungen

Die Kernidee von Sozialkapital ist, dass soziale Beziehungen und Netzwerke eine eigene Ressource darstellen (Field 2003, 1 f). Sozialkapital verortet sich daher zunächst auf individueller Ebene zwischen den Individuen. Und es sind Individuen, die von funktionierenden sozialen Beziehungen und entsprechenden Netzwerken profitieren. Sie können daraus Nutzen ziehen und so ihre Ziele besser erreichen (Westle et al. 2008, 41). Diesem Beziehungskapital auf individueller Ebene folgt aber ein Systemkapital auf gesellschaftlicher Ebene (Esser 2000, 235 ff, 2008, 25). Denn funktional betrachtet profitieren von gelingenden Beziehungen und Netzwerken und dem darin eingelagerten Sozialkapital nicht nur die direkt beteiligten Individuen, sondern auch die Gemeinschaft insgesamt – sei dies in kleinen oder grossen Gruppen, sei dies kommunal, regional oder national. Diese potenziell nicht nur für den Einzelnen, sondern für die gesamte Gemeinschaft positive Wirkung ist eine Zugabe, die Sozialkapital auszeichnet und sozialwissenschaftlich interessant macht. Oder wie es Putnam (2000, 290) beschreibt: «Social capital makes us smarter, healthier, safer, richer, and better able to govern just and stable democracy» (Unterstreichung A.O.).

Gemeinhin wird neben der Beziehungs- und der Systemebene zusätzlich unterschieden zwischen strukturellen und kulturellen Aspekten von sozialem Kapital (Esser 2000, 235 ff, 2008, 25; Kunz et al. 2008a, 43). Als strukturelle Komponente werden soziale Netzwerke betrachtet. Das kann vieles sein: Familien- und Freundschaftsbeziehungen ebenso wie Kontakte und Beziehungen am Arbeitsplatz oder die Mitgliedschaft und die Aktivität in Freiwilligenorganisationen (Gabriel et al. 2002, 23). Putnam (1995a, 73) betont in der Tradition von Tocqueville (1986 [1840]) bei sozialen Netzwerken und Organisationen insbesondere jene, in denen sich Personen freiwillig engagieren. Im Anschluss daran werde ich auch auf dieses freiwillige Engagement fokussieren.

Als kulturelle Komponente von Sozialkapital verhandelt die gängige Forschung einerseits Vertrauen (Institutionenvertrauen und Nah-Vertrauen, aber insbesondere soziales Vertrauen), andererseits soziale Werte und Normen wie Solidarität oder Reziprozität, Erziehungsziele oder demokratische Einstellungen (Gabriel et al. 2002, 23; Kunz et al. 2008a, 43). In der Konzeptualisierung von Putnam ist als kulturelle Komponente von Sozialkapital insbesondere soziales Vertrauen zu verstehen (Putnam 1995a, 73). Reziprozitätsnormen sind hier weniger als Komponenten an sich, sondern vielmehr als Teil des Sozialkapitalmechanismus selbst zu begreifen.Footnote 28 Im Anschluss daran fokussiere ich ebenfalls auf soziales Vertrauen.

Im Anschluss an die Hauptlinie der Sozialkapitalforschung hat Sozialkapital also eine strukturelle Seite, hier freiwilliges Engagement, und eine kulturelle Seite, im Rahmen dieser Arbeit soziales Vertrauen. Bevor ich diese beiden Konzepte im Einzelnen erläutere und vertiefe, ist es wichtig, sich dem Sozialkapitalmechanismus zuzuwenden.

Basaler Sozialkapitalmechanismus: vom Engagement zum sozialen Vertrauen

Das zentrale Argument der Sozialkapitalkonzeption von Putnam besteht darin, dass das Sozialkapital im Sinne eines öffentlichen Guts zum Funktionieren von Demokratien und zur sozioökonomischen Entwicklung beiträgt. Hauptgrund hierfür sei soziales Vertrauen, das wiederum dem freiwilligen Engagement entspringt (vgl. Abb. 2.3). Dieser Sozialkapitalmechanismus funktioniert wie folgt: (1) Netzwerke und Organisationen als Strukturen auf Systemebene ermöglichen den einzelnen Akteur:innen, sich im Sinne von Gelegenheitsstrukturen freiwillig zu engagieren (Pickel 2011, 299; Pickel und Gladkich 2011, 105 f; Pickel et al. 2020a, 13). (2) Im Rahmen dieses freiwilligen Engagements keimt auf Beziehungsebene nach Putnam (1995a, 73) soziales Vertrauen als kulturelles Beziehungskapital. (3) Dieses wiederum fördert das Funktionieren von Demokratie und die sozioökonomische Entwicklung auf Systemebene. Der Hauptgrund für Letzteres ist, dass erhöhtes soziales Vertrauen die Transaktionskosten für kooperative Handlungen senkt und damit Zusammenarbeit und Kooperation allgemein vereinfacht (Gabriel et al. 2002, 28 f; Liedhegener und Werkner 2011, 18).

Abbildung 2.3
figure 3

(Anmerkung: Mechanismus dargestellt als «soziologische Badewanne» nach Coleman (1990, 5–23). Abbildung: Eigene Darstellung)

Basaler Sozialkapitalmechanismus auf Grundlage von Coleman und Putnam.

Putnam interessiert sich aus seiner gesellschaftsanalytischen Perspektive vorwiegend für die Makroeffekte von Sozialkapital, das heisst hier für seine Wirkung auf Demokratie. Den konkreten sozialpsychologischen Mechanismen, die für einen funktionierenden Sozialkapitalmechanismus erforderlich sind, schenkt er weniger Interesse. Die daraus entstehende fehlende theoretische Differenziertheit und Klarheit ist zentraler Kritikpunkt an seiner Konzeption (Boggs 2001, 287; Häuberer 2011, 58 ff).Footnote 29 Relativ früh wiesen auch Margaret Levi (1996, 46) und John Brehm und Wendy Rahn (1997, 1000), ebenso Alejandro Portes (1998, 20; 2000, 3 ff) und neuer Christoph Meißelbach (2019, 124, 168, 211), auf das Fehlen von Mikromechanismen hin.Footnote 30

Mit dieser Kritik verbunden ist, teils implizit, teils explizit, auch die Frage nach der zu Grunde gelegten Anthropologie. Nicht ohne Grund beginnt Coleman (1988, 95) seine Ausführungen zum Sozialkapital mit der Differenzierung zwischen Homo sociologicus und Homo oeconomicus, wobei er der letzteren Sichtweise und damit dem Rational-Choice-Ansatz den Vorzug gibt. Auch Putnam und in der Folge ein Grossteil der einschlägigen politikwissenschaftlichen Forschung übernimmt die damit verbundenen, auch anthropologischen Annahmen, und orientiert sich an den Prämissen des ökonomischen Nutzenmaximierens (Fine 2010, 37; Meißelbach 2019, 15). Damit wendet sich dieser Teil der Forschung aber mal mehr, mal weniger, von einem psychologischen Menschenbild ab, und es besteht das Risiko, entsprechende Mechanismen zu übergehen. Eine fehlende Mikrofundierung ist dann die Folge. Ich meine, dass genau dies mit dem Sozialkapitalkonzept bei Coleman und Putnam und dem Grossteil der damit einhergehenden Forschung der Fall ist (so auch Fine 2010, 40 und Meißelbach 2019, 15).

Gleichzeitig sind Putnam und Coleman aber wie folgt auch in Schutz zu nehmen: Sie deuten, wenn es um die erklärenden Mechanismen des Sozialkapitalansatzes geht, zumindest terminologisch auf sozialpsychologische Mechanismen hin.Footnote 31 So weist Putnam (1993, 173 f) auf die hohen Opportunitätskosten beim Austritt aus einem sozialen Netzwerk hin. Ebenso verweist er auf den damit verbundenen Verlust von in Netzwerken geförderten und verinnerlichten Reziprozitätsnormen, von darin erleichtertem Informationsfluss über die Vertrauenswürdigkeit anderer Akteur:innen und den Verlust von Erfahrungsmöglichkeiten gelungener Kooperation. Coleman (1988, 104) argumentiert ebenfalls mit den hohen Kosten, die bei einem Ausstieg aus einem sozialen Netzwerk anfallen, bei ihm insbesondere mit Blick auf die Normeneinhaltung und die damit verbundenen Sanktionierungen.

Insgesamt identifiziere ich im Anschluss an Coleman und Putnam fünf sozialpsychologische Mechanismen, die im Rahmen des Sozialkapitalmechanismus Wirkung zeitigen sollten und sich gegenseitig ergänzen.Footnote 32

(1) Reziproker Altruismus und die Entstehung von Nah-Vertrauen

Unter Reziprozitätsnormen versteht Putnam (2000, 134 ff) eine Norm des reziproken Altruismus: «The touchstone of social capital is the principle of generalized reciprocity – I’ll do this for you now, without expecting anything immediately in return and perhaps without even knowing you, confident that down the road you or someone else will return the favor» (Putnam 2000, 134). Damit verweist er in seiner Beschreibung indirekt auf zwei sozialpsychologische Konzepte: auf den reziproken Altruismus des Evolutionsbiologen Robert Trivers (1971) und auf die starke Reziprozität von Herbert Gintis (2000).Footnote 33

Die Annahme beim reziproken Altruismus lautet wie folgt: Eine Person hilft und verhält sich prosozial, weil sie die Kosten für die Hilfe mit der Wahrscheinlichkeit verrechnet, dass auch sie selbst einen Nutzen daraus zieht (Trivers 1971; Levine und Manning 2014, 391; Meißelbach 2019, 238 ff; Taborsky et al. 2021, 159). Aus Sicht des Rational-Choice-Ansatzes liegt dieser Nutzen, wie von Putnam beschrieben, in der Erwartungshaltung, dass man diese Hilfe «down the road» wieder zurückbekommt. Evolutionspsychologisch liegt die Begründung darin, dass sich eine genetische DispositionFootnote 34 für altruistisches Verhalten dann zeigt, wenn der Nutzen für die einzelnen Akteur:innen grösser ist als die Kosten beziehungsweise als der Schaden für den Altruisten. Dies ist dann der Fall, wenn das Hilfe-Verhalten zu einem späteren Zeitpunkt erwidert wird und alle profitieren, was in einem Szenario ohne Austausch nicht möglich gewesen wäre (Meißelbach 2019, 239; Taborsky et al. 2021, 145).

Im Rahmen von freiwilligem Engagement, so die Annahme, wird diese Norm des reziproken Altruismus eingeübt beziehungsweise aus Sicht der Evolutionspsychologie abgerufen. Durch die gegenseitige Einhaltung der Reziprozitätsnormen im Nah-Bereich entsteht, so Putnam (1993, 173 f), innerhalb von entsprechenden Gruppen gegenseitiges Nah-Vertrauen. Interessanterweise handelt es sich also bei der von Putnam beschriebenen Norm der Reziprozität um einen psychologischen Mechanismus und nicht um eine moralische Norm im ethischen Sinne. Vielmehr entstand aus seiner Sicht sogar letzteres aus ersterem: «The norm of generalized reciprocity is so fundamental to civilized life that all prominent moral codes contain some equivalent of the Golden Rule» (Putnam 2000, 135).

Problematisch beim reziproken Altruismus sind aber zwei Sachverhalte. Einerseits bedingt er, wie ursprünglich von Trivers (1971) beschrieben, dass sich die Beteiligten tatsächlich begegnen und sich dann auch an konkrete Hilfeleistungen erinnern. Der Mechanismus des reziproken Altruismus ist in diesem Sinne und auch darüber hinaus äusserst voraussetzungsreich (Meißelbach 2019). So funktioniert er nur im persönlichen Nah-Bereich bzw. innerhalb einer bestimmten Gruppe (Levine und Manning 2014, 391). Nicht umsonst betont Coleman (1988, 105 ff; 1990, 275), Sozialkapital entstehe insbesondere in geschlossenen Netzwerken. Andererseits ist der reziproke Altruismus anfällig für Ausnutzungsverhalten aufgrund der Trittbrettfahrerproblematik bzw. aufgrund des Gefangenen-Dilemmas (Olson 1968 [1965], 42 ff; Axelrod 1984, 7 ff; Levine und Manning 2014, 391; Meißelbach 2019, 239; Taborsky et al. 2021, 145). Eine fehlende Kontrolle, ob die Kosten für die Hilfe dann mittelfristig durch ebensolche Hilfeleistungen zurückerstattet werden, hemmt den Mechanismus des reziproken Altruismus. Der reziproke Altruismus allein vermag damit nicht den Sozialkapitalmechanismus erklären, insbesondere nicht den Sprung vom Nah- zum sozialen Vertrauen. Sanktionierungen tragen zur Lösung dieser Probleme bei.

(2) Starke Reziprozität und Bestrafung

In Zusammenhang mit dem reziproken Altruismus und insbesondere, wenn es wie im Fall des Sozialkapitalmechanismus darum gehen soll, Nah-Vertrauen als Beziehungskapital in Systemkapital, das heisst soziales Vertrauen, zu wandeln, sind Sanktionierungen im Sinne des sogenannten altruistischen Bestrafens wichtig (Levine und Manning 2014, 391). Dieser Mechanismus wird von Gintis (2000) unter der Bezeichnung der starken Reziprozität konkret beschrieben.Footnote 35 Dabei handelt es sich zunächst um eine Prädisposition dafür, mit anderen zusammenzuarbeiten, also prosozial zu agieren, und dabei jene zu bestrafen, die abtrünnig werden, beziehungsweise die Reziprozitätserwartungen nicht erfüllen (Levine und Manning 2014, 392). Diese Bestrafungshandlungen werden gemäss der starken Reziprozität, entgegen allfälligen hohen Durchsetzungskosten, auch gegenüber Personen vollzogen, von denen die Bestrafenden davon ausgehen müssen, dass sie ihre Aufwendungen nie zurückerstattet bekommen (Gintis 2000, 177; Meißelbach 2019, 254). Alle gemeinsam vollziehen also Normenkontrolle. Solche Sanktionierungen und Bestrafungen wirken auch gegen das Trittbrettfahrerproblem bzw. das Common Good Problem: Egoisten, die nur profitieren und nicht in soziale Netzwerke und Beziehungen investieren, werden bestraft und geächtet (Levine und Manning 2014, 392). Altruistisches Bestrafen erklärt also, warum Geschlossenheit von Netzwerken, wie es Coleman (1988) unterstreicht, nicht eine zwingende Bedingung für Sozialkapitalproduktion ist: Diese kann auch in offeneren Netzwerken stattfinden, solange starke Reziprozität funktioniert. Aber gerade in geschlossenen Netzwerken wird starke Reziprozität gefördert, denn Informationen werden insbesondere hier günstig weitergegeben.

(3) Informationsweitergabe über Vertrauenswürdigkeit

Im Rahmen von sozialen Netzwerken werden Informationen über die Vertrauenswürdigkeit anderer Akteur:innen einfach und günstig, das heisst nicht unter hohen Opportunitätskosten, weitergegeben (Putnam 1993, 174). Als vertrauenswürdig gilt, wer sich an die Normen des reziproken Altruismus und der starken Reziprozität hält. Insbesondere das altruistische Strafen ist mit verhältnismässig hohen Kosten verbunden (Meißelbach 2019, 256). Altruistisches Verhalten und vor allem das teure altruistische Strafen wirken dann, psychologisch betrachtet, als teures SignalFootnote 36 dafür, dass sich Kooperation mit dieser Person lohnt, da sie sich an die Normen hält und auch Normeneinhaltung fordert und durchsetzt (Meißelbach 2019, 276). Soziale Kooperation und altruistisches Verhalten lohnen sich in diesem Sinne, da sie zu sozialer Reputation führen und einen komparativen Vorteil verschaffen. Das Lohnende daran ist die daraus resultierende erhöhte Kooperationsbereitschaft der anderen, was wiederum als Zielerreichungsressource eingesetzt werden kann (Meißelbach 2019, 277). In gesteigerter Form führt dies dann zu einem kompetitiven Altruismus (Meißelbach 2019, 259): Das Bedürfnis nach sozialer Reputation und den damit verbundenen Vorteilen führt dazu, dass prosozial gehandelt wird, nicht des Altruismus, sondern der Reputation aufgrund des teuren Signals wegen. Freiwilliges Engagement ermöglicht nun nicht nur die kostengünstige Informationsweitergabe, sondern kann gar selbst als teures Signal verstanden werden.

(4) Hohe Ausstiegskosten

Die Tatsache, dass innerhalb von sozialen Netzwerken durch reziproken Altruismus Nah-Vertrauen entstehen kann, dass durch die starke Reziprozität Trittbrettfahrerprobleme gelöst werden und dass Informationen über Vertrauenswürdigkeit und damit teure Signale kostengünstig weitergegeben werden, führt dazu, dass ein Ausstieg aus einem sozialen Netzwerk hohe Opportunitätskosten verursacht: Wer aussteigt oder gar ausgeschlossen wird, erhält hypothetisch nicht mehr das zurück, was ihm gemäss dem reziproken Altruismus zustehen würde (Putnam 1993, 173), muss mit mehr Trittbrettfahrern rechnen und verliert potenziell an Vertrauenswürdigkeit und Reputation. Die hohen Opportunitätskosten führen zu einem Druck gegen innen, tendenziell im Netzwerk zu verbleiben und wirken damit stabilisierend.

Ein Ausstieg aus einem sozialen Netzwerk erfolgt dann, wenn das Netzwerk nicht mehr imstande ist, die obigen Vorteile zu gewährleisten und es auch keine anderweitigen, zum Beispiel ideellen Gründe gibt, darin zu verbleiben. Andererseits wird ein Ausstieg eher erfolgen, wenn gleichzeitig der Zugang zu anderen sozialen Netzwerken vorhanden ist, die den gleichen Wert (oder sogar einen grösseren) besitzen und die entstehenden Opportunitätskosten eines Ausstiegs decken. In dieser Weise lässt sich sodann ein Wechsel in ein anderes, je nachdem konkurrenzierendes soziales Netzwerk erklären.

(5) Erfahrungen von gelungener Kooperation und von positivem Kontakt

Die vorangegangenen Mechanismen erklären, warum innerhalb von Gruppen und damit insbesondere auch im Rahmen von freiwilligem Engagement Nah-Vertrauen entsteht und Kooperation potenziell gelingt. Warum aus Nah-Vertrauen soziales Vertrauen entstehen soll, ist damit aber noch nicht geklärt. Dieses entsteht aufgrund der wiederholten Erfahrung gelungener Kooperation und positiver Kontakte.

Sich wiederholende Erfahrungen gelungener Kooperation verändern die Anreizstruktur für Handlungssituationen positiv in dem Sinne, als dass Kooperation bei einer nächsten Handlungssituation eher gelingen kann (Axelrod 1984; Taborsky et al. 2021, 146 f): Die einzelnen Akteur:innen lernen im Rahmen von freiwilligem Engagement, dass Kooperation gelingt – nicht nur heute, sondern auch zukünftig. Coleman (1988, 117, 1990, 104, 317) spricht hierbei von einer allgemeinen Einschätzung (standard estimate) der Vertrauenswürdigkeit einer durchschnittlichen Person (average person). Diese Einschätzung könne aufgrund positiver Kooperations- und Vertrauenserfahrungen innerhalb geschlossener Netzwerke positiv beeinflusst werden. Diese Veränderung der Anreizstruktur für Handlungen ist ein erster Mikromechanismus, wie sich Beziehungskapital, das heisst Nah-Vertrauen in Systemkapital und damit soziales Vertrauen wandelt, nämlich durch eine positive Veränderung der Anreizstruktur für Handlungssituationen allgemein.

Mit gelungener Kooperation verbunden stehen positive Kontakterfahrungen. Diese wiederum sind Ausgangspunkt eines zweiten Mikromechanismus, wie aus Nah-Vertrauen soziales Vertrauen entstehen kann. Dieser wird in der Forschung meist im Rahmen der Kontakthypothese diskutiert. Die Kontakthypothese nach Gordon Allport (1954) und Muzafer Sherif (1961) erklärt zunächst, wann und unter welchen Umständen Kontakte mit Fremden zu Kooperation und weniger Vorurteilen statt zu Konflikten und mehr Vorurteilen führen.Footnote 37 Gemäss Allport (1954, 281) können Vorurteile durch den Kontakt mit anderen abgebaut werden, wenn die beteiligten Akteur:innen miteinander interagieren, dabei eine gleichberechtigte und flache, das heisst nicht-hierarchische Beziehung haben und gemeinsame Ziele erreichen wollen. Ausserdem sollte der Kontakt durch Institutionen positiv unterstützt und nicht verhindert werden. Das Kernargument der Kontakthypothese besteht darin, dass bestimmte Situationen des Kontaktes mit anderen statt zu Konflikten zu Kooperation und zu weniger Vorurteilen führen. Gelungene Kooperation führt sodann zu einer positiven Erfahrung der Vertrauenswürdigkeit anderer und damit zu erhöhtem Vertrauen (Hardin 1996, 32).

Wenn freiwilliges Engagement zu sozialem Vertrauen führen soll, müssen dabei mindestens in der Tendenz die oben genannten Bedingungen, unter denen Kontakt zu weniger Vorurteilen und damit zu sozialem Vertrauen führt, erfüllt sein.Footnote 38 Im Rahmen von freiwilligem Engagement findet der Kontakt erklärtermassen freiwillig statt und ist nicht erzwungen. Erzwungene Kontaktsituationen führen demgegenüber eher zu Bestätigung von Vorurteilen denn zu ihrer Senkung (Pickel 2012, 226). Die Freiwilligkeit des Engagements ist daher eine wichtige Voraussetzung für das Entstehen sozialen Vertrauens.

In der Bilanz lassen sich im Anschluss an Coleman und Putnam fünf Mikromechanismen identifizieren, warum im Rahmen von freiwilligem Engagement Nah-Vertrauen und insbesondere dann soziales Vertrauen entstehen sollte. Letzteres entsteht demgemäss insbesondere aufgrund positiver Kooperations- und Kontakterfahrungen. Die anderen Mechanismen tragen bei genauem Hinsehen zur Entstehung von sozialem Vertrauen nicht viel bei.

Zusammenfassend ist festzuhalten: Gemäss Putnams Sozialkapitalansatz entsteht durch freiwilliges Engagement soziales Vertrauen; dieses wiederum fördert Demokratie und sozioökonomische Entwicklung. Kritisch ist anzumerken, dass die sozialpsychologischen Mechanismen, die zur Entstehung von sozialem Vertrauen beitragen, vielfältig sind und in ihrem Zusammenspiel bisweilen verschwommen bleiben. Im Endeffekt bleiben vor allem positive Kooperations- und Kontakterfahrungen als mögliche erklärende Mechanismen. Diese Tatsache macht die dritte Forschungsfrage zwingend, nämlich ob es einen Zusammenhang zwischen freiwilligem Engagement und sozialem Vertrauen gibt. Um sich mit dieser Frage, aber auch mit den anderen beiden Forschungsfragen hinsichtlich der Wirkung von Religion und Religiosität auf Sozialkapital vertiefter zu befassen, sind die Konzepte des freiwilligen Engagements und des sozialen Vertrauens näher zu erörtern.

2.4 Freiwilliges Engagement und seine Voraussetzungen

Ausgangspunkt für den Sozialkapitalmechanismus sind bei Putnam soziale Netzwerke. In der Tradition von Tocqueville meint er damit Vereine und Freiwilligenorganisationen inklusive religiöse Gemeinschaften und das darin erbrachte freiwillige Engagement. Vereine und Freiwilligenorganisationen bieten Gelegenheitsstrukturen dafür, dass sich Personen gemäss ihren Bedürfnissen und persönlichen Zielen engagieren können und diese auch erreichen. Freiwilliges Engagement bildet die strukturelle Komponente von Sozialkapital.

Begriffsklärung

Freiwilliges Engagement, Freiwilligenarbeit, Ehrenamt, freiwillige Arbeit, ehrenamtliches Engagement, zivilgesellschaftliches Engagement, bürgerschaftliches Engagement: diese und ähnliche Begriffe werden verwendet, um die strukturelle Komponente von Sozialkapital zu umschreiben (Schüll 2004, 33 ff). Sie sind in unterschiedlichen historischen Zusammenhängen entstanden und betonen je spezifische Aspekte freiwilliger Tätigkeit. Für die vorliegende Studie ist eine begriffliche Zuspitzung nötig. Hilfreich hierfür ist eine mehrdimensionale Verortung (vgl. Tab. 2.2).

Dabei unterscheide ich zwischen Dimensionen, welche die Tätigkeiten aus Sicht der Akteur:innen umschreiben, und Dimensionen, welche die Gelegenheitsstrukturen und Netzwerke beschreiben, in denen die Tätigkeiten erfolgen. Die einzelnen Dimensionen weisen jeweils eine bestimmte Bandbreite auf. Damit werden analytisch Gegensätze herausgestellt. In der Realität handelt es sich freilich meist nicht um solche, sondern um situativ unterschiedliche Einordnungen oder gar um Synchronitäten. So kann sich zum Beispiel im Rahmen eines Engagements die Haupttätigkeit zwar sehr wohl offline ereignen, aber gleichzeitig geschieht einiges auch online. Oder die Beziehungsstruktur ist beispielsweise bis zu einem gewissen Grad stets bindend, aber sie kann dann darüber hinaus auch brückenbildend wirken – oder eben nicht.

Tabelle 2.2 Mehrdimensionalität von Tätigkeiten

Zunächst sind freiwillige Tätigkeiten solche, die aus Sicht der handelnden Personen selbstbestimmt sind und nicht unter Zwang ablaufen. Die Möglichkeit der freiwillig gewählten gemeinsamen Kommunikation und Interaktion in mehr oder weniger institutionalisierten Gruppen ist Voraussetzung und Bestandteil der Ausbildung von Sozialkapital. Genauso wichtig ist allerdings die dort stattfindende Ausbildung von sozialem oder zwischenmenschlichem Vertrauen als Folge dieser Netzwerke. Putnam nimmt an, dass die auf Freiwilligkeit beruhenden sozialen Netzwerke – teils im Gegensatz zu Zwangsinstitutionen – zwischenmenschliches Vertrauen fördern.

Sodann ist freiwilliges Engagement in dreifacher Hinsicht von anderen Tätigkeiten zu unterscheiden: zuerst anhand ihres unentgeltlichen Charakters (in Abgrenzung zur Erwerbsarbeit), sodann anhand ihrer Ausrichtung auf Personen ausserhalb des eigenen Haushalts (soziale Reichweite) und drittens anhand des Aktivitätsgrades, das heisst als aktive, produktive Tätigkeit (Stadelmann-Steffen 2010, 28; Lamprecht et al. 2020, 21).

Davon abzugrenzen sind, aufgrund ihres passiven, fördernden Aktivitätsgrades, Spenden von Geld oder Naturalien. Diese Form altruistischen Verhaltens wird im Rahmen der Engagementforschung häufig ebenfalls untersucht (Stadelmann-Steffen 2010, 29). Was dabei aber fehlt und umgekehrt freiwilliges Engagement auszeichnet, ist neben dem Aktivitätsgrad insbesondere der soziale Kontakt in physischer Co-Präsenz, der gerade für den Sozialkapitalmechanismus wichtig ist.

Um einzelne freiwillige Engagements analytisch zu unterscheiden, wird in der Literatur auf struktureller Ebene häufig weiter differenziert zwischen formellem Engagement mit einer organisatorischen Anbindung und informellem Engagement ohne eine solche Anbindung. Der rechtliche Status einer Organisation oder der Organisationsgrad eines sozialen Netzwerks ist als Zusatzinformation über eine bestimmte Gelegenheitsstruktur zu verstehen. Rechtlich verankerte Organisationen und hochgradig organisierte Strukturen tragen zwar zur Langlebigkeit der entsprechenden Gelegenheitsstrukturen bei, freiwilliges Engagement und die damit zusammenhängende theoretisierte Sozialkapitalproduktion findet aber davon unabhängig statt.

Weitere analytische Differenzierungen markieren die jeweilige Gelegenheitsstruktur. Sie können sich auf die formale Legitimation eines Ehrenamtes beziehen (Wahl oder Ernennung). Sie können sich auch auf den Professionalisierungsgrad, auf den Objektbezug und auf den Adressaten der Tätigkeit beziehen. Aus Sicht der handelnden Personen ergeben sich weitere Unterscheidungen: etwa hinsichtlich der Dauer und der zeitlichen Intensität des freiwilligen Engagements sowie hinsichtlich der Frage, mit welchen Motiven sich jemand engagiert.

Ein Spezialfall freiwilligen Engagements, seit einiger Zeit mit regem Interesse beforscht, ist virtuelles Engagement im Internet (Samochowiec et al. 2018, 44; Putnam und Hahn 2020). Zwar kann hierbei sehr wohl auch Face-to-face-Kontakt entstehen, einerseits als Folge von virtuellem Engagement bzw. in Kombination mit diesem, andererseits in Form von tatsächlichen Face-to-face-Situationen mittels Videochat, Videotelefonie etc. Doch ist offen zu lassen, ob solcher Kontakt realen Kontakt ersetzen kann und ob die erwähnten Sozialkapitalmechanismen analog funktionieren. So ist beispielsweise anzunehmen, dass die Informationsweitergabe über Vertrauenswürdigkeit anderer Beteiligter online schwieriger ist als real, da diese eher informell (Klatsch-und-Tratsch) und bisweilen auch stark über Emotionen und damit verbundene Gestik und Mimik geschieht.

In dieser Studie werden als freiwilliges Engagement bezeichnet: Tätigkeiten und Handlungen, bei denen freiwillig und ohne nennenswerte finanzielle Gegenleistung Zeit aufgewendet wird und bei denen Ressourcen produziert werden, die einer anderen Person oder Gruppe von Personen zu Nutze kommen.

Nuancierungen von freiwilligem Engagement im Sozialkapitalansatz

Sowohl Coleman (1988, 105) und Putnam (2000, 22) als in der Folge auch deren Anhänger:innen wie Kritiker:innen haben die Frage gestellt: Führt jegliches freiwillige Engagement zu sozialem Vertrauen? Unterstützt es Demokratie? Oder führen nur ganz bestimmte Aspekte dazu (Kriesi 2007, 35 ff; Westle und Roßteutscher 2008, 173 f)?

Gemäss Coleman (1988, 105 ff) sind insbesondere geschlossene, im Vergleich zu offenen sozialen Netzwerken, von Vorteil für die Entwicklung von Vertrauen, vornehmlich bei ihm von Nah-Vertrauen. Dies, da in geschlossenen Netzwerken reziproker Altruismus und Informationsweitergabe, aber auch die starke Reziprozität gut funktionieren (Coleman 1990, 275). Freiwilligenorganisationen sind aus Sicht von Coleman (1988, 108) solche geschlossenen Netzwerke, in denen diese Mechanismen Wirkung zeigen können.

Nicht zu verwechseln sind diese Differenzierungen mit der Unterscheidung von Paxton (2007, 50 ff) zwischen verbundenen und isolierten Vereinen und Gelegenheitsstrukturen. Eine Freiwilligenorganisation ist mit anderen Organisationen dadurch verbunden, dass ihre Mitglieder gleichzeitig mehrfache Mitgliedschaften aufweisen. Je mehr Mitglieder eine Organisation hat, die auch Mitglied anderer Vereine und Freiwilligenorganisationen sind, umso verbundener ist diese. Der springende Punkt sei nun, dass in erster Linie verbundene Organisationen zu mehr sozialem Vertrauen führen, da sie neue Bekanntschaften und Fremdkontakte entfachen und dadurch positive Kontakterfahrungen im Sinne der oben dargestellten Kontakthypothese ermöglichen und so zu sozialem Vertrauen führen.

Eng verbunden mit dieser Unterscheidung von Paxton ist jene von Putnam (2000, 22 ff) zwischen brückenbildendem (bridging) und bindendem (bonding) Sozialkapital.Footnote 39 Ganz ähnlich, aber auf Ebene der Akteur:innen angesiedelt, ist zudem die Unterscheidung von Mark S. Granovetter (1973) zwischen schwachen, aber brückenbildenden Beziehungen, und starken und dadurch bindenden Beziehungen (Kriesi 2007, 39). Brückenbildend wirkt eine Beziehungsstruktur dann, wenn die Beteiligten positive Kontakte zu Personen erlangen, denen sie sonst nicht begegnen würden.Footnote 40 Es sind diese Kontakte, die gemäss Kontakthypothese zu sozialem Vertrauen führen, freilich unter der Bedingung, dass Kooperation gelingt und die Kontakterfahrungen positiver Natur sind. In Strukturen wie Vereinen und Verbänden ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass diese Bedingungen erfüllt werden: Freiwillige Teilnahme und ein gemeinsames Ziel der Tätigkeit fördern Statusgleichheit und Kooperation institutionell. Demgegenüber stehen bindende Beziehungsstrukturen. Bis zu einem gewissen Grad sind wohl alle funktionierenden Beziehungsstrukturen zwecks innerer Kohäsion bindend. Sie schlagen aber dann ins Negative um, wenn In-group Loyalität, das heisst Bonding, mit Out-group Feindseligkeit, das heisst Abwertung, einhergeht.Footnote 41 Wenn freiwilliges Engagement in sozialen Netzwerken geschieht, die Werte wie Toleranz nicht hochhalten, aber gleichzeitig über viel bindende Kraft verfügen, besteht nach Putnam (2000, 335) das Risiko konflikthafter Ausgrenzung. Und dies sei zu verhindern: «Therefore it is important to ask how the positive consequences of social capital – mutual support, cooperation, trust, institutional effectiveness – can be maximized and the negative manifestations – sectarianism, ethnocentrism, corruption – minimized» (Putnam 2000, 22).

Für Putnam (2000, 93) ebenfalls wichtig ist die schon eingeführte analytische Unterscheidung zwischen formellen und informellen Beziehungsstrukturen. Dabei geht es ihm aber nicht um eine strikte Trennung zwischen informellem und formellem Engagement im Sinne der organisatorischen Anbindung der Gelegenheitsstruktur, sondern um eine Differenzierung auf der Ebene der handelnden Personen.Footnote 42

Putnam (1993, 173) unterscheidet in seiner Italien-Analyse zwischen horizontalen und vertikalen sozialen Netzwerken.Footnote 43 Horizontale Netzwerke zeichnen sich dadurch aus, dass sie Beteiligte mit gleichem Rang und Status miteinander verbinden. Freiwilligenorganisationen sind aus seiner Sicht solche Netzwerke.Footnote 44 Zudem stellt er fest: «In the real world, of course, almost all networks are mixes of the horizontal and the vertical» (Putnam 1993, 173). Wichtig ist sicher die Frage, ob ein soziales Netzwerk horizontal oder vertikal, das heisst hierarchisch organisiert ist. Aber ebenso wichtig ist, ob mit der Hierarchie auch entsprechende Macht verbunden ist und ob diese im Sinne vertikaler Sanktionen ausgeübt wird (Kriesi 2007, 36): Strukturen, in denen vertikale Sanktionen ausgeübt werden, können zwar ebenso zu gelingender Kooperation führen, untergraben aber soziales Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit, weil sie mit Zwang verbunden sind.

In der Sozialkapitalkonzeption von Coleman und insbesondere in jener von Putnam sollte also, theoretisch betrachtet, jedes freiwillige Engagement in Vereinen und sozialen Netzwerken gemäss dem erwähnten Mechanismus dem sozialen Vertrauen zuträglich sein. Das heisst aber nicht, dass jedes Sozialkapital aus Sicht von Putnam für das Zusammenleben allgemein förderlich ist: Sozialkapital, das sich in Netzwerken ergibt, in denen Intoleranz auf bindende Kohäsionskräfte trifft, ist gemäss Putnam (2000, 335) problematisch und entsprechend abzulehnen (Putnam 2000, 22).

Voraussetzungen für freiwilliges Engagement

Marc Hooghe und Dietlind Stolle (2003, 54) haben darauf aufmerksam gemacht, dass in der empirischen Überprüfung des Sozialkapitalmechanismus häufig Variablen fehlen, um auf mögliche Alternativerklärungen hin zu testen. Aus diesem Grund ist zu erörtern, welche Voraussetzungen zu freiwilligem Engagement führen und welche nicht.

Handlungstheoretisch sind für den Einstieg in freiwilliges Engagement und dessen Vollzug zwei Gesichtspunkte wichtig: Handlungsressourcen und Handlungsmotive. Einerseits müssen Handlungsressourcen vorhanden sein. Denn freiwilliges Engagement zeichnet sich definitorisch dadurch aus, dass es ohne finanzielle Gegenleistung erbracht wird. Es kann also nur von jenen geleistet werden, die auf keine finanzielle Gegenleistung angewiesen sind und entsprechend mit Ressourcen ausgestattet sind. Andererseits führen bestimmte Handlungsmotive zu freiwilligem Engagement. Diese sind insofern relevant, als es von seinem Wesen her freiwillig und auf andere Personen ausgerichtet geschieht. Allein schon durch Freiwilligkeit und die Ausrichtung auf andere ist anzunehmen, dass nur bestimmte Motivlagen und vorgelagerte Einstellungen damit im Einklang stehen.

Grundlegende Faktoren, die zu freiwilligem Engagement führen, sind also verfügbare Handlungsressourcen und passende Handlungsmotive (vgl. Abb. 2.4).

Abbildung 2.4
figure 4

(Abbildung: Eigene Darstellung in Anlehnung an Schüll (2004, 110))

Erklärungsmodell für freiwilliges Engagement.

Diese Handlungsressourcen- und Motive basieren ihrerseits auf soziokulturellen, soziodemografischen und sozioökonomischen Faktoren (Schüll 2004, 110). Soziodemografische und -ökonomische Faktoren sind Alter, Geschlecht, Familienstatus, Bildungsniveau sowie Arbeitssituation und Einkommen. Soziokulturelle Faktoren, welche Motive und Ressourcen beeinflussen, sind vorhandene Wertorientierungen, biografische Erfahrungen und religiöse Überzeugungen.

In Ergänzung zu Peter Schüll (2004) und in Anlehnung an die Kritik von Erik van Ingen und René Bekkers (2015, 281), die Forschungen von Marina Tulin, Bram Lancee und Beate Volker (2018) sowie Camille Reynolds (2019), ergänze ich das Erklärungsmodell mit Faktoren der Persönlichkeit. Bestimmte Ausprägungen von Persönlichkeitsmerkmalen haben einen Einfluss auf die Ausübung von freiwilligem Engagement (Tulin et al. 2018; Rapp et al. 2019).

Zusammenfassend ist festzuhalten: Freiwilliges Engagement bezeichnet Tätigkeiten, bei denen freiwillig und ohne nennenswerte finanzielle Gegenleistung Zeit aufgewendet wird und Ressourcen erzeugt werden, die anderen zu Nutze kommen. Nötige Handlungsressourcen und bestimmte Handlungsmotive führen dazu, dass sich jemand freiwillig engagiert.

2.5 Soziales Vertrauen und seine Entstehungsbedingungen

Soziales Vertrauen gilt als die kulturelle Komponente von Sozialkapital. Ziel dieses Kapitels ist die Klärung der Frage, was darunter zu verstehen ist. Ausgangspunkt ist wiederum die Feststellung, dass es ganz unterschiedliche Definitionen, Differenzierungen und Anwendungen für dieses Phänomen gibt (Westle und Roßteutscher 2008, 165 f; Bauer und Freitag 2018, 21 ff; Alesina und La Ferrara 2002, 209).

Die Vertrauensforschung kennt grundsätzlich zwei Traditionen mit Blick auf die Frage, was Vertrauen ist und wie es entsteht (Westle und Roßteutscher 2008, 165 f): Der amerikanische Politikwissenschaftler Russel Hardin (1996, 2006, 16 ff) versteht unter Vertrauen Vertrauenswürdigkeit (trustworthiness), die als kognitiv-instrumentelles Kalkül der Beteiligten A und B zu verstehen ist: A vertraut B, X zu tun – bzw. B ist für A so vertrauenswürdig, X zu tun, dass A B vertraut (Hardin 2006, 19). Vertrauen wird hier also als relationales Phänomen auf Handlungsebene konzipiert, als eine Entscheidung der beteiligten Person A, der Person B zu vertrauen, dass sie X tut. Die Entscheidung von A hängt dabei von bisherigen Erfahrungen allgemeiner Art ab und von konkreten Erfahrungen mit der Vertrauenswürdigkeit von B (Hardin 1996; Uslaner 2002, 24). Demgegenüber argumentiert Eric M. Uslaner (2002, 17, 2018, 6 f), ebenfalls amerikanischer Politikwissenschaftler, dass es sich bei Vertrauen um eine tieferliegende Neigung im folgenden Sinn handelt: A vertraut – und zwar nicht einer bestimmten Person B, sondern Menschen ganz allgemein. In dieser Lesart ist Vertrauen weniger ein kognitiv-instrumentelles Kalkül auf Handlungsebene, sondern gleicht mehr einer Wertorientierung oder Grundeinstellung.

Um Vertrauen analytisch zu erfassen, muss zusätzlich zwischen unterschiedlichen Radien und Zielpunkten des Vertrauens unterschieden werden. Dabei handelt es sich um die analytische Einteilung eines Kontinuums, das von persönlichem Nah-Vertrauen bis zu sozialem Vertrauen reicht (Zmerli und Newton 2017, 105). Soziales Vertrauen grenzt sich dann ab von partikularem Nah-Vertrauen, institutionellem Vertrauen und identitätsbasiertem Vertrauen.

  1. 1.

    Nah-Vertrauen (auch partikulares Vertrauen bzw. thick trust) ist Vertrauen in Personen des Nah-Umfelds, zu denen eine direkte Beziehung besteht (Uslaner 2018, 4; Zmerli und Newton 2017, 105).Footnote 45

  2. 2.

    Identitätsbasiertes Vertrauen (auch Ingroup-outgroup trust) bedeutet Vertrauen zu Personen, zu denen man zwar keine direkte Beziehung wie beim Nah-Vertrauen hat, mit denen man aber soziale Merkmale und Eigenschaften teilt (Filsinger und Freitag 2019; Bauer und Freitag 2018; Kramer 2018, ebenso aber auch schon Uslaner 2002, 55 f).

  3. 3.

    Institutionelles oder politisches Vertrauen ist Vertrauen in politische Institutionen und Prozesse (Norris 2017; Uslaner 2018, 4 f).

  4. 4.

    Soziales Vertrauen (auch generalisiertes Vertrauen / Fremd-Vertrauen / thin oder auch weak trust) meint ein Grundvertrauen in Menschen generell (Uslaner 2002, 17 ff; Zmerli und Newton 2017, 105).

Die drei ersten Arten des Vertrauens lassen sich ohne weiteres im Sinne eines kognitiv-instrumentellen Kalküls von Hardin konzipieren. Es geht stets um das Gleiche: Eine Person A vertraut einer Person B, die ihr sehr nahesteht (Nah-Vertrauen) oder ähnliche soziale Eigenschaften besitzt (identitätsbasiertes Vertrauen) bzw. eine Person A vertraut einer Institution B, die sie kennt.Footnote 46 In diesem Sinne handelt es sich bei diesen drei Arten, da relational bestimmt, von sich aus um Beziehungskapital. Demgegenüber steht das soziale Vertrauen als Systemkapital. Dieses lässt sich nur bedingt als kognitiv-instrumentelles Kalkül verstehen und lässt sich damit auch schwieriger von konkreten Erfahrungen ableiten (Uslaner 2002, 23 ff, 2018, 7; Filsinger und Freitag 2019, 3 f). Beim sozialen Vertrauen geht es darum, dass Person A ganz grundsätzlich darauf vertraut, dass fremde Menschen ihm wohlgesinnt sind oder ihn zumindest nicht schädigen wollen. Um die Herstellung und Wirkung dieses sozialen Vertrauens geht es im Sozialkapitalmechanismus (Putnam 1995a, 67, 2000, 135–137). Denn im Gegensatz zu den anderen drei Arten von Vertrauen ist es das soziale Vertrauen, das Kollektivgutprobleme zu lösen vermag und Brücken zu Menschen baut, denen wir nicht ähnlich sind (Uslaner 2002, 43, 2018, 6).

Soziales Vertrauen

Vordergründig scheint also klar zu sein, was unter sozialem Vertrauen zu verstehen ist – nämlich ein Grundvertrauen in Menschen allgemein. Gleichzeitig gibt es aber in der Literatur unterschiedliche Vorstellungen davon, was soziales Vertrauen eigentlich ist. Ich beginne mit den beiden Klassikern der Sozialkapitaltheorie selbst.

Bei Coleman (1988, 107 f, 119, 1990, 306 f) geht es mit Blick auf Sozialkapital zunächst nur um Nah-Vertrauen innerhalb geschlossener Netzwerke, das er von der Vertrauenswürdigkeit der sozialen Umwelt (social environment) ableitet. Sodann verweist er auf die Tatsache, dass Akteur:innen ihre Kosten-Nutzen-Erwartungen hinsichtlich Vertrauen in andere Personen aufgrund der gemachten Vertrauenserfahrungen innerhalb geschlossener Netzwerke anpassen (Coleman 1988, 117, 1990, 317). Daraus ergibt sich die allgemeine Einschätzung (standard estimate) der Vertrauenswürdigkeit für eine durchschnittliche Person (average person). Coleman spricht hierbei aber nicht explizit von sozialem oder generalisiertem Vertrauen, sondern nur von allgemeinem Misstrauen (general mistrust) (Coleman 1990, 756) – im Gegensatz zu Putnam. Wichtig ist, dass für die Ausbildung von sozialem Vertrauen (bzw. Misstrauen) aufgrund Kooperationserfahrungen ein positives Menschenbild keine Voraussetzung darstellt: Alle Beteiligten sind zunächst allein auf den eigenen Nutzen ausgerichtet, soziales Vertrauen entsteht als Nebenprodukt aufgrund positiver Kooperationserfahrungen (Coleman 1988, 118).

Putnam (2000, 136) benutzt den Begriff soziales Vertrauen im erwähnten Sinn, das heisst als Grundvertrauen in Menschen allgemein. Er spricht dabei einerseits, mit Verweis auf Julian B. Rotter (1980), von «thinner trust in ‘the generalized other’» und andererseits, mit Verweis auf Hardin (1993), von «trustworthiness, not simply trust».

Rotter (1967, 651, 1980, 1) begreift Vertrauen im Rahmen sozialer Lerntheorie: Bei Vertrauen handelt es sich bei ihm um die Erwartung, dass Worte und Versprechen von anderen verlässlich sind. Einerseits kann sich diese Erwartungshaltung aufgrund häufiger Erfahrungen, in denen diese Erwartung erfüllt wird, zu einer allgemeinen Erwartung des Vertrauens gegenüber anderen entwickeln. Andererseits wird sie auch erworben, und zwar durch Verhaltensübernahme von Personen, denen man schon vertraut, konkret von Eltern, Lehrpersonen oder gleichaltrigen Freund:innen (Rotter 1967, 653). Einmal erworben, betrachtet Rotter (1980, 1) diese allgemeine Erwartungshaltung mit Blick auf Vertrauen als eine relativ stabile Persönlichkeitscharakteristik. Ähnlich argumentiert Uslaner (2002, 2018, 4 ff), wenn er unter generalisiertem Vertrauen eine stabile bisweilen moralische Einstellung auf persönlicher Ebene versteht, die auf dem Weg der Sozialisierung durch die Eltern entsteht und durch eine optimistische Einstellung und positive Selbstkontrolle gefördert wird.

Hardin (1996, 28 f, 2006, 16 ff) unterscheidet nun, wie von Putnam erwähnt und oben eingeführt, zwischen Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit. Aus seiner Sicht handelt es sich aber bei dem, was in der Literatur als Vertrauen verstanden wird, stets um Vertrauenswürdigkeit (Hardin 2006, 16 f). Vertrauenswürdigkeit ist sodann personen- und situationsabhängig und ist im Sinne des oben eingeführten kognitiv-instrumentellen Kalküls als Faktor für Handlungsentscheidungen zu verstehen. So etwas wie generalisiertes, soziales oder schwaches Vertrauen ist für Hardin theoretisch nicht begründbar und damit abzulehnen.Footnote 47 Dass also Putnam auf Hardin verweist und dennoch soziales Vertrauen einführt und in seiner Theorie stark macht, ist auf den ersten Blick verwunderlich. Aus Sicht von Hardin (2006, 126) sei das, was in der Literatur als soziales Vertrauen verhandelt wird, nichts anderes als eine allgemeine optimistische Erwartungshaltung mit Blick auf die Vertrauenswürdigkeit von anderen, die zu einer etwas grösseren Risikobereitschaft bei Kontakt und Austausch mit Fremden führt.Footnote 48 Was es im Gegensatz zu generalisiertem Vertrauen sehr wohl aber gäbe, sei generalisiertes bzw. gruppenbezogenes Misstrauen (Hardin 2006, 126.). Dieses meint Misstrauen gegenüber Personen bestimmter Gruppen und ist als Faktor für kognitiv-instrumentelles Kalkül sehr wohl relevant.Footnote 49 Was Hardin hier aber beschreibt, ist weniger allgemeines Misstrauen, sondern nach obiger Einteilung verschiedener Vertrauensarten identitätsbasiertes Misstrauen analog zu identitätsbasiertem Vertrauen. Allgemeiner wird dieses Phänomen dann gegenwärtig auch nicht unter identitätsbasiertem Misstrauen, sondern im Rahmen der Vorurteilsforschung als gruppenbezogene Vorurteile verhandelt (Allport 1954; Spears und Tausch 2014; Pickel et al. 2020a).

Wenn Putnam also mit Verweis auf Rotter und Hardin von sozialem Vertrauen spricht, dann ist darunter weniger eine Spielart unter mehreren Vertrauensarten wie Nah-Vertrauen oder anderen gemeint, sondern vielmehr eine davon zu differenzierende Erwartungshaltung hinsichtlich der Vertrauenswürdigkeit anderer Menschen. Es geht nicht um gegenseitig erbrachtes Nah- oder identitätsbasiertes Vertrauen im Rahmen konkreter Kontaktsituationen und damit nicht um ein kognitiv-instrumentelles Kalkül an sich, sondern um eine davor liegende Erwartungshaltung (Rotter, 1967) bzw. allgemeine (Coleman, 1990) oder moralische (Uslaner, 2002) Einschätzung davon, wie sich Menschen verhalten. Soziales Vertrauen wirkt dann dem konkreten situationsbezogenen kognitiv-instrumentellen Kalkül vorgelagert. Das ist auch der Grund, warum soziales Vertrauen so vielfältige positive Effekte zeitigt: Wenn es den situationsbezogenen Handlungssituationen vorgelagert ist, ist es situationsübergreifend wirksam.Footnote 50 Handelt es sich um Vertrauen (und nicht um Misstrauen), wird zudem davon ausgegangen, dass sich Menschen positiv bzw. eben vertrauenswürdig verhalten. Soziales Vertrauen ist dann die Erwartungshaltung, dass Menschen, egal ob nahestehende oder völlig fremde, durch ihr Handeln oder durch das Unterlassen von Handlungen vertrauenswürdig sind, das heisst zum Wohlergehen dessen beitragen, der vertraut, oder zumindest davon absehen, ihn zu schädigen (Offe 2001, 249). Soziales Vertrauen ist damit auf Ebene der Einstellungen und Überzeugungen zu verorten und nicht auf der Ebene kognitiv-instrumenteller Kalküle in konkreten Handlungssituationen. Soziales Vertrauen als Grundvertrauen in Menschen allgemein ist also die Überzeugung und damit verbundene Erwartungshaltung, dass Menschen allgemein vertrauenswürdig sind.

Entstehung von sozialem Vertrauen

Da nunmehr der Gehalt des Begriffs soziales Vertrauen geklärt ist, ist als nächstes zu fragen, wie diese Überzeugung entsteht. Gemäss dem oben beschriebenen Sozialkapitalmechanismus sollte freiwilliges Engagement die Ausbildung von sozialem Vertrauen aufgrund positiver Kooperations- und Kontakterfahrungen positiv beeinflussen. Was sagt die Vertrauensforschung dazu?

Entwicklungspsychologisch betrachtet beginnt die Entwicklung von Vertrauen schon mit der Geburt und gerade das erste Lebensjahr ist relevant für die Ausbildung eines Grundvertrauens bzw. Ur-Vertrauens (basic trust) (Erikson 2013 [1973], 60). Dabei handelt es sich um die Zuversicht des Kleinkindes, dass es sich auf sich selbst, das heisst auf seinen Körper und seine Fähigkeiten, aber auch auf seine Umwelt verlassen kann (Erikson 2013 [1973], 69 f). Eine wichtige Rolle spielen in diesem Zusammenhang Persönlichkeitsmerkmale, wie eine positive Selbstkontrolle (Uslaner 2018, 4 ff), aber auch eine entsprechende Disposition von Persönlichkeit (Hsiung und Djupe 2019, 613).Footnote 51 Dabei geht es aber vorwiegend um jenes Vertrauen, das Niklas Luhmann (1988, 97 f, 2001, 147 ff) als Zuversicht (confidence) beschreibt: Von Zuversicht, dass Erwartungen allgemein erfüllt werden, unterschied er Vertrauen (trust), das einen bestimmten Einsatz des Einzelnen erfordert und damit mit Risiko verbunden ist. Zuversicht in diesem Sinne kann zu Vertrauen führen und umgekehrt. In Kleinkindjahren entwickeltes Grundvertrauen, verstanden als Zuversicht und damit auch Persönlichkeitsmerkmale können daher sehr wohl zur Ausbildung von sozialem Vertrauen beitragen. Aber auch weitere Faktoren spielen eine Rolle und das eine führt nicht von sich aus zum anderen.

Wer die Menschen allgemein als vertrauenswürdig einschätzt, lebt tatsächlich mit dem Risiko, negative Erfahrungen zu machen, das heisst mit dem Risiko, mit Menschen, die sich als doch nicht vertrauenswürdig herausstellen, in Kontakt zu kommen und dabei dann etwas zu verlieren. Auf der einen Seite spielt Risiko im Sinne einer konkreten Risikoabwägung eine wichtige Rolle im Rahmen von Vertrauen als kognitiv-instrumentelles Kalkül (Hardin 1996). Auf der anderen Seite spielt weniger eine konkrete Risikoabwägung, sondern die allgemeine Risikowahrnehmung eine Rolle bei der Ausbildung von sozialem Vertrauen. Das Risiko, alle Menschen allgemein als vertrauenswürdig einzuschätzen, wird insbesondere dann als geringer wahrgenommen, wenn genügend Ressourcen vorhanden sind, mit denen die Folgekosten allfälliger negativer Erfahrungen aufgefangen werden. Solche Ressourcen können finanzieller, materieller oder sozialer Natur sein. Aber auch verfügbare psychische Ressourcen sind darunter zu zählen. Daher haben die äusseren Umstände und die zur Verfügung stehenden Ressourcen einen Einfluss auf die Ausbildung von sozialem Vertrauen. Von diesen eher allgemeinen Umständen abgesehen entsteht soziales Vertrauen durch Sozialisierung und Lernen.

Soziales Vertrauen entwickelt sich durch Sozialisierung, das heisst durch Verhaltens- und Einstellungsübernahme von Personen des Nah-Umfelds mit persönlicher Bedeutung, konkret von den Eltern, aber auch von anderen wichtigen Bezugspersonen wie Lehrpersonen oder gleichaltrigen Freund:innen (Rotter 1967, 653; Uslaner 2002, 92–94, 2018, 4 ff). Aus Sicht von Uslaner (2018, 4) entsteht soziales Vertrauen sogar nur durch Sozialisierung. Er lehnt die Idee, dass soziales Vertrauen in Freiwilligenorganisationen und durch freiwilliges Engagement aufgrund positiver Kontakt- und Kooperationserfahrungen erlernt werden kann, ab (Uslaner 2002, 38–43, 2018, 7). Zentral scheint mir hierbei die Berücksichtigung des Alters. Kinder können sich zum Beispiel zwar nicht gemäss obiger Definition engagieren, sie können aber sehr wohl aktiv an Angeboten von Vereinen und Freiwilligenorganisationen partizipieren und von entsprechenden Sozialisierungsräumen profitieren (Şaka 2016).

Andere Forschende gehen davon aus, dass soziales Vertrauen auch erlernt werden kann, nämlich durch konkrete, wiederholte Erfahrungen von Vertrauenswürdigkeit (Rotter 1967, 653; Seymour et al. 2014, 131; Hsiung und Djupe 2019, 612). Genau solche Erfahrungen ergeben sich im Rahmen von positiven Kooperationserfahrungen und positivem Kontakt (Allport 1954; Sherif 1961). Freiwilliges Engagement bietet demnach einen solchen Lernort. Soziales Vertrauen kann hier durch Erlernen ausgebildet werden.

Zusammengefasst ist soziales Vertrauen als Grundvertrauen in Menschen allgemein die Überzeugung und damit verbundene Erwartungshaltung, dass Menschen allgemein vertrauenswürdig sind. Es hängt einerseits ab von den äusseren Umständen und verfügbaren Ressourcen und den damit verbundenen Risiken, den Menschen zu vertrauen. Andererseits entsteht soziales Vertrauen durch Prägung der Persönlichkeit, Sozialisierung und Lernerfahrungen.

Erweiterung des Sozialkapitalmechanismus

In diesem und im vorausgehenden Kapitel habe ich freiwilliges Engagement und soziales Vertrauen und insbesondere ihre Voraussetzungen und Entstehungsbedingungen vertieft erörtert. Der Sozialkapitalmechanismus lässt sich entsprechend ergänzen (vgl. Abb. 2.5).

Abbildung 2.5
figure 5

(Anmerkung: Der Sozialkapitalmechanismus wurde hier ergänzt um Handlungsressourcen und Handlungsmotive als Voraussetzungen für freiwilliges Engagement und um Sozialisierung, Lernerfahrungen und Ressourcen als Prädiktoren von sozialem Vertrauen. Abbildung: Eigene Darstellung)

Sozialkapitalmechanismus und seine weiteren Einflüsse.

Freiwilliges Engagement ist im Rahmen von entsprechenden Gelegenheitsstrukturen möglich. Hierzu sind aber auch entsprechende Handlungsressourcen und passende Handlungsmotive nötig. Ebenfalls ressourcenabhängig ist soziales Vertrauen. Es spielen aber insbesondere auch die gemachten Sozialisierungs- und Lernerfahrungen potenziell eine Rolle.

Putnam verweist jeweils stark auf zivilgesellschaftliches Engagement und betrachtet es auch problematisch, wenn es in Netzwerken vollzogen wird, in denen Intoleranz auf bindende Kohäsionskräfte trifft. Zudem wird das Sozialkapitalkonzept häufig in Zusammenhang mit gesellschaftlichem Zusammenhalt diskutiert. Ich diskutiere daher nun im nächsten Kapitel das Verhältnis von Sozialkapital zu Zivilgesellschaft, gesellschaftlichem Zusammenhalt sowie zur dunklen Seite von Sozialkapital.

3 Das Verhältnis zwischen Sozialkapital, Zivilgesellschaft, gesellschaftlichem Zusammenhalt und der dunklen Seite von Sozialkapital

Im letzten Unterkapitel 2.2 habe ich das Sozialkapitalkonzept nach Coleman (1988, 1990) und Putnam (1993, 2000) beschrieben, den zu Grunde liegenden Mechanismus diskutiert und die beiden zentralen Komponenten von Sozialkapital, das heisst freiwilliges Engagement und soziales Vertrauen, vertieft analysiert. Sozialkapital ist vielfältig anschlussfähig an andere Konzepte. Umso wichtiger ist es daher, die Gemeinsamkeiten und Bezüge herauszustreichen, aber auch Unterschiede auszuloten. Hierzu erörtere ich folgend das Verhältnis zwischen Sozialkapital und Zivilgesellschaft (2.3.1) und gesellschaftlichem Zusammenhalt (2.3.2) und diskutiere die Frage nach der dunklen Seite von Sozialkapital (2.3.3).

3.1 Zivilgesellschaft – und die Rolle von Sozialkapital

Putnam (2000, 290) beansprucht, mit seinem Sozialkapitalansatz einen Beitrag zu liefern, wie eine Demokratie besser und stabiler funktionieren könnte. In diesem Zusammenhang zentral ist das Konzept der Zivilgesellschaft. Ich beschreibe im Folgenden zuerst, was die Forschung darunter versteht. Dann erörtere ich mögliche Verbindungen zwischen dem Konzept der Zivilgesellschaft und dem Sozialkapitalkonzept, aber auch sich aufdrängende Abgrenzungen und Differenzierungen.

Zivilgesellschaft

Der Begriff der Zivilgesellschaft ist spätestens seit der prominenten Zitierung von Putnam (1993, 89) unweigerlich mit Tocqueville verbunden (Zaleski 2008, 260). Der französische Aristokrat und Politikwissenschaftler bereiste zu Beginn des 19. Jahrhunderts Amerika und beschrieb seine Erlebnisse und Erfahrungen in mehreren Bänden. Einschlägig sind vor allem die ersten beiden Bände (Tocqueville 1986 [1835], 1986 [1840]). Er war beeindruckt von der Selbstorganisation der amerikanischen Gesellschaft, die sich in einer hohen Vielfalt an freiwilligen Organisationen zeigte (Tocqueville 1986 [1840], 155). Diese sich selbst organisierende Zivilgesellschaft trägt aus seiner Sicht wesentlich zu einem friedlichen Zusammenleben und einer stabilen Demokratie bei. Zentrale Prämisse für eine solche lebendige Zivilgesellschaft ist die Möglichkeit der gesellschaftlichen Selbstorganisation und das freiwillige Engagement von Einzelnen.

Diese Selbstorganisation zeichnet Zivilgesellschaft im Sinne eines spezifischen Typus sozialen Handelns aus und grenzt sie von anderen Bereichen wie Markt (Tauschhandlungen), Staat (Herrschafts- und Zwangshandlungen) und Familie (Intime Handlungen) ab (Kocka 2003, 32; Liedhegener und Werkner 2011, 11). In modernen, ausdifferenzierten Gesellschaften entfaltet sich die Zivilgesellschaft in diesem Sinne strukturell betrachtet zwischen Staat, Wirtschaft und Privatsphäre (Kocka 2003, 32; Adloff 2005, 8; Liedhegener 2016b, 99). Zudem lässt sie sich vom Bereich der Kultur und der Religion abgrenzen (Liedhegener 2016b, 120).Footnote 52 In dieser gesellschaftlichen Sphäre der Zivilgesellschaft organisieren sich Vereine, Zusammenschlüsse, soziale Bewegungen oder Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs) von selbst und das freiwillige, hier zivilgesellschaftliche Engagement der Einzelnen steht im Zentrum (Liedhegener und Werkner 2011, 11; Liedhegener 2016b). Der Einzelne handelt hier nicht als Familienmitglied oder Wirtschaftsmitglied, beispielsweise als Konsument:in, sondern in der Rolle als Citoyen:nes (Adloff 2005, 155). Diese Selbstorganisation und die damit zusammenhängenden Aktivitäten erfolgen, normativ betrachtet, unter «prinzipieller Anerkennung von Pluralismus und Interessenkonflikten in gewaltfreier und mindestens ansatzweise, d. h. zumindest der Intention der Handelnden nach gemeinwohlorientierter Form» (Kocka 2003, 32). Eine solche normative Setzung der Grenzen von Zivilgesellschaft schliesst Räuberbanden, mafiöse Strukturen oder Terrororganisationen als Akteur:innen von Zivilgesellschaft definitorisch aus, da sie staatliche Strukturen aushöhlen und nicht in ziviler, das heisst gewaltfreier Art und Weise handeln (Liedhegener 2014, 72, 2016b, 97).Footnote 53 Zivilgesellschaft ist damit umgekehrt auf die Einhaltung zentraler Menschen- und Bürgerrechte und diesbezüglichen staatlichen Schutz angewiesen (Adloff 2005, 8).

Zivilgesellschaftliche Aktivitäten können aufgrund ihrer Freiwilligkeit, ihrer allgemeinen Zugänglichkeit und ihrer Friedfertigkeit und Gemeinwohlorientierung von anderen nicht zivilgesellschaftlichen Aktivitäten unterschieden werden (Liedhegener 2016b, 97). Um weitere Differenzierungen zu treffen, ist es nötig, aufzufächern zwischen Zivilgesellschaft, einer umfassenden Öffentlichkeit und einem dazwischen zu verortenden intermediären Raum der Interaktion, wie von Antonius Liedhegener (2016b, 120) vorgeschlagen. Damit lassen sich dann zivilgesellschaftliche Aktivitäten abgrenzen von beispielsweise der Öffentlichkeitsarbeit von Wirtschaftsunternehmen oder von medialen Orten wie dem Wirtschaftsteil einer Zeitung oder von religiösen Radiosendern. Sie sind zwar öffentlich und wirken je nachdem auch intermediär, sind aber nicht aus sich heraus zivilgesellschaftlich (Liedhegener 2016b, 124). Sowohl einen intermediären Raum als auch eine gesellschaftliche und eine politische Öffentlichkeit gibt es in jedem politischen System, auch in nichtdemokratischen, beispielsweise in Diktaturen. Die Öffentlichkeit ist dann aber je nachdem so beschränkt und unfrei, dass keine Zivilgesellschaft entstehen kann oder nur eine im Verborgenen.Footnote 54 Zivilgesellschaft ist in diesem Sinne der Ort, an dem Kritik an anderen Bereichen durch Reflexion (Adloff 2005, 153) entwickelt und ausformuliert wird, so zum Beispiel an Herrschaft und damit am politischen System. In Demokratien ist Zivilgesellschaft ein hochbegehrtes Korrektiv, dessen Outputs mittels demokratischer Instrumente kanalisiert und ins politische System eingespeist werden. Funktional betrachtet eröffnet sich mit dem Vorhandensein von Zivilgesellschaft in Demokratien ein «zentraler Ort von Vermittlung von Politik und Gesellschaft» (Liedhegener 2016b, 95, 124). Zivilgesellschaft und Demokratie sind in diesem Sinne aufs Engste miteinander verbunden und bisweilen voneinander abhängig (Klein 2001, 252). In Diktaturen und autoritären Regimen ist die Zivilgesellschaft demgegenüber der Ort der Herrschaftskritik (Klein 2001, 19). Diese Kritik wird je nachdem ihrerseits wieder unterdrückt, bisweilen durch Einschränkungen zivilgesellschaftlicher Aktivitäten allgemein. Zivilgesellschaft und der Diskurs darüber sind dann ein demokratischer Gegenentwurf zum bestehenden autoritären oder diktatorischen gesellschaftlichen und politischen Status quo (Klein 2001, 19, 35 ff).

Eine funktionierende Zivilgesellschaft kann nur dann entstehen, wenn es die anderen Teilsysteme, das heisst das politische, das wirtschaftliche, das kulturell-religiöse und das private, zulassen. In diesem Sinne ist Zivilgesellschaft von sich heraus an normative Voraussetzungen gebunden, nämlich Gemeinwohlorientierung und freiwilliger Ressourceneinsatz des Einzelnen (Liedhegener und Werkner 2011, 14). Voraussetzung dafür ist wiederum, dass so etwas wie Gemeinwohl beispielsweise aus der Perspektive des politischen Herrschaftssystems überhaupt gedacht wird und dass das Wirtschaftssystem so ausgerichtet ist, dass freiwilliger Ressourceneinsatz möglich wird.

Zivilgesellschaft bezeichnet demnach jene gesellschaftliche Sphäre, die sich mit der Konstituierung von Vereinigungen, öffentlichen Assoziationen und Zusammenkünften auf Grundlage von freiwilligem kooperativem Handeln und zivilen, am Gemeinwohl orientierten Interagieren eröffnet, jenseits von Markt, Staat, Familie, Kultur und Religion.

Sozialkapital und Zivilgesellschaft

Das Sozialkapitalkonzept und jenes der Zivilgesellschaft decken sich nicht und sind auch nicht ohne weiteres aufeinander beziehbar (Liedhegener und Werkner 2011, 17). Gemeinsamkeiten sind einerseits die demokratietheoretische und dadurch bisweilen normative Ausrichtung und andererseits der Ausgangspunkt beim freiwilligen Engagement. Die zentralen Unterschiede zwischen beiden Konzepten liegen in den unterschiedlichen Analyseebenen und in der unterschiedlichen Verwendung bzw. Nicht-Verwendung des sozialen Vertrauens. Zunächst einige Hinweise auf die Gemeinsamkeiten, anschliessend auf die Unterschiede.

Eine erste Gemeinsamkeit ist die Ausrichtung auf demokratietheoretische Überlegungen und auf die bisweilen normative Frage, wie demokratische, politische Systeme erfolgreich funktionieren. So sieht die Forschung Zivilgesellschaft als zentralen Ort der Vermittlung von Politik und Gesellschaft und verweist damit auf die Wichtigkeit von vermittelnden Akteur:innen und Räumen, in denen Ideen diskutiert, Kritik formuliert und damit unterschiedliche Meinungen entwickelt werden können. Diese führen zu lebhaften und die Meinung der Bevölkerung abbildenden Diskursen, die in demokratischen Systemen wichtig sind. Der Sozialkapitalansatz nach Putnam (1995, 2000) geht sodann davon aus, dass soziales Vertrauen einen positiven Effekt auf Demokratie hat, und er versucht zu erklären, wie dieses soziale Vertrauen aus freiwilligem Engagement erwächst.

Die normative Färbung in beiden Fällen hängt ferner damit zusammen, dass danach gefragt wird, was der Demokratie dienlich ist – und was nicht. Zivilgesellschaftliche Aktivitäten zeichnen sich demnach durch Freiwilligkeit, allgemeinen Zugang sowie Friedfertigkeit und Gemeinwohlorientierung aus. Entsprechend ist nicht jedes freiwillige Engagement der Zivilgesellschaft dienlich, sondern nur ein zivilgesellschaftlich ausgerichtetes Engagement, das zivil, gewaltfrei und auch auf das Gemeinwohl ausgerichtet ist. Putnam (2000, 22, 335) betont auch, dass nicht jedes Sozialkapital zugleich demokratieförderlich ist. Sozialkapital, das sich in Netzwerken entwickelt, in denen Intoleranz mit bindenden Kohäsionskräften einhergeht, ist problematisch und zu verhindern.

Eine zweite Gemeinsamkeit besteht im Ansatz des freiwilligen Engagements. Zivilgesellschaftliche Aktivitäten setzen freiwilliges, zivilgesellschaftliches Engagement voraus; soziales Vertrauen entsteht durch freiwilliges Engagement. Bei beiden Ansätzen wird freiwilliges Engagement als tendenziell positiv und demokratieförderlich beschrieben.

Demgegenüber gibt es in der Engagementforschung auch eine Tradition, die sich mit den negativen Aspekten von Vereinen und dem darin erbrachten freiwilligen Engagement befasst. So hat Max Weber (1911, 45) auf dem ersten Deutschen Soziologentag in Frankfurt 1910 den Menschen als Vereinsmenschen schlechthin dargestellt und dabei insbesondere auf die normativ zunächst weder positiv noch negativ, später aber eher negativ konnotierte, selektive und damit Herrschaft legitimierende und das politische System stabilisierende Wirkung von Vereinen hingewiesen. Auch Sigrid Roßteutscher (2002) hat aufgezeigt, dass eine stark organisierte und vielfältige Vereinswelt eher zu einem Mainstreamingeffekt führt, der die jeweiligen Hauptströmungen der politischen Kultur widerspiegelt und damit das jeweilige politische System unterstützt, ganz unabhängig von der Staatsform. Sie wies in diesem Zusammenhang die Überlegung zurück, dass Sozialkapital in Form von Vereinszugehörigkeit einen positiven Effekt auf Demokratie habe (Roßteutscher 2002, 525). Und Paul Rameder (2015) machte aufmerksam auf die selektive, eher abgrenzende Wirkung von Vereinen. Reproduziert würden demnach vor allem bestehende Ungleichheiten. In dieser Lesart reproduzieren und untermauern Vereine und entsprechende Strukturen vor allem bestehende Verhältnisse – seien es ökonomische Ungleichheiten oder politische Herrschaftslogiken.

Der externe Effekt von freiwilligem Engagement auf Demokratie scheint im Übrigen vor allem in einer positiven Wirkung auf politische Partizipation zu liegen: Das ist sowohl für die Schweiz (Erlach 2006; Born 2014), als auch für Deutschland (Schäfer 2006; Kunz et al. 2008b), Belgien (Quintelier 2013) oder die USA (Verba et al. 1995, 304 ff, 340) und auch im internationalen Vergleich belegbar (Lippl 2007; Westle et al. 2008). Dieser Effekt von freiwilligem Engagement auf politische Partizipation wäre nun aber auf zweifache Weise interpretierbar: einerseits aus der Perspektive der Zivilgesellschaftsforschung im Sinne einer positiven Wirkung auf zivilgesellschaftliches Engagement, andererseits aus der oben vorgestellten eher negativen Perspektive innerhalb der Engagementforschung im Sinne eines Mainstreaming- und systemerhaltenden Effekts und des darin erbrachten freiwilligen Engagements. Nach demselben Muster kann im Übrigen auch die «Integrationsleistung von Vereinen» beurteilt werden, wie sie im Bereich der Integrations- und Migrationsforschung (Lehmann 2001; Baur und Braun 2003; Braun und Hansen 2004; Debrunner 2007; Braun und Finke 2010; Eggert und Giugni 2010; Strömblad und Adman 2010; Braun und Nobis 2011; Kleindienst-Cachay et al. 2012; Adler Zwahlen et al. 2017) zur Sprache kommt, – und ebenso die «Aneignung von Bürgerkompetenzen durch Vereine» als Kernelement im Bereich der politischen Kulturforschung (Vortkamp 2005, 2008; Schwalb und Walk 2007; Sliep 2011).Footnote 55

Zentraler scheinen mir daher folgende Fragen: Welche Vereine und Strukturen sind tatsächlich zivilgesellschaftliche Einrichtungen und erfüllen eine demokratisierende Funktion im Sinne eines zivilgesellschaftlichen Intermediärs – und welche nicht (Vortkamp 2007, 159; Seubert 2009, 123)? Welche kulturellen Muster werden in Vereinen tradiert? Wird in ihnen Demokratie nur als eine Methode vernünftiger Konfliktaustragung oder auch als ein emotional verbindendes Projekt eingeübt (Meißelbach 2019, 450)? Aus diesem Blickwinkel würde auch die Frage Putnams (2000, 338), welche Netzwerke «Schulen der Demokratie» sind und welche nicht, eine neue, differenziertere Wendung erhalten. Diese wichtigen Fragen sind aber Gegenstand der Zivilgesellschafts- und Engagementforschung. Darauf kann ich hier nicht weiter eingehen.

Es gibt also sehr wohl Gemeinsamkeiten zwischen dem Zivilgesellschafts- und dem Sozialkapitalkonzept. Es gibt aber auch Unterschiede. Ein erster Unterschied besteht in der Beurteilung von sozialem Vertrauen. Im Sozialkapitalansatz spielt es eine zentrale Rolle im Zusammenspiel von Engagement und Demokratie. Im Zivilgesellschaftskonzept spielt es zumindest vordergründig keine Rolle.

Die vielfältigen Effekte von sozialem Vertrauen scheinen auf internationaler Ebene zunächst breit diskutiert und relativ klar zu sein (überblickend: Tan und Vogel 2008, 883; Traunmüller 2011, 2; Pickel 2014, 41; neuer Shah et al. 2020, 424). Soziales Vertrauen wirkt demnach positiv auf Wirtschaft, Bildungserfolg, sozialen Zusammenhalt und politische Kohäsion; es vermindert Kriminalität und steigert demokratische Performanz und Stabilität.Footnote 56 Der Sozialkapitalansatz räumt diesen Effekten entsprechendes Gewicht ein und verortet die Herkunft des sozialen Vertrauens im freiwilligen Engagement. Demgegenüber spielt im Zivilgesellschaftsansatz soziales Vertrauen keine direkte Rolle.

Ein zweiter Unterschied besteht in den unterschiedlichen Analyseebenen: Zivilgesellschaft stellt zunächst ein spezifisch politikwissenschaftliches Konzept dar, das bestimmte Aktivitäten von privaten und institutionellen Akteur:innen gesellschaftlich zu verorten und zu kontextualisieren vermag. Die Analyseebene ist eine systemische mit einem starken Fokus auf die Mesoebene. Demgegenüber unterstreicht Sozialkapital als allgemein sozialwissenschaftliches Konzept den Wert sozialer Beziehungen allgemein und umschreibt in der politikwissenschaftlichen Lesart von Putnam einen Mechanismus, wie Netzwerke und Gelegenheitsstrukturen auf Systemebene freiwilliges Engagement ermöglichen und aus dieser strukturellen Komponente soziales Vertrauen als kulturelle Komponente erwächst und dies wiederum einen positiven Effekt auf die Strukturebene zurück hat. Es handelt sich um soziale Mechanismen auf der Makro- und Mikroebene. Im Gegensatz zum Konzept der Zivilgesellschaft liegt der Fokus hier weniger auf der Mesoebene.

Es stellt sich schliesslich noch die Frage, ob sich die beiden Konzepte in irgendeiner Form gegenseitig bedingen. So wird teilweise die Zivilgesellschaft als jener Raum betrachtet, in dem sich Sozialkapital vollends entfalten kann (Freitag et al. 2016, 261; Fine 2010, 62). Zwar mag dies zutreffen, aber die beiden Konzepte funktionieren auch unabhängig voneinander. Die Analyseebenen sind so unterschiedlich, dass es keine gegenseitigen Abhängigkeiten gibt.

Zusammenfassend kann also festgestellt werden: Zivilgesellschaft und Sozialkapital überschneiden sich zwar, so in der Ausrichtung auf Demokratie und im Ansatz beim freiwilligen Engagement; aber es gibt auch klare Unterschiede, nämlich in der Stellung des sozialen Vertrauens und in den unterschiedlichen Analyseebenen.

In der vorliegenden Studie geht es nicht um Zivilgesellschaft an sich. Aber mit dem Sozialkapitalansatz wird auf freiwilliges Engagement und allfällige normative Grenzen eingegangen und auch nach den entsprechenden Voraussetzungen gefragt. Dies erfolgt jedoch nicht primär aus systemischer Analyse-Perspektive der Zivilgesellschaftsforschung, sondern aus Perspektive des Sozialkapitalmechanismus. Und damit wird insbesondere auch sozialem Vertrauen entsprechender Raum eingeräumt.

3.2 Sozialkapital und gesellschaftlicher Zusammenhalt

Freiwilliges Engagement und soziales Vertrauen, die zentralen Komponenten von Sozialkapital, gelten, auch in der Schweiz, als wichtige Indikatoren für den Zustand gesellschaftlicher Kohäsion (Gensicke et al. 2006; Stadelmann-Steffen 2010; Traunmüller et al. 2012; Lamprecht et al. 2018; Lamprecht et al. 2020). Sozialkapital ist also ein zentraler Indikator für gesellschaftlichen Zusammenhalt und mit ihm verknüpft. Sozialkapital und gesellschaftlicher Zusammenhalt dürfen aber nicht deckungsgleich verwendet werden.

Gesellschaftlicher Zusammenhalt

Gesellschaftlicher Zusammenhalt (oder soziale Kohäsion, gesellschaftliche Kohäsion etc.) ist gegenwärtig ein «beliebig-opportunistischer politischer», aber auch wissenschaftlicher Modebegriff (Deitelhoff et al. 2020a, 13). Er stammt, ähnlich wie beim Sozialkapital, aus einer Krisenanalyse, wonach der gesellschaftliche Zusammenhalt in Abnahme begriffen sei. Einschlägige Analysen dazu stammen von der OECD (2011), der UNO (2020), für Deutschland von zivilgesellschaftlichen Akteuren wie der Bertelsmann oder der Robert Bosch Stiftung (Dragolov et al. 2013; Arant et al. 2019; Brand et al. 2020) und für die Schweiz vom Bundesamt für Statistik (2021f).

Zunächst ist festzuhalten: Gesellschaftlicher Zusammenhalt ist erstens ein Indikator auf gesellschaftlicher Ebene. Er umschreibt den Zustand einer klar definierten Gemeinschaft als Gesamtes. Es handelt sich zweitens um ein graduelles Phänomen: Einzelne Gesellschaften können mehr oder weniger kohäsiv sein (Brand et al. 2020, 16). Dabei ist der Hinweis wichtig, dass soziale Kohäsion nicht mit Homogenität verwechselt werden darf. Homogenitätsvorstellungen werden der Wirklichkeit differenzierter und komplexer Gesellschaften nicht gerecht (Dragolov et al. 2013, 13). Und drittens ist sozialer Zusammenhalt mehrdimensional zu fassen.

In der gegenwärtigen Forschung wird hierbei meist zwischen einer horizontalen und einer vertikalen Dimension des gesellschaftlichen Zusammenhalts unterschieden (Chan et al. 2006; Schiefer und van der Noll 2017; Hillenbrand 2020). Als horizontal ist beispielsweise die Qualität sozialer Beziehungen und damit verbundener Einstellungen und Praktiken zu verorten, als vertikal demgegenüber die Verbundenheit mit dem Gemeinwesen und diesbezüglicher Einstellungen und Praktiken. Einstellungen sind zum Beispiel die Orientierung der einzelnen am Allgemeinwohl oder auch soziales Vertrauen. Und unter Praktiken kann unter anderem auch freiwilliges Engagement verstanden werden (Dragolov et al. 2013; Dragolov et al. 2016; Brand et al. 2020; Deitelhoff et al. 2020a, 19; für die Schweiz: Bundesamt für Statistik 2021 f). Hinzu kommen institutionelle Aspekte der systemischen Integration und solche des gesellschaftlichen Diskurses über Zusammenhalt (Deitelhoff et al. 2020a, 19).

Sozialkapital und gesellschaftlicher Zusammenhalt

Der Hauptunterschied zwischen Sozialkapital und gesellschaftlichem Zusammenhalt besteht darin, dass gesellschaftlicher Zusammenhalt ein Konstrukt auf Makroebene ist und sich auf eine gesamte Gesellschaft bezieht. Sozialkapital ist demgegenüber ein Konzept, das den Wert sozialer Beziehungen auf horizontaler Ebene unterstreicht. Es ist ein Mechanismus, nach dem auf horizontaler Ebene soziales Vertrauen entspringt, das dann auch vertikal fungieren kann. Sozialkapital kann damit als ein möglicher Mechanismus betrachtet werden, der im Rahmen von gesellschaftlichem Zusammenhalt zum Tragen kommt (Deitelhoff et al. 2020b, 33; Pickel et al. 2020c). Soziales Vertrauen ist dann in diesem Zusammenhang ein konstitutives Element gesellschaftlichen Zusammenhalts (Delhey et al. 2018).

Sozialkapital und gesellschaftlicher Zusammenhalt stehen damit in einer engen Verbindung, sind aber hinsichtlich ihrer Analyseebene und ihres Wirkspektrums dennoch klar unterscheidbar. Die gegenwärtig intensivierte Forschung zu gesellschaftlichem ZusammenhaltFootnote 57 könnte bisweilen auch als eine Weiterentwicklung der im Nachgang zu Putnam initiierten vielfältigen Forschungen in diversen Bereichen betrachtet werden.Footnote 58

3.3 Normative Differenzierungen: die dunkle Seite von Sozialkapital

Als letztes möchte ich in diesem Kapitel die Frage nach der dunklen Seite von Sozialkapital (dark social capital) erörtern. Putnam (2000, 350 ff) hat schon darauf hingewiesen und normativ statuiert, dass solche Formen von Sozialkapital einer Demokratie nicht förderlich sind. Erstens sagt er damit implizit: Der Sozialkapitalmechanismus und das damit verbundene bonding und bridging sind zunächst nicht normativ zu betrachten, sonst bräuchte es nicht eine zusätzliche normative Differenzierung. Zweitens stellt sich dann aber die Frage, welche Formen als gutes Sozialkapital betrachtet werden können, welche als schlechte. So kommt beispielsweise Jan W. van Deth (2010, 654) zum Schluss, dass jegliche Formen von Gelegenheitsstrukturen für freiwilliges Engagement potenziell schlecht sein könnten. Dies sei jedoch, so van Deth weiter, nur selten der Fall, wobei insbesondere religiöse Gelegenheitsstrukturen Ausgangspunkt von dunklem Sozialkapital seien.Footnote 59

Es ist Putnam recht zu geben, dass der Sozialkapitalmechanismus zumindest methodisch zunächst nicht normativ zu betrachten ist. Sowohl bindende als auch brückenbildende Mechanismen und Effekte können zunächst einfach als Mechanismen betrachtet werden, unabhängig von ihren normativen Wirkungen. So können bindende Mechanismen zu einer Steigerung der Gruppenkohäsion führen, durch Out-Group-Effekte in Zusammenhang mit Intoleranz ebenso aber auch zum Ausschluss und je nachdem zur Abwertung anderer Gruppen. Desgleichen können brückenbildende Mechanismen beiderlei bewirken: So können brückenbildende Kontakte innerhalb von einzelnen Gruppen im Sinne der Kontakthypothese tatsächlich vorurteilshemmend wirken. Brückenbildende Kontakte können aber auch zur Mobilisierung von Ressourcen führen und so beispielsweise terroristische Gruppen stärken (Saal 2021, 46–56). Die sozialpsychologischen Mechanismen, die dem Sozialkapitalmechanismus zu Grunde liegen, sind also zunächst neutral – und die Effekte können normativ betrachtet ambivalent ausfallen.

Es stellt sich damit die Frage, ob fundiert argumentiert werden kann, was gut und was schlecht ist. Ich gebe Meißelbach (2019, 30) recht, dass damit die Gefahr eines methodologischen Ethnozentrismus verbunden ist.Footnote 60 Korrekt und wichtig ist auch, dass die Sozialkapitaltheorie handlungstheoretisch unterfüttert, beziehungsweise, wie Meißelbach (2019) es tut, rekonstruiert wird – und zwar nicht normativ. Jedoch glaube ich nicht, dass die gesamte politikwissenschaftliche Forschung in eine Falle des methodologischen Ethnozentrismus geraten ist. Vielmehr muss diese Frage bewusst gestellt und nicht ausgeklammert werden.Footnote 61 In diesem Zusammenhang scheinen mir folgende Punkte zentral:

Erstens ist soziales Vertrauen die Zielvariable im Sozialkapitalmechanismus. Wenn wir dieses soziale Vertrauen als Grundvertrauen in Menschen allgemein verstehen und damit die Überzeugung und Erwartungshaltung teilen, dass Menschen allgemein vertrauenswürdig und einander wohlgesinnt sind, dann liegt ein normatives Konzept an sich vor: Man kann nun soziales Vertrauen einfachhin als nichtig abtun, da es normativ beladen oder nicht zielführend sei.Footnote 62 Oder man anerkennt soziales Vertrauen als eine normative Kategorie, die auf ein emotional erfahrenes Miteinander verweist und darum gerade in komplexen Gesellschaften eine soziale Bedeutung hat, die Grund genug ist, sie als Forschungsgegenstand anzuerkennen.

Zweitens stellt sich damit aus Sicht des Sozialkapitalansatzes die Frage, welche Faktoren zu sozialem Vertrauen beitragen und welche sie unterminieren. Putnam geht davon aus, dass freiwilliges Engagement ganz grundsätzlich zu sozialem Vertrauen führt. Dies ist aber nicht klar belegt (Claibourn und Martin 2000, 282; Newton 2001b, 204; Westle und Roßteutscher 2008; Dahl und Abdelzadeh 2017; Paxton und Ressler 2018, 162). Wenn dem tatsächlich so wäre, müssten auf Makroebene Länder mit einer hohen Ausprägung an freiwilligem Engagement ebenso ein Mehr an sozialem Vertrauen aufweisen. Und umgekehrt müssten sich Länder mit wenig freiwilligem Engagement als Wüsten des Vertrauens darstellen. Dies ist keineswegs der Fall, die entsprechenden Zusammenhänge sind international betrachtet nur schwach ausgeprägt (Newton 2001b, 204; Gabriel et al. 2002, 90; Westle et al. 2008, 103). Auch aus diesem Grund erhält diese Frage im Rahmen dieser Studie einen gesonderten Platz, neben den primären Forschungsfragen nach dem Zusammenhang von Religion und Sozialkapital.

Drittens sagt Putnam (2000, 355) selbst, dass es bei den aus seiner Sicht unerwünschten Formen von Sozialkapital um jene geht, die mit Intoleranz in Verbindung stehen. Umgekehrt gefragt: Kann soziales Vertrauen überhaupt in einem intoleranten Umfeld entstehen? Intoleranz steht unweigerlich in Verbindung mit gruppenbezogenen Vorurteilen. Und diese stehen wiederum in einem negativen Zusammenhang mit sozialem Vertrauen.Footnote 63 Wenn also freiwilliges Engagement im Kontext von Intoleranz geleistet wird, sollte daraus kein soziales Vertrauen resultieren. Die Bezeichnung einer gesonderten dunklen Seite von Sozialkapital wird erst dann benötigt, wenn behauptet wird, dass jegliches freiwilliges Engagement von sich heraus zu sozialem Vertrauen führt, wie dies gemäss dem hier vorgestellten Sozialkapitalmechanismus der Fall ist. Ohne diese Prämisse lässt sich diese Frage mittels Qualifikation von unterschiedlichem freiwilligem Engagement und damit auf der Ebene der Mikromechanismen differenziert abbilden.

Viertens gibt es neben der prominenten Lesart von Sozialkapital, die von Putnam (1995, 2000) ausgeht, jene andere, die den Fokus auf der Ebene der Beziehungen belässt und die sozialen Netzwerke und damit verbundene Ressourcen analysiert. Sie bleibt in diesem Sinne näher bei Coleman (1988, 1990) und greift auf Granovetter (1973) zurück. Einschlägig hierzu sind einerseits die Arbeiten von Nan Lin (2001, 2008) und andererseits jene von Ronald S. Burt (Burt 1982, 1992)Footnote 64. Netzwerkmechanismen funktionieren dabei unabhängig von der normativen Bewertung der Netzwerke und insofern auch innerhalb religiös-fundamentalistischer Bewegungen, wie es zum Beispiel Johannes Saal (2021) eindrücklich für jihadistische Netzwerke in Deutschland und der Schweiz belegt.

Van Deth (2010, 654) wies, wie dargestellt, darauf hin, dass insbesondere religiöse Gelegenheitsstrukturen Ausgangspunkt von dunklem Sozialkapital (hier in Putnamscher Lesart) seien. Aus Sicht der soeben dargestellten Überlegungen hiesse das, dass insbesondere religiöse Gelegenheitsstrukturen mit Intoleranz verbunden wären und daher in ihnen kein soziales Vertrauen entstehen sollte. Dieser These soll im nächsten Kapitel weiter nachgegangen werden, wenn es um den Zusammenhang zwischen Religion und Sozialkapital geht.

Zusammenfassend werden mit der dunklen Seite von Sozialkapital jene Effekte bezeichnet, die von einem normativ eingenommenen Standpunkt her unerwünscht sind. Diese unerwünschte normative Beurteilung kann sowohl auf Ebene der Netzwerke geschehen, in denen die Mechanismen ablaufen, wie auch innerhalb des Sozialkapitalmechanismus. Im letzteren Fall handelt es sich um Effekte, die dem sozialen Vertrauen schaden.

3.4 Konzeptionelle Abgrenzungen

Ich habe nun das Verhältnis zwischen Sozialkapital und Zivilgesellschaft, zwischen Sozialkapital und gesellschaftlichem Zusammenhalt sowie die Frage nach der dunklen Seite von Sozialkapital diskutiert. Ziel war eine analytische Schärfung des Untersuchungsgegenstandes: Worum geht es – und worum nicht?

  • Es geht um freiwilliges Engagement und damit auch um zivilgesellschaftliche Strukturen, in denen sich dieses Engagement vollzieht. Damit geht es im weitesten Sinne auch um Zivilgesellschaft. Gleichwohl liegt hier der Fokus nicht auf Zivilgesellschaft, mithin auch nicht auf Wirkungen, die vom freiwilligen Engagement auf Partizipation, Bürgerkompetenzen etc. ausgehen.

  • Es geht um freiwilliges Engagement und soziales Vertrauen und damit auch um wichtige Indikatoren gesellschaftlichen Zusammenhalts. Es geht aber nicht um einen Indikator oder einen Index für gesellschaftlichen Zusammenhalt, damit auch nicht um eine Bewertung des gesellschaftlichen Zusammenhalts in der Schweiz oder in einzelnen Kantonen auf Makroebene.

  • Es geht um freiwilliges Engagement und seine Auswirkungen auf soziales Vertrauen, damit auch um die dunkle Seite von Sozialkapital, wonach in einer bestimmten Lesart insbesondere religiöse Faktoren soziales Vertrauen hemmen. Es geht aber nicht um die Erforschung der dunklen Seite von Sozialkapital in der Schweiz im Sinne einer Erforschung der zum Beispiel dunklen Motive, sich freiwillig zu engagieren etc.

Es geht um die Wirkung von Religion und Religiosität auf freiwilliges Engagement und soziales Vertrauen und damit Sozialkapital in der Schweiz. Diese Begriffe und Konzepte habe ich in diesem ersten Theoriekapitel eingeführt und erklärt. Im folgenden Theoriekapitel sollen sie nun aufeinander bezogen werden.