Gesundheit ist neben Geschlecht die zweite Kategorie, die eine entscheidende Rolle für die Lebenslagen von Menschen in Wohnungsnot spielt. In besonderem Maße ist die Kategorie Gesundheit mit Stigmatisierungen verbunden, die ebenfalls erheblichen Einfluss auf die Lebenslagen von Menschen in Wohnungsnot nehmen. Im weiteren Verlauf des Kapitels erfolgt die dezidierte Darstellung der Bedeutung der Kategorie Gesundheit sowie die Begründung der Relevanz dieser Kategorie für Menschen in Wohnungsnot. Beginnend mit der Schilderung des Umfangs der Betroffenheit sowie der Bedrohung durch Krankheiten wird die negative Auswirkung von Krankheiten auf Wohnungsnot dargestellt. Strukturelle Barrieren erschweren dabei die Versorgung von Menschen in Wohnungsnot und mit Krankheiten erheblich (Abschnitt 5.1 Die Korrelation von Krankheit und Wohnungsnot). Anschließend wird der Fokus auf psychische Auffälligkeiten und Krankheiten gelegt, da diese wesentliche Auswirkungen auf die Lebenslagen von Menschen in Wohnungsnot haben.

Verschiedene Aspekte müssen hierbei kritisch betrachtet werden: Die Studien zur Erfassung von psychischen Auffälligkeiten und Krankheiten weisen eine sehr hohe Lebenszeitprävalenz psychischer Krankheiten auf, bedürfen aber einer skeptischen Betrachtung bezüglich Methode und Interpretation der Ergebnisse (Abschnitt 5.2 Die Bedeutung psychischer Auffälligkeiten und Krankheiten). Die Beschäftigung mit psychischen Auffälligkeiten und Krankheiten bei Menschen in Wohnungsnot erörtert immer auch die Frage nach Ursache und Folge von Wohnungsnot. Diese Frage kann nicht abschließend geklärt werden. Zugleich muss sie, aufgrund der negativen Auswirkungen einer psychiatrischen Erklärung von Wohnungsnot, mit Vorsicht behandelt werden (Abschnitt 5.2.1 Psychische Krankheiten als Ursache oder Folge von Wohnungsnot?). Des Weiteren muss im Zusammenhang mit psychischen Auffälligkeiten und Krankheiten der besondere Bezug zu Stigmatisierungen dargestellt werden. Menschen in Wohnungsnot und mit einer psychischen Auffälligkeit sind mindestens von zwei Stigmata betroffen, wobei diese wiederum erhebliche negative Konsequenzen für Menschen in Wohnungsnot haben (Abschnitt 5.3 Gesundheit, Krankheit und Stigmatisierung). Als letzter Aspekt der kritischen Betrachtung wird die bestehende Schnittstellenproblematik zwischen der medizinisch-psychiatrischen Versorgung und der Wohnungslosenhilfe und deren Auswirkungen beschrieben (Abschnitt 5.4 Das Schnittstellenproblem).

Das Kapitel abschließend erfolgt die Darstellung des intersektionalen Zusammenwirkens der beiden Kategorien Geschlecht und Gesundheit (Abschnitt 5.5 Zusammenwirken von Gesundheit und Geschlecht).

5.1 Die Korrelation von Krankheit und Wohnungsnot

Menschen in Wohnungsnot sind im großen Umfang von Krankheit betroffen oder bedroht. Dabei ist der körperliche und psychische Gesundheitszustand von Menschen in Wohnungsnot sehr schlecht (Schäfer-Walkmann & Bühler, 2011, S. 14). Sie erkranken jedoch „an den gleichen Krankheiten, […] [an] denen auch die Mehrheitsbevölkerung leidet“ (Rosenke, 2017c, S. 219). Dazu gehören

  • psychische Auffälligkeiten und Krankheiten,

  • Erkrankungen der Atmungsorgane,

  • Erkrankungen der Verdauungsorgane,

  • Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems,

  • Hautkrankheiten und

  • Erkrankungen des Skelet-Systems

    (Trabert, 2005, S. 163).

Spezifisch für Menschen in Wohnungsnot ist, dass sie häufig Infektionserkrankungen aufweisen, schlecht ausgeheilte Verletzungen sowie einen sanierungsbedürftigen Zahnstatus haben (Rosenke, 2017c, S. 219; Schäfer-Walkmann & Bühler, 2011, S. 14). Sie „leiden häufiger als die Mehrheitsbevölkerung unter Mehrfacherkrankungen und unter psychischen Auffälligkeiten oder diagnostizierten psychischen Krankheiten und Abhängigkeitserkrankungen mit den entsprechenden Folgeerkrankungen“ (Rosenke, 2017c, S. 219). Die Korrelation von Armut und Gesundheit ist hinlänglich bewiesen (Gerull, 2011, S. 99–112; Schäfer-Walkmann & Bühler, 2011, S. 14). Der schlechte Gesundheitszustand von Menschen in Wohnungsnot, also der extremsten Form von Armut, überrascht daher nicht. Auch bei der Betrachtung der Bedeutung von (mietrechtlich abgesichertem) Wohnraum „wird deutlich, welche erheblichen sozialen und gesundheitlichen Risiken“ (Schäfer-Walkmann & Bühler, 2011, S. 14) mit Wohnungsnot verbunden sind. Als „krankmachende Stressfaktoren“ benennen Schäfer-Walkmann und Bühler (2011, S. 14) „Faktoren wie Witterung, Schlaf, Hygiene, Ernährung, […], aber auch soziale Einflüsse wie fehlende Beziehungen, Gewalterfahrungen und unterbrochene Bildungs- und Berufsbiografien mit Armutsfolgen“.

Weisen Menschen (psychische) Krankheiten auf und befinden sich gleichzeitig in Wohnungsnot, beeinflusst dies den Verlauf der Krankheiten negativ (Schäfer-Walkmann & Bühler, 2011, S. 15). Die Lebenslagen von Personen in Wohnungsnot führen dazu, dass Krankheiten „später behandelt werden und entsprechend schwerer verlaufen oder chronifizieren“ (Schäfer-Walkmann & Bühler, 2011, S. 52). Menschen in Wohnungsnot „nehmen im Vergleich zur Normalbevölkerung seltener medizinische Vorsorgeuntersuchungen sowie Gesundheitsförderungsmaßnahmen beziehungsweise medizinische Hilfen in Anspruch“ (Trabert, 2005, S. 162). Erschwerend kommt dabei hinzu, dass die subjektive Einschätzung der eigenen Gesundheit von Personen in Wohnungsnot deutlich von der objektiv starken Beeinträchtigung abweichtFootnote 1 (Fichter et al., 1996, S. 192; Kellinghaus et al., 1999, S. 114; Trabert, 2005, S. 162–163). Die daraus resultierende geringe Behandlungsmotivation wird durch große Scham sowie durch schlechte Erfahrungen mit dem medizinischen Regelsystem verstärkt (Rosenke, 2017c, S. 222). Daneben bestehen strukturelle Barrieren der Gesundheitsgesetzgebung und des medizinischen Regelsystems, wie beispielsweise Zuzahlungen zu medizinischen Leistungen, eine Verkürzung der Liegezeiten im Krankenhaus, Krankenkassenbeitragsschulden und ein unzureichendes Entlassungsmanagement (Rosenke, 2017c, S. 219–222). Rosenke (2017c, S. 223) resümiert zutreffend, dass Menschen in Wohnungsnot eine hoch belastete Bevölkerungsgruppe sind.

5.2 Die Bedeutung psychischer Auffälligkeiten und Krankheiten

Psychische Auffälligkeiten und Krankheiten sowie die dazu gehörenden Abhängigkeitserkrankungen müssen besonders herausgestellt und betrachtet werden. Die hohe Prävalenz psychischer Auffälligkeiten (Dittmann & Drilling, 2018, S. 288; Eikelmann et al., 2002, S. 47–49; Kellinghaus, 2000, S. 33–35; Ratzka, 2012, S. 1236; Salize et al., 2002, S. 28) bedarf dabei einer intensiven und kritischen Auseinandersetzung:

  1. 1.

    Insgesamt müssen die Ergebnisse wissenschaftlicher Untersuchungen zur Prävalenz psychischer Auffälligkeiten und Krankheiten kritisch betrachtet werden.

  2. 2.

    Die Frage nach Ursache und Folgen von Wohnungsnot wird im Kontext der hohen Prävalenz erneut gestellt. Als Risikofaktor für Wohnungsnot anerkannt ist eine psychische Auffälligkeit als Folge der extremen Lebenssituation ebenso schlüssig.

  3. 3.

    Menschen mit psychischen Auffälligkeiten sind erheblichen Stigmatisierungen ausgesetzt. Befinden sich Menschen darüber hinaus in Wohnungsnot, muss von einer mindestens doppelten Stigmatisierung ausgegangen werden.

  4. 4.

    Wenn Menschen psychische Auffälligkeiten oder Krankheiten aufweisen und in Wohnungsnot sind, sind theoretisch zwei unterschiedliche Hilfesysteme zuständig. Dies führt zu einer Schnittstellenproblematik und häufig dazu, dass sich keines der Hilfesysteme zuständig fühlt. Was insbesondere im Zusammenhang mit den häufig vorliegenden Doppeldiagnosen von Abhängigkeitserkrankung und psychischer Krankheit und der komplexen Behandlung dieser zu einer Verelendung der Personen führen kann.

Bäuml, Baur, Brönner et al. (2017) konnten, wie auch Fichter et al. (1996), bei Menschen in Wohnungsnot eine Lebenszeitprävalenz psychischer Krankheiten von über 93 % feststellen (Bäuml, Baur, Brönner et al., 2017, S. 130). Wie auch gegenüber früheren Studien, die einen angeblichen pathologischen Wandertrieb von Menschen in Wohnungsnot feststellen wollten, kann eine berechtigte und dezidierte Kritik an den Ergebnissen identifiziert werden (Busch-Geertsema, 2018a; Kunstmann, 2017). Busch-Geertsema (2018a) kritisiert insbesondere die Stichprobenziehung von Bäuml et al. Die selektive Stichprobenauswahl – unter anderem ohne den Einbezug von Familien in Wohnungsnot sowie die Rekrutierung von annähernd 50 % der Stichprobe in Einrichtungen der Eingliederungshilfe, also dem Hilfesystem für Menschen mit psychischen Behinderungen – lässt berechtigterweise keinen Rückschluss auf die Gesamtpopulation der Menschen in Wohnungsnot zu (Busch-Geertsema, 2018a, S. 117–118). Auch vor dem Hintergrund des dieser Arbeit zugrundeliegenden Verständnisses von Wohnungsnot – dem Zusammenspiel zwischen individuellen Kategorien und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen – wird die Schlussfolgerung, dass alle Menschen in Wohnungsnot psychische Auffälligkeiten aufweisen, der Komplexität von Wohnungsnot nicht gerecht. Trotzdem kann festgehalten werden, und das konstatiert auch Busch-Geertsema (2018a, S. 119), dass Menschen mit psychischen Auffälligkeiten und Krankheiten sowie Abhängigkeitserkrankungen ein hohes Risiko haben, in Wohnungsnot zu geraten. Trabert (2005, S. 164) beziffert in seiner kritischen Bewertung den Anteil der psychischen Krankheiten bei Menschen in Wohnungsnot mit „etwa ein Drittel“ (Trabert, 2005, S. 164). Busch-Geertsema (2018a, S. 119) kritisiert hier zurecht, dass dieser Zusammenhang insbesondere auf die fehlende und adäquate Unterstützung von Menschen mit psychischen Auffälligkeiten und Krankheiten zurückzuführen ist. Anzumerken bleibt, dass psychische Krankheiten heute im Hilfesystem der Wohnungslosenhilfe als potentielle Risikofaktoren anerkannt sind. Zur Begründung und Legitimierung von Zwangsmaßnahmen und Verfolgung werden psychische Krankheiten nicht mehr angeführt (Ratzka, 2012, S. 1236). Die Gefahr einer eindimensionalen Individualisierung der Problemlage Wohnungsnot durch psychische Krankheiten bleibt jedoch bestehen. So formulieren beispielsweise Bäuml, Baur, Brönner et al. (2017, S. 14) zu Beginn ihrer Studie die rhetorische Frage, ob nicht individuelle Gründe die Problemlagen von Menschen in Wohnungsnot erklären könnten.

5.2.1 Psychische Krankheiten als Ursache oder Folge von Wohnungsnot?

Die Frage nach Ursache und Folge von Wohnungsnot im Zusammenhang mit psychischen Auffälligkeiten rückt demzufolge wieder in den Vordergrund. Schlüssig scheint, dass psychische Krankheiten sowohl als Ursache (im Sinne der Social-Drift-Hypothese) als auch als Folge (im Sinne der Social-Causation-Hypothese) von Wohnungsnot in Betracht kommen (Ratzka, 2012, S. 1238). Psychische Auffälligkeiten und Krankheiten sind im Hilfesystem als Risikofaktor für eine Wohnungsnot anerkannt (Busch-Geertsema, 2018a, S. 119). Insbesondere bei der Chronifizierung psychischen Leidens erleben Erkrankte einen sozialen und wirtschaftlichen Abstieg sowie ein gleichzeitig geringes Bewältigungsvermögen. Dadurch sind diese Personen gefährdet, ihren Wohnraum zu verlieren (Ratzka, 2012, S. 1238). Wohnungsnot ist gleichzeitig aber auch eine extreme Lebenssituation, die einhergeht mit einer „Vielzahl von physischen, psychischen und sozialen Stressoren“ (Ratzka, 2012, S. 1238). Diese Stressoren wiederum erhöhen das Risiko einer psychischen Auffälligkeit oder Krankheit erheblich (Ratzka, 2012, S. 1238). Albrecht (1990, S. 64–72) gibt einen detaillierten Überblick über diese ‚Theorie der Stressful Life-Events‘ (siehe Abschnitt 3.5 Erklärungsansätze von Wohnungsnot). Er stellt dabei die besondere Bedeutung von ‚Coping-Verhalten‘ vor und verbindet diese mit der ‚Identitätstheorie‘ (Albrecht, 1990, S. 67–69). Diese Verbindung ist für die vorliegende Arbeit äußerst interessant: Eine ‚beschädigte Identität‘ (Goffman, 1963, siehe auch Abschnitt 3.8 Stigmatisierung und Wohnungsnot), die Folge einer Stigmatisierung, beeinflusst das ‚Coping-Verhalten‘ bezüglich des Umgangs mit lebensgeschichtlichen Ereignissen. Stigmatisierung führt demnach zu einer Verschlechterung des eigenen Umgangs mit lebensgeschichtlichen Ereignissen. Die Lebenssituation verschlechtert sich dadurch und die Gefahr einer größeren Stigmatisierung nimmt zu. Eine Abwärtsspirale entsteht.

Die Identifikation psychischer Auffälligkeiten sowohl als Risikofaktor als auch als Folge von Wohnungsnot unterstützt die Annahme, dass Wohnungsnot in einem Wechselspiel zwischen individuellen Faktoren und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen entsteht. Psychische Auffälligkeiten sind somit ein Risikofaktor, also eine Ursache von Wohnungsnot,sowie eine Reaktion, also die Folge von Wohnungsnot.

5.3 Gesundheit, Krankheit und Stigmatisierung

Die Untersuchung der Stigmatisierung von Menschen in Wohnungsnot ist das zentrale Ziel der vorliegenden Arbeit. Menschen in Wohnungsnot werden, wie bereits dargestellt, schon immer ausgegrenzt, abgewertet und stigmatisiert. Diese Stigmatisierungsprozesse, die enge Verwobenheit mit Intersektionalität und die Bedeutung der Stigmatisierung für Menschen in Wohnungsnot sind der rote Faden der Arbeit und werden in Abschnitt 3.8 Stigmatisierung und Wohnungsnot dargestellt. Psychische Auffälligkeiten und Krankheiten spielen bei der Stigmatisierung von Menschen in Wohnungsnot zusätzlich eine zentrale Rolle, da sie häufig von psychischen Krankheiten betroffen sind. Psychische Krankheiten werden in besonderem Maße stigmatisiert (Phelan et al., 1997, S. 326; Schomerus et al., 2014, S. 293–294). Wenn also ein Mensch in Wohnungsnot und psychisch erkrankt ist, ist er einer doppelten Stigmatisierung ausgesetzt. Hinzu kommt die Stigmatisierung von Alkoholabhängigkeit. Auch hiervon sind Menschen in Wohnungsnot in besonderem Maße betroffen (Bäuml, Baur, Brönner et al., 2017, S. 146–148; Ratzka, 2012, S. 1239) und somit schon von einer dreifachen Stigmatisierung betroffen. Eine Stigmatisierung wiederum führt dazu, wie oben dargelegt, dass sich das eigene ‚Coping-Verhalten‘ verschlechtert und sich somit negativ auf die gesundheitliche Situation auswirkt. Daraus folgt die Gefahr einer weiteren Stigmatisierung.

Die mit einer psychischen Krankheit einhergehende Zuschreibung einer Gefährlichkeit der betroffenen Person sowie die Zuschreibung einer selbstverschuldeten Lebenssituation durch Alkoholabhängigkeit stehen mit der Stigmatisierung von Menschen in Wohnungsnot in einem wechselseitigen Zusammenhang. Die detaillierten Ausführungen zur Stigmatisierung von Menschen in Wohnungsnot und im Speziellen der Zusammenhang mit psychischen Krankheiten und Alkoholabhängigkeit befinden sich im Abschnitt 3.8.1 Stigmatisierung und sollen an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden.

5.4 Das Schnittstellenproblem

Die Lebenslagen von Menschen in Wohnungsnot und mit einer psychischen Auffälligkeit sind in besonderem Maße prekär (Rosenke, 2017c, S. 239). Kellinghaus (2000, S. 93) konstatiert, dass „es sich bei den wohnungslosen psychisch Kranken um eine Gruppe von schwer erkrankten, polytraumatisierten Patienten handelt“. Neben den Lebensbedingungen, die mit Wohnungsnot sowie einer psychischen Krankheit einhergehen, sowie den Stigmatisierungen, denen diese Menschen ausgesetzt sind, besteht eine Versorgungsproblematik. In der Schnittstelle zwischen Wohnungslosenhilfe (§§ 67–69 SGB XII) und Eingliederungshilfe (ehemals § 53 SGB XII, ab dem 1.1.2020 § 78 IX i.V. m. § 113 SGB IX) werden Menschen in Wohnungsnot und mit einer psychischen Auffälligkeit nicht adäquat versorgt (Wessel, 2002, S. 68–71). Die Abgrenzung zwischen den beiden Rechtskreisen ist in der Theorie gut durchführbar, in der Praxis jedoch vor erhebliche Probleme gestellt. Die ‚besonderen Lebensverhältnisse mit sozialen Schwierigkeiten‘ als Merkmal der Wohnungslosenhilfe-Paragraphen §§ 67–69 SGB XII sind auch bei Menschen mit psychischen Behinderungen vorzufinden (Heuser & Zimmermann, 2002, S. 93–94). Ziel sowie Umfang und Art der jeweiligen Hilfen der verschiedenen Rechtskreise unterscheiden sich jedoch deutlich (Heuser & Zimmermann, 2002, S. 98). Die Hilfen nach §§ 67–69 SGB XII sind beispielsweise als kurzfristige Hilfen konzipiert, die Hilfen nach § 53 SGB XII als langfristige. Des Weiteren treten, wie gezeigt, Wohnungsnot und psychische Auffälligkeit häufig gleichzeitig auf und bedingen sich gegenseitig.

Ein besonderes Problem ergibt sich bei der Schnittstelle zwischen der medizinisch-psychiatrischen Versorgung und der Wohnungslosenhilfe. Auch hier kann eine bedeutende Unterversorgung der Personengruppe identifiziert werden (Rosenke, 2017c, S. 237). Beide Hilfesysteme zeigen sich überfordert und teils nicht zuständig (Kellinghaus, 2000, S. 92; Rosenke, 2017c, S. 237). Psychiatrische Einrichtungen führen das „Fehlen einer festen Meldeadresse sowie ungeklärte Kostenträgerschaften“ (Kellinghaus, 2000, S. 2), aber auch fehlende Behandlungsmotivation und Krankheitseinsicht, eine vermeintliche Therapieresistenz und keine Abstinenz als behindernde Faktoren auf (Kellinghaus, 2000, S. 92–93; Ratzka, 2012, S. 1238; Zechert, 2017, S. 6). Darüber hinaus unterstellen sie eine ‚taktische Nutzung‘ stationärer Versorgungseinrichtungen als kurzfristiges Asyl für Obdach, Essen und Zuwendungen (Ratzka, 2012, S. 1238–1239). Negative Folgen für die Personengruppe hat auch die mangelhafte Nachsorge nach erfolgtem Klinik-Aufenthalt (Kellinghaus, 2000, S. 92). „Betroffene werden wieder in die Wohnungslosigkeit und die dort herrschenden krankheitsfördernden Lebensbedingungen entlassen“ (Kellinghaus, 2000, S. 92).

Die Wohnungslosenhilfe zeigt sich, konfrontiert mit Menschen „mit z. T. langjährigen Psychiatrieerfahrungen, ebenso wie [mit] psychisch auffällige[n] Menschen ohne oder mit Diagnose und [mit] Menschen mit der Doppeldiagnose Abhängigkeitserkrankung/psychische Krankheit“ (Rosenke, 2017c, S. 237), zurecht überfordert. Die hohen Anforderungsschwellen der psychiatrischen Einrichtungen führen dazu, dass die Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe zum Sammelbecken von Menschen mit chronisch psychiatrischen Krankheiten werden (Kellinghaus, 2000, S. 93; Ratzka, 2012, S. 1238). Erschwerend kommt hinzu, dass gerade diese Personengruppe, die von der beschriebenen Schnittstellenproblematik besonders betroffen ist, einen großen Hilfebedarf aufweist. Vielfach weisen diese Menschen eine Doppeldiagnose auf. Besonders schwerwiegend und schwierig zu behandeln sind solche Doppeldiagnosen beim Vorliegen einer Abhängigkeitserkrankung (Ratzka, 2012, S. 1237–1238; Wessel, 2002, S. 69). Die Psychotherapie verläuft zumeist unbefriedigend und die suchttherapeutischen Einrichtungen zeigen sich überfordert von den psychischen Krankheiten (Ratzka, 2012, S. 1238). Liegt zugleich eine Wohnungsnot vor, verschlechtert sich die Behandlungsmotivation, welche für eine erfolgreiche Hilfe notwendig ist, beträchtlich. Doppeldiagnosen mit Abhängigkeitserkrankungen kommen bei Menschen in Wohnungsnot häufig vor (Eikelmann et al., 2002, S. 48). Viele dieser Menschen leben ohne Krankheitseinsicht unterversorgt auf der Straße und in Notunterkünften (Rosenke, 2017c, S. 237). Verstärkt wird die fehlende Behandlungsmotivation durch die subjektive Einschätzung von Menschen in Wohnungsnot bezüglich ihrer eigenen Gesundheit. Diese weicht, wie bereits dargestellt, deutlich von der objektiven Beeinträchtigung ab (Eikelmann et al., 2002, S. 50) und verstärkt somit den Krankheitsverlauf insbesondere von psychischen Krankheiten negativ (Fichter et al., 1996, S. 192; Kellinghaus et al., 1999, S. 114). Salize et al. (2002, S. 40) kommen zu dem Schluss, dass das Hilfesuchverhalten und die Angebotsstruktur sowie Zugangswege „in noch weit stärkerem Maße zusammenwirken, als dies bei nicht wohnungslosen psychisch Kranken der Fall ist“.

5.4.1 Bedingungen und Auswirkungen der Schnittstellenproblematik

Insgesamt ist die gesundheitliche Lage von Menschen in Wohnungsnot äußerst komplex (Schäfer-Walkmann & Bühler, 2011, S. 52) und durch sich verstärkende Wechselwirkungen gekennzeichnet, die die Situation von Menschen in Wohnungsnot verschlimmern. Stigmatisierungen haben dabei einen großen Einfluss auf die gesundheitliche Lage von Menschen in Wohnungsnot. Erstens kann vermutet werden, dass die Personengruppe aufgrund ihrer Stigmatisierung keine Lobby besitzt, die für ihre Interessen eintritt. Das Fehlen einer solchen führt wiederum dazu, dass die bekannte Schnittstellenproblematik bestehen bleibt, was im Weiteren dazu führt, dass, wie beschrieben, viele dieser Menschen unterversorgt auf der Straße leben. Zweitens ist gerade die Personengruppe der Menschen in Wohnungsnot und mit Doppeldiagnosen von Stigmatisierung betroffen. Menschen in Wohnungsnot und mit Doppeldiagnosen entsprechen dem typischen, medial verzerrten und stigmatisierendem Bild (Wolf, 2016, S. 14) der gefährlichen und unberechenbaren Person, der aufgrund der eigenen Sucht eine Selbstverantwortung für die prekäre Lebenssituation zugeschrieben wird (siehe Abschnitt 3.8 Stigmatisierung und Wohnungsnot). Diese Stigmatisierungen verfestigen dabei die prekäre Situation von Menschen in Wohnungsnot (Phelan et al., 1997, S. 335). Inwieweit die Personen im Sinne des Labeling-Approach-Ansatzes zugeschriebene Verhaltensweisen und Erscheinungsformen auf- und übernehmen, ist nicht genau zu klären, jedoch könnte, drittens die Übernahme zugeschriebener Verhaltensweisen die bereits geringe Behandlungsmotivation und Veränderungsbereitschaft zusätzlich negativ beeinflussen (Albrecht, 1990, S. 37–39).

5.5 Zusammenwirken von Gesundheit und Geschlecht

Die Kategorien Geschlecht und Gesundheit müssen im Sinne des vorgestellten Ordnungsrahmens der Intersektionalität auch in ihrem Zusammenwirken betrachtet werden. Dabei ergeben sich zwei Besonderheiten, die bisher im Kontext von Wohnungsnot keine Beachtung gefunden haben und bei der Versorgung von Menschen in Wohnungsnot eine hohe Relevanz besitzen. Erstens kann ein Geschlechterunterschied im Gesundheitsstatus von Menschen in Wohnungsnot identifiziert werden und zweitens kann ein unterschiedlicher Umgang der Geschlechter mit Gesundheit und Krankheit festgestellt werden.

Bezogen auf den Geschlechterunterschied im Gesundheitsstatus sprechen Oksuzyan et al. (2010) von einem ‚Gender-Gap‘ der Gesundheitserwartungen der verschiedenen Geschlechter. Dabei stellen sie ein Paradox fest: Zwar sterben Männer früher, jedoch sind Frauen häufiger von Krankheiten betroffen (Oksuzyan et al., 2010, S. 213). Unterschiedliche Prävalenzen für Krankheiten oder biologische Faktoren können als Unterscheidungskriterium ausgemacht werden (Kellinghaus et al., 1999, S. 113; Oksuzyan et al., 2010, S. 215; Sieverding, 2010, S. 190; The Lancet Psychiatry, 2016, S. 999). Jedoch können diese den gesamten Geschlechterunterschied nicht aufklären (Sieverding, 2000, S. 9).

Als Ursache für die noch bestehenden Geschlechterunterschiede dienen die verschiedenen Geschlechtsrollenidentitäten. Sieverding (2000) benennt für die Geschlechterrolle Mann ein erhöhtes Risikoverhalten und für die Geschlechterrolle Frau ein gesundheitsbewussteres Verhalten. Dieser unterschiedliche Umgang mit der eigenen Gesundheit und Krankheit wird als Ursache für den dargestellten ‚Gender-Gap‘ beschrieben. Psychische Auffälligkeiten und Krankheiten haben, wie gezeigt, eine hohe Relevanz für Menschen in Wohnungsnot. Geschlechterunterschiede im Kontext von psychischer Gesundheit und Krankheit verweisen dabei auf zwei insbesondere für den Kontext Wohnungsnot und das Hilfesystem der Wohnungslosenhilfe beachtenswerte Aspekte:

  1. 1.

    Es gibt Geschlechterunterschiede in der Prävalenz psychischer Auffälligkeiten. Angststörungen und Depressionen treten häufiger bei Frauen und Substanzmissbrauch häufiger bei Männern auf (Thaller et al., 2017, S. 11; The Lancet Psychiatry, 2016, S. 999).

    Interessant, weil auch im Kontext von Wohnungsnot relevant (siehe Kapitel 3 Wohnungsnot und die Ausführungen von Albrecht (1990, S. 64–72) zu Stressful Life-Events), ist der von Remes et al. (2017, e1) angemerkte Geschlechterunterschied in Bezug auf Stress. Dabei gibt es sowohl geschlechterbedingte Entstehungszusammenhänge als auch einen geschlechterbedingten Umgang mit Stress. Trabert (2005, S. 166) lenkt den Blick dabei auf das frauenspezifische Phänomen der Traumata. Da Frauen in Wohnungsnot in besonderem Maße von Gewalt betroffen sind, besteht die Gefahr, Traumata zu entwickeln (Trabert, 2005, S. 166 siehe Abschnitt 4.2.3 Geschlecht und Gewalt).

  2. 2.

    Es gibt Geschlechterunterschiede in der Behandlungsmotivation und der Inanspruchnahme von Hilfen. Sieverding (2010, S. 196) konstatiert, dass „die Inanspruchnahme von professioneller Hilfe […] nicht mit einem traditionellen männlichen Selbstkonzept vereinbar ist“.

    Als Ursache dafür führt Sieverding (2010, S. 196) die subjektive Einschätzung der eigenen Gesundheit der Männer an, die, wie bei Menschen in Wohnungsnot allgemein festgestellt, deutlich von der objektiv stärkeren Beeinträchtigung abweicht. Ob diese Unterschiede in der Wahrnehmung der eigenen Gesundheit bei männlichen Personen in Wohnungsnot addiert betrachtet werden können oder der Befund durch das hohe Vorkommen männlicher Personen in Wohnungsnot zustande kommt, kann dabei nicht endgültig geklärt werden.

Insgesamt zeigt sich, dass die Kategorien Geschlecht und Gesundheit auch in ihrem Zusammenwirken betrachtet werden müssen. Das Hilfesystem der Wohnungslosenhilfe muss (1.) die Konsequenzen dieses Zusammenwirkens in den Blick nehmen. Das gilt sowohl für Männer in Wohnungsnot, die ihre eigene (psychische) Gesundheit überschätzen und Probleme haben, professionelle Hilfe zu suchen und in Anspruch zu nehmen, als auch für Frauen in Wohnungsnot, die auf die extreme Stresssituation der Wohnungsnot häufiger als Männer Depressionen und Angststörungen entwickeln. Das Zusammenwirken von Geschlecht und Gesundheit hat (2.) dementsprechend Auswirkungen auf das beschriebene Schnittstellenproblem zwischen dem psychiatrischen Versorgungsnetz, der Eingliederungshilfe und der Wohnungslosenhilfe. Schließlich kann aufgrund der Befunde (3.) eine weitere Hypothese zur Erklärung der Geschlechterverteilung von Wohnungsnot formuliert werden: Frauen können präventiv Hilfe annehmen, bevor sie in Wohnungsnot geraten, beziehungsweise professionelle Hilfe annehmen, um aus der Wohnungsnot herauszukommen. Männer hingegen nehmen keine präventive Hilfe an und haben darüber hinaus Probleme, professionelle Hilfe anzunehmen, um die Situation der Wohnungsnot zu verlassen.

Stigmatisierungen verstärken die beschriebenen Effekte des Zusammenwirkens von Geschlecht und Gesundheit. Das Selbststigma, also die Anwendung öffentlicher Vorurteile gegen sich selbst (siehe Abschnitt 3.8.1 Stigmatisierung), bedeutet den Verlust von Selbstwertgefühl und Selbstwirksamkeit und die Entstehung von Schamgefühlen (Hartman et al., 2013, S. 28; Pryor & Reeder, 2011, S. 792; Röhm, 2017, S. 16; Schomerus, 2010, S. 254). Diese Schamgefühle führen bei Frauen über ein erhöhtes Stressempfinden zur Entwicklung von Depressionen und Angststörungen, wohingegen die Schamgefühle bei Männern eher zu einer noch geringeren Bereitschaft führen können, entsprechende Hilfen zu suchen und anzunehmen (Remes et al., 2017, e1).

Insgesamt bestätigt das Zusammenwirken von Geschlecht und Gesundheit den Bedarf einer intersektionalen Betrachtung und Analyse von Wohnungsnot. Der unterschiedliche Umgang mit von Selbststigma ausgelöstem Stress kann geschlechtsspezifische Befunde von Wohnungsnot erklären und unterstützt die Hypothese, dass Frauen eher in das Hilfesystem der Eingliederungshilfe für Menschen mit psychischen Krankheiten gelangen und Männer eher im Hilfesystem der Wohnungslosenhilfe verbleiben.