Geschlecht ist eine der bestimmenden Determinanten gesellschaftlichen Zusammenlebens (Köbsell, 2010, S. 17; Küppers, 2012, 3, 6; Kuster, 2019, S. 4–5) und nimmt auch im Kontext von Wohnungsnot eine bestimmende Position ein. Geschlecht ist sowohl für das Phänomen Wohnungsnot insgesamt als auch für die Ursachen, die individuellen Lebenslagen sowie Bedarfe von Menschen in Wohnungsnot äußerst relevant (Dubrow, 2009, S. 55–57; Enders-Dragässer & Sellach, 2005, S. 5; Fichtner, 2005, S. 2; Gerull, 2014, S. 32–33; Rosenke, 2017b, S. 91–93; Steckelberg, 2018, S. 38–39). Auch wenn es verschiedene Untersuchungen zu den spezifischen Lebenslagen und Bedarfen von Männern und Frauen in Wohnungsnot gibt, (Ratzka, 2012, S. 1230) konstatiert unter anderem Dubrow (2009, S. 53–55) zurecht, dass Geschlecht – verstanden in seiner Differenzierung in Gender und Sex sowie der Unterschiedlichkeit zwischen Frau und Mann – und die Bedeutung von Geschlecht im Hilfesystem bisher wenig Beachtung gefunden haben (Dubrow, 2009, 53.55; Fichtner, 2005, S. 2; Reuschke, 2010, S. 195). Diese Lücke zu schließen, ist ein Ziel der vorliegenden Arbeit.

Beginnend mit einer allgemeinen Darstellung von Geschlecht als Differenzierungskategorie, erfolgt anschließend eine Erläuterung des dieser Arbeit zugrundeliegenden Verständnisses von Geschlecht (Abschnitt 4.1 Geschlecht als Differenzierungskategorie). Die Grundannahme ist, dass Geschlecht differenzierbar in die Komponenten Sex – das biologische Geschlecht  –  und Gender  –  die sozial und historisch-kulturell geformte Geschlechtsrollenidentität – ist (Connell, 2013, S. 26–30; Köbsell, 2010, S. 19–20; Villa, 2019, S. 23–28). Geschlecht ist auch im Kontext von Wohnungsnot die entscheidende Differenzierungskategorie. Nach der Begründung der Bedeutung von Geschlecht für das Hilfesystem (Abschnitt 4.2 Geschlecht und Wohnungsnot) erfolgt die Darstellung der geschlechtsspezifischen Ursachen, Lebenslagen und Bedarfe von Menschen in Wohnungsnot (Abschnitt 4.2.1 Geschlecht als Differenzierungskategorie im Kontext von Wohnungsnot). Dabei nimmt die Geschlechtsrollenidentität sowohl als heteronormatives, hierarchisches Ordnungsprinzip der Gesellschaft als auch als individuelle Geschlechtsrollenkonstruktion eine entscheidende Funktion ein (Abschnitt 4.2.2 Sex und Gender im Kontext von Wohnungsnot). Gewalt als extremster Ausdruck von Abwertung und Stigmatisierung ist eng verknüpft mit diesen beiden Aspekten der Geschlechtsrollenidentität. In Wohnungsnot sind beide Geschlechter in einem erheblichen Ausmaß von Gewalt und Gewalterfahrungen betroffen, die wiederum geschlechtsspezifische Auswirkungen auf die Ursachen, Lebenslagen und Bedarfe von Menschen in Wohnungsnot haben. Das Männlichkeitskonzept der Hegemonialen Männlichkeit nach Connell (1999) bildet die hierarchische Geschlechterordnung ab. Auch Männer in Wohnungsnot orientieren sich maßgeblich an diesem Konzept und konstruieren ihre Geschlechtsrollenidentität mittels der Vorstellung Hegemonialer Männlichkeit (Abschnitt 4.2.3 Geschlecht und Gewalt).

Das Kapitel abschließend wird die besondere Bedeutung von Arbeit dargestellt. Arbeit ist dabei zum einen maßgeblich für die derzeit vorherrschende hierarchische Geschlechterordnung und zum anderen, als bedeutend für Armut und Armutserfahrungen, ein wesentlicher Baustein von Wohnungsnot Abschnitt 4.2.4 Geschlecht, Arbeit und Armut).

4.1 Geschlecht als Differenzierungskategorie

Geschlecht, als bestimmende Determinante gesellschaftlichen Zusammenlebens, hat eine Differenzierungsfunktion in der Gesellschaft. Dabei kann Geschlecht differenziert werden in Sex und Gender und auch in das Weibliche und das Männliche.

Sowohl Sex als auch Gender werden in der (westlichen) Gesellschaft in die Dichotomie weiblich und männlich eingeteilt (Connell, 2013, S. 17–19; Holland-Cunz, 2018, S. 7; Küppers, 2012, S. 4; Kuster, 2019). Diese Differenzierung erfolgt dabei über Fremdzuschreibungen und Selbstzuschreibungen, die jedem Individuum jederzeit eine Position in der Gesellschaft zuordnen (Küppers, 2012, S. 6–8; Wetterer, 2008). Intersektionalität und der von Winker und Degele (2009) entwickelten Intersektionalen Mehrebenenanalyse folgend, gehen die Positionen dabei einher mit hierarchischen Unterschieden (Küppers, 2012, S. 4; Kuster, 2019, S. 4) und Machterfahrungen (Holland-Cunz, 2018, S. 4–6) (siehe Kapitel 2 Theoretischer Bezugsrahmen: Intersektionalität und insbesondere Abschnitt 2.3 Intersektionalität als theoretischer Bezugsrahmen der Arbeit). Indes kann die Degradierung des Weiblichen zu Menschen zweiter Klasse inzwischen als überwunden angesehen werden (Abels et al., 2018, S. 28; Lenz, 2018, S. 27; Seibring, 2018, S. 3). Dennoch sind auch heute noch (hierarchische) Unterschiede in der dichotomen Differenzierung festzustellen (Holland-Cunz, 2018, S. 11; Kuster, 2019, S. 4; Meuser, 2019, S. 57). Dabei gilt: Mann und männlich sind weiterhin die Norm in der (westlichen) Gesellschaft (Goffman, 1972, S. 175). Klar ist aber auch, dass eine komplexe Analyse erforderlich ist, um Geschlechterunterschiede zu untersuchen, gibt es doch beispielsweise im Bereich der Armut – Armut ist ein inhärenter Bestandteil von Wohnungsnot – Beispiele, in denen Frauen besser abschneiden als Männer, wie beispielsweise der Erfolg von Mädchen und Frauen im Bildungssektor (Gerull, 2011, S. 76) oder die höhere Verschuldung von Männern (Gerull, 2011, S. 80). Jedoch haben Frauen insgesamt ein höheres Armutsrisiko als Männer (Wallner, 2010, S. 33).

Das ‚Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau‘ der Vereinten Nationen, welches 1980 in Kraft getretenen ist, formuliert daher das rechtsverbindliche Ziel der Gleichstellung (Klammer, 2019, S. 984)Footnote 1. Was Gleichstellung jedoch ist, was es bedeutet und wie es umgesetzt werden kann, ist auch unter Geschlechterforscher:innen sehr umstrittenFootnote 2 (Pimminger, 2019). Bedingt ist das zum einen durch Vielfalt und Unterschiedlichkeit der verschiedenen „»Sortierungen« feministischer »Wellen« und/oder »Strömungen«“ (Holland-Cunz, 2018, S. 6; mit einer guten Übersicht Holland-Cunz, 2018, S. 6–7; Lenz, 2018, S. 20–22) sowie zum anderen durch deutliche Abwehrmechanismen gegenüber ‚Gleichberechtigung‘ (Maurer, 2018; Schmincke, 2018). Lenz (2018, S. 20) benützt explizit den Plural um die Vielfalt und Unterschiedlichkeit abzubilden: Feminismen.

Intersektionalität entstanden aus der Kritik einer verengten Perspektive des Feminismus (Degele, 2019, S. 342–344; Winker & Degele, 2009, S. 11–12)  gilt als vielversprechender Ansatz, der, mit einem „Strömungen übergreifende[…][n] Potenzial“ (Winker & Degele, 2009, S. 14), einen Rahmen für diese Vielfalt und Unterschiedlichkeit bildet (Degele, 2019, S. 342). Holland-Cunz (2018, S. 11) nennt es „die aktuell bedeutende Kategorie, um die Komplexität von Herrschaft auch zwischen Frauen“ (Holland-Cunz, 2018, S. 11) zu beschreiben. Intersektionalität besitzt dabei, wie bereits dargelegt (siehe Kapitel 2 Theoretischer Bezugsrahmen: Intersektionalität), für die vorliegende Arbeit eine herausragende Bedeutung. Intersektionalität ist sowohl der theoretische Bezugsrahmen (siehe Abschnitt 2.3 Intersektionalität als theoretischer Bezugsrahmen der Arbeit) und das Analyseinstrument (siehe Abschnitt 2.4 Intersektionalität als Analyseinstrument) der vorliegenden Arbeit. Intersektionalität kann darüber hinaus als Ordnungsrahmen von Wohnungsnot definiert werden (siehe 2.5 Intersektionalität als Ordnungsrahmen für Wohnungsnot).

Entstanden aus der Kritik einer verengten Perspektive, definiert Intersektionalität Geschlecht als eine der bedeutenden Kategorien zur Analyse von sozialen Ungleichheiten. Auch im Kontext von Wohnungsnot, einem Ausdruck von besonderer sozialer Ungleichheit, nimmt Geschlecht und dessen Zusammenwirken mit anderen Kategorien, die Position einer bedeutenden Differenzierungskategorie ein.

Die vorliegende Arbeit versteht Geschlecht in seinen Differenzierungen zwischen Sex und Gender sowie zwischen männlich und weiblich. Die Debatte um das Verhältnis von Natur und Kultur, innerhalb der Geschlechterforschung höchst umstritten und kontrovers diskutiert (Kuster, 2019, S. 9), soll in der vorliegenden Arbeit nicht geführt werden. Ursachen, Lebenslagen und Bedarfe von Menschen in Wohnungsnot sind ebenso wie Stigmatisierung und Teilhabe von Menschen in Wohnungsnot bedingt durch dieses Zusammenwirken von Sex und Gender. Zwar wird Geschlecht in seiner Differenzierung in Sex und Gender verstanden, jedoch ist das Ziel der vorliegenden Arbeit die Untersuchung der Bedeutung von Geschlecht in seiner Gesamtheit. Auch praktisch ist eine Differenzierung zwischen Sex und Gender und einer jeweiligen Ursache und Wirkungsabfolge im Kontext von Wohnungsnot schwer umsetzbarFootnote 3. Dies entspricht darüber hinaus den neusten Erkenntnissen der Geschlechterforschung, die die wechselseitige Beziehung von Sex und Gender postulieren (Villa, 2019, S. 31).

Die binäre Einteilung in männlich und weiblich ist die Norm in der westlichen Gesellschaft (Kuster, 2019). Diese Zweiteilung ist jedoch sowohl für Sex als auch Gender nicht so einfach aufrechtzuerhalten. Die sozialbiologische Betrachtung unterscheidet drei verschiedene Möglichkeiten der Bestimmung des biologischen Geschlechts. Eine Unterscheidung ist sowohl mittels der Chromosomen, der Hormone sowie der äußeren sichtbaren Geschlechtsmerkmale möglich (Johow & Voland, 2012, S. 13). Dass diese drei Ausprägungen jedoch nicht homogen sind, kommt nur bei 0,2 % aller Geburten vor (Johow & Voland, 2012). Auch Gender kann nicht nur in männlich und weiblich eingeteilt werden. Die psychologische Forschung geht davon aus, dass Individuen sowohl männliche wie weibliche Charakteristika in wechselnder Kombination miteinander verbinden (Connell et al., 2013, S. 23). Spence et al. (1975) entwerfen dafür das Modell von einem männlichen und einem weiblichen Kontinuum auf dem das Individuum entweder hoch oder niedrig scoren kann. Runge et al. (1981) und mit der deutschen Übersetzung Goldschmidt et al. (2014) entwickelten eine Skala zur Messung der Geschlechtsrollenidentität, die in vier Ausprägungen der Geschlechtsrollenidentität mündet: Androgyn, Maskulin, Feminin und Undifferenziert (Goldschmidt et al., 2014, S. 92).

Die vorliegende Arbeit rekurriert auf dieser Annahme von vier verschiedenen Ausprägungen der Geschlechtsrollenidentität, die unabhängig vom biologischen Geschlecht ist. Dennoch wird aufgrund der heteronormativen Vorstellung einer Zweigeschlechtlichkeit und deren Bedeutung für Normen und Werte, die auch im Kontext von Wohnungsnot eine besondere Rolle einnehmen, die Unterscheidung in männlich und weiblich fortgeführt. Auch bei der Beantwortung der übergeordneten Fragestellung der vorliegenden Arbeit wird die heteronormative Vorstellung einer Zweigeschlechtlichkeit übernommen.

4.2 Geschlecht und Wohnungsnot

Das Hilfesystem der Wohnungslosenhilfe, entstanden aus der Hilfe für (männliche) Wanderarbeiter, ist auf die in der Wohnungslosenhilfe nach wie vor dominante Gruppe der männlichen Personen in Wohnungsnot ausgerichtet (Dubrow, 2009, S. 54). Erst „Ende der 1970er/1980er Jahre [kam es] durch Frauenbewegungen und Frauenforschung zu einem bedeutsamen Perspektivwechsel“ (Enders-Dragässer & Sellach, 2010, S. 196). Frauen, die in der Wohnungslosenhilfe arbeiteten, „begannen ihre Klientinnen als Frauen zu sehen“ (Enders-Dragässer & Sellach, 2010, S. 196) und stellten die Ausrichtung der Wohnungslosenhilfe auf Männer zur Debatte. Als Folge wurde in der Fachdiskussion die Heterogenität der Personengruppe herausgearbeitet (Enders-Dragässer & Sellach, 2010, S. 196). Zumeist von Frauenbewegungen initiiert, wurden berechtigten Forderungen nach frauenspezifischen Angeboten wie beispielsweise Notschlafstellen, Frauenhäusern und explizit auf Frauen ausgerichtete Beratungsstellen gestellt. Diese Forderungen sind heute akzeptiert und haben zur Anpassung und Erweiterung der Angebote geführt. Die Berücksichtigung geschlechterbedingter Besonderheiten ist inzwischen in der Durchführungsverordnung zur Umsetzung der Wohnungslosenhilfe nach §§ 67–67 SGB XII gesetzlich verankert. Jedoch konstatiert Rosenke (2017a, S. 306) zurecht, dass gerade in ländlichen Gebieten auch heute noch eine flächen- und bedarfsdeckende Hilfelandschaft für Frauen in Wohnungsnot fehle.

Insgesamt liegt die Geschlechterverteilung jedoch noch deutlich zu Lasten der Männer. Dafür gibt es vielfältige Erklärungen und Hypothesen, wie zum Beispiel die bereits angeführte Entwicklung des Hilfesystems und dessen Ausrichtung auf Männer. Auch das große Dunkelfeld im Zusammenhang mit weiblicher Wohnungsnot wird immer wieder angeführt (Ratzka, 2012, S. 1231). Dieses Dunkelfeld korrespondiert mit den Auswirkungen der Geschlechtsrollenidentität (Ratzka, 2012, S. 1231) und einer Zuteilung in einen öffentlichen männlichen Raum und einen privaten weiblichen Raum (Wildener & Berger, 2018, S. 4). Ein bedeutender Aspekt als Ursache aber auch als Folge von Wohnungsnot sind Gewalt und Gewalterfahrungen (Ratzka, 2012, S. 1235), die wiederum deutliche Geschlechterbesonderheiten aufweisen.

4.2.1 Geschlecht als Differenzierungskategorie im Kontext von Wohnungsnot

Der ‚Gender-Gap‘ zuungunsten der Männer verweist auffällig und deutlich auf die Bedeutung der Kategorie Geschlecht im Kontext von Wohnungsnot. Die Schätzung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe weist eine Verteilung von ca. 75 % männlichen Wohnungslosen zu 25 % weiblichen Wohnungslosen auf (Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e. V., 2017). Die aktuellsten Zahlen ergeben einen Anteil von 27 % weiblichen Wohnungslosen (Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e. V., 2020). Auch wenn durch eine möglicherweise falsche Datenlage – Frauen in Wohnungsnot leben häufig in einer verdeckten Wohnungsnot und werden daher bei statistischen Auswertungen nicht mit gezählt – die ungleiche Verteilung angeglichen oder sogar aufgehoben werden sollte, bleibt eine Unterscheidung in eine verdeckte und eine offene Wohnungsnot abhängig vom Geschlecht bestehen. Die Bedeutung der Kategorie Geschlecht ist – inzwischen – auch im Hilfesystem anerkannt und akzeptiert. Wohnungsnot war respektive wurde lange als rein männliches Phänomen wahrgenommen, heutzutage gelten Frauen hingegen als eigenständige Zielgruppe (Enders-Dragässer & Sellach, 2010, S. 195). Inzwischen sind „Frauenspezifische […] Ursachen und Erscheinungsformen der Wohnungs[not] und de[r] spezifische[…] Hilfebedarf von Frauen“ (Enders-Dragässer & Sellach, 2010, S. 195) sowie die Notwendigkeit frauenspezifischer Einrichtungen im Hilfesystem anerkannt. Ratzka (2012, S. 1230) konstatiert, dass es zahlreiche geschlechterspezifische Untersuchungen zum Thema Wohnungsnot gibt, die unter anderem unterschiedliche Ursachen von Wohnungsnot beobachtet haben.

So finden sich bei Frauen eher beziehungsorientierte Gründe […] wie das Scheitern einer Ehe oder Partnerschaft, der Ausbruch aus gewaltgeprägten Lebenszusammenhängen oder aus durch traditionelle Rollenverteilung erzeugten Abhängigkeiten im Familienverbund. Das bedeutet aber meist auch eine prekäre finanzielle Situation, da diese Frauen meist nur über wenige Möglichkeiten der eigenständigen Existenzsicherung aufgrund fehlender oder nur unsicherer Anbindung an den Erwerbsmarkt verfügen. Wohnungsverluste von Frauen ergeben sich daher vielfach aus einem Wechselspiel von Konflikten im sozialen Umfeld und der ökonomisch benachteiligten Rolle der Frauen in Zusammenhang mit traditionellen Geschlechterverhältnissen. (Ratzka, 2012, S. 1230)

Aus diesen eher frauenspezifischen Ursachen resultieren geschlechtsspezifische Bedarfe und Bewältigungsversuche (Ratzka, 2012, S. 1230). Dabei unterscheiden sich insbesondere die Armuts- und Gewalterfahrungen der Geschlechter deutlich (Enders-Dragässer & Sellach, 2010, S. 195). Dubrow (2009, S. 56) fasst die Studien von Fichtner (2005) und Enders-Dragässer und Sellach (2005) und deren wesentliche Erkenntnisse zusammen und benennt die Bereiche in denen ein unterschiedlicher Umgang der Geschlechter identifiziert wurde wie folgt:

  • Umgang mit der häufig bestehenden Erwerbslosigkeit

  • Umgang mit den damit einhergehenden geringen finanziellen Mitteln und vorhandenen Schulden

  • Nutzung des sozialen Handlungsspielraums

  • Umgang und Interpretation mit Gesundheit/Krankheit

  • Versorgung möglicher Kinder

  • Geschlechtsrollenspielräume

  • Betrachtung der Realität

  • Schutz und Selbstbestimmungsspielraum

    (Dubrow, 2009, S. 56)

Bereits an dieser Stelle wird deutlich, dass Geschlecht eine bedeutende (Differenzierungs-)Kategorie im Kontext von Wohnungsnot darstellt. Wenn jedoch im Kontext von Wohnungsnot Geschlecht thematisiert wird, „ist zumeist von Frauen die Rede, während die Zumutungen, die die Geschlechtszugehörigkeit für wohnungslose Männer mit sich bringt, und die Auswirkungen, die diese auf ihre Lebenslagen haben, kaum reflektiert werden“ (Steckelberg, 2018, S. 38)Footnote 4. R. Lutz und Simon (2017, S. 159–160) sprechen von einer geschlechtsblinden Männerforschung. Die vorliegende Arbeit liefert hier einen Beitrag zur Schließung dieser Lücke und fokussiert in den jeweiligen Untersuchungen beide Geschlechter. Neben den von Dubrow (2009, S. 56) benannten Bereichen, in denen ein unterschiedlicher Umgang der Geschlechter mit Wohnungsnot aufgeführt wird, gibt es auch statistisch messbare Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Die Daten des Statistikberichts der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe zeigen beispielsweise, dass Frauen in Wohnungsnot jünger sind, sich kürzere Zeit in Wohnungslosigkeit befinden und eine geringere – respektive fehlende – Berufsausbildung haben als Männer in Wohnungsnot (Rosenke, 2017b, S. 93). Rosenkes (2017b, S. 93) tabellarische Darstellung ihrer ‚Genderanalyse in den Hilfen in Wohnungsnotfällen‘ gibt einen guten Überblick über geschlechtsbezogene Unterschiede innerhalb der Personen in Wohnungsnot (siehe Tabelle 4.1).

Tabelle 4.1 Unterschiede zwischen Frauen und Männern in Wohnungsnot nach Rosenke (2017b, S. 93)

Zumeist wenig beachtet ist der Umstand, dass im Hilfesystem der Wohnungslosenhilfe primär Sozialarbeiterinnen arbeiten, die dort eine akzeptierte Rolle als Helferinnen einnehmen (Fichtner, 2005, S. 174). Die Rolle von Frauen als Sozialarbeiterinnen im Hilfesystem, bisher nicht betrachtet, wird in der vorliegenden Arbeit sowohl mittels der Dokumentenanalyse (siehe Abschnitt 8.3 Dokumentenanalyse) als auch der Interviewstudie (siehe Abschnitt 8.4 Leitfadeninterviews) untersucht.

4.2.2 Sex und Gender im Kontext von Wohnungsnot

Die Aufteilung von Geschlecht in Sex und Gender kann theoretisch auch im Kontext von Wohnungsnot vollzogen werden. Praktisch ist eine Differenzierung zwischen Sex und Gender und eine jeweilige Ursache und Wirkungsabfolge jedoch schwer umsetzbar, was auch den neusten Erkenntnissen der Geschlechterforschung entspricht, die „statt einer einfachen Gegenüberstellung von ‚Sex‘ (als Natur) und ‚Gender‘ (als Kultur), die […] wechselseitigen Verklammerung und Konstitutionsformen“ (Villa, 2019, S. 31) von Geschlechtlichkeit anerkenntFootnote 5. Zwar kann man festhalten, dass Männer, also Personen mit dem biologischen Geschlecht Mann, deutlich häufiger von Wohnungsnot betroffen sind. Die Ursachen, Folgen sowie die subjektiven Deutungsmuster und Handlungsmöglichkeiten sind jedoch bestimmt durch die Geschlechtsrollenidentität (Dubrow, 2009, S. 55). Komplex wird es dadurch, dass die Geschlechtsrollenidentität zum einen durch die heteronormative Gesellschaft vorgegeben ist, jedes Individuum sich jedoch auch in einem ständigen Prozess eine eigene Geschlechtsrollenidentität konstruiert (Gildemeister, 2010, S. 138; Küppers, 2012, S. 7–8). Dabei ist die Frage, welche gesellschaftlichen Bedingungen und Normen eine Rolle im Kontext von Wohnungsnot spielen und welche „subjektiven Deutungen von Lage und Handlungsmöglichkeiten selbst Teil einer Geschlechterkonstruktion von Wohnungslosen sind“ (Dubrow, 2009, S. 55).

Klar ist, dass Wohnungsnot und nicht nur das Hilfesystem ein männliches Phänomen sind. Das typische medial vermittelte Bild einer Person in Wohnungsnot ist das Bild eines „bärtige[n] alleinstehende[n] Mann[es] Mitte 50, der mit einer Flasche Bier in der einen und prall gefüllten Tüten in der anderen Hand in schmutziger Kleidung in der Innenstadt umherläuft“ (Wolf, 2016, S. 11). Diese „geschlechtsspezifische Erscheinungsweisen […] oder auch Probleme bei der Annahme von Hilfeangeboten“ (Ratzka, 2012, S. 1230–1231) verweisen ebenfalls auf die Bedeutung der Geschlechtsrollenidentität.

Diese Bedeutung und Auswirkung der sozial und historisch-kulturell geformten Geschlechtsrollenidentität, also Gender, auf die Lebenslagen und Bedarfe aber auch die Ursachen von Wohnungsnot wird im weiteren Verlauf des Kapitels dargestellt.

Unterschiede die identifiziert werden können, betreffen sowohl Geschlechtsrollenerwartungen wie auch die subjektive Deutung und Ausgestaltung der eigenen Geschlechtsrollenkonstruktion. Diese Unterschiede treten sowohl vor einer Wohnungsnot beziehungsweise Wohnungslosigkeit auf und bilden sich in unterschiedlichen Ursachen für eben diese ab, als das Unterschiede auch während der Wohnungsnot oder seiner extremsten Form der Wohnungslosigkeit identifiziert werden können. Bedeutenden Einfluss auf die Geschlechtsrollenerwartung hat die Einteilung in einen öffentlichen männlichen Raum, in dem Arbeit im Mittelpunkt steht und einen privaten weiblichen Raum, in dem Familie im Mittelpunkt steht (Wildener & Berger, 2018, S. 4).

Nach R. Lutz und Simon (2017, S. 161) sind die unterschiedlichen Ursachen bei Frauen „eher Gründe aus dem unmittelbaren Nahbereich der Frauen“ (H.i.O) und somit eher „beziehungsorientierte Gründe“, wohingegen bei „Männern eher strukturelle Anlässe wie Arbeitslosigkeit, Schulden, Wohnungsverlust durch Armut, Unfälle, aber auch Scheidungen und Trennungen“ als Ursachen identifiziert werden können. Nach Ratzka (2012, S. 1231) geraten Männer damit eher passiv in eine Wohnungsnot und Frauen verlassen zumeist aktiv die Wohnung. Zieht man dazu die typischen Merkmale von Gender hinzu, wie sie Goldschmidt et al. (2014) für ihre Skala zur Messung der Geschlechtsrollenidentität anführen – Männer sind demnach aktiv, unabhängig, (willens-)stark, selbstsicher, überlegen und leistungsorientiert. Frauen sind demnach gefühlsbetont, sanft, freundlich, herzlich, verständnisvoll und beziehungsorientiert (Goldschmidt et al., 2014, S. 98) –, wird deutlich, dass in Wohnungsnot oder bei Wohnungsverlust beide Geschlechter den Erwartungen an ihr Geschlecht nicht gerecht werden können. Sie entsprechen nicht der Norm, was sie wiederum gefährdet stigmatisiert zu werden. Hinzu kommt, dass die unterschiedlichen Ursachen mit der Einteilung in einen öffentlichen und einen privaten Raum korrespondieren. Bei Wohnungsnot oder Wohnungsverlust werden erneut beide Geschlechter den Erwartungen an ihrer Rolle (Arbeit und Leistung gegenüber Familie und Beziehungen) nicht gerecht.

Bei der Formulierung ‚beziehungsorientierte Gründe‘ muss festgehalten werden, dass es sich dabei um schwere Konflikte mit Gewalteskalationen in Herkunfts- und Gründungsfamilie handelt, die die objektiven Handlungsmöglichkeiten der Frauen durch die schwere persönliche Belastung begrenzen (Enders-Dragässer & Sellach, 2005, S. 49). R. Lutz und Simon (2017, S. 161) stellen aber auch klar, dass „Frauen […] auch ganz «traditionell» in die Wohnungslosigkeit“ (R. Lutz & Simon, 2017, S. 161) geraten, also insbesondere durch Mietschulden.

Beachtenswert ist, dass die Geschlechtsrollenidentität – neben unterschiedlichen Ursachen und einem unterschiedlichen Umgang mit Wohnungsnot (Dubrow, 2009, S. 56) – auch zu einer geschlechtsspezifischen Deutung der Ursachen von Wohnungsnot und Wohnungslosigkeit führt, obwohl diese (teilweise) aus den gleichen formalen Gründen entstanden sind. So geben Männer eher diese formalen Gründe, wie Arbeitslosigkeit oder (Miet-)Schulden an, wohingegen Frauen eher Gewalt, Beziehungsprobleme oder eine Alkoholabhängigkeit als Auslöser respektive Ursache von Wohnungsnot angeben (Enders-Dragässer & Sellach, 2005, S. 49).

Auch die individuelle Interpretation der Schuldzuschreibung an der aktuellen Situation beziehungsweise der Ursache der Wohnungsnot zeigt einen Geschlechterunterschied auf. Passend zu ihrer Geschlechterrolle beschreiben sich Männer zumeist als verantwortlich, also als aktive ‚Täter‘, für ihre Wohnungsnot (Fichtner, 2005, S. 168) wohingegen Frauen sich eher als passives ‚Opfer‘ ihrer Wohnungsnot sehen (Enders-Dragässer & Sellach, 2005, S. 48). Dieser individuellen Interpretation steht die objektive Ursachenbeschreibung von passiven Männern und aktiven Frauen (Ratzka, 2012, S. 1231) diametral gegenüber. In dieses Bild passt, dass Männer sich häufig als aktiv und autonom handelnde Personen sehen und wahrnehmen (Fichtner, 2005, S. 172). Daraus wiederum kann die Annahme gezogen werden, dass diese Selbstwahrnehmung und die Bedeutung der Geschlechtsrolle als stark und unabhängig wahrgenommen zu werden, ein bedeutender Grund ist, seltener und weniger Hilfe aufzusuchen und anzunehmen, als es Frauen tun (Fichtner, 2005, S. 172) (siehe Abschnitt 5.5 Zusammenwirken von Gesundheit und Geschlecht). Aus dieser geringeren Bereitschaft, Hilfe auch präventiv suchen und annehmen zu können, kann dabei wieder ein erhöhtes Risiko entstehen, seine Wohnung zu verlieren und in eine Obdachlosigkeit zu geraten.

Unter der Berücksichtigung von Sex und Gender werden die geschlechtsspezifischen Besonderheiten von Gesundheit respektive (psychischer) Krankheiten im Abschnitt 5.5 Zusammenwirken von Gesundheit und Geschlecht dargestellt. Gewalt und Gewalterfahrungen gelten in besonderem Maße bei Frauen als Auslöser von Wohnungsnot (Rosenke, 2017b, S. 93). Daneben muss auch Armut, die Wohnungsnot inhärent ist (Specht, 2017a, S. 29) und bei beiden Geschlechtern als Hauptursache identifiziert werden kann, in seiner Geschlechtsspezifität und insbesondere in Zusammenhang mit Gender betrachtet werden. Den Unterschieden mit Gewalt und Gewalterfahrungen (Abschnitt 4.2.3 Geschlecht und Gewalt) sowie Arbeit und Armut (4.2.4 Geschlecht, Arbeit und Armut) wird dabei jeweils ein eigenständiges Kapitel zuteil.

Auch beim Umgang mit akuter Wohnungsnot und seinen extremsten Ausprägungen der Wohnungs- beziehungsweise Obdachlosigkeit können Geschlechterunterschiede identifiziert werden. Enders-Dragässer und Sellach (2005, S. 49) sowie explizit R. Lutz und Simon (2017, S. 163–165) konstruieren drei Typen weiblicher Wohnungsnot:

  • Sichtbare Wohnungsnot

  • Verdeckte Wohnungsnot

  • Latente Wohnungsnot

Die drei Typen können jedoch nicht das komplette Bild weiblicher Wohnungsnot abbilden und werden von R. Lutz und Simon (2017, S. 163) aufgrund ihrer rasterförmigen Einteilung kritisch betrachtet. Infolge der Relevanz für betroffene Frauen und dem engen Zusammenhang mit Geschlechterrollen, wird an dieser Stelle ein vierter Typ konstruiert:

  • Plötzliche Wohnungsnot

Die Plötzliche Wohnungsnot ist zumeist ein Produkt der Latenten Wohnungsnot aber dadurch gekennzeichnet, dass betroffene Frauen explizit vor Gewalt fliehen und Zuflucht in Frauenhäusern suchen. Nach R. Lutz und Simon (2017, S. 164) setzt sich die eher kleine Personengruppe der Latenten Wohnungsnot sowohl aus Frauen zusammen, die „in gewaltbedrohten Verhältnissen leben […] [und] Frauen, die in Bordellen und Hostessenwohnungen leben oder in Arbeitsunterkünften untergebracht sind“ (R. Lutz & Simon, 2017, S. 164). Diese Personengruppe gilt nach der Definition von Wohnungsnot zur Gruppe der Menschen die von Wohnungslosigkeit bedroht sind. Insbesondere die gewaltbedrohten Verhältnisse sind der Ausgangspunkt für die Plötzliche Wohnungsnot.

Die Gruppe der Verdeckten Wohnungsnot ist laut R. Lutz und Simon (2017, S. 164) die größte Gruppe innerhalb der Typisierung. Die Frauen dieser Gruppe leben zumeist nicht auf der Straße oder suchen Hilfsangebote auf und sind somit schwer zu erfassen und zu zählen. Diese Frauen vermeiden es, sichtbar zu werden, um Gewalthandlungen und männliche Verhaltensmuster (siehe Hegemoniale Männlichkeit) zu vermeiden, dabei begeben sie sich jedoch häufig in die (zeitliche) Abhängigkeit eines Mannes (R. Lutz & Simon, 2017, S. 164). Den Zweck dieser Abhängigkeit beschreiben R. Lutz und Simon (2017, S. 164) wie folgt: „Sie erhalten dadurch eine gewisse Basisversorgung und ihr Status, eine Frau zu sein, wird nicht in Abrede gestellt“. Jedoch führen diese „zweckorientierten Partnerschaften“ (R. Lutz & Simon, 2017, S. 164) in eine neue und äußerst prekäre Abhängigkeit, die durch sexualisierte Gewalt geprägt ist und keine soziale Absicherung beinhaltet. R. Lutz und Simon (2017, S. 164) begründen dieses Verhalten damit, „dass Frauen sich ihrer Notlage schämen und versuchen, möglichst lange ohne institutionelle Hilfe auszukommen“ (R. Lutz & Simon, 2017, S. 164). Dieses Bild widerspricht allerdings den Feststellungen von Rosenke (2017b, S. 93), die festhält, dass Frauen deutlich häufiger die Angebote der Hilfen im Wohnungsnotfall aufsuchen, wenn sie noch in der eigenen Wohnung leben. Aufgrund der Dunkelziffer der Verdeckten Wohnungsnot kann hier kein Licht ins Dunkel und keine Aufklärung in diesen Widerspruch gebracht werden. Denkbar ist, dass sowohl R. Lutz und Simon als auch Rosenke richtig liegen. Obwohl Frauen ebenso wie Männer Probleme haben, Hilfen aufzusuchen, könnte für Männer das Aufsuchen und Zulassen von Hilfen eine größere Hürde darstellen als für Frauen – was den typischen Merkmalen einer männlichen Geschlechterrolle entsprechen würde –, sodass immer noch mehr Frauen die Hilfsangebote aufsuchen bevor sie ihre Wohnung verlieren.

Die dritte Gruppe, die Sichtbare Wohnungsnot, umfasst diejenigen weiblichen Personen, die sichtbar auf der Straße leben. Es handelt sich dabei zahlenmäßig um eine eher kleine Gruppe. Nicht nur innerhalb der Gesamtgruppe der Menschen in Wohnungsnot sondern auch im Spektrum weiblicher Wohnungsloser ist weibliche Sichtbare Wohnungsnot ein Randphänomen (R. Lutz & Simon, 2017, S. 164). Widersprüchlicherweise postulieren R. Lutz und Simon (2017, S. 164), dass Frauen, die auf der Straße leben, eine besondere Aufmerksamkeit zuteilwird, die um Sympathie für ebendiese wirbt. Gleichzeitig postulieren sie, dass diese Frauen in Sichtbarer Wohnungsnot eine extreme öffentliche Abwertung wiederfahren. Diese Abwertung, so behaupten sie, sei schlimmer als die Stigmatisierung, denen Männer in Wohnungsnot ausgesetzt seien (R. Lutz & Simon, 2017, S. 164). R. Lutz und Simon begründen diese massive Abwertung weiblicher Sichtbarer Wohnungsnot mit dem Verlassen des ihnen vorgesehenen Raums der Ehe und der Familie (R. Lutz & Simon, 2017, S. 164). Enders-Dragässer und Sellach (2010, S. 197) erweitern diese weiblichen Personengruppe um aus der Haft entlassende Frauen sowie Prostituierte, die ebenso massiver Abwertung und Stigmatisierung ausgesetzt sind. Auch sie begründen die Abwertung mit der Abweichung dieser Frauen von gesellschaftlichen Weiblichkeitsvorstellungen (Enders-Dragässer & Sellach, 2010, S. 197). Dabei übersehen sie jedoch, dass auch Männer ihre vorgesehene Rolle als Geldverdiener und Leistungserbringer nicht gerecht werden können. Die Frage, ob männliche oder weibliche Sichtbare Wohnungsnot mehr stigmatisiert wird, ist demnach weiterhin offen. Die Frage wird im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit in der Untersuchung der Öffentlichen Stigmatisierung (Kapitel 7: Zugang 1: Öffentliche Stigmatisierung) aufgegriffen und beantwortet.

Über die vier Typen hinweg ist die Lebenssituation von Frauen geprägt durch die traditionelle Rollenverteilung und die damit einhergehende Zuschreibung von Verantwortung für Familie und Kinder. Frauen in Wohnungsnot, die Kinder haben, sind vor erhebliche Probleme gestellt falls ein Wohnungsverlust nicht verhindert werden kann. Denn es droht die Konsequenz einer Fremdunterbringung des/der Kindes/r (Rosenke, 2017a, S. 313). Das Hilfesystem der Wohnungslosenhilfe ist auf alleinstehende zumeist männliche Personen ausgerichtet und es fehlen Strukturen und Bestimmungen, die eine Hilfe mit Kind zulassen (Specht, 2017c, S. 44). Rosenke (2017a, S. 313) fordert daher Hilfsangebote für „alleinerziehende Frauen, für Schwangere [und] für Familien mit Kindern“ (Rosenke, 2017a, S. 313) vorzuhalten, die eine Fremdunterbringung verhindern können. Des Weiteren können Hilfen des Jugendamtes, wie beispielsweise sozialpädagogische Familienhilfe nach § 31 SGB VII, die häufig präventiv auch einen Hilfebedarf im Kontext Wohnung abdecken, eine weitere Erklärung für den bestehenden Unterschied in der Geschlechterverteilung liefern.

Für männliche Wohnungslose kann eine dezidierte Typisierung nicht ausgemacht werden. Die ausgiebigen qualitativen Untersuchungen zu Deutungsmustern und Lebenslagen bei Wohnungsnotfällen von Männern (Fichtner, 2005) und Frauen (Enders-Dragässer & Sellach, 2005) zeichnet sich dadurch aus, erstmalig sowohl Frauen als auch Männer in den Blick zu nehmen. Fichtner (2005) stellt dabei zwar keine Typisierung männlicher Wohnungsnot vor, doch gibt er einen ausführlichen Überblick über die Bedeutung der männlichen Geschlechtsrollenidentität im Kontext von Wohnungsnot.

Fichtner (2005) verweist mit seinen Ausführungen auf die bereits erwähnte Bedeutung der Einteilung in einen öffentlichen männlichen Raum und einen privaten weiblichen Raum (Wildener & Berger, 2018, S. 4) auf die eher strukturellen Anlässe männlicher Wohnungsnot (R. Lutz & Simon, 2017, S. 161) sowie die typischen Merkmale der männlichen Geschlechtsrollenidentität wie Aktivität, Willensstärke, Selbstsicherheit und Leistungsorientierung (Goldschmidt et al., 2014, S. 94).

Dass Arbeit ein zentraler Bestandteil männlicher Geschlechtsrollenidentität ist, wird beim Fehlen einer solchen Arbeit, also der Arbeitslosigkeit deutlich (siehe Abschnitt 4.2.4 Geschlecht, Arbeit und Armut). Fichtner (2005, S. 171) stellt für Männer in Wohnungsnot fest, dass sie aufgrund ihrer Arbeitslosigkeit ein starkes Gefühl von Demütigung entwickelten, welches die weitere berufliche Motivation massiv untergrabe. Insgesamt hält Fichtner (2005, S. 171) fest, dass Männer in Wohnungsnot keine bis kaum Möglichkeiten haben, einen Ausgleich zu den psycho-physische Belastungen der Wohnungsnot herzustellen. „Wohnungslose Männer sind […] auch durch Armut an sozialen Netzen gekennzeichnet“ (Fichtner, 2005, S. 169), was sie deutlich von wohnungslosen Frauen unterscheidet, die durch ihre sozialen Kontakte Unterstützung, Wertschätzung und Ablenkung erfahren können (Enders-Dragässer & Sellach, 2005, S. 132). Entlastungen aber auch Belastungen durch Vaterschaft, Familienzugehörigkeit, Ehe oder Partnerschaft sind bei Männern in Wohnungsnot kaum auszumachen (Fichtner, 2005, S. 173).

Entgegen der von Albrecht (1990, S. 32) angeführten Überlegungen einer mangelhaften kommunikativen Kompetenz sowie Problemlösekompetenz von Männern in „Unterschichtsfamilien“ weist Fichtner (2005, S. 169) darauf hin, keine generalisierbaren sozialen Defizite bei Männern in Wohnungsnot sondern die mangelnde Nutzung von sozialen Netzen feststellen zu könnenFootnote 6. Darüber hinaus zeigen viele Männer in Wohnungsnot Probleme, Hilfsangebote aufsuchen und wahrnehmen zu können. Als Begründung führt Fichtner (2005, S. 172) die subjektiv wahrgenommen Einschränkung der eigenen Autonomie sowie Handlungsspielräume an. Inwieweit psychische Krankheiten bei der geringen Inanspruchnahme von Hilfen bei Männern in Wohnungsnot eine Rolle spielen, kann (bisher) nicht geklärt werden (siehe Abschnitt 5.5 Zusammenwirken von Geschlecht und Gesundheit).

Der Versuch einer Regeneration findet bei Männern mittels der „dysfunktionalen Kompensation von Belastung“ durch Alkohol statt (Fichtner, 2005, S. 171). Alkohol führt jedoch dazu, dass sich die Situation erheblich verfestigt oder sogar verschlechtert und sie darüber hinaus auch einer größeren Stigmatisierung ausgesetzt sind (siehe Abschnitt 5.3 Gesundheit, Krankheit und Stigmatisierung).

Ein weiterer deutlicher Verweis auf die Bedeutung der Geschlechtsrollenidentität findet sich sowohl in der subjektiven Einschätzung eigener Handlungsspielräume sowie Autonomie als auch in der subjektiven Einschätzung des eigenen Gesundheitszustandes. Bereits in der Deutung der Ursache der eigenen Wohnungsnot bewerten Männer, wie dargestellt und entgegen der objektiven Beschreibung als passiver Akteur, „die Aufgabe der letzten Wohnung als eigenes, aktives Handeln“ (Fichtner, 2005, S. 172). Auch wenn Männer eine eigene Überforderung bei der Vermeidung eines Wohnungsverlustes artikulieren, stellen sie doch ihre eigene aktive Verantwortung in den Vordergrund (Fichtner, 2005, S. 172). Männer sehen sich dementsprechend eher als aktive Täter (Fichtner, 2005, S. 168), wohingegen, wie bereits dargelegt, Frauen sich eher als passive Opfer beschreiben (Enders-Dragässer & Sellach, 2005, S. 48). Auch in der Bewertung der aktuellen Wohnungsnot betonen Männer „ihre Autonomie und ihre fortbestehenden Handlungsspielräume“ (Fichtner, 2005, S. 172). Dieser subjektiven Einschätzung stehen jedoch die tatsächlichen und objektiv äußerst geringen „Dispositions- und Partizipationsspielräume“ (Fichtner, 2005, S. 172) entgegen. Diese Spielräume bezeichnet Fichtner (2005, S. 172) als „nicht dazu geeignet, eine grundlegende Veränderung der Lebenssituation zu bewirken“. Eine ähnliche Diskrepanz zwischen subjektiver und objektiver Wahrnehmung bei Männern in Wohnungsnot kann für den Bereich der Gesundheit festgestellt werden. So beschreibt Fichtner (2005, S. 175) äußerst gravierende gesundheitliche Beeinträchtigungen, die jedoch von den Betroffenen bagatellisiert werden (siehe Abschnitt 5.5 Zusammenwirken von Gesundheit und Geschlecht).

Dubrow (2009, S. 55) stellt zu recht „[d]ie Frage, wie die[…] subjektiven Deutungen von Lage und Handlungsmöglichkeit selbst Teil einer Geschlechterkonstruktion von Wohnungslosen sind“. Die eigene Geschlechtsrollenkonstruktion, das ‚Doing-Gender‘ (Gildemeister, 2010, S. 137–138; Küppers, 2012, S. 7–8) passiert auch in einer Situation wie Wohnungsnot. Wie diese bei wohnungslosen Frauen und Männern aussieht, ist nicht eindeutig zu klären. Der geschlechtsspezifische Umgang von Männern und Frauen liefert jedoch Erklärungsansätze. Für Frauen scheint die Konstruktion einer eigenen weiblichen Geschlechterrolle in Wohnungsnot schwierig zu sein, weswegen sie eine Sichtbare Wohnungsnot versuchen zu vermeiden. Männer hingegen “bewegen sich […] oft wie »selbstverständlich«“ (Fichtner, 2005, S. 174) in männerdominierten Räumen. Diese Dominanz fußt dabei, laut Fichtner (2005, S. 174), auf der bloßen quantitativen „Geschlechterverteilung […] [aber] auch auf Regelsetzung und Anerkennung von Zugehörigkeit“ (Fichtner, 2005, S. 174). Interessant ist, dass dabei Sozialarbeiterinnen, welche primär im Hilfesystem arbeiten, diese Geschlechtshomogenität durchbrechen aber eine akzeptierte Rolle als Helferinnen übernehmen (Fichtner, 2005, S. 174). Die Frage, wie diese Akzeptanz zustande kommt, beantwortet Fichtner (2005) nicht. Die Vermutung, dass diese Akzeptanz wiederum auch in die klischeehafte Rolle, der sich sorgenden und kümmernden Frau fällt, liegt hier nahe, muss aber eine unbestätigte Annahme bleiben.

Neben dieser Alltagspraxis verweist Fichtner (2005, S. 174) auf die Bedeutung von Deutungsmustern in Bezug auf Männlichkeit und ein ‚Doing-Gender‘ von Männern in Wohnungsnot. Er stellt dabei in seiner Untersuchung fest, dass sich Männer in Wohnungsnot an einer Hegemonialen Männlichkeit orientieren, die durch die „Vorstellung von geschlechtlicher Arbeitsteilung und männlicher Macht“ (Fichtner, 2005, S. 174) geprägt ist. Diese Orientierung erstaunt, stehen doch gerade diese zwei Aspekte im Gegensatz zu der Lebenssituation von Menschen in Wohnungsnot. Männer in Wohnungsnot haben zumeist keinen Beruf und keine Macht, jedoch, so eine Annahme, versuchen Männer Macht und ein Durchsetzen individueller Interessen über dieses klassische Bild von Männlichkeit zu legitimieren (Fichtner, 2005, S. 174; Ratzka, 2012, S. 1231).

Insgesamt muss eine Beschreibung der auch selbstzugeschriebenen und angeeigneten Rolle als aktiver, selbstverantwortlicher Täter von Männern in Wohnungsnot durch das Hilfesystem und Forscher:innen kritisch betrachtet werden. Im Vergleich zu Frauen in Wohnungsnot, die häufig als Opfer aus gewaltgeprägten Umständen fliehen mussten, ist die Zuschreibung einer eher aktiven Rolle für Männer in Wohnungsnot auch aufgrund der männlichen Geschlechtsrollenidentität naheliegend. Diese birgt jedoch die Gefahr einer Individualisierung und Verantwortungszuschreibung der Lebenssituation von Männern in Wohnungsnot, welche inzwischen zu Recht als überwunden angenommen wird (siehe Abschnitt 3.5 Erklärungsansätze von Wohnungsnot) und entspricht zumeist nicht der Passivität, die Ratzka (2012, S. 1231) bei einer Wohnungsnot bei Männern identifiziert.

Auch die Situation von Frauen respektive deren Umgang mit der Wohnungsnot ist ambivalent. So suchen sie nach eigenen Lösungen, um nicht der Abwertung einer gescheiterten Weiblichkeit ausgesetzt zu sein und nicht als passives Opfer zu agieren, sondern aktiv Handelnde zu sein. Ihre Lösungsstrategien, die Vermeidung von Hilfen und das Leben in einer verdeckten Wohnungsnot bergen jedoch zugleich die Gefahr neuer Traumatisierungen durch prekäres ‚mitwohnen‘ in Zwangsgemeinschaften (Rosenke, 2017a, S. 303). Die aktive Flucht und der gleichzeitige Versuch gesellschaftliche Geschlechtsrollenerwartungen aufrechtzuerhalten, kann zu neuen gewaltgeprägten Lebensumständen führen. Sind Frauen jedoch obdachlos, machen sich diese männlich orientierte Taktiken der Raumaneignung durch Gewalt zu Gebrauch (Enders-Dragässer & Sellach, 2005, S. 129).

4.2.3 Geschlecht und Gewalt

Gewalt und Gewalterfahrungen nehmen einen zentralen Stellenwert im Kontext von Wohnungsnot ein. Beide Geschlechter sind in einem erheblichen Ausmaß von Gewalt betroffen, doch haben die unterschiedlichen und geschlechtsspezifischen Lebenslagen sowie die unterschiedlichen Geschlechtsrollenidentitäten einen immensen Einfluss auf diese Gewalt und Gewalterfahrungen (Enders-Dragässer & Sellach, 2005, S. 162, 2010; Fichtner, 2005, S. 175; R. Lutz & Simon, 2017, S. 160–162; Ratzka, 2012, 1225, 1231, 1243).

Neben der fehlenden eigenen Wohnung als Schutzraum gegenüber Übergriffen durch andere Menschen (Neupert, 2019, S. 221), werden Menschen in Wohnungsnot aufgrund bestimmter Merkmale und Umstände leichter zu Opfern von Gewalt. Zu diesen Umständen zählt Giffhorn (2017b, S. 279)

sichtbare körperliche und/oder psychische Schwäche beziehungsweise Krankheit, der Aufenthalt in (Not-)Unterkünften ohne ausreichende Gewaltprävention, Konflikte um knappe (materielle) Ressourcen im sozialen Umfeld, der Aufenthalt in entsprechenden »Szenen« mit hohem Alkoholkonsum und niedrigen gewaltfreien Konfliktlösungsfähigkeiten und die Ausübung kleinkrimineller Überlebensstrategien. (Giffhorn, 2017b, S. 279)

Auch wenn Giffhorn zurecht ein erhöhtes Risiko einer Straffälligkeit aufgrund der besonderen Lebenssituation aufführt, muss festgehalten werden, dass entgegen des typischen Bildes eines angeblichen kriminellen ‚Landstreichers‘ und der damit einhergehenden Stigmatisierung, Menschen in Wohnungsnot weniger eine Gefahr für ‚Normalbürger‘ darstellen als umgekehrt ‚Normalbürger‘ eine Gefahr für Menschen in Wohnungsnot sind (Ratzka, 2012, S. 1243)Footnote 7. „Gewalt gegen wohnungslose und sozial ausgegrenzte Menschen ist ein alltägliches Phänomen in unserer Gesellschaft“ (Giffhorn, 2017b, S. 275). Schwerste Misshandlungen, Mordversuche und Tötungen von Menschen in Wohnungsnot werden immer wieder publik (Ratzka, 2012, S. 1243 und Giffhorn, 2017b, S. 275–280 mit einer guten Übersicht). Diese teils massive Gewalt ist Ausdruck von Abwertung und Entmenschlichung (Giffhorn, 2017b, S. 277) und die massivste Folge von Ausgrenzungsprozessen und Stigmatisierung gegenüber Menschen in Wohnungsnot (Gerull, 2018b, S. 35–36). Gewalt und die Gewalterfahrungen von Menschen in Wohnungsnot sind somit ein zentrales Thema der vorliegenden Arbeit und bedürfen der besonderen Betrachtung im Kontext des Zusammenwirkens von Wohnungsnot, Stigmatisierung und Geschlecht.

Die Gewalt gegen Menschen in Wohnungsnot wird als Hasskriminalität in der Statistik zur Erfassung politisch motivierter Kriminalität (kurz PMK) des Bundeskriminalamtes aufgeführt und ausgewertet (Pollich, 2019, S. 202). Zur Hasskriminalität gehören Straftaten, die sich gegen Personen bestimmter Gruppen richtet, „die beispielsweise aus Gründen ihrer Nationalität oder Religion, aber auch aufgrund ihres gesellschaftlichen Status angegriffen werden“ (Gerull, 2018b, S. 36; und Coester, 2020). Diese Gewalt gegenüber Menschen in Wohnungsnot und insbesondere Wohnungslosigkeit und Obdachlosigkeit wird auch als Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit bezeichnet (Giffhorn, 2017b, S. 277). Eine solche Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ist „integraler Bestandteil faschistischer beziehungsweise nationalsozialistischer Ideologie“ (Giffhorn, 2017b, S. 277), weswegen insbesondere Rechtsextreme immer wieder als Täter gegenüber Menschen in Wohnungsnot auffallen (Simon, 2020)Footnote 8. Pollich (2015, S. 312) führt jedoch auf, dass „[e]rst durch eine gesellschaftliche Billigung der Abwertung bestimmter Gruppen […] ein Gefühl der Legitimität derartiger Übergriffe entstehen“ (Pollich, 2015, S. 312, 2020) kann. Die Zahl getöteter Menschen in Wohnungsnot seit 1989 liegt mindestens bei 461, hinzu kommen mindestens 1265 (teilweise) schwere Körperverletzungen (Giffhorn, 2017b, S. 275). Da jedoch Gewalt gegen Menschen in Wohnungsnot zumeist wenig gesellschaftliche Beachtung geschenkt wird und nicht immer statistisch erhoben wird, ist davon auszugehen, dass „das »wahre« Ausmaß der Gewalt gegen wohnungslose Menschen“ (Pollich, 2019, S. 201) nicht erfasst wird und im Dunkeln bleibt (Neupert, 2019, S. 228–230). Dabei ist insbesondere für Frauen, die von Gewalt betroffen sind, von einem großen Dunkelfeld auszugehen (Giffhorn, 2017b, S. 275), da diese, wie bereits beschrieben, häufig von sexualisierter und somit scham- und angstbesetzter Gewalt betroffen sind und häufig in ökonomischer Abhängigkeit von männlichen Tätern leben (Giffhorn, 2017b, S. 275; Neupert, 2019, S. 226).

Gewalt und Gewalterfahrungen sowie gewaltgeprägte Lebensumstände sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart nehmen für Frauen eine zentrale Rolle in ihrem Leben ein (Rosenke, 2017a, S. 306). Dabei sind (sexualisierte) Gewalterfahrungen

  1. 1.

    häufig Ursache für die Lebenslage Wohnungsnot (Enders-Dragässer & Sellach, 2010, S. 200; Ratzka, 2012, S. 1231; Rosenke, 2017a, S. 302),

  2. 2.

    Teil der verdeckten Wohnungsnot von Frauen (Giffhorn, 2017b, S. 275; R. Lutz & Simon, 2017, S. 164; Ratzka, 2012, S. 1231; Rosenke, 2017a, S. 303) sowie

  3. 3.

    inhärenter Bestandteil vom Leben auf der Straße (Giffhorn, 2017b, S. 279) und dem Leben innerhalb von Hilfeeinrichtungen (Giffhorn, 2017b, S. 275; Rosenke, 2017a, S. 309).

Welche gesundheitlichen Probleme durch Gewalterfahrungen und Traumatisierungen im Kontext von Wohnungsnot entstehen können und wie diese die Lebenslagen von Frauen in Wohnungsnot beeinflussen, ist bisher kaum erforscht (Foschungsverbund Wohnungslosigkeit und Hilfen in Wohnungsnotfällen, 2005, S. 112). Trabert (2005, S. 166) führt zu Recht die Bedeutung des frauenspezifischen Phänomens der Traumata an (siehe auch Abschnitt 5.5 Zusammenwirken von Gesundheit und Geschlecht). Die subjektive Bedeutungszuschreibung von Gewalt als Ursache für die Wohnungsnot ist hoch, jedoch „werden in der medizinischen Versorgung Symptome und Krankheiten noch nicht systematisch als Folge häuslicher Gewalt wahrgenommen“ (Foschungsverbund Wohnungslosigkeit und Hilfen in Wohnungsnotfällen, 2005, S. 112; siehe Abschnitt 5.5 Zusammenwirken von Geschlecht und Gesundheit). Klar ist, dass Frauen in Wohnungsnot Schutz vor der Dominanz und Gewalt von Männern benötigen (Enders-Dragässer & Sellach, 2010, S. 195). Daraus resultieren die berechtigten Forderungen nach frauenspezifischen Angeboten (Rosenke, 2017a, S. 306).

Auch die Lebenswirklichkeiten von Männern in Wohnungsnot sind massiv durch Gewalt geprägt (Fichtner, 2005, S. 175). Männer in Wohnungsnot machen dabei sowohl Erfahrungen als Gewaltopfer als auch als Täter von Gewalt (Fichtner, 2005, S. 175). Werden Männer in Wohnungsnot Gewalttäter, handelt es sich dabei, wie bereits erwähnt, nicht um Gewalttaten gegenüber ‚Normalbürgern‘ sondern um Taten innerhalb der Subgruppe respektive der ‚Szene‘ der Menschen in Wohnungsnot (Giffhorn, 2017b, S. 276). Wohnungslose Männer deuten diese als ‚körperliche Konflikte‘ die „als milieutypisch und normadäquates Verhalten bagatellisiert“ (Fichtner, 2005, S. 125) werden. Diese Vorstellung Hegemonialer Männlichkeit wird im weiteren Verlauf des Kapitels erneut aufgegriffen und dort spezifiziert. Diese Gewalttaten zur Herstellung oder Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung können jedoch, insbesondere unter Alkoholeinfluss, sehr massiv sein (Giffhorn, 2017b, S. 276). Dabei ist die Gewalt von männlichen Tätern gegenüber weiblichen Opfern häufig sexualisiert (Giffhorn, 2017b, S. 276).

Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema Gewalt und Gewalterfahrungen von Menschen in Wohnungsnot ist bisher nur in Ansätzen auszumachen (siehe insbesondere Pollich (2012, 2015, 2019) und Neupert (2019) sowie die Erhebung der BAG W, Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e. V. (2019a)). Dies erklärt auch die Diskrepanz zwischen der Erhebung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e. V. (2019a), die mehr Todesfälle durch Gewalt durch Täter in Wohnungsnot aufführt, und den Ausführungen von Pollich (2015, S. 322), die eine erhöhte Zahl (versuchter) Tötungen durch nicht-wohnungslose Täter feststellt. Weil deutlich mehr Männer als Frauen in Wohnungsnot ‚Platte machen‘, also auf der Straße leben und schlafen, sind sie vermehrt diesen teils massiven Angriffen auf der Straße ausgesetzt. In der Untersuchung von Fichtner (2005, S. 125) berichten Männer in Wohnungsnot „von für sie völlig unvorhersehbaren, teilweise lebensgefährlichen Angriffen“ (Fichtner, 2005, S. 125).

Der nicht binäre Blick auf Geschlecht kommt in der vorliegenden Arbeit aufgrund der übergeordneten Fragestellung zumeist zu kurz, scheint an dieser Stelle jedoch angebracht. Menschen in Wohnungsnot, die keine eindeutige Geschlechterzugehörigkeit sowie heteronormative Sexualität haben (wollen), sind in besonderem Maße von Gewalterfahrungen bedroht (Giffhorn, 2017b, S. 277). Die traditionelle heteronormative Geschlechterverteilung dient vielen Männern in Wohnungsnot als Orientierung, das Nicht-Entsprechen dieser Norm führt dabei zu Abwertung und Marginalisierung. Auch wenn Männer in Wohnungsnot ebenso wie Frauen in Wohnungsnot von Gewalt und Gewalterfahrungen in der Herkunftsfamilie berichten (Fichtner, 2005, S. 125), orientieren sich Männer in Wohnungsnot an den Vorstellungen Hegemonialer Männlichkeit und der damit einhergehenden Möglichkeit, Gewalt aktiv einzusetzen (Ratzka, 2012, S. 1231). Männer in Wohnungsnot benutzen Gewalt aktiv zur Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung im Milieu (Fichtner, 2005, S. 125), um sich somit Zugang zu gesellschaftlicher Macht anzueignen (Ratzka, 2012, S. 1231). Somit ergibt sich die Ambivalenz, dass Männer in Wohnungsnot aufgrund ihres ‚Verstoßes‘ gegenüber traditionellen Erwartungen des Ernährers und Familienoberhauptes für eine marginalisierte Männlichkeit stehen und sich zugleich diese traditionellen Normen aneignen, um selbst Machtpositionen zu erlangen und zu verteidigen (Ratzka, 2012, S. 1231).

Hegemoniale Männlichkeit

Das Konzept der Hegemonialen Männlichkeit von Connell (1999) ist das Leitkonzept der sozialwissenschaftlichen Männlichkeitsforschung (Connell et al., 2013, S. 9). Hegemoniale Männlichkeit und dessen Verständnis von Macht- und Reproduktionsbeziehungen (Connell, 2015b, S. 127) kann auch zur Erklärung der Geschlechtskonstruktion von Männern in Wohnungsnot herangezogen werden (Ratzka, 2012, S. 1231). Fichtner (2005) zeigt in seiner Untersuchung von Männern in Wohnungsnot, dass diese sich überwiegend am Männlichkeitskonzept der Hegemonialen Männlichkeit orientieren (Fichtner, 2005, 137–142; 145–155). Aufgrund der Begrenztheit der vorliegenden Arbeit wird das Konzept der Hegemonialen Männlichkeit nur kurz in seinen Grundzügen dargestellt. Die Hegemoniale Männlichkeit mit ihrem Fokus auf Macht-und Ungleichheitsdimensionen weist eine enge Verbindung zum Konzept der Intersektionalität auf. Connell selbst (2015b, S. 128) verweist auf die entscheidende Bedeutung der Erkenntnis von der ‚Überschneidung‘ verschiedener Kategorien für die Analyse von Männlichkeit.

Die Hegemoniale Männlichkeit ist ein Konzept, das die derzeit vorherrschende Dominanz der Männer und Unterordnung der Frauen erklärt beziehungsweise ein Konzept, das die derzeitig akzeptierte Struktur der Geschlechterverhältnisse abbildet (Connell, 2015b, S. 130–131). Das soziale Geschlecht ist für Connell (2015b, S. 124–126) das Produkt und zugleich die Struktur von sozialen PraxenFootnote 9. Somit behandelt auch die Hegemoniale Männlichkeit die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft und weist dabei eine hohe Ähnlichkeit zur Intersektionalität auf (siehe Abschnitt 2.1 Was ist Intersektionalität?).

Connell (2015b, S. 127) entwirft zur Analyse sowie Darstellung der Struktur von Geschlecht ein dreistufiges Modell und unterscheidet dabei zwischen Macht, Produktion und emotionaler Bindungsstruktur. Macht ist dabei die wichtigste Achse in der derzeitigen westlichen Geschlechterordnung und zugleich das Kennzeichen der allgegenwärtigen Unterordnung von Frauen und Dominanz von Männern. Die Hegemoniale Männlichkeit liefert (oder soll) die Antwort auf das Legitimationsproblem dieser Macht (liefern) (Connell, 2015b, 127; 130).

Um die Geschlechterordnung erklären zu können, blickt Connell auf die Beziehungen zwischen verschiedenen Männlichkeiten und unterschiedet zwischen Hegemonie, Unterordnung und Komplizenschaft (Connell, 2015b, S. 129–135). Das Konzept der Hegemonie als die gesellschaftliche Dynamik, „mit welcher eine Gruppe eine Führungsposition einnimmt und aufrechterhält“ (Connell, 2015b, S. 130), stammt von Antonio Gramsci und der Analyse von Klassenbeziehungen (Connell, 2015b, S. 130). Hegemonie entsteht, wenn das kulturelle Ideal und die institutionelle Macht sich entsprechen (Connell, 2015b, S. 131). Aufrechterhalten wird diese Führungsposition „weniger durch direkte Gewalt […], sondern durch ihren erfolgreich erhobenen Anspruch auf Autorität“ (Connell, 2015b, S. 131), auch wenn Connell betont, dass Autorität oft durch Gewalt gestützt und aufrechterhalten wird. Männer, die nicht den klassischen Attributen – wie sie auch von Goldschmidt et al. (2014, S. 98) angeführt werden, also  Aktivität, Stärke, Selbstsicherheit, Überlegenheit und Leistungsorientierung – zugeordnet werden können, werden entweder ausgestoßen und einer Untergeordneten Männlichkeit zugeordnet oder aber sie profitieren von der Vorherrschaft der Hegemonialen Männlichkeitsform, „weil sie an der patriarchalen Dividende teilhaben“ (Connell, 2015b, S. 133). Als Produkt dieser Beziehungen der unterschiedlichen Männlichkeiten entsteht eine Marginalisierung „immer relativ zur Ermächtigung Hegemonialer Männlichkeit“ (Connell, 2015b, S. 134). Dabei können jedoch nicht nur die Untergeordnete Männlichkeit, sondern auch alle weiteren Gruppen marginalisiert werden.

Wohnungsnot wird nach der Definition der Hegemonialen Männlichkeit marginalisiert. Jedoch konstruieren auch Männer in Wohnungsnot ihre Geschlechtsrollenidentität an den Prämissen der Hegemonialen Männlichkeit, was dazu führt, dass es auch innerhalb der Gruppe der Untergeordneten Männlichkeiten zu Marginalisierungen und Ermächtigungen kommen kann (Connell, 2015b, S. 135). In seiner Untersuchung zu Männern in Wohnungsnot belegt Fichtner (2005, S. 13–166) eindrucksvoll, dass, trotz der negativen Auswirkungen der Hegemonialen Männlichkeit für Männer in Wohnungsnot – Abwertung und Marginalisierung ebenso wie eine erschwerte Inanspruchnahme der Hilfen aufgrund der Illusion von Handlungsfähigkeit und Autonomie (Ratzka, 2012, S. 1231) – die (meisten) Männer ihre Männlichkeit auf dem Prinzip der Hegemonialen Männlichkeit konzipieren. Dabei bewegen und schaffen sich Männer in Wohnungsnot „oft wie »selbstverständlich« […] männerdominierte Räume“ (Fichtner, 2005, S. 174), aus denen heraus sie sowohl die Legitimation von Regelsetzungen als auch Anerkennung ziehen (Fichtner, 2005, S. 174; Ratzka, 2012, S. 1231).

Insgesamt kann festgehalten werden, dass Gewalt geschlechtsspezifische Auswirkungen auf die Ursachen, Lebenslagen und Bedarfe von Menschen in Wohnungsnot hat. Dabei verweist Gewalt als extremster Ausdruck von Abwertung und Stigmatisierung auf das Zusammenwirken von Wohnungsnot, Stigmatisierung und Geschlecht sowie (teilweise) auch Gesundheit. Daneben haben Gewalt und die Hegemoniale Männlichkeit erhebliche Auswirkungen auf das Hilfesystem und somit die Teilhabe von Menschen in Wohnungsnot. Frauenspezifische Schutzeinrichtungen müssen genauso wie der Umgang mit Hegemonialer Männlichkeit und Gewalt im Hilfesystem thematisiert werden (Fichtner, 2005, S. 126; Ratzka, 2012, S. 1231).

4.2.4 Geschlecht, Arbeit und Armut

Geschlecht, Arbeit und Armut stehen in einem engen Zusammenhang und haben jeweils und in ihrem wechselseitigen Beeinflussen Auswirkungen auf Wohnungsnot. Arbeit und die damit verbundene kapitalistische Dynamik ökonomischer Profitmaximierung (Winker & Degele, 2009, S. 25) sind bestimmende Faktoren von Geschlechterungleichheit (Gerull, 2011, S. 78) und zugleich ist diese kapitalistische Akkumulationslogik die theoretische Klammer der Intersektionalen Mehrebenenanalyse von Winker und Degele. Mit der Entstehung der Landwirtschaft änderte sich das Leben der Menschheit fundamental (Mithen, 2007, S. 705). Es kam zu einer geschlechtsspezifischen Aufteilung von Arbeit, die als Ursprung des heute vorherrschenden Verständnisses von unterschiedlichen Gschlechtsrollenidentitäten und ihrer darauf begründeten hierarchischen Geschlechterordnung giltFootnote 10.

Die Aufteilung in einen öffentlichen männlichen Raum und einen privaten weiblichen Raum (Wildener & Berger, 2018, S. 4) zeigt dabei, ebenso wie die typischen Attribute von Weiblichkeit und Männlichkeit – Männer sind demnach aktiv, unabhängig, (willens-)stark, selbstsicher, überlegen und leistungsorientiert. Frauen sind demnach gefühlsbetont, sanft, freundlich, herzlich, verständnisvoll und beziehungsorientiert (Goldschmidt et al., 2014, S. 98) – einen starken Bezug zu Arbeit, Armut und Wohnungsnot.

Das Zusammenwirken von Geschlecht, Arbeit, Armut und Wohnungsnot sind sehr komplex und sollen, weil Arbeit und Armut nicht im Fokus der vorliegenden Arbeit stehen, nur knapp dargestellt werden. Die Armutserfahrungen der Geschlechter unterscheiden sich deutlich voneinander (Betzelt, 2018, S. 170–173; Enders-Dragässer & Sellach, 2010, S. 195). Auch hier kann der von Dubrow (2009, S. 56) zusammengefasste geschlechtsspezifische Umgang in verschiedenen Bereichen aufgerührt werden:

  • Erwerbslosigkeit

  • Umgang mit den damit einhergehenden geringen finanziellen Mitteln und vorhandenen Schulden

  • Nutzung des sozialen Handlungsspielraums

  • Umgang mit und Interpretation von Gesundheit/Krankheit

  • Versorgung möglicher Kinder

    (Dubrow, 2009, S. 56)

Geschlechterungleichheiten im Kontext von Arbeit sind ein wesentlicher Aspekt von Geschlechterungleichheiten von Armut. Der Gender Pay Gap ist ein maßgeblicher Indikator für diese Geschlechterungleichheiten (Gerull, 2011, S. 78). Der unbereinigte Gehaltsunterschied beträgt in Deutschland im Jahr 2018 immer noch 20,9 % zuungunsten von Frauen und liegt damit nur knapp hinter dem Spitzenreiter Estland mit 22,7 % (Eurostat, 2020). Weitere Ungleichheiten macht Gerull (2011, S. 78–79) im Verhältnis von bezahlter und unbezahlter Arbeit und zwischen Eltern und Kinderlosen aus. Der Aspekt, dass Mütter im Vergleich zu Frauen ohne Kinder weniger und Väter im Vergleich zu Männern ohne Kinder mehr arbeiten (Gerull, 2011, S. 78), ist ein Baustein zur Erklärung des ausgeprägten Gender Pay Gap in Deutschland. Alleinerziehende Mütter haben ein besonderes hohes Risiko von Armut betroffen zu sein (Gerull, 2011, S. 78). Daneben bevorteilen gesetzliche Regelungen wie das Ehegattensplitting oder das Betreuungsgeld das klassische und hierarchiegeprägte Familienmodell (Gerull, 2011, S. 79).

Das Zusammenwirken von Armut und Geschlecht ist jedoch komplexer als es die genannten Beispiele vermuten lassen. Zwar sind Frauen, wie gezeigt, überproportional von Einkommensarmut betroffen, die im Alter noch steigt und zu einer insbesondere weiblichen Altersarmut führt (Gerull, 2011, S. 80), doch liegt der Nachteil im geschlechtsspezifischen Gesundheitsverhalten (siehe Abschnitt 5.5 Zusammenwirken von Geschlecht und Gesundheit) auf der Seite der Männer. Männer sind darüber hinaus häufiger verschuldet als Frauen und zählen gemeinhin zu den Bildungsverlierern (Gerull, 2011, S. 80).

Dass Arbeit ein zentraler Bestandteil männlicher Geschlechtsrollenidentität ist, wird beim Fehlen einer solchen Arbeit, also der Arbeitslosigkeit deutlich. Fichtner (2005, S. 171) stellt für Männer in Wohnungsnot fest, dass sie aufgrund ihrer Arbeitslosigkeit ein starkes Gefühl von Demütigung entwickelten, welches die weitere berufliche Motivation massiv untergrabe.