Individuum und Gesellschaft beziehungsweise deren Beziehung zueinander sind die Bezugspunkte menschlicher Existenz. Die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft ist für beide, also Individuum und Gesellschaft, konstituierend. Ohne Individuum keine Gesellschaft und ohne Gesellschaft kein IndividuumFootnote 1. Dabei gilt die (immer noch) vorherrschende normative Grundhaltung einer Anerkennung von Heteronormativität als Ordnungsprinzip. Heteronormativität wird dabei verstanden als männlich, jung, verheiratet, weiß, städtisch, heterosexuell, protestantisch, mit guter Ausbildung, voll beschäftigt, gutaussehend, normal in Gewicht und Größe und mit Erfolgen in Sport (Goffman, 1972, S. 158). Die damit verbundenen gesellschaftlichen Positionierungen respektive die damit einhergehenden Machtverhältnisse werden legitimiert durch das meritokratische Prinzip des ‚Leistungsgedankens‘ (Winker & Degele, 2009, S. 53).

Auch Wohnungsnot befindet sich im Spannungsfeld zwischen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die Wohnungsnot verursachen, und den individuellen Lebenslagen der Menschen, die von Wohnungsnot bedroht oder betroffen sind. Das heteronormative und meritokratisch legitimierte Ordnungsprinzip weist Menschen in Wohnungsnot einen Platz am Rand der Gesellschaft zu (Gerull, 2018b, S. 36). Folgt man dem Ordnungsprinzip, sind Menschen in Wohnungsnot exkludiert, weil sie von der Norm des Leistungsgedankens abweichen und individuelle Schwäche/n aufweisen (Gerull, 2018b, S. 31).

Eine beachtenswerte Perspektive im Kontext von Wohnungsnot bietet das Konzept der Intersektionalität. Intersektionalität empfiehlt sich dabei zum einen als theoretischer Bezugsrahmen – und Analyseinstrument – für die Auseinandersetzung mit Wohnungsnot, zum anderen dient sie als Ordnungsrahmen zur Betrachtung von Wohnungsnot. Die vorliegende Arbeit macht sich dies zu eigen. Sie greift (1.) Intersektionalität als theoretischen Bezugsrahmen auf, benützt (2.) Intersektionalität als Analyseinstrument und verweist (3.) erstmals auf Intersektionalität als Ordnungsrahmen für das komplexe Phänomen Wohnungsnot. Der Ordnungsrahmen liefert zugleich einen Erklärungsansatz für Wohnungsnot. Intersektionalität behandelt verschiedene für Wohnungsnot und die vorliegende Arbeit folgende, relevante Aspekte:

  1. 1.

    Intersektionalität ist über die Thematisierung von Ungleichheitserfahrungen und Machtkonstellationen eng verbunden mit Stigmatisierung. Die Analyse von Stigmatisierung ist ein zentrales Element der vorliegenden Arbeit. Des Weiteren sind Menschen in Wohnungsnot in besonderem Maße von Stigmatisierungen betroffen.

  2. 2.

    Intersektionalität verbindet verschiedene Ebenen (Mikro und Makroebene), die zum einen soziale Kategorien der Gesellschaft und daraus resultierende Ungleichheitsrelationen betrachten und zum anderen die Betrachtung individueller Identitätsbildung ermöglichen. Als eine dritte Ebene benennt Bührmann (2009, S. 34) „die Ebene der symbolischen Ordnung“, welche quer zu den anderen Ebenen verläuft und über den Aspekt der Normerwartungen einen erneuten engen Bezug zu Stigmatisierung aufweist.

  3. 3.

    Intersektionalität hebt die Bedeutung verschiedener Kategorien, wie Geschlecht, Herkunft und Armut hervor, welche – und das ist das Besondere – in ihrem gleichzeitigen Zusammenwirken und verschiedenen Wechselwirkungen unterliegend die soziale Wirklichkeit abdecken. Intersektionalität unterstreicht dabei jedoch die Bedeutung der Kategorie Geschlecht, als eine der Masterkategorien. Diese Besonderheit wird auch für Wohnungsnot postuliert.

Aufgrund der hohen Relevanz für die vorliegende Arbeit bedarf es somit einer fundierten Auseinandersetzung mit dem „Diskursfeld“ (Walgenbach, 2017, S. 61) Intersektionalität (Abschnitt 2.1 Was ist Intersektionalität?). Die Implikationen der Debatte um Intersektionalität verweisen auf die zu betrachtenden Ebenen und Kategorien von Wohnungsnot und bieten zugleich einen theoretischen und methodologischen Bezugspunkt für die vorliegende Arbeit (Abschnitt 2.2 Intersektionalität als theoretischer Bezugsrahmen der Arbeit). Die von Winker und Degele (2009) entworfene Intersektionale Mehrebenenanalyse klärt, welche Kategorien auf welcher Ebene verwendet und betrachtet werden müssen. Aufgrund der guten Anwendbarkeit, insbesondere in Bezug auf die Analyse der Strukturebene und den Vorschlag nur vier Kategorien (‚Rasse‘Footnote 2, Klasse, Geschlecht und Körper) für diese Analyse zu benutzen, bedient sich auch die vorliegende Arbeit der Intersektionalen Mehrebenenanalyse (Abschnitt 2.3 Intersektionalität als Analyseinstrument). Die hohe Komplexität des Phänomens Wohnungsnot wird auch durch eine Vielzahl unterschiedlicher und nicht einheitlicher Definitionen ersichtlich (Busch-Geertsema, 2018b, S. 15–16). Wohnungsnot, als extremste Form der Armut, entsteht aufgrund gesellschaftlicher Rahmenbedingungen (Specht, 2017a, S. 29–31; Wolf, 2016, S. 15) und hat auf der individuellen Ebene verschiedenste, höchst negative Auswirkungen, wie beispielsweise Stigmatisierung (Gerull, 2018b) aber auch eine erhöhte Mortalität und Morbidität (Dittmann & Drilling, 2018, S. 288; Montgomery et al., 2016; Rosenke, 2017c, S. 219; Schäfer-Walkmann & Bühler, 2011, S. 14–17; Trabert, 2005, S. 166–168). Die Lebenslagen der verschiedenen Individuen sind dabei äußerst heterogen und bestimmt durch verschiedene Kategorien wie Armut, Herkunft, Geschlecht und Gesundheit (Steckelberg, 2018). Intersektionalität bietet sich hier als Ordnungsrahmen an und soll erstmalig im Kontext von Wohnungsnot als solcher angewendet werden. Dieser ermöglicht es, die hohe Komplexität von Wohnungsnot zu strukturieren und gleichzeitig zu repräsentieren Abschnitt (2.4 Intersektionalität als Ordnungsrahmen).

Die zentralen Erkenntnisse zu Intersektionalität, Wohnungsnot und Stigmatisierung werden abschließend in einem eigenen Kapitel zusammengefasst. Die Funktionen der Intersektionalität (als theoretischer Bezugsrahmen, Analyseinstrument sowie als Ordnungsrahmen) werden dabei aufgegriffen und in ihrer Implikation für die vorliegende Arbeit erläutert und graphisch dargestellt (Kapitel 6 Schlussfolgerungen der Theorie).

2.1 Was ist Intersektionalität?

Intersktionalität bezeichnet das gleichzeitige Zusammenwirken von Kategorien, die verschiedenen Wechselwirkungen unterliegen und die soziale Wirklichkeit abbildet (Walgenbach, 2012). Ob Intersektionalität bereits eine eigene Theorie, einen Ansatz oder doch eher ein Diskursfeld darstellt, ist immer noch umstritten (Bührmann, 2009; Walgenbach, 2017, S. 61). Klar ist, Intersektionalität ist im Mainstream angekommen. Davis (2008b, 2010) postulierte bereits 2008 Intersektionalität als das neue „buzzword“. Zahlreiche Organisationen wie die Vereinten Nationen oder die Europäische Union haben Intersektionalität und die Forderung nach Gleichberechtigung anerkannt (Yuval-Davis, 2010, S. 187). Intersektionalität entstanden aus der Kritik einer verengten Perspektive des Feminismus (Degele, 2019, S. 342–344; Winker & Degele, 2009, S. 11–12) gilt als vielversprechender Ansatz, welcher, mit einem „Strömungen übergreifende[…][n] Potenzial“ (Winker & Degele, 2009, S. 14), einen Rahmen für Vielfalt und Unterschiedlichkeit bildet (Degele, 2019, S. 342). Holland-Cunz (2018, S. 11) nennt es „die aktuell bedeutende Kategorie, um die Komplexität von Herrschaft auch zwischen Frauen“ (Holland-Cunz, 2018, S. 11) zu beschreiben.

Auch im Kontext von Wohnungsnot eröffnet Intersektionalität eine beachtenswerte Perspektive. Sie ermöglicht die hohe Komplexität von Wohnungsnot zu erfassen und die Bedeutung verschiedener relevanter Kategorien hervorzuheben. Jedoch findet Intersektionalität im Kontext von Wohnungsnot bisher keine BeachtungFootnote 3. Dies möchte die vorliegende Arbeit ändern. Intersektionalität ist der konstituierende Bezugsrahmen der vorliegenden Arbeit. Wieso Intersektionalität dabei sowohl als theoretischer Bezugsrahmen als auch als Analyseinstrument dient, und wieso Intersektionalität erstmalig als Ordnungsrahmen für das komplexe Phänomen Wohnungsnot vorgestellt wird, wird in den Abschnitten 2.2 bis 2.4 dargestellt. Um diese Fragen beantworten zu können, muss jedoch vorab die Frage beantwortet werden, was Intersektionalität ist. Ausgehend von der Begriffsbestimmung sowie der Erläuterung des Begriffsursprungs (Abschnitt 2.1.1 Begriffsursprung und Begriffsbestimmung) erfolgt ein Überblick über die Kontroverse und die damit einhergehenden zentralen Fragen der Intersektionalität (Abschnitt 2.1.2 Kontroversen der Intersektionalität). Intersektionalität befasst sich mit Ungleichheitserfahrungen und Machtkonstellationen (Walgenbach, 2012; Winker & Degele, 2009, S. 53–55), die sowohl auf der gesellschaftlichen Makroebene als auch auf der individuellen Mikroebene wirken (Abschnitt 2.1.3 Auswahl der Ebenen). Dabei stellt sich jeweils die Frage, welche Kategorien beachtet werden müssen (Abschnitt 2.1.4 Auswahl der Kategorien). Die von Winker und Degele (2009) entwickelte Intersektionale Mehrebenenanalyse beantwortet zum einen diese Frage und stellt zum anderen gleichzeitig einen beachtenswerten Versuch da, eine kohärente methodologisch-methodische Perspektive für die Intersektionalität zu schaffen (Abschnitt 2.2 Die Intersektionale Mehrebenenanalyse von Winker und Degele).

2.1.1 Begriffsursprung und Begriffsbestimmung

Die amerikanische Juristin Kimberlé Crenshaw (1989) gilt mit ihrer Metapher der Straßenkreuzung (engl. intersection) als Urheberin der Begrifflichkeit. Crenshaw entwarf das Bild in einer Analyse von fünf Gerichtsfällen, die explizit afroamerikanische Frauen betrafen (Winker & Degele, 2009, S. 12). An der ‚Straßenkreuzung‘ „kreuzen, überlagern und überschneiden“ (Winker & Degele, 2009, S. 12) sich ‚Machtwege‘. Dabei sollte die Metapher die Verwobenheit von ‚Rasse‘ und Geschlecht verdeutlichen (Winker & Degele, 2009, S. 12). Degele (2019, S. 342), konstatiert jedoch, dass der „Begriff Intersektionalität […] neu [sei], die Sache [jedoch] nicht“. Bereits Anfang des 19. Jahrhunderts haben verschiedene Frauenrechtlerinnen die Anerkennung von verschiedenen, sich beeinflussenden Unterdrückungskategorien gefordertFootnote 4. Ein Meilenstein ist das Manifest des The Combahee River Collective (1977). Erstmalig wurden hier die verschiedenen Diskriminierungserfahrungen marginalisierter Frauen in ihrer Verwobenheit miteinander in Bezug gesetzt (Walgenbach, 2017, S. 57). Intersektionalität kennzeichnet, dass die Verwobenheit verschiedener sozialer Kategorien die soziale Wirklichkeit abbildet. Verwobenheit bedeutet dabei das gleichzeitige Zusammenwirken von Kategorien, die gegenseitigen Wechselwirkungen unterliegen (Degele, 2019, S. 342; Walgenbach, 2012, 2017, S. 55; Winker & Degele, 2009, S. 11–15). Eine reine Addition der Kategorien wird dabei explizit ausgeschlossen (Bührmann, 2009, S. 37; Walgenbach, 2012, 2017, S. 55; Winker & Degele, 2009, S. 14). Die Kategorien, so konstatieren es Leiprecht und Lutz (2013, S. 220–221), generieren zum einen Identität und sind zum anderen soziale Platzanweiser. Zentral für Intersektionalität ist demnach der Fokus auf „Macht-, Herrschafts- und Normierungsprozesse“ (Walgenbach, 2012), „die soziale Strukturen, Repräsentationen, Praktiken und Identitäten (re)produzieren“ (Walgenbach, 2017, S. 55). Leiprecht und Lutz (2013, S. 221–224) definieren Macht- und Herrschaftsverhältnisse sogar als Mindeststandard für die Intersektionale Theoriebildung (siehe Walgenbach, 2017, S. 66).

In diesem Fokus ist auch die Bedeutung der Intersektionalität für Wohnungsnot und Stigmatisierung, also für die vorliegende Arbeit, begründet. Die Betrachtung mehrerer Kategorien und deren Zusammenwirken ist essentiell für Intersektionalität (Degele, 2019, S. 345; Leiprecht & Lutz, 2013, S. 221; Winker & Degele, 2009, S. 15).

2.1.2 Kontroversen der Intersektionalität

Ist die Begriffsbestimmung innerhalb der Intersektionalitätsforschung noch konsensuellFootnote 5, gibt es darüber hinaus verschiedene Kontroversen und kritische Stimmen (Baldin, 2014, S. 49; Davis, 2010, S. 55; Walgenbach, 2017, S. 60–61). Ursächlich für die verschiedenen Kontroversen ist die Vagheit und Unbestimmtheit des ‚Konzeptes‘ Intersektionalität (Bührmann, 2009, S. 32–35). Da die verschiedenen Kontroversen Bedeutung für das Verständnis von Intersektionalität haben und darüber hinaus auch für die vorliegende Arbeit Relevanz besitzen, soll folgend ein Überblick über eben diese gegeben werden. Baldin (2014, S. 52–53), Bührmann (2009, S. 31) undDavis (2008b, 2010) identifizieren die in diesem Zusammenhang zentralen Fragen wie folgt:

  • Ist Intersektionalität eine eigenständige Theorie, ein Konzept, ein Paradigma, ein Ansatz, ein heuristisches Analyseinstrument oder eine Interpretationsstrategie feministischer Analysen? Insbesondere geht es dabei um die Frage, ob eine kohärente methodologisch- methodischen Perspektive sowie ein eindeutiger konzeptioneller Rahmen, also ein klares Forschungsfeld sowie eine Gründnungsnarrative, benannt werden.

  • Welche (Ungleichheits-)Kategorien sind mit einzubeziehen? Gibt es Kategorien, die immer verwendet werden müssen oder ist die Verwendung beliebig? Und schließlich, dürfen die Kategorien verschieden gewichtet werden und wenn ja, wie sieht eine solche Gewichtung aus?

  • Ist die Metapher der Straßenkreuzung passend oder kann diese Vereinfachung der Komplexität der Verwobenheit nicht gerecht werden?

  • Sollte Intersektionalität auf individuelle Ungleichheitsdimensionen fokussieren oder weitergehend Ungleichheitsdimensionen in ihrer strukturellen gesellschaftlichen Relevanz betrachten?

Eine ausführliche Antwort auf diese Fragen soll an dieser Stelle nicht erfolgen, ist es doch nicht das Ziel der vorliegenden Arbeit. Des Weiteren ist unklar, ob eine objektive Beantwortung und eine Konsens-Findung möglich sind, da die verschiedenen Debatten politische und auch ideologische Tendenzen aufweisen. Dennoch lohnt der Blick auf die verschiedenen Kontroversen, da diese einen engen Bezug zu der vorliegenden Arbeit haben und (1.) die enge Verwandtschaft zu Stigmatisierung spezifizieren und (2.) den Ordnungsrahmen mit seinen Auswirkung auf strukturelle Analysen sowie individuelle Lebenswirklichkeiten beschreiben.

Ob Intersektionalität eine eigenständige Theorie ist oder nicht, soll an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Ich schließe mich Walgenbach (2017, S. 61) an und betrachte Intersektionalität als Diskursfeld. Neben der Anerkennung durch verschiedene internationale Organisationen und das Erreichen des Mainstreams – McCall (2005, S. 1771) und Holland-Cunz (2018, S. 11) bezeichnen Intersektionalität sogar als den wichtigsten Beitrag, den die Frauenforschung bisher geleistet hat – eint die Intersektionalität, wie bereits angemerkt, die Bedeutungszuschreibung verschiedener Dimensionen als Identifikator von Ungleichheit. Diese Bedeutungszuschreibung von normabweichenden Dimensionen kann auch im Kontext von Stigmatisierung identifiziert werden und soll im weiteren Verlauf nochmals aufgegriffen werden (siehe Abschnitt 3.8 Stigmatisierung und Wohnungsnot). Die bereits erwähnte und im weiteren Verlauf (Abschnitt 2.2 Die Intersektionale Mehrebenenanalyse) ausführlich dargestellte Intersektionale Mehrebenenanalyse von Winker und Degele (2009, S. 63–98) stellt einen beachtenswerten Versuch dar, eine kohärente methodologisch-methodische Perspektive für die Intersektionalität zu schaffen.

Die Fragen, welche Kategorien benützt werden und wie stark diese gewichtet werden sollen, gehören zu den zentralen Fragestellungen der Intersektionalitätsforschung (Degele, 2019, S. 345–347; Walgenbach, 2012; Winker & Degele, 2009, S. 15–16). Welche Kategorien darüber hinaus und im Speziellen für den Kontext Wohnungsnot benutzt werden sollen, ist bisher ungeklärt. Für die vorliegende Arbeit besitzt die Beantwortung der Fragen jedoch eine hohe Relevanz. Wenn bedeutende Ungleichheitskategorien im Kontext von Wohnungsnot identifiziert werden können, klärt sich die Frage der Analyseeinheiten sowie das daraus folgenden, anzulegenden Forschungsdesigns; Zugleich ergibt sich ein Ordnungsrahmen für Wohnungsnot. Aufgrund der hohen Relevanz für die vorliegende Arbeit werden die Fragen, welche Kategorien benützt und wie stark diese gewichtet werden sollen, im Abschnitt 2.1.4 Auswahl der Kategorien behandelt.

Zentraler Bestandteil von Intersektionalität ist die Bedeutung mehrerer Kategorien, die zusammen-wirken. Dieses Zusammenwirken hat Crenshaw (1989) mit der Metapher der Straßenkreuzung eindrücklich beschrieben. Dabei war ihr Bild der ‚intersection‘ so erfolgreich, dass sie namensgebend für die Beschreibung und Untersuchung der Wirkung mehrerer Kategorien wurde. Intersectionality, oder zu Deutsch Intersektionalität ist heute, wie bereits dargelegt, im Mainstream angekommen. Jedoch existiert eine Debatte über die Metapher der Straßenkreuzung und dem damit verbundenen Verständnis der Art und Weise der Verbindung der einzelnen Kategorien. Walgenbach (2012) resümiert treffend:

[D]ie Metapher einer Straßenkreuzung könnte suggerieren, dass die Kategorien Gender und Race vor (und auch nach) dem Zusammentreffen an der Kreuzung voneinander getrennt existierten. Mit anderen Worten: Gender und Race werden, mit Ausnahme der spezifischen Situation der Straßenkreuzung, immer noch als isolierte Kategorien gefasst.

(Walgenbach, 2012)

Gleichzeitig weist Walgenbach (2012) auch auf die Sinnhaftigkeit der Metapher hin. So greife die Metapher, seien doch gerade die eindimensionalen Straßenachsen Gegenstand der Kritik von Crenshaw, das Gleichheits-Differenz-ParadoxFootnote 6 auf und visualisiere dieses Paradox (Walgenbach, 2012). Um jedoch einer Linearität von Begriffen wie „Überschneidung“ oder „Überkreuzung“ entgegenzuwirken, schlagen Walgenbach und Kolleginnen (Walgenbach et al., 2007) die Begrifflichkeit der interdependenten Kategorien vor. Dieser Vorschlag wird wiederum von Winker und Degele (2009, S. 13) als nicht zielführend für die empirische Forschung abgelehnt. Die Diskussion soll an dieser Stelle nicht abgeschlossen und weitergeführt werden. Nichtsdestotrotz bedarf es einer Einordnung der Debatte für das weitere Vorgehen und Verständnis des Zusammenwirkens der einzelnen Kategorien. Walgenbach (2012) empfiehlt zurecht die Überprüfung der Übertragbarkeit der Metapher auf das eigene Erkenntnisinteresse.

Wohnungsnot respektive die Lebenssituation von Menschen in Wohnungsnot wird in der vorliegenden Arbeit verstanden als dauerhaft durch verschiedene Kategorien beeinflusst. Die affirmative Übertragbarkeit der Metapher der Straßenkreuzung muss daher abgelehnt werden. Die Begrifflichkeit der interdependenten Kategorien von Walgenbach et al. (2007) verdeutlicht hingegen diese dauerhafte und gegenseitige Abhängigkeit der Kategorien. Jedoch muss auch die Kritik von Winker und Degele (2009, S. 13) Berücksichtigung finden. Weil die vorliegende Arbeit die Rolle einzelner Kategorien aber auch deren unterschiedliches Zusammenwirken untersucht, muss für die Untersuchung ein genuiner Kern der Kategorien angenommen werden, der in der Realität so nicht vorhanden ist.

Neben der Anerkennung der drei Forschungsprinzipien und -regeln der Intersektionalitätsforschung besteht auch Einigkeit darüber, dass Intersektionalität sowohl eine individuelle Perspektive als auch eine gesellschaftlich strukturelle Perspektive einnehmen kann. Zwar variieren die Begrifflichkeiten  – McCall (2005, S. 1773–1774) identifiziert drei ‚approaches‘, Walgenbach (2017, S. 72) übersetzt „drei Zugangsweisen“, Bührmann (2009, S. 32–35) identifiziert vierFootnote 7 Diskursstränge und Winker und Degele (2009, S. 18–23) beschreiben drei UntersuchungsebenenFootnote 8 – doch behandeln diese im Kern die gleiche Substanz. Dabei geht es um die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft. Der Fokus kann dabei (1.) auf einer individuellen Wahrnehmung und Perspektive liegen, (2.) auf der Betrachtung gesellschaftlicher und struktureller Gegebenheiten oder (3.) auf Normen und Werten, die gewissermaßen quer zu den anderen beiden Perspektiven verlaufen (siehe Abbildung 2.1). Jedoch bleibt fraglich – und das ist eine der zentralen Fragestellungen der Intersektionalität – welche dieser Ebenen in den Mittelpunkt der Betrachtung rücken soll. Auch im Kontext von Wohnungsnot stellt sich diese Frage: Muss eine Betrachtung der individuellen Perspektiven und Lebenswirklichkeiten der Menschen in Wohnungsnot erfolgen oder sollte vielmehr eine gesellschaftliche und strukturelle Perspektive eingenommen werden? Die Frage nach der Perspektive ist zentral für die Auswahl des Studiendesigns sowie der Methode und ist dabei eng verbundenen mit der übergeordneten Fragestellung der vorliegenden Arbeit. Weil die Frage der Ebenen mit seinen Konsequenzen für das methodische Vorgehen sehr relevant ist, wird die Frage nach der zu fokussierenden Ebene, im nächsten Kapitel ausführlich behandelt (Abschnitt 2.1.3 Auswahl der Ebenen).

2.1.3 Auswahl der Ebenen

Innerhalb der Intersektionalitätsforschung herrscht Einigkeit darüber, dass Intersektionalität verschiedene Ebenen (Individuelle Ebene, Gesellschaftliche Ebene, Ebene der Normen und Werte) behandeln kann. Jedoch ist eine der zentralen Fragestellungen, welche Ebene(n) im Fokus von Intersektionalität stehen soll(en). Zurecht wird auf die Gefahr einer zu geringen gesellschaftlichen und gleichzeitig zu großen individuellen Problembetrachtung (Davis, 2010, S. 55; Walgenbach, 2012) hingewiesen.

Auch im Kontext von Wohnungsnot besteht eine Debatte um Individuum und Gesellschaft. Verschiedene, inzwischen überwundene, Erklärungsansätze zur Ursache von Wohnungsnot betrachteten ausschließlich individuelle Faktoren. Dabei entwarfen diese Erklärungsansätze eine problemindividualisierende und defizitorientierte Perspektive, die verheerende negative Konsequenzen für Menschen in Wohnungsnot hatte (R. Lutz & Simon, 2017, S. 59–68). Das heutige Verständnis von Wohnungsnot fußt sowohl auf gesellschaftlich strukturellen Rahmenbedingungen als auch auf individuellen Lebenswelterfahrungen (R. Lutz & Simon, 2017, S. 70). Dabei gelten Armut und mangelnder Wohnraum als die zentralen Ursachen für Wohnungsnot (Specht, 2017a, S. 29–31). Um das komplexe Phänomen verstehen und erfassen zu können, müssen jedoch auch individuelle Bedarfe und Lebenswirklichkeiten betrachtet werden (Steckelberg, 2018, S. 37).

Weil demnach alle Ebenen eine Relevanz für das Phänomen Wohnungsnot besitzen, werden die bereits erwähnten, drei unterschiedlichen Begrifflichkeiten – Strukturebene, Identitätsebene, Normenebene – im Folgenden näher betrachtet und kurz dargestellt.

Die Tabelle 2.1 illustriert, welche Begrifflichkeiten den gleichen respektive einen ähnlichen inhaltlichen Bezug aufweisen. Die strukturelle und gesellschaftliche Ebene beschreibt McCall (2005, S. 1773) mit dem Begriff der Interkategorialen Komplexität, Winker und Degele (2009, S. 18) verorten ihre Berücksichtigung gesellschaftliche Sozialstrukturen sowie Organisationen und Institutionen auf der soziologischen Makro- und Mesoebene. Bührmann (2009, S. 33) differenziert zwischen dem Diskursstrang der „ungleichheitsgenerierenden Folgen sozialer Kategorien“ und der „Relevanz von Organisationen bei der (Re-)Produktion gesellschaftlicher Ungleichheitsverhältnisse“ (Bührmann, 2009, S. 34). Dabei entspricht ihre Differenzierung der Aufteilung von Winker und Degele (2009, S. 18) in Makro- und Mesoebene. Diese erste Ebene fokussiert Ungleichheitsrelationen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Kategorien (beispielsweise gesellschaftliche Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen) (Winker & Degele, 2009, S. 19) und beschäftigt sich somit als gesellschaftstheoretische Perspektive mit der Debatte um Machtverhältnisse (Winker & Degele, 2009, S. 19). Im weiteren Verlauf wird diese Ebene, Winker und Degeles (2009) Ansatz folgend, als Strukturebene bezeichnet.

Tabelle 2.1 Die Ebenen der Intersektionalität. Zuordnung zu den jeweiligen Begrifflichkeiten und ihrer Bedeutungen verschiedener Autor:innen
Abbildung 2.1
figure 1

Graphische Darstellung der drei Ebenen der intersektionalen Mehrebenenanalyse nach Winker und Degele (2009) und deren Vorschlag zur jeweiligen Kategorienbildung sowie Bennung der vier für Wohnungsnot als relevant herausgestellten Kategorien

Für die individuelle Ebene schlägt McCall (2005, S. 1773–1774) den Begriff der Intrakategorialen Komplexität vor. Dieser Begriff entspricht Bührmanns (2009, S. 33) zweitem Diskursstrang mit seinem Fokus auf mikrosoziologische Aspekte. Winker und Degele (2009, S. 18) sprechen von Prozessen der Identitätsbildung und verorten diese auch auf der Mikroebene. Gegenstand dieser Ebene ist die individuelle Identitätsbildung. Auch für diese zweite Ebene wird, im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit, die Begrifflichkeit von Winker und Degele (2009) – Identitätsebene   benützt.

Der von McCall (2005, S. 1773) verwendete Begriff der Antikategorialen Komplexität für die dritte Ebene wird von Bührmann (2009, S. 34) als „nicht glücklich“ bezeichnet, da eine mögliche Interpretation als Infragestellung einer Existenz von Kategorien nicht den Gegenstand der Perspektive abbilde. Es geht vielmehr darum, dass „soziale Kategorien beziehungsweise Identitäten […] als Effekte von Macht-Wissens-Komplexen ausgewiesen [werden], die Ausschlüsse produzieren und Subjektivitäten normieren“ (Walgenbach, 2017, S. 72). Das heißt konkret, dass sowohl individuelle als auch kollektive (gesellschaftliche) Deutungsmuster und Kategorien (Bührmann, 2009, S. 34) bestimmt sind durch Normen und Werte (Winker & Degele, 2009, S. 20). Diese dritte Ebene, im weiteren Verlauf bezeichnet als Normenebene, liegt demnach quer zu den anderen beiden Ebenen (Bührmann, 2009, S. 34). Die Abbildung 2.1 zeigt die graphische Darstellung der drei Ebenen und der zu benutzenden Kategorien nach Winker und Degeles Intersektionaler Mehrebenenanalyse.

Die übergeordnete Fragestellung der vorliegenden Arbeit   Welche Rolle spielen die Kategorien Geschlecht und Gesundheit für die Stigmatisierung und Teilhabe von Menschen in Wohnungsnot?   fokussiert zwei Kategorien, die als strukturelle Ungleichheitsaspekte im Kontext von Wohnungsnot identifiziert werden können (siehe Kapitel 4 Geschlecht als Kategorie und Kapitel 5 Gesundheit als Kategorie). Strukturelle Ungleichheitsrelationen und demnach die Strukturebene stehen im Fokus der vorliegenden Arbeit. Dabei wird gleichzeitig die Stigmatisierung und Teilhabe von Menschen in Wohnungsnot untersucht. Stigmatisierung, eng verwoben mit Intersektionalität, verweist ebenfalls auf die verschiedenen Ebenen. Stigmatisierungen entstehen bei unerwünschten Normabweichungen (Goffman, 1972, S. 13). Auf der Strukturebene können Kategorien identifiziert werden, die zu einer gesellschaftlichen Stigmatisierung führen können. Diese Stigmatisierung wiederum kann eine negative Auswirkung auf ein stigmatisiertes Individuum haben. Um also ein umfassendes Bild der Stigmatisierung von Menschen in Wohnungsnot zu bekommen, müssen die verschiedenen Ebenen betrachtet werden. Wie eine solche Analyse der verschiedenen Ebenen aussehen kann, wie demnach das Studiendesign gestaltet und welche methodischen Zugänge ausgewählt werden müssen, wird im Abschnitt 2.4 Intersektionalität als Analyseinstrument sowie im Abschnitt 2.2 Die Intersektionale Mehrebenenanalyse von Winker und Degele verdeutlicht. Ein Überblick über die Implikationen für den Aufbau der vorliegenden Untersuchung ist Kapitel 6 Methodische Schlussfolgerungen aus der Theorie zu entnehmen.

2.1.4 Auswahl der Kategorien

Die Frage, welche (Ungleichheits-)Kategorien im Allgemeinen (Degele, 2019, S. 345; Walgenbach, 2017, S. 68) und welche im Speziellen für den Kontext von Wohnungsnot und Stigmatisierung benutzt werden sollen, ist ungeklärt. Die Kategorien Geschlecht, ‚Rasse‘ und Klasse gelten, ganz im Sinne der traditionellen „US-amerikanischen Gender-Race-Class-Diskussion“ (Walgenbach, 2017, S. 69), als die ‚klassische Triade‘ der Intersektionalität (Bührmann, 2009, S. 33; Degele, 2019, S. 343; Walgenbach, 2012; Winker & Degele, 2009, S. 15). Dennoch ist bereits deren Verwendung und Übertragbarkeit auf „europäische und/oder deutsche Verhältnisse“ (Winker & Degele, 2009, S. 16) umstritten. Insbesondere der Begriff ‚Rasse‘ kann aufgrund der historischen Besonderheiten des US-amerikanischen Zusammenhangs nicht umstandslos auf europäische und/oder deutsche Verhältnisse übertragen werden (H. Lutz et al., 2013, S. 20–23; Winker & Degele, 2009, S. 15–16)Footnote 9. Die im deutschsprachigen Raum häufig vorgenommene Ergänzung oder Ersetzung von ‚Rasse‘ mit dem Begriff Ethnizität (Baldin, 2014, S. 50; Degele & Winker, 2011, S. 73–74; Winker & Degele, 2009, S. 47–49), um „kulturelle Differenzen, religiöse Überzeugungen oder Traditionen“ (Degele, 2019, S. 343) besser zu erfassen, ist einleuchtend, bedarf aber einer Einordnung. Wie bereits angemerkt, sollen bei der Verwendung von ‚Rasse‘ Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnisse sichtbar gemacht werden (Degele & Winker, 2011, S. 73). Konkret soll somit eine „Zentrum-Peripherie-Beziehung[…]“ (Degele & Winker, 2011, S. 73) verdeutlich werden, die „eine von der Mehrheitsgesellschaft abweichende Nationalität, Ethnie, Religion oder Weltanschauung“ (Degele & Winker, 2011, S. 74) beinhaltet. Von Relevanz ist somit nicht die verwendete Begrifflichkeit, sondern die Bedeutungszuschreibung   im Kontext von Intersektionalität, also die Verdeutlichung von Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnissen.

Die Begrifflichkeit der (kulturellen) Herkunft ist aus Sicht des Autors die geeignetere, weil (1.) umfassendere Begrifflichkeit und (2.) für den Kontext der Wohnungsnot passendere Begrifflichkeit. (Kulturelle) Herkunft beinhaltet, neben dem bisherigen Verständnis der Begrifflichkeit (‚Rasse‘, Ethnie, Religion, Weltanschauung), weitere Dimensionen, wie Regionalität, Stadt/Land, aber auch die Bedeutung des eigenen Wohnraums und zeigt dennoch die, der Intersektionalität inhärenten, Zentrum-Peripherie-Beziehung aufFootnote 10.

Es bleibt jedoch weiterhin fraglich, welche Kategorien benutzt und wie diese gewichtete werden sollen. Die Frage ist ein zentrales Element der Intersektionalität (-sforschung) (Degele, 2019, S. 345–347; Walgenbach, 2017, S. 69–77; Winker & Degele, 2009, S. 15–18) und gleichzeitig Bestandteil der Kritik an dieser (Bührmann, 2009, S. 32–35). Klar ist, dass zur Intersektionalität „[d]ie Berücksichtigung mehrerer Kategorien gehört“ (Degele, 2019, S. 345; Winker & Degele, 2009, S. 15). Auch der Mindeststandard der Verwendung der „klassischen Triade“ aus ‚Rasse‘ (beziehungsweise wie dargelegt Herkunft), Klasse und Geschlecht gilt als common sense (Degele, 2019, S. 345; Degele & Winker, 2011, S. 74; Leiprecht & Lutz, 2013, S. 221–223; Winker & Degele, 2009, S. 15–16). Debattiert werden darüber hinaus die 15 bipolaren hierarchischen Differenzlinien von Leiprecht und Lutz (2013, S. 219–221; Walgenbach, 2017, S. 68–69), das ‚Etcetera‘-Problem (Walgenbach, 2012, 2017, S. 69–70; Winker & Degele, 2009, S. 16) oder beispielsweise die Frage einer zu geringen gesellschaftlichen und gleichzeitig zu großen individuellen Problembetrachtung (Davis, 2010, S. 55; Walgenbach, 2012). Letzteres, also eine individuelle und individualisierende Problembetrachtung, muss im Kontext von Wohnungsnot gesonderte Beachtung zuteil werden. Eine individualisierende, medizinisch defizitäre Problembetrachtung von Wohnungsnot hatte katastrophale Auswirkungen für die Personengruppe in der Vergangenheit  – etwa die Verfolgung und Ermordung von wohnungslosen Menschen im Nationalsozialismus (mit einer Übersicht Giffhorn 2017b, S. 278–279).

Einen relevanten Ansatz zur Lösung der Frage nach der Auswahl der Kategorien sowie der Frage nach einem zu individualisierenden Blick eröffnet die bereits erwähnte Intersektionale Mehrebenenanalyse von Winker und Degele (2009, S. 15–62).

2.2 Die Intersektionale Mehrebenenanalyse von Winker und Degele

Winker und Degeles (2009) Vorschlag der Intersektionalen Mehrebenenanalyse weist eine hohe Komplexität auf (Walgenbach, 2017, S. 79). Neben der Betrachtung von Wechselbeziehungen zwischen verschiedenen sozialen Kategorien beinhaltet ihr Ansatz auch die Betrachtung der Wechselbeziehung zwischen verschiedenen Analyseebenen (Walgenbach, 2017, S. 79). Winker und Degele (2009, S. 68) selbst sprechen von einer Komplexitätsreduktion auf der Strukturebene und einer Komplexitätserhöhung auf der Normenebene und der Identitätsebene. Die Intersektionale Mehrebenenanalyse ist ein gesellschaftstheoretischer Ansatz und entspricht somit der typisch europäischen Sichtweise einer theoretischen AnalyseperspektiveFootnote 11. Diese sind (zumeist) auf der Strukturebene zu verorten, da sie insbesondere gesellschaftliche Ungleichheitsdimensionen in den Blick nehmen (Walgenbach, 2017, S. 74).

Die Intersektionale Mehrebenenanalyse wird häufig in empirischen Untersuchungen benutzt (Walgenbach, 2017, S. 77) und bietet auch für die Analyse der vorliegenden Untersuchung die Vorlage. Die theoretische Klammer des Ansatzes ist die kapitalistische Akkumulationslogik, also die „kapitalistisch strukturierte Gesellschaft mit der grundlegenden Dynamik ökonomischer Profitmaximierung“ (Winker & Degele, 2009, S. 25). Methodisch und methodologisch (Walgenbach, 2017, S. 79) beziehen sich Winker und Degele (2009, S. 63–67) auf Bourdieus Theorie der Praxis und seinen praxeologischen Ansatz sozialer Praxen von Individuen. Soziale Praxen, also Soziales Handeln und Sprechen, so Winker und Degele (2009, S. 27), entwerfen Subjekte durch Identitätskonstruktionen in sozialen Kontexten. Dabei entstehen soziale Positionierungen, die im „Schnittfeld von Identitätskonstruktionen, sozialen Strukturen und symbolischen Repräsentationen verortet sind“ (Winker & Degele, 2009, S. 63–64), also die drei Ebenen Identität, Struktur und Normen berühren.

Was zeichnet die Intersektionale Mehrebenenanalyse aus?

Die Betrachtung von Wechselwirkungen verschiedener Kategorien sowie Ebenen ist zentrales Merkmal der Intersektionalen Mehrebenenanalyse (Winker & Degele, 2009, S. 25). Für die Analyse sozialer Ungleichheiten (Winker & Degele, 2009, S. 7) postulieren Winker und Degele (2009, S. 24) die Relevanz des Einbezugs mehrerer Ebenen. Um die Gänze sozialer Ungleichheiten analysieren zu können, konstatieren die beiden die Notwendigkeit, Wechselwirkungen zwischen Ungleichheitskategorien über die verschiedenen Ebenen (Strukturebene, Normenebene und Identitätsebene) hinweg zu berücksichtigen (Winker & Degele, 2009, S. 24). Eine solche Berücksichtigung fehle indes bei den bisherigen intersektionalen Ansätzen (Winker & Degele, 2009, S. 23).

Für die verschiedenen Ebenen enthält die Intersektionale Mehrebenenanalyse „eine differenzierte Lösung für die […] Frage nach der Auswahl und Gewichtung von sozialen Kategorien“ (Walgenbach, 2017, S. 77).

Auf der Strukturebene identifizieren Winker und Degele vier relevante Kategorien, denen in einer kapitalistischen Gesellschaft stets eine strukturierende Wirkung zugeschrieben wird (Walgenbach, 2017, S. 78). Kennzeichnend für diese ist die möglichst kostengünstige Verwertung der Ware Arbeitskraft (Winker & Degele, 2009, S. 51). Die vier Kategorien sind „Klasse, Geschlecht, Rasse und Körper“ (Winker & Degele, 2009, S. 38). Die daraus folgenden Herrschaftsverhältnisse bezeichnen Winker und Degele als „Klassismen, Heteronormativismen, Rassismen und Bodyismen“ (Winker & Degele, 2009, S. 38). Die Begrenzung auf die vier Kategorien reduziert die Komplexität auf der Strukturebene (Winker & Degele, 2009, S. 68) und beantwortet die Frage nach Auswahl und Gewichtung der Kategorien. Die vier Kategorien ergeben sich deduktiv aus der Gesellschaftsanalyse des modernen Kapitalismus (Walgenbach, 2017, S. 77; Winker & Degele, 2009, S. 37–53). Weil die strukturierende Wirkung der vier Kategorien modernen Gesellschaften inhärent ist, müssen die Kategorien bei Anwendung der Intersektionalen Mehrebenenanalyse immer berücksichtig werden (Walgenbach, 2017, S. 77). Für die Analyse der Strukturebene ist die Auswahl der Kategorien daher vorab bestimmt und hat somit einen deduktiven Forschungsprozess zur Folge.

Auf der Identitäts- und der Normenebene hingegen muss die Auswahl der Kategorien prinzipiell offen gehalten werden.(Walgenbach, 2017, S. 78; Winker & Degele, 2009, S. 59). Auf der Identitätsebene, so Winker und Degele (2009, S. 59), versuchen sich Individuen durch verschiedene Differenzierungslinien von Anderen abzugrenzenFootnote 12 (Winker & Degele, 2009, S. 59). Die verschiedenen Differenzierungslinien sind für jedes Individuum frei wählbar (Walgenbach, 2017, S. 77). Die Normenebene konstruiert über Normen, Werte und Stereotype die subjektive Identität und ist somit eng verwoben mit der Identitätsebene (Winker & Degele, 2009, S. 54). Diesen Subjektivierungsprozessen sprechen Winker und Degele (2009, S. 54) eine Stabilisierungsfunktion der Normen, Werte und Stereotype durch „performative Wiederholung“ (Winker & Degele, 2009, S. 54) zu. Für die Herstellung von Macht und Ungleichheitspositionen „verweisen Degele und Winker auf die Kategorie Klasse beispielsweise auf meritokratische Leistungsideologien“ (Walgenbach, 2017, S. 78) und für die Kategorien Geschlecht und ‚Rasse‘ auf naturalisierende Diskurse und dichotome Konstruktionen „wie ‚zivilisiert‘ versus ‚unzivilisiert‘ oder ‚männlich‘ versus ‚weiblich‘“ (Walgenbach, 2017, S. 78) (Winker & Degele, 2009, S. 54–59). Diese prinzipielle Offenheit bei der Auswahl der Kategorien hat, bei der Analyse von Differenzkategorien auf der Identitätseben und der Normenebene einen induktiven Forschungsprozess zur Folge (Walgenbach, 2017, S. 77).

Bezug nehmend auf Bourdieus Forderung einer Unabdingbarkeit von Theorien als Mittel des wissenschaftlichen Umgangs mit Praxis schlussfolgern Winker und Degele (2009, S. 64) für ihre Intersektionale Mehrebenenanalyse, mit der Analyse im Alltag von Menschen zu beginnen. Heißt konkret mit der induktiven Analyse der Selbstdarstellung und Identitätskonstruktion der Akteur:innen zu starten (Winker & Degele, 2009, S. 64). Dabei gelte es, die folgenden Fragen zu klären: „[U]m welche Probleme, Themen und Fragen organisieren […] [Menschen] ihr alltägliches Tun?“ Und „[w]elche Differenzierungskategorien nutzen sie zur Darstellung und Konstruktion ihres Alltags?“ (Winker & Degele, 2009, S. 64). Beginnend mit der Perspektive der Akteur:innen empfehlen Winker und Degele (2009, S. 67) zu untersuchen, auf welche Kategorien sich die Akteur:innen beziehen, welche Normen und Leitbilder wirksam sind und in welchen strukturellen Zusammenhang ihr Handeln eingebettet ist. Davon ausgehend entwerfen sie acht konkrete Schritte einer Intersektionalen Mehrebenenanalyse, zur Auswertung einzelner Interviews (Winker & Degele, 2009, S. 80). Zum besseren Verständnis gruppieren Winker und Degele (2009, S. 80) die acht Schritte in zwei Blöcke – Block I: Auswertung einzelner Interviews und Block II: Analyse aller Interviews einer Untersuchung (siehe Abbildung 2.2).

Auch wenn Walgenbach (2017, S. 79) berechtigterweise festhält, dass die Intersektionale Mehrebenenanalyse nicht auf ein methodisches Analyseinstrument festgelegt ist, stellt sie fest, dass Interviews häufig als Erhebungsmethode benützt werden. Dieses prinzipiell induktive Vorgehen wirft jedoch verschiedene Fragen auf.

Abbildung 2.2
figure 2

Übersicht der acht Schritte der Intersektionalen Mehrebenenanalyse nach Winker und Degele (2009, S. 30)

So ist fraglich, ob die induktiv ausgerichtete Analyse ausreichend ist, um die Komplexität, die die Intersektionalität in ihrer Gänze aufwirft und die auch von Winker und Degele durch ihre Berücksichtigung verschiedener Ebenen und Kategorien dargestellt wird, zu erfassen. Ebenso kann die induktive Vorgehensweise der Kritik einer geringen gesellschaftlichen und gleichzeitig zu großen individuellen Problembetrachtung der Intersektionalität, welche gerade im Kontext von Wohnungsnot große Bedeutung aufweist (siehe Abschnitt 2.1.3 Auswahl der Ebenen und Abschnitt 3.5 Erklärungsansätze von Wohnungsnot), nichts entgegensetzten.

Schließlich liegt der Fokus der vorliegenden Arbeit auf Ungleichheitsdimensionen – auf den Kategorien Geschlecht und Gesundheit – und muss dementsprechend, mindestens den Ausgangspunkt der Analysen auf der Strukturebene verorten.

Dennoch schließe ich mich der Bewertung der Intersektionalen Mehrebenenanalyse von Baldin (2014, S. 55) als einen interessanten und auch zielführenden Versuch einer methodologisch-methodischen Konzipierung von Intersektionalität an. Die von Winker und Degele entwickelte Intersektionale Mehrebenenanalyse ist ein beachtenswerter Analyserahmen, der sowohl verschiedene Ebenen miteinbezieht als auch die Frage nach der Auswahl und der Gewichtung der anzuwendenden Kategorien klärt. Walgenbach (2017, S. 80) konstatiert korrekt, dass Intersektionale Analysen nicht den Vorschlägen von Winker und Degeles Intersektionaler Mehrebenenanalyse folgen müssen. Handlungsleitend zur Konzipierung muss das eigene Erkenntnisinteresse sein. Weil die übergeordnete Fragestellung der vorliegenden Arbeit den Fokus auf strukturelle Ungleichheitsdimensionen legt und die Strukturebene zumindest als Ausgangspunkt der Analysen definiert bedarf es einer Adaption der Intersektionalen Mehrebenenanalyse. Wie diese Umsetzung der Intersektionalen Mehrebenenanalyse in der vorliegenden Arbeit konzipiert wird, wird in Abschnitt 2.3 Intersektionalität als theoretischer Bezugsrahmen der Arbeit ausführlich dargestellt.

2.3 Intersektionalität als theoretischer Bezugsrahmen der Arbeit

Die Theorie für Wohnungsnot kann nicht identifiziert werden (Albrecht, 1990, S. 19–41; John, 1988, S. 66–122; Paegelow, 2012, S. 34–36). Das Phänomen Wohnungsnot ist äußerst komplex, die Personengruppe sehr divers (Steckelberg, 2018) und die Forschung aus verschiedenen Fachbereichen und sehr vielfältig (Paegelow, 2012, S. 34).

Es müssen verschiedenen Ebenen betrachtet werden, um das Phänomen umfassend zu untersuchen. Dabei gilt es verschiedene Fragen zu klären: Was sind die strukturellen, gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von Wohnungsnot? Was sind Auswirkungen für das Individuum und dessen subjektive Lebenswirklichkeit? Was sind Normen und Erwartungen die zu der Stigmatisierung von Menschen in Wohnungsnot führen?

Für Intersektionalität ist das ähnlich. Es gibt nicht die Theorie von Intersektionalität. Es ist sogar strittig, ob Intersektionalität bereits eine eigenständige Theorie darstellt. Darüber hinaus gibt es verschiedene Debatten und Kontroversen sowie verschiedene Zugänge zu Intersektionalität (siehe Abschnitt 2.1.2 Kontroversen der Intersektionalität). So können, ausgehend von internationalen Theorietraditionen, in Europa insbesondere gesellschaftstheoretische Ansätze und in den USA rechtlich-politische Dimensionen, die die strategische Relevanz von Identitätspolitik und die materiellen Effekte von Rassismus fokussieren, ausgemacht werden (Davis, 2008a, S. 28–29). Diese verschiedenen Theorietraditionen bilden sich auch in den verschiedenen Zugängen respektive ‚approaches‘, die McCall (2005, S. 1773–1774) identifiziert, wieder. Dabei steht der antikategoriale Zugang in der Tradition dekonstruktivistischer und poststrukturalistischer Identitätstheorien (Davis, 2008a, S. 21–22; Walgenbach, 2017, S. 72; S. 74–75). Der interkategoriale Zugang hingegen fokussiert Ungleichheitsdimensionen und steht demnach für eine theoretische Analyseperspektive auf der Strukturebene (Walgenbach, 2017, 72; 75).

Die Intersektionale Mehrebenenanalyse von Winker und Degele bietet für den theoretischen Bezugsrahmen der Arbeit ein beachtenswertes Vorgehen an. Ihr Vorschlag einer Analyse fasst die verschiedenen Ebenen zusammen (Winker & Degele, 2009, S. 18–23), beantwortet, welche Kategorien wie gewichtet werden sollen (Winker & Degele, 2009, S. 15–18) und stellt die Bedeutung von Wechselwirkungen zwischen diesen Kategorien und Ebenen dar (Winker & Degele, 2009, S: 37–53; S. 68–79). Die theoretische Klammer der Intersektionalen Mehrebenenanalyse ist dabei die kapitalistische Akkumulationslogik, also die „kapitalistisch strukturierte Gesellschaft mit der grundlegenden Dynamik ökonomischer Profitmaximierung“ (Winker & Degele, 2009, S. 25). Herrschaftsverhältnisse werden dabei über das allgemein anerkannte, performativ wirksame Prinzip der Meritokratie, der „Herrschaft von Leistung“ (Winker & Degele, 2009, S. 53; S. 55) legitimiert. Bezogen auf die Kategorien Herkunft und Geschlecht wird das Postulat der Meritokratie legitimiert durch die Argumentation einer Naturalisierung vermeintlicher UngleichheitenFootnote 13.

Methodisch und methodologisch (Walgenbach, 2017, S. 79) beziehen sich Winker und Degele (2009, S. 63–67) für ihre Intersektionale Mehrebenenanalyse auf Bourdieus Theorie der Praxis und dem damit einhergehenden praxeologischen Ansatz sozialer Praxen von Individuen. Soziale Praxen, also soziales Handeln und Sprechen, so Winker und Degele (2009, S. 27), entwerfen Subjekte durch Identitätskonstruktionen in sozialen Kontexten. Bourdieus Forderung – „Theorie […] niemals um ihrer selbst Willen […] [zu entwickeln]“ (Winker & Degele, 2009, S. 64) –  folgend, argumentieren Winker und Degele (2009, S. 64) die Analyse im Alltag von Menschen zu beginnen. Diese Identitätskonstruktion über ein Zusammenspiel zwischen Individuum und Gesellschaft weist eine hohe Ähnlichkeit zu Tajfel und Turners (1986) sowie Festingers (1954) Identitätstheorien auf. Die ‚social comparison theory‘ nach Festinger und dessen Überlegungen zu Gruppenprozessen und Vergleichen mit anderen ist die Grundlage der, social identity theory‘ von Tajfel und Turner. Nach Tajfel und Turner (1986, S. 15–19) ist die soziale Identität bestimmt durch das Wissen um die Zugehörigkeit zu einer Gruppe und deren Bedeutung. Wichtig ist dabei die Einteilung in in-groups und out-groups sowie die (angenommenen) Zugehörigkeit zu einer in-group.

Diese Überlegungen wiederum weisen eine hohe Ähnlichkeit zu Goffmanns Verständnis von Stigmatisierung und der von ihm dabei zugeschriebenen Schlüsselfunktion von Identität auf (Engelhardt, 2010, S. 123; Goffman, 1963 siehe P. W. Corrigan, 2000; Link & Phelan, 2001 und das Abschnitt 3.8 Stigmatisierung und Wohnungsnot). Auch Goffman führt das meritokratische Prinzip der Herrschaft der Leistung an, welches eng verknüpft ist mit der kapitalistischen Logik der Verwertung der Ware Arbeitskraft. Denn stigmatisiert werden können alle, die nicht der meritokratischen Norm als ‚männlich, jung, verheiratet, weiß, städtisch, heterosexuell, protestantisch, mit guter Ausbildung, voll beschäftigt, gut aussehend, normal in Gewicht und Größe und mit Erfolgen beim Sport“ (Goffman, 1972, S. 158) entsprechen. Erfassung und Erforschung sozialer Ungleichheiten sind schließlich, ebenso wie Goffmanns Ausdifferenzierung in verschiedene Kategorien, der Intersektionalität sehr ähnlich. Schließlich weist auch Wohnungsnot zu diesen Überlegungen von Intersektionalität und Stigmatisierung eine hohe Verbindung auf. Wohnungsnot und die, dieser inhärenten, Armut stehen im Kontext des Nicht-Erfüllens der meritokratischen Leistungsnorm. So sind Menschen in Wohnungsnot überwiegend erwerbslos und beziehen Sozialleistungen (Gerull, 2018b, S. 31–32; Wolf, 2016, S. 11).

Intersektionalität und in besonderem Maße die Intersektionale Mehrebenenanalyse von Winker und Degele sind der theoretische Bezugsrahmen der vorliegenden Arbeit. Die Intersektionale Mehrebenenanalyse beschreibt ein Vorgehen, dass notwendig ist, um das komplexe Phänomen der Wohnungsnot zu erfassen. Dabei beschreibt die Intersektionale Mehrebenenanalyse die Notwendigkeit, verschiedene Ebenen zu untersuchen und insbesondere Ungleichheitsrelationen in den Blick zu nehmen. Diese Ungleichheitsrelationen wiederum sind eng verwoben mit Stigmatisierung und auch Wohnungsnot.

Die theoretische Verortung von Winker und Degeles Intersektionaler Mehrebenenanalyse weist dabei eine hohe Passung für die vorliegende Arbeit auf. Zum einen, weil Armut –  als ein Produkt von Kapitalismus – ein inhärenter Bestandteil von Wohnungsnot ist und zum anderen, weil Wohnungsnot sowohl strukturell und gesellschaftlich betrachtet werden muss als auch die individuellen Lebenswirklichkeiten der Menschen in Wohnungsnot erfasst werden müssen. Beide Perspektiven sind notwendig, um eine umfassende Analyse der Situation von Menschen in Wohnungsnot ermöglichen zu können. Neben der strukturellen und gesellschaftlichen Ebene stellt die Normenebene die Bedeutung der meritokratischen und kapitalistischen Gesellschaftsordnung und die davon abgeleitete Stigmatisierung von Menschen in Wohnungsnot dar. Stigmatisierungen stehen im Zentrum der vorliegenden Arbeit. Menschen in Wohnungsnot sind in besonderem Maße von Stigmatisierungen betroffen (Gerull, 2018b).

Des Weiteren bietet die Intersektionale Mehrebenenanalyse nach Winker und Degele einen Analyserahmen mit der Antwort, welche Kategorien auf welcher Ebene wie gewichtet werden sollen. Die Erläuterung der Adaption dieses Analyseinstruments für die vorliegende Arbeit erfolgt im Abschnitt 2.4 Intersektionalität als Analyseinstrument. Darüber hinaus bietet die Intersektionale Mehrebenenanalyse und die damit einhergehende Akzentuierung von vier Kategorien auf der Strukturebene einen Ordnungsrahmen für das komplexe Phänomen der Wohnungsnot (Abschnitt 2.5 Intersektionalität als Ordnungsrahmen).

2.4 Intersektionalität als Analyseinstrument

Die von Winker und Degele (2009) entwickelte Intersektionale Mehrebenenanalyse (siehe Abbildung 2.3) schlägt ein konkretes methodisches Vorgehen zur Analyse von sozialen Ungleichheiten vor. Ihr Ansatz ist sehr komplex und bedient sich drei unterschiedlicher Ebenen zu Bewertung (Winker & Degele, 2009, S. 18–23), welche Kategorien wie gewichtet werden sollen (Winker & Degele, 2009, S. 15–18) und stellt die Bedeutung von Wechselwirkungen zwischen diesen Kategorien und Ebenen dar (Winker & Degele, 2009, S. 37–53; S. 68–79).

Abbildung 2.3
figure 3

Graphische Darstellung der drei Ebenen der Intersektionalen Mehrebenenanalyse nach Winker und Degele (2009) und deren Vorschlag zur jeweiligen Kategorienbildung sowie Benennung der vier für Wohnungsnot als relevant herausgestellten Kategorien

Winker und Degele identifizieren vier Kategorien – Klasse, Geschlecht, ‚Rasse‘ und Körper –, die strukturelle Dominanz- und Herrschaftsverhältnisse bestimmen (Winker & Degele, 2009, S. 53). Für eine Analyse auf der Strukturebene müssen diese vier Kategorien deduktiv an das Material angelegt werden (Winker & Degele, 2009, S. 141).

Für die Analyse der Identitätsebene und der Normenebene postulieren Winker und Degele (2009, S. 141) hingegen eine prinzipielle Offenheit bei der Auswahl der Kategorien. Das heißt konkret, dass bei einer Analyse auf diesen beiden Ebenen Kategorien induktiv aus dem Material gebildet werden.

Ausgehend von Bourdieus Forderung nach einer Theorie der Praxis starten Winker und Degele (2009, S. 64) ihre Intersektionale Mehrebenenanalyse mit der Analyse des Alltags von Menschen und somit auf der Identitätsebene.

Daraus folgern Winker und Degele (2009, S. 80) acht konkrete Schritte für ihre Intersektionalen Mehrebenenanalyse (siehe Abbildung 2.2). Diese sind jedoch auf die Analyse von Interviews ausgerichtet und beinhalten ein prinzipiell induktives Vorgehen.

Der Fokus der vorliegenden Arbeit liegt indes auf der Untersuchung von strukturellen und gesellschaftlichen Unterschieden, also der Untersuchung der Strukturebene (siehe Kapitel 6 Methodische Schlussfolgerungen aus der Theorie). Die Umsetzung der Intersektionalen Mehrebenenanalyse muss demnach adaptiert und an die übergeordnete Fragestellung der Arbeit angepasst werden.

Die erste Anpassung erscheint marginal, beinhaltet jedoch eine relevante Auswirkung für den Fokus der Analyse und der Passung der übergeordneten Fragestellung der vorliegenden Arbeit. Es geht dabei um die Umbenennung der vier Kategorien. Winker und Degele (2009, S. 37–53) benennen die vier Kategorien Klasse, Geschlecht, ‚Rasse‘ und Körper. Die mit dem Begriff der ‚Rasse‘ einhergehende Diskussion wurde bereits in Abschnitt 2.1.4 Auswahl der Kategorien ausführlich dargestellt. Die Begrifflichkeit der (kulturellen) Herkunft – anstelle von ‚Rasse‘ – ist sowohl inhaltlich begründet (siehe Abschnitt 2.1.4) als auch im Kontext von Wohnungsnot die passendere Begrifflichkeit. Herkunft als Ungleichheitskategorie bietet sich für Wohnungsnot in besonderem Maße an, da Wohnungsnot eng verknüpft ist mit Vertreibung und Flucht (siehe Abschnitt 3.6 Das Hilfesystem von Wohnungsnot). Die Frage der Herkunft, beantwortet mit dem Gegensatz von Fremdheit und Heimat, ist dem Phänomen Wohnungsnot inhärent und hat gleichzeitig eine bedeutende Rolle in der strukturellen Versorgung sowie in der individuellen Lebensrealitäten von Menschen in Wohnungsnot (Steckelberg, 2018, S. 41–42).

Die Frage nach der Nützlichkeit des Begriffs der Klasse beziehungsweise die Richtigkeit des Abschieds von der Klassengesellschaft (Groß, 2015, S. 242) soll an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Dennoch wird der Begriff der Klasse in der vorliegenden Arbeit mit dem Begriff der Armut ersetzt. Dass der Begriff Armut eine Verengung der Bedeutung darstellt, wird aufgrund der Passung für den Kontext Wohnungsnot hingenommen. Wohnungsnot ist die extremste Form der Armut. Armut ist zugleich die Hauptursache von Wohnungsnot (Specht, 2017a, S. 29–31). Die Bezeichnung der Kategorie als Armut – anstatt als Klasse – verweist darüber hinaus auf die Konsequenz der strukturellen Benachteiligung in kapitalistischen Gesellschaften und gewinnt dadurch trotz der Verengung an Relevanz.

Schließlich wird auch die Begrifflichkeit Körper für die vorliegende Arbeit adaptiert und ersetzt durch den Begriff der Gesundheit. In der kapitalistischen Verwertungslogik in der Winker und Degele (2009, S. 49–51) den Begriff der Kategorie Körper sehen, steht auch die Adaption Gesundheit. Zwar postulieren sie einen allgemeinen Optimierungsdruck von Körpern in der kapitalistischen Verwertungslogik, jedoch geht es dabei insbesondere um körperlich gesunde Arbeitskräfte und deren Leistungsfähigkeit (Winker & Degele, 2009, S. 49). Gesundheit fokussiert diese Verwertungslogik des meritokratischen Prinzips und nimmt zugleich einen besonderen Stellenwert im Kontext von Wohnungsnot ein (siehe Kapitel 5 Gesundheit als Kategorie im Kontext Wohnungsnot).

Der Begriff Geschlecht wird – im Gegensatz zu den anderen von Winker und Degele eingeführten Begriffen – übernommen. In der vorliegenden Arbeit wird unter diesem Begriff allerdings sowohl das biologische Geschlecht –Sex – als auch die sozial und historisch-kulturell geformte Geschlechterrolle – Gender –verstanden.Dieses Verständnis erhöht die Komplexität der Analyse, bildet sich jedoch im methodischen VorgehenFootnote 14 der Untersuchungen ab. Winker und Degele (2009, S. 44–45) hingegen folgen Butlers Annahme „sex, gender und desire als keinesfalls in seine Bestandteile auflösbaren, sondern sich wechselseitig stützenden Machtkomplex [H. i. O.]“ zu sehen. Gemein ist dem Verständnis von Winker und Degele sowie dem Verständnis der vorliegenden Arbeit, dass eine Zuteilung in die Dichotomie weiblich und männlich über Fremd- und Selbstzuschreibungen passiert. Diese heteronormative Dichotomie wiederum basiert auf Macht- und Herrschaftsverhältnissen, die Gegenstand der Untersuchung von sozialer Ungleichheit sind (siehe Abschnitt 4.2.2 Sex und Gender im Kontext von Wohnungsnot).

Insbesondere die im Kontext von Wohnungsnot als besonders relevant identifizierten Kategorien Geschlecht und Gesundheit sollen in der vorliegenden Untersuchung in den Blick genommen und hinsichtlich ihrer Auswirkung für Menschen in Wohnungsnot untersucht werden. Geschlecht und Gesundheit legen den Fokus auf Unterschiede innerhalb der Gruppe der Menschen in Wohnungsnot. Armut und Herkunft sind inhärenter Bestandteil von Wohnungsnot und sollen demnach nicht nähergehend untersucht werdenFootnote 15.

Die zweite Adaption, nach der Umbenennung der Begriffe, betrifft das Vorgehen der Intersektionalen Mehrebenenanalyse.

Winker und Degeles (2009) Intersektionale Mehrebenenanalyse ist ein prinzipiell induktives Vorgehen (Baldin, 2014, S. 55), welches hauptsächlich für die Analyse von Interviews gedacht ist (Walgenbach, 2017, S. 79). Auch wenn sie die Berücksichtigung aller Ebenen schlüssig darstellen (Winker & Degele, 2009, S. 63–78), muss die Passung für den Fokus der vorliegenden Arbeit bezweifelt werden. Walgenbach (2017, S. 80) merkt jedoch an, dass Analysen nicht den Vorschlägen von Winker und Degeles Intersektionaler Mehrebenenanalyse folgen müssen, sondern, dass das eigene Erkenntnisinteresse handlungsleitend bei der Konzipierung von Untersuchungen sein soll.

Das Augenmerk der vorliegenden Arbeit liegt deutlich auf der Untersuchung von Unterschieden auf der Strukturebene (siehe Abschnitt 3.5.1 Verständnis von Wohnungsnot und Kapitel 6 Methodische Schlussfolgerungen aus der Theorie). Um dennoch das komplexe Phänomen Wohnungsnot umfassend untersuchen zu können und insbesondere die Bedeutung der Kategorien Geschlecht und Gesundheit in Bezug auf Stigmatisierung und Teilhabe zu erfassen, realisiert die vorliegende Arbeit zwei Zugänge zum Untersuchungsgegenstand. Diese zwei Zugänge – die Untersuchung der Öffentlichen Stigmatisierung und die Mixed-Methods-Untersuchung des Hilfesystems – erfassen über unterschiedliche methodische Ansätze die drei verschiedene Ebenen. Jedoch startet die hier dargestellte Adaption der Intersektionalen Mehrebenenanalyse mit der Untersuchung der Öffentlichen Stigmatisierung, um die als relevant für Wohnungsnot allgemein und für Stigmatisierung im Speziellen identifizierten Ungleichheitskategorien zu überprüfen. Das Augenmerk liegt dabei auf der Untersuchung von Unterschieden der Kategorien in der Öffentlichen Stigmatisierung. Entgegen Winker und Degeles Vorgehen beginnt die Analyse demnach auf der Strukturebene und nicht auf der Identitätsebene.

Für die benutzte Methode des Experiments (siehe Kapitel 7 Zugang 1: Öffentliche Stigmatisierung) werden vorab die als relevant identifizierten Kategorien – Geschlecht und Gesundheit sowie darüber hinaus Herkunft – hinlänglich ihres Einflusses auf die Stigmatisierung von Menschen in Wohnungsnot getestet.

Der zweite Zugang zum Untersuchungsgegenstand stellt das Hilfesystem dar. Das Hilfesystem der Wohnungslosenhilfe und insbesondere die qualifizierten Hilfen nach dem §§ 67–69 SGB XII sind essentiell für die Teilhabesituation von Menschen in Wohnungsnot (R. Lutz & Simon, 2017, S. 92–94). Ihre Aufgabe ist die Verbesserung der Teilhabe von Menschen in Wohnungsnot oder zumindest die Verhinderung einer verschlechterten Teilhabe und weiterer Exklusion. Mittels einer Mixed-Methods-Untersuchung wird die Bedeutung der Kategorien Geschlecht und Gesundheit für die Teilhabesituation aber auch die Stigmatisierung von Menschen in Wohnungsnot untersucht. Die Dokumentenanalyse innerhalb der Mixed-Methods-Untersuchung fokussiert die deduktiv erfassten Kategorien Geschlecht und Gesundheit. Auch die Inhaltsanalyse der Leitfadeninterviews erfolgt mittels dieser deduktiv ermittelten Kategorien. Allerdings gibt die Analysemethode der Kombination aus deduktiv und induktiv ermittelten Kategorien Raum für die Analyse der Identitätsebene (siehe Kapitel 6 Methodische Schlussfolgerungen aus der Theorie).

Somit ergibt sich eine deutliche Veränderung zu der von Winker und Degele vorgeschlagene Intersektionalen Mehrebenenanalyse. Der Vorschlag der konkreten acht Schritte zur Analyse wird aufgrund des Fokus der vorliegenden Arbeit abgelehnt. Jedoch erfolgt die Übernahme des Vorschlags, drei verschiedene Ebenen in den Blick zu nehmen und für die Analyse auf der Strukturebene deduktiv ermittelte Ungleichheitskategorien zu benützten. Die Adaption der von Winker und Degele vorgeschlagenen Kategorien ermöglicht es dabei, die Passung zur Thematik Wohnungsnot zu erhöhen.

2.5 Intersektionalität als Ordnungsrahmen für Wohnungsnot

Das Phänomen Wohnungsnot ist äußerst komplex. Die Personengruppe der Menschen in Wohnungsnot ist sehr heterogen und die Erklärungsansätze für Wohnungsnot sehr vielfältig. Klar ist, dass verschiedene Ebenen, nämlich die Strukturebene, die Identitätsebene und die Normenebene, betrachtet werden müssen, um das Phänomen umfassend zu untersuchen. Auch über die wissenschaftliche Beschäftigung mit Wohnungsnot hinaus, also beispielsweise in der ‚Sozialen Arbeit‘, muss der Blick auf die verschiedenen Ebenen erweitert werden.

Intersektionalität und dabei insbesondere die von Winker und Degele entwickelte Intersektionale Mehrebenenanalyse bietet sich dabei als Ordnungsrahmen für das komplexe Phänomen Wohnungsnot an. Die Intersektionale Mehrebenenanalyse definiert und erläutert die drei verschiedenen Ebenen, stellt mit dem Bezug auf Bourdieus Theorie der Praxis und seinen praxeologischen Ansatz sozialer Praxen von Individuen einen methodologischen und theoretischen Rahmen her und erklärt schließlich die Verbindung der einzelnen Ebenen über ein Modell von Wechselwirkungen. Des Weiteren benennen Winker und Degele vier Kategorien, die zur Analyse von Ungleichheiten auf der Strukturebene herangezogen werden sollen.

Dementsprechend kann die Intersektionale Mehrebenenanalyse auch als Erklärungsansatz von Wohnungsnot dienen: Wohnungsnot entsteht im gleichzeitigen Zusammenwirken von verschiedenen Kategorien, die sich gegenseitigen beeinflussen und Wechselwirkungen unterliegen. Betrachtet man Wohnungsnot differenziert auf den verschiedenen Ebenen, wird die mit der Komplexität des Phänomens einhergehende Unübersichtlichkeit von Wohnungsnot verringert. Die Adaption der benützten Kategorien auf der Strukturebene – Armut, Geschlecht, Herkunft und Gesundheit – ermöglicht die Analyse von Ungleichheiten im Kontext von Wohnungsnot. Dabei verweisen die vier Kategorien gleichzeitig auf ein Verständnis von Wohnungsnot, das explizit nicht individualisierend ist, sondern die vier Kategorien in den Mittelpunkt des Verständnisses von Wohnungsnot setzt. Armut muss dabei als die herausragende Kategorie gekennzeichnet werden, aber auch Herkunft ist ein inhärenter Bestandteil von Wohnungsnot. Geschlecht und Gesundheit weisen vor allem auf Ungleichheiten innerhalb der Gruppe der Menschen in Wohnungsnot hin, können aber auch als Erklärung für das Phänomen Wohnungsnot herangezogen werden. Wohnungsnot entsteht, respektive besteht aus dem Spannungsfeld zwischen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und individuellen Ursachen, Lebenslagen und Bedarfen. Inzwischen gilt als anerkannt, dass strukturelle Bedingungen wie Armut die Hauptursache für Wohnungsnot sind (Specht, 2017a, S. 29–31; Wolf, 2016, S. 15).

Die Normenebene verweist auf die Bedeutung von Normen und Werten im Kontext von Wohnungsnot. Dem performativen und wirksamen Prinzip der Meritokratie, der „Herrschaft von Leistung“ (Winker & Degele, 2009, 53; 55) und der damit einhergehenden gesellschaftlichen Anerkennung müssen eine große Bedeutung für Menschen in Wohnungsnot zugeschrieben werden (Gerull, 2018b, S. 31). Gleichzeitig legitimiert die Meritokratie dabei die kapitalistische Akkumulationslogik, die wiederum von Winker und Degele (2009, S. 25) als die theoretische Klammer für ihre Intersektionale Mehrebenenanalyse angeführt wird. Menschen in Wohnungsnot sind, ebenso wie Menschen in Armut, betroffen von Abwertungen und Ausgrenzungen, die auf dem Prinzip der Meritokratie beruhen (Gerull, 2018b, S. 31). Abwertungen und Stigmatisierungen haben einen großen Einfluss auf die Bedarfe und Lebenswirklichkeiten von Menschen in Wohnungsnot. Im Sinne des Labeling-Approach-Ansatzes, also der Übernahme von Vorurteilen, kann die Stigmatisierung die Verfestigung und Verelendung einzelner Personen in Wohnungsnot schlüssig erklären (siehe Abschnitt 3.8 Stigmatisierung und Wohnungsnot).

Der Einbezug der Identitätsebene ermöglicht es, individuelle Bedarfe zu erfassen und die Perspektive der Menschen in Wohnungsnot aufzunehmen. Dabei liegt die Leistung der Intersektionalen Mehrebenenanalyse als Ordnungsrahmen darin, keine individualisierende und defizitorientierte Perspektive einzunehmen, die insbesondere im Kontext von Wohnungsnot in der Vergangenheit erhebliche negative Konsequenzen für Menschen in Wohnungsnot hatte (Giffhorn, 2017b, S. 278–279). Die induktive Kategorienbildung auf der Identitätsebene ist dabei sowohl für wissenschaftliche Analysen als auch in der konkreten sozialen Arbeit mit Menschen in Wohnungsnot anzuwenden. Der Fokus liegt dann auf der Beantwortung der Fragen, „um welche Probleme, Themen und Fragen organisieren […] [Menschen in Wohnungsnot] ihr alltägliches Tun? Welche Differenzkategorien nutzen sie zur Darstellung und Konstruktion ihres Alltags“ (Winker & Degele, 2009, S. 64)?

Zur Analyse von Ungleichheiten wie Wohnungsnot sowie als handlungsleitend für die Organisation von Hilfestrukturen müssen die vier vorgegebenen Kategorien benützt werden. Induktiv identifizierte Kategorien müssen bei der wissenschaftlichen Analyse der individuellen Identitätskonstruktion und -darstellung sowie bei der Ermittlung von individuellen Bedarfen in der konkreten sozialen Arbeit erhoben werden. Insgesamt ist dabei wichtig zu beachten, dass das Zusammenwirken und gegenseitige Beeinflussen der verschiedenen Kategorien die individuelle Lebenswirklichkeit und Bedarfe von Menschen in Wohnungsnot abbildet. Das heißt konkret, dass die einzelnen Kategorien nicht isoliert betrachtet werden dürfen, sondern gerade deren Zusammenwirken im Mittelpunkt der jeweiligen Betrachtung stehen muss.

Obwohl Intersektionalität und insbesondere die intersektionale Mehrebenenanalyse von Winker und Degele (2009) eine beachtenswerte Perspektive im Kontext von Wohnungsnot anbieten, ist Intersektionalität im Kontext von Wohnungsnot – sowohl in der theoretischen Auseinandersetzung als auch der praktischen Sozialen Arbeit – nicht angekommen. Dabei ermöglicht es die Intersektionalität, die Komplexität von Wohnungsnot zu erfassen und gleichzeitig die Bedeutung verschiedener Kategorien zu unterstreichen. Eine Ausnahme bieten lediglich Reher (2016) und Steckelberg (2018), die eine Bedeutung von Intersektionalität respektive die Bedeutung der Betrachtung verschiedener Kategorien postulieren, Intersektionalität jedoch nicht als Ordnungsrahmen definieren. Zusammenfassend kann jedoch festgehalten werden, dass sich Intersektionalität als Ordnungsrahmen für Wohnungsnot anbietet, weil

  • es die Untersuchung von Ungleichheiten ermöglicht,

  • verschiedene Ebenen sowie deren Wechselwirkungen in den Blick genommen werden,

  • vier Kategorien als zentral für Ungleichheiten und Wohnungsnot benannt werden,

  • es auch individuelle Perspektiven ermöglicht,

  • es als Erklärungsansatz für Wohnungsnot benutzt werden kann,

  • es die Bedeutung von Stigmatisierung im Kontext von Wohnungsnot unterstreicht,

  • die theoretische Rahmung gut auf Wohnungsnot übertragen werden kann,

  • sich die Intersektionale Mehrebenenanalyse als Analyserahmen für die wissenschaftliche Untersuchung von Wohnungsnot anbietet.