Die Wohnungsfrage ist die soziale Frage unserer Zeit,

konstatiert Horst Seehofer, Bundesminister des Inneren, für Bau und Heimat und CSU-Mitglied, bereits Anfang Mai 2018 (Bundesministerium des Inneren, für Bau und Heimat, 2018). Diese Relevanzzuschreibung von Wohnen ist politischer Konsens (Bündnis 90 Die Grünen – Bundestagsfraktion, 2020; SPD-Fraktionen in den Ländern, im Bund und im EU-Parlament, 2018) und auch im Jahr 2021 aktuell (Fabricius, 2021; Kersting, 2021; Schuler, 2021). Mangelnder bezahlbarer Wohnraum ist eine der Hauptursachen von Wohnungsnot und Wohnungslosigkeit (Specht, 2017a, S. 29–31; Wolf, 2016, S. 15). Eine Tatsache, die auf der Hand liegt und inzwischen anerkannt ist. Dennoch wird Wohnungsnot häufig als persönliche Schwäche ausgelegt (Seibring, 2018). Diese Deutung entspricht dabei der klassischen Marginalisierung und Stigmatisierung von Wohnungsnot: Die Individualisierung der Problemlage (P. W. Corrigan, 2000, S. 51–52; Gerull, 2018b, S. 32; Phelan et al., 1997, S. 335; Teidelbaum, 2020, S. 38). Marginalisierung und Stigmatisierung sind inhärente Bestandteile von Wohnungsnot und Armut und führen im Endeffekt zur völligen Exklusion aus und Nicht-Teilhabe an der Gesellschaft (P. W. Corrigan, 2000, S. 53; Dittmann & Drilling, 2018, S. 290; Gillich & Nieslony, 2000, S. 89; Heine-Göttelmann, 2019, S. 16–17; Keicher, 2019, S. 175–176; Reifenbach, 2019, S. 14; Sedmak, 2012, S. 29). Fehlt Wohnraum, fehlt der existenziellste Lebensbereich des Menschen beschreibt Gerull (2011, S. 113) die Relevanz von Wohnungsnot für Teilhabemöglichkeiten passend. Stigmatisierungen im Bereich Wohnen und dem, mit Armut eng verknüpften Bereich Arbeit (P. W. Corrigan, 2000, S. 50–51) führen schließlich dazu, dass sich die Wohnungsnot von betroffenen Menschen verfestigt. Zugleich steigt die Anzahl der Personen in Wohnungsnot auf inzwischen 678.000 geschätzte Personen ohne Wohnung im Jahr 2018 stetig an (Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V., 2019e). Trotz dieser Fakten und der politischen Relevanzzuschreibung von Wohnen wird Wohnungslosigkeit bei der Feststellung von Wohnen als zentrales soziales Problem ausgeklammert (Dittmann & Drilling, 2018, S. 289), im Fokus steht stattdessen die politisch relevante Zielgruppe der Mittelschicht (Seibring, 2018).

Wer ohne eigenen und oder mietrechtlich abgesicherten Wohnraum lebt, wohnungslos oder gar obdachlos ist, verliert den Mittelpunkt für die soziale Existenz, einen Rückzugs- und Schutzraum sowie jedweden Raum für Privatheit (Gerull, 2011, S. 113; Hasse, 2009, S. 21–22). Die weitreichenden Konsequenzen werden in der weltweiten Corona-Pandemie besonders deutlich: Bestehende Ungleichheiten werden sichtbar und zugleich verstärkt (Butterwegge, 2020b). Die Wahrscheinlichkeit, schwer zu erkranken oder gar zu sterben, ist durch klassische intersektionale Ungleichheitsdimensionen (Crenshaw, 1989) wie Race (Alcendor, 2020; Aldridge et al., 2020; Dyer, 2020; Kumar et al., 2021), Class (Butterwegge, 2020a; Karmakar et al., 2021; Munir, 2021) und Gender (Fortier, 2020; Gibb et al., 2020; Linden, 2020; Palaiodimos et al., 2020) erheblich erhöht. Menschen in Wohnungsnot sind von den negativen Auswirkungen der Pandemie auf vielfältige Weise betroffen (Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V., 2020, S. 125). Sie sind höchst vulnerabel (Unterlerchner et al., 2020, S. 396–397), finden keinen Schutzraum und können Anordnungen und Empfehlungen nicht nachkommen (FEANTSA, 2020). Ferner mussten unterstützende Hilfseinrichtungen während der Hochphase schließen oder mindestens die eigene Kapazität deutlich einschränken (Busch-Geertsema et al., 2020, S. 12). Schließlich zeigen sich Ungleichheiten auch beim Schutz durch Impfungen, sind doch Menschen mit weniger Einkommen (bisher) deutlich seltener geimpft und damit seltener vor einem schweren Verlauf einer Covid19-Erkrankung geschützt (Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut der Hans-Böckler-Stiftung, 2021).

Trotz der Relevanz von Wohnen und der Evidenz der Stigmatisierung und Exklusion von Wohnungsnot ist der Umfang der Literatur und Forschung zu Wohnungsnot sehr begrenzt (Busch-Geertsema et al., 2019, S. 34; Dittmann & Drilling, 2018, S. 290; R. Lutz & Simon, 2017, S. 204). Dittmann und Drilling (2018, S. 290) resümieren zurecht einen großen Forschungsbedarf. Es besteht auch aufgrund der großen Komplexität von Wohnungsnot kein einheitlicher theoretischer Rahmen zum Verständnis von Wohnungsnot (Gillich & Nieslony, 2000, S. 143; Paegelow, 2012, S. 35). Die beachtlichen Auswirkungen von Wohnungsnot auf die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben werden zwar genannt, jedoch nicht explizit untersucht (Dittmann & Drilling, 2018, S. 290; Heine-Göttelmann, 2019, S. 16–17; Keicher, 2019, S. 175–176; Reifenbach, 2019, S. 14). Die Stigmatisierung von Wohnungsnot wurde bereits 1991 von Lee et al. respektive 1997 von Phelan et al. (1997, S. 323–327) untersucht und ist auch im deutschsprachigen Raum anerkannt (Gerull, 2018b; Neupert, 2019; Pollich, 2019; Ratzka, 2012, S. 1242–1243). Allerdings fehlt ein tieferes Verständnis der jeweiligen Stigmatisierungsprozesse und deren Auswirkungen auf Wohnungsnot. Darüber hinaus werden die Bedeutung der Ungleichheitsdimensionen, mit den Ausnahmen von Geschlecht – und hier insbesondere die Forderung nach frauenspezifischen Angeboten (Rosenke, 2017a, S. 306) – sowie Gesundheit – hier insbesondere der Blick auf die Prävalenz und die Bedrohung durch Krankheit (Schäfer-Walkmann & Bühler, 2011) –, nicht berücksichtigt. Eine intersektionale Perspektive auf das Zusammenwirken verschiedener Ungleichheitsdimensionen fehlt (nahezu) vollständigFootnote 1.

Die vorliegende Arbeit folgt der Forderung von Dittmann und Drilling nach mehr Forschung und legt ein besonderes Augenmerk auf das intersektionale Zusammenwirken der Kategorien Geschlecht und Gesundheit im Kontext von Wohnungsnot. Ausgehend von der Feststellung, dass Stigmatisierung ein inhärenter Bestandteil von Wohnungsnot ist und zugleich erhebliche Auswirkungen auf die Teilhabe von Menschen in Wohnungsnot hat, steht die Untersuchung der Stigmatisierung von Wohnungsnot im Zentrum des Forschungsinteresses. Zugleich werden die Kategorien Geschlecht und Gesundheit als zentral für Unterschiede innerhalb der Gruppe der Menschen in Wohnungsnot identifiziert. Die übergeordnete Fragestellung der vorliegenden Arbeit lautet demnach:

Welche Rolle spielen die Kategorien Geschlecht und Gesundheit für Stigmatisierung und Teilhabe im Kontext von Wohnungsnot?

Zur Beantwortung wird eine umfassende und in Art und Umfang bisher einmalige Multi-Methoden-Untersuchung durchgeführt. Vier verschiedene Studien, welche über zwei Zugänge realisiert werden, ermöglichen ein detailliertes und ausdifferenziertes Verständnis der Stigmatisierung von Wohnungsnot. Verortet auf der Strukturebene und rekurrierend auf Pryor und Reeders Manifestationen von Stigmatisierung (2011, S. 791) werden dabei insbesondere die Strukturelle und Öffentliche Stigmatisierung untersucht.

Aufgrund des erheblichen Forschungsbedarfs und der vielfältigen offenen Fragen, bedarf es, neben der umfangreichen Multi-Methoden-Untersuchung, einer umfassenden theoretischen Auseinandersetzung mit Wohnungsnot. Der Intersektionalen Mehrebenenanalyse von Winker und Degele (2009) kommt dabei eine herausragende Bedeutung bei. Ihr dreifaches Potential liefert sowohl einen Ordnungsrahmen für Wohnungsnot als auch einen theoretischen, methodologischen Rahmen sowie Implikationen zum methodischen Vorgehen.

Die Arbeit ist in zwei Abschnitte gegliedert. Im ersten Abschnitt (Kapitel 2 Theoretischer Bezugsrahmen: Intersektionalität bis Kapitel 6 Methodische Schlussfolgerungen aus der Theorie) erfolgt eine dezidierte Darstellung grundlegender theoretischer Überlegungen. Die verschiedenen empirischen Untersuchungen, deren Ergebnisse und schließlich die zentralen Erkenntnisse der gesamten Untersuchung erfolgen im zweiten Abschnitt (Kapitel 7 Zugang 1: Öffentliche Stigmatisierung bis Kapitel 9 Diskussion). Die zentrale Bedeutung der Intersektionalität (Abschnitt 2.1 Was ist Intersektionalität?) sowie der Intersektionalen Mehrebenenanalyse (Abschnitt 2.2 Die Intersektionale Mehrebenenanalyse von Winker und Degele) werden zu Beginn ausführlich betrachtet. Die Intersektionale Mehrebenenanalyse bildet den theoretischen Bezugsrahmen der vorliegenden Arbeit (Abschnitt 2.3 Intersektionalität als theoretischer Bezugsrahmen der Arbeit). Zugleich bietet sich die Mehrebenenanalyse als Analyseinstrument an, welches explizite Implikationen für den methodischen Aufbau der Arbeit liefert (Abschnitt 2.4 Intersektionalität als Analyseinstrument). Schließlich schafft diese intersektionale Perspektive einen deutlichen Mehrwert zum besseren Verständnis von Wohnungsnot (Abschnitt 2.5 Intersektionalität als Ordnungsrahmen für Wohnungsnot). In Kapitel 3 Wohnungsnot werden unter anderem Wohnungsnot definiert (Abschnitt 3.1 Definition von Wohnungsnot) und der Forschungsstand sowie der Forschungsbedarf erläutert (Abschnitt 3.2 Forschungsstand und Forschungsbedarf). Die Beschreibung der Konsequenzen von Wohnungsnot (Abschnitt 3.4 Konsequenzen von Wohnungsnot) ermöglicht eine ausführliche Erfassung der Exklusionen und Teilhabeeinschränkungen der von Wohnungsnot betroffenen Personen. In einem weiteren Kapitel (Abschnitt 3.5 Erklärungsansätze von Wohnungsnot) wird das der Arbeit zugrundeliegende Verständnis von Wohnungsnot, welches sich auch aus der Intersektionalen Mehrebenenanalyse ergibt, eingeführt. Besondere Bedeutung kommt schließlich der Erläuterung der Stigmatisierung von Wohnungsnot zu. Neben der Beschreibung der Entwicklung des Hilfesystems, welches von der Marginalisierung und Stigmatisierung von Wohnungsnot geprägt ist (Abschnitt 3.6 Das Hilfesystem für Wohnungsnot), wird die Stigmatisierung von Wohnungsnot detailliert dargelegt (Abschnitt 3.8 Stigmatisierung und Wohnungsnot). Die intersektionale Bedeutung verschiedener Kategorien für Wohnungsnot wird in Abschnitt 3.7 Kategorien von Wohnungsnot erläutert. Die im Fokus der vorliegenden Arbeit stehenden Kategorien Geschlecht und Gesundheit erhalten dabei jeweils ein eigenes übergeordnetes Kapitel (Kapitel 4 Geschlecht als Kategorie im Kontext Wohnungsnot und Kapitel 5 Gesundheit als Kategorie im Kontext Wohnungsnot), in denen die Relevanz, die Auswirkung aber auch das Zusammenwirken der Kategorien profund beschrieben werden. Die theoretischen Erkenntnisse zusammenfassend werden in Kapitel 6 Methodische Schlussfolgerungen aus der Theorie zusammengefasst und darüber hinaus der sich aus den theoretischen Überlegungen ergebende methodische Aufbau der Arbeit vorgestellt.

Die Multi-Methoden-Untersuchung ist über zwei verschiedene Zugänge – die Untersuchung der Öffentlichen Stigmatisierung und die Untersuchung der Strukturellen Stigmatisierung – realisiert. In Kapitel 7 Zugang 1: Öffentliche Stigmatisierung erfolgt die ausführliche Erläuterung der durchgeführten experimentellen Untersuchung. Ziel, Vorgehen, Ergebnisse sowie Diskussion und verschiedene Limitationen dieser Ergebnisse können jeweils verschiedenen Unterkapiteln des Kapitel 7 entnommen werden. Der zweite Zugang, die Untersuchung der Strukturellen Stigmatisierung bestehend aus drei verschiedenen Studien, ist als Mehrphasen-Mixed-Methods-Design konzipiert (Schreier & Odağ, 2017, S. 13). Nach der Darlegung der übergeordneten Fragestellung des zweitens Zugangs (Abschnitt 8.1 Ziel) und des Vorgehens beim zweiten Zugang (Abschnitt 8.2 Vorgehen) erfolgt die detaillierte Ausführung der sequenziell-explorativen Mixed-Methods-Dokumentenanalyse mit ihrer qualitativen und quantitativen Inhaltsanalyse (Abschnitt 8.3 Dokumentenanalyse). Die eng mit der Dokumentenanalyse verknüpfte Leitfadeninterviewstudie (Abschnitt 8.4 Leitfadeninterviews) kontextualisiert die Ergebnisse der Dokumentenanalyse. Auch hier erfolgt die gründliche Schilderung von Ziel, Vorgehen und Ergebnissen. Die gesamte Mehrphasen-Mixed-Methods-Untersuchung des zweitens Zugangs wird abschließend diskutiert und kritisch beleuchtet, wobei explizit Limitationen der Mehrphasen-Mixed-Methods-Untersuchung aufgeführt werden (Abschnitt 8.5 Diskussion).

Im letzten Kapitel werden die zentralen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit mit ihren theoretischen Implikationen und den Ergebnissen der Muli-Methoden-Untersuchung zusammengefasst (Kapitel 9 Diskussion). Differenziert erläutert werden die Erkenntnisse in Bezug auf die Stigmatisierung von Wohnungsnot (Abschnitt 9.1 Stigmatisierung von Wohnungsnot) und die Kategorien Geschlecht und Gesundheit (Abschnitt 9.2 Kategorien Geschlecht und Gesundheit). Des Weiteren erfolgt die Diskussion des methodischen Vorgehens (Abschnitt 9.3 Diskussion der Methode) und es wird eine Übersicht über die Limitationen der gesamten Multi-Methoden-Untersuchung gegeben (Abschnitt 9.4 Limitationen). Schließlich werden im letzten Kapitel ein Fazit der gesamten Arbeit gezogen und Implikationen formuliert. Die Arbeit schließt mit einem Ausblick auf notwendige zukünftige Studien.