Wir haben bisher einerseits die diskursiven Entwicklungen rekonstruiert, die zur Schwäche der Rechtssoziologie in Deutschland mit beigetragen haben. Andererseits haben wir in diesen Diskursen die Spuren einer responsiven Rechtssoziologie identifizieren können, die sich aus nachvollziehbaren Gründen zunächst nicht durchgesetzt hat. Diese Gründe liegen, wie wir gesehen haben, in einer Konstellation konkurrierender Reflexionsdiskurse, welche die Ausformulierung einer responsiven Reflexionstheorie, eines symmetrischen Modells interdisziplinärer Kooperation, auch für die systemtheoretische Rechtssoziologie erschweren, obwohl diese über die theoriearchitektonischen Mittel dafür verfügt. Sie findet sich, wie beschrieben, in einem reflexionstheoretischen Trilemma zwischen Recht, Politik und Wissenschaft wieder. Eine Möglichkeit, dieses Trilemma aufzulösen, liegt in einer responsiven Soziologie des Rechts, aus deren Perspektive die beiden anderen Sichtweisen als Praxisdiskurse innerhalb einer Rechtssoziologie als Wissenschaft mitsprechen können. Die historische Konstellation hat eine solche Lösung wohl nicht als aussichtsreich erscheinen lassen. Der Abschied der deutschen Soziologie vom Recht in den 1980er und 1990er Jahren erscheint vor diesem Hintergrund unter anderem als eine Konsequenz reflexionstheoretischer Enthaltsamkeit der systemtheoretischen Rechtssoziologie.

Diese zunächst nur schwach erkennbaren Spuren von Responsivität beginnen sich seit einiger Zeit zu verdichten. Anlässe für eine Neubewertung der Situation finden sich zwar kaum in den Hauptströmungen der Soziologie, die weiterhin kein Interesse an der Rechtssoziologie erkennen lässt. Vielmehr vollziehen sich Veränderungen von er deutschsprachigen Soziologie womöglich unbemerkt, zum Teil in anderen Weltregionen, ebenso aber auch im Schatten des Mainstreams der Soziologie oder in deren Umwelt, etwa in der (soziologischen) Jurisprudenz. In etlichen neueren Denkbewegungen lassen sich in diesen Randbereichen der Soziologie Konturen einer responsiven Rechtssoziologie identifizieren, die eine reflexionstheoretische Neuorientierung auch in der systemtheoretischen Rechtssoziologie motivieren können.

Im Folgenden beleuchten wir diesen Aspekt, indem wir zunächst einen kurzen Blick auf die Diskurse der Rechtssoziologie im globalen Zusammenhang werfen. Denn hier werden zwar bekannte Muster wieder sichtbar, jedoch lassen innovative Ansätze rechtssoziologischer Theoriebildung auch neue Strukturen der Reflexion erkennen. Der Blick auf die Weltgesellschaft wird deshalb dabei helfen, die Signifikanz der geschilderten Entwicklungen in der deutschsprachigen Rechtssoziologie in globaler Perspektive besser einzuschätzen. Es wird erkennbar, inwiefern die geschilderten Entwicklungen andernorts in vergleichbarer Gestalt auftreten. Die Geschichte der deutschsprachigen Rechtssoziologie steht damit, trotz aller Besonderheiten, zugleich auch für verbreitet auftretende Probleme des Feldes. Der Blick auf globale Entwicklungen ermöglicht es zudem, die Suche nach Hinweisen auf responsive Reflexionstheorien zu verbreitern (Abschn. 6.1). Diese Suche im globalen Raum wird durch eine Betrachtung von Entwicklungen bestärkt, die in fachlicher Hinsicht am Rande der Soziologie oder außerhalb dieser, nämlich in den Debatten der soziologischen Jurisprudenz Gestalt angenommen haben. Hier werden Theorien des Rechts weiterentwickelt, aus denen sich zusätzliche Anhaltspunkte für eine responsive Soziologie des Rechts gewinnen lassen. Eine solche responsive Rechtssoziologie lässt sich als Ausdruck einer sich professionalisierenden Soziologie interpretieren (Abschn. 6.2). Nachdem in dieser Weise die reflexionstheoretischen Untersuchungen zu einem Abschluss kommen, werden am Ende die gegenstandstheoretischen Konturen der responsiven Rechtssoziologie kurz angedeutet, um die im zweiten Band erörterten Beispiele inhaltlich vorzubereiten Der Argumentationsbogen, welcher mit den Problemen einer soziologischen Theorie des Rechts begonnen und von dort aus zu reflexionstheoretischen Untersuchungen geführt hatte, schließt sich so mit einem Ausblick auf die rechtssoziologische Gegenstandstheorie (Abschn. 6.3).

6.1 Globale Diskurse und neue Perspektiven

Die Diskurskonstellation, aus der sich die systemtheoretische Rechtssoziologie zurückzog, ist, wie wir anhand der Quellen deutlich zu machen versucht haben, zunächst einmal charakteristisch für die Entwicklung in Deutschland. Insofern kann man, im Sinne von Teubners drei „Theoriekatastrophen“ (vgl. Kap. 1) in gewisser Weise von einem deutschen Sonderweg sprechen, der sich insbesondere auch in der institutionellen Schwäche des Feldes bemerkbar macht, die wir im zweiten und fünften Kapitel analysiert haben. Auch auf globaler Ebene finden sich viele Aspekte dessen wieder, was wir am deutschen Beispiel kennengelernt haben. Das soll im Folgenden erörtert werden mit dem Ziel, zumindest anzudeuten, dass es sich bei den bisher untersuchten Entwicklungen tatsächlich um strukturelle Problemlagen handelt, die nicht allein auf die Imponderabilien nationaler oder regionaler Wissenschaftsentwicklung zurückzuführen sind, sondern systematischen Charakter im Hinblick auf rechtssoziologische Gegenstands- und Reflexionstheorie haben, auch wenn sich die für Deutschland ausschlaggebenden Konstellationen andernorts nicht in derselben Form und Deutlichkeit eingestellt haben mögen. Für unsere Fragestellung ist darüber hinaus aber von Bedeutung, dass sich in der Wissenschaft der Weltgesellschaft neben den bekannten Mustern auch neue Formen rechtssoziologischen Denkens etablieren konnten, aus denen sich empirisches Material bei der Suche nach den Bedingungen und Möglichkeiten responsiver Rechtssoziologie gewinnen lässt.

Wenn wir uns die im deutschen Kontext identifizierten Reflexionsdiskurse in Erinnerung rufen, erkennt man mit Bezug auf die Weltgesellschaft das Konzept der Rechtstatsachenforschung in seiner Reinform heute wohl nur noch in rechtssoziologischen Nischen. Oft mischt es sich mit anderen Modellen. Weltweit tritt der vor allem von „kritischen“ Juristen vertretene Diskurs der engagierten Rechtssoziologie in den Vordergrund, der – orientiert an politischen Relevanzen – in den meisten Kontexten den selbstverständlichen und kaum mehr problematisierbaren Kontext rechtssoziologischen Arbeitens bildet (Abschn. 6.1.1). In vielen Fällen ist dieser Diskurs gepaart mit marxistischen Theoriebeständen, die teilweise in modernisierter Form und unter Verwendung Bourdieuscher und Foucaultscher Terminologie in Erscheinung treten. Ebenfalls verbreitet stößt man sodann auf einen „neuen Pragmatismus“, der sich als Antwort auf die offenkundigen theoretischen Probleme des engagierten Diskurses gebildet hat. In diesem pragmatischen Modell verkörpert sich vor allem die für Deutschland bereits diagnostizierte Beliebigkeit der zahllosen thematischen „Ansätze“ und Topoi (Abschn. 6.1.2). Schließlich haben sich aus dem alten Theorie-Empirie-Streit heraus Strömungen rechtssoziologischer Theorieproduktion gebildet, die sich mit der resignativen Haltung des Pragmatismus nicht zufriedengibt und deshalb weiterhin den Anspruch auf rechtssoziologische Theorie vertritt, diesen aber häufig mit einer kritischen Perspektive verbindet. Man kann in diesem Diskurs einer „Kritischen Rechtssoziologie“ den Versuch vermuten, zu Reformpolitik unter Wahrung theoretischer Ambitionen zurückzukehren. Interessant sind dabei seit geraumer Zeit vor allem konstruktive Konzepte neuer Theorieproduktion, in denen man in Einzelfällen das Potenzial einer responsiven Interdisziplinarität erkennen kann. Nicht selten operieren sie heute mit Bezug auf die soziologische Systemtheorie (Abschn. 6.1.3). Sie verweisen zugleich auf eine neue soziologische Jurisprudenz. Der zweite Abschnitt dieses Kapitels wird sich ausführlich mit den reflexionstheoretischen Potenzialen dieser zuletzt genannten rechtstheoretischen Strömung befassen.

Für die folgende kurze Darstellung wird neben Primärquellen auch auf vergleichende Überblicke zurückgegriffen, die in den vergangenen Jahrzehnten erschienen sind. Dazu zählen neben den früheren Sammlungen von Treves und van Loon (1968) und Ferrari (1990) beispielsweise das Schwerpunktheft von The American Sociologist 2001, außerdem eine seit Jahren in loser Folge im Journal of Law and Society erscheinende Reihe von Beiträgen zur Situation in einzelnen Ländern (Hydén 1986; Noreau und Arnaud 1998; García-Villegas 2006; Arthurs und Bunting 2014; Economides 2014; Colson und Field 2016; Bora 2016; Skapska 2019; Yang 2001; Murayama 2013), deren Ziel in der Summe ebenfalls ein vergleichender Überblick ist, weiterhin Heft 44(S1) (2017) des Journal of Law and Sociology zum Thema „Main Currents in Contemporary Sociology of Law“, oder ein Schwerpunktheft des International Journal of Law in Context Vol. 12 (2016) zum Thema „Comparative Socio-Legal Studies“.

6.1.1 Rechtssoziologie als engagierte Wissenschaft – Reformpolitik qua social engineering

Das reflexionstheoretische Modell der engagierten Rechtssoziologie ist aus der Rekonstruktion der Entwicklung in Deutschland bis 1970 schon vertraut (vgl. oben Abschn. 5.1.2). Dieser Diskurs der kritischen, reformpolitischen Rechtssoziologie, den wir als von der Autonomie des Politischen bestimmt kennengelernt hatten, ist weltweit verbreitet und prägt die Lage in vielen Regionen, jedenfalls soweit wohlfahrtsstaatliche Modelle auch die Rechtspolitik beeinflussen (vgl. dazu Esping-Andersen 1990; Schmid 2002). Rechtssoziologie begreift sich in diesem wohlfahrtsstaatlichen Zusammenhang, wie wir unter dem Stichwort „rationale Rechtspolitik“ verschiedentlich bereits angesprochen hatten, als ein Instrument im Dienste sozialstaatlicher Reformpolitik. Der Diskurs hat sich heute weithin von seinen marxistischen Wurzeln gelöst, allerdings ohne neue theoretische Fundamente zu legen. Mehr noch, er ist häufig sogar durch einen ausgeprägten anti-theoretischen Reflex gekennzeichnet, wie wir dies auch in der deutschsprachigen Rechtssoziologie in Einzelfällen, etwa am Beispiel von Blankenburgs Freiburger Vortrag (Blankenburg 1994, oben Abschn. 5.1.2.4) beschrieben hatten. Unter anderem deshalb beobachtet man eine Konzentration auf gesellschaftliche Reformprojekte, auf die wissenschaftliche Begleitung und Förderung entsprechender Akteure und Bewegungen im politischen Feld.

Das gilt beispielsweise für die sozialdemokratische Variante des Wohlfahrtsstaates in Skandinavien. Dort spielten reformpolitische Diskurse der Rechtssoziologie in den vergangenen Jahrzehnten eine herausragende Rolle (vgl. Hammerslev und Madsen 2014, 399 ff.). Seit den Nachkriegsjahrzehnten dominierten vor dem Hintergrund des expandierenden Wohlfahrtsstaats vor allem reformpolitische Arbeiten, etwa zu Rechtsprofessionen (Bertilsson 1996), Konfliktlösung und einzelnen rechtspolitischen Fragen (Mathiesen 1965, 1974, 2013). In Schweden führten die reflexionstheoretischen Engpässe dieses Konzepts, wie wir weiter unten sehen werden, zu pragmatistischen Ansätzen. In Dänemark beförderten sie eine Umorientierung in Richtung auf den Diskurs der kritischen Rechtssoziologie.

Die beherrschende Position der engagierten Rechtssoziologie ist in vergleichbarer Weise auch in der liberalen Spielart wohlfahrtsstaatlichen Denkens, etwa in den USA und Kanada, zu erkennen. Von den USA strahlt das Modell über einflussreiche Wissenschaftsorganisationen weltweit aus. Die US-amerikanische Rechtssoziologie hatte sich von Anfang an von der soziologischen Theorie ferngehalten, aus Gründen, die im legal realism und der sociological jurisprudence zu suchen sind (vgl. auch García-Villegas 2006). Das führte einerseits zu einem Erfolg des Feldes in der Rechtsprechung und in den Law Departments, was in vergleichbarer Form auch für Kanada zutrifft (Arthurs und Bunting 2014). Dieser Erfolg beruht andererseits aber auf einer Variante des social engineering, die sich wegen der Orientierung an den Bedürfnissen kritischer Praxis einer anspruchsvollen theoretischen Reflexion systematisch verweigern muss. Diese Diagnose trifft insbesondere die verschiedenen Generationen der Critical Legal Studies, die sich, wie Frankenberg bemerkt, vom (Post-)Marxismus hin zur Literaturkritik entwickeln und durch wenig mehr zusammengehalten werden als ihren kritischen Habitus. Sie „präsentieren sich weder als einheitliche Theorie noch als geschlossenes Kritikprojekt“ und sind sich vor allem einig „in der Ablehnung von Großtheorien“ (Frankenberg 2006, 103) und der Verallgemeinerung einer Hermeneutik des Verdachts (ebd., 108 f.). Deshalb leiden diese Diskurse unter den oben (Abschn. 5.1.2) für die engagierte kritische Rechtssoziologie beschriebenen Problemen.

Zwar sind in den USA jenseits solcher Strömungen seit Parsons auch immer Versuche einer rechtssoziologischen Theorieproduktion zu beobachten gewesen. Diese haben allerdings das rechtssoziologische Denken nur wenig beeinflusst und auch am Erscheinungsbild der US-amerikanischen Rechtssoziologie insgesamt wenig zu ändern vermocht. In gewisser theoriearchitektonischer Nähe zu Talcott Parsons hat beispielsweise Donald Black eine formale Soziologie entwickelt, aus der verschiedene Untersuchungen rechtssoziologischer Natur hervorgegangen sind (Black 1976, 1995). Diese basieren im Kern auf einer Theorie der sozialen Kontrolle und identifizieren im Recht vier grundlegende „Stile“, die als „penal, compensatory, conciliatory, and therapeutic“ bezeichnet werden. Sie werden mit fünf Dimensionen des „sozialen Raums“ kombiniert, woraus sich Quantität und Stil des Rechts in unterschiedlichsten sozialen Situationen sollen erklären lassen. Man könnte neben der formalen Verwandtschaft zu Parsons vor allem auch eine gewisse abstrakt-konzeptionelle Nähe zu Geigers Behaviorismus attestieren, wobei Black gerade keine Normtheorie entworfen hat und deshalb rechtssoziologisch wie die im fünften Kapitel angesprochenen soziologischen Theorien im Grunde unterkomplex geblieben ist. In der allgemeinen Soziologie und in der Rechtssoziologie ist sein Werk nur wenig rezipiert worden, anders als es die Black-Schülerin Mary P. Baumgartner (Baumgartner 2001) sehen wollte. Im Ergebnis gibt es deshalb wenig Anlass, die Diagnose einer generellen Theorieferne der US-amerikanischen Rechtssoziologie in Zweifel zu ziehen, wie auch Wrase feststellt, der mit Blick auf die USA meint, die Soziologie als Disziplin habe dort bereits Ende der 60er Jahre ihr eigenständiges Interesse am Recht verloren (Wrase 2006, 10). Das hatte weitreichende Folgen für die internationale Rechtssoziologie. Denn nicht nur die American Bar Foundation mit der Zeitschrift „Law & Social Inquiry“, sondern insbesondere auch die „Law and Society Association“ (LSA) mit ihrem Journal „Law and Society Review“ dominieren in den USA und weit darüber hinaus institutionelle Strukturen, Karrierewege und Themenkonjunkturen der Rechtssoziologie. Dies geht, wie gesagt, mit einem weitreichenden Verzicht auf soziologische Theorie des Rechts einher. Folgerichtig gibt es auch in der internationalen soziologischen Fachgesellschaft, dem „Reseaach Committee on the Sociology of Law“, das in der International Sociological Association die Rechtssoziologie betreut und weitreichende personelle Überschneidungen mit der LSA aufweist, in der langen Liste von thematischen Arbeitsgruppen keine, die der Theorie der Rechtssoziologie gewidmet wäre. Man konzentriert sich auf eine breite Palette an Themenfeldern im Sinne des von Röhl so bezeichneten „law and something“ (vgl. oben Abschn. 5.3.3) und bewegt sich damit bereits auf eine „pragmatische“ Position zu.

6.1.2 „Neuer Pragmatismus“

Auf reformpolitisch weniger ambitionierte rechtssoziologische Diskurse stoßen wir in konservativ gefärbten Modellen des Wohlfahrtsstaates wie beispielsweise in Deutschland und Frankreich sowie in etlichen postsozialistischen Staaten, teilweise aber auch in späteren Phasen der Entwicklung in Schweden und Großbritannien. Die Abwendung vom ernsthaften Bemühen um soziologische Theorie des Rechts, die den Diskurs der engagierten Wissenschaft seit der Jahrtausendwende prägt, hat, wie wir am deutschen Beispiel schon gesehen haben, nahezu zwangsläufig eine Auflösung der fachlichen Konturen zur Folge. Die Aversion gegen komplexe Theorie mündet bisweilen in wissenschaftlich eher anspruchslose „empirische Rechtsforschung“, die bereits im Titel jeden Bezug zur Rechtssoziologie tilgt und damit auf größere Anschlussfähigkeit hofft (Wrase 2006, Boulanger et al. 2019, siehe oben Abschn. 5.3.3). Diese stellt sich allerdings innerhalb der Wissenschaft kaum ein, jedenfalls was die Soziologie betrifft. Die „empirische Rechtsforschung“ wird innerhalb der Soziologie praktisch nicht wahrgenommen. Sie tilgt alle theoretischen Ansprüche – also auch den einer sachangemessenen Reflexionstheorie –, bewahrt von der engagierten Rechtssoziologie jedoch deren Anspruch gesellschaftspolitischer Relevanz.

Diese aus den vorangegangenen Kapiteln bekannten Auflösungstendenzen, die in eine heterogene Mischung von „Ansätzen“ der sogenannten empirischen Rechtsforschung mündeten, haben auch auf globaler Ebene Gestalt angenommen. Im Unterschied zu der Situation, wie wir sie in den 1970er Jahren in Deutschland kennen gelernt hatten, ist die damals grundlegende theoretische Hintergrundgewissheit, die unhintergehbare Selbstverständlichkeit einer theoretisch begründeten kritischen Haltung, nunmehr weithin verloren gegangen. Der „neue Pragmatismus“ bildet insofern die konsequente Fortsetzung der Entwicklung, die wir in den 1980er Jahren bereits kennengelernt hatten. Dies lässt sich in unterschiedlichen nationalen Kontexten beobachten.

Reflexionstheoretische Spannungen prägen über lange Zeit die Lage in Frankreich. Ende der 1990er Jahre charakterisieren Noreau und Arnaud (Noreau und Arnaud 1998) die Situation als sehr schwierig für die Rechtssoziologie, trotz deren Verankerung in der für Frankreich zentralen Durkheim-Tradition. Sie sei, so Noreau und Arnaud, durch acht „Paradigmen“ geprägt. Sie nennen in diesem Zusammenhang erstens die empirische Rechtsforschung, vor allem Jean Carbonnier und das Laboratoire de sociologie juridique, zweitens eine an Max Weber orientierte Variante empirischer Forschung, drittens eine rationalistische Richtung der Organisationsforschung, viertens die Bourdieusche Analyse des rechtlichen Feldes mit einer starken professionssoziologischen Ausrichtung, fünftens die Interpretation von Rechtssoziologie als politische Soziologie (Jacques Commaille), sechstens eine Soziologie sozialer Kontrolle (Pierre Lascoumes, Wanda Capeller), siebtens Studien zum Rechtspluralismus (André-Jean Arnaud) und zur alternativen Konfliktlösung sowie achtens zur rechtlichen Sozialisation. Auffällig ist einerseits die starke Heterogenität des rechtssoziologischen Feldes, die in dieser Liste teils in Form von Theoriebeständen, teils in Gestalt von Themen zum Ausdruck kommt. Andererseits ist die französische Rechtssoziologie stets in außergewöhnlich starkem Maße auf den Staat ausgerichtet im Unterschied zu anglo-amerikanischen Rechtssoziologien, die entweder auf Zivilgesellschaft oder auf Rechtsprechung blicken (ebd., 278). Noreau und Arnaud sprechen deshalb von einer „republikanischen“ Rechtssoziologie in Frankreich. Diese ist im Unterschied zu anderen Traditionen gerade keine Soziologie der Norm oder des Konflikts (ebd.) und bleibt für die allgemeine Soziologie eher marginal, ebenso wie für die Rechtswissenschaften, in denen sie nicht vertreten ist und tendenziell abgelehnt wird (ebd., 281). Soweit sie theoretisch orientiert ist – gut erkennbar am Beispiel der traditions- und einflussreichen Zeitschrift „Droit et Société“ –, gelingt ihr auch kein Brückenschlag zu politischen Reformdiskursen (ebd., 282). Die Lage der französischen Rechtssoziologie jener Jahre lässt sich vor diesem Hintergrund mit der deutschen Situation vor der großen reformpolitischen Euphorie vergleichen. Die Rechtssoziologie befindet sich wissenschaftspolitisch im Wartestand und ist intern durch hohe Heterogenität gekennzeichnet.

Knapp zwanzig Jahre später bekräftigen Colson und Field diese Befunde (Colson und Field 2016). Die Rechtswissenschaften sind trotz historisch weit zurückreichenden Austauschs zwischen den Fächern durch eine fundamentale Abwehr der Soziologie in der Jurisprudenz gekennzeichnet. Ursachen dafür sind unter anderem im zentralistischen, machtförmig organisierten Aufbau der Fakultäten zu suchen (Colson und Field 2016, 292 ff., 296 ff.). Anzeichen für eine Veränderung innerhalb der Jurisprudenz sind auch Mitte der 2010er Jahre noch dünn gesät (ebd., 300 ff.). Außerhalb der Rechtswissenschaft haben Politikwissenschaft und Ökonomie an Bedeutung gewonnen. Colson und Field schlagen am Ende vor, Foucault, Bourdieu oder Latour für die Analyse des Rechts nutzbar zu machen und münzen dies in ein abschließendes Plädoyer für mehr empirische Forschung und verstärkte interdisziplinäre Kooperation um (ebd., 309 ff.). Man erkennt unschwer, dass das für uns zentrale reflexionstheoretische Problem auch in diesen diskursiven Konstellationen hinter den traditionellen Mustern disziplinärer Selbstbeschreibung verblasst. Man sucht gangbare Wege jenseits festgefahrener Lagerkämpfe, bezieht in diesem Sinne also eine „pragmatische“ Position.

Vergleichbares lässt sich über Belgien sagen, wo unabhängig von der grundlegenden kulturellen Dichotomie zwischen den frankophonen und flämischen Landesteilen die Orientierung an einem wenig ausgeprägten Modell der empirischen Rechtsforschung vorherrscht (Parmentier 2016) und eine Form wechselseitig indifferenter Koexistenz die interdisziplinären Beziehungen bestimmt.

Auch in Polen ist die Rechtssoziologie nach 1945 über Jahrzehnte hinweg eng mit reformpolitischen Bewegungen und Anliegen verbunden, verblasst dann aber im pragmatischen Kompromiss (vgl. Kurczewski 2001 zu den historischen Hintergründen). Sie bringt zunächst reichhaltige empirische Forschung hervor, zeichnet sich aber seit der Jahrtausendwende durch eine explizite Abkehr von der soziologischen Theorie des Rechts aus, die insbesondere mit der soziologischen Systemtheorie gleichgesetzt und kritisiert wird. So beschreibt Skapsa neuere rechtssoziologische Arbeiten in Polen wie folgt: „Such studies oppose the once dominant view of law as a ‚system‘ that imposes itself upon passive functionaries and citizens. Systemic passivity has been slowly replaced by the assumption of pragmatic attitudes and by the critical evaluation of individual and collective interests, values or passions. Such a theoretical and methodological turn, reflecting a more pragmatic one in social theory, prompts one to investigate the formation and application of law as reflecting the cultural, social, and individual properties of law’s agents.“ (Skapska 2019, 496) Gleichzeitig fordert sie aber verstärkte Theoriearbeit, was in gewissem Widerspruch zum postulierten Pragmatismus steht: „dealing with the functioning of law in a society undergoing complex systemic change demands thorough description, thorough diagnosis, as well as an informed theoretical debate that would bring a brighter light to bear on transformation paths and trajectories.“ (ebd.) Die mindestens latente Spannung zwischen den beiden Postulaten – einerseits „weniger Systemtheorie“, andererseits „mehr Theorie“ (aber welche dann?) – bleibt ungelöst, man verharrt im programmatisch Allgemeinen und setzt auf Ausgleich im Forschungsalltag. Das reflexionstheoretische Modell interdisziplinärer Indifferenz (oben Abschn. 2.4.4) hat sich als Ausdrucksform des neuen Pragmatismus erkennbar durchgesetzt.

Der pragmatische Diskurs der Rechtssoziologie steht heute auch in den skandinavischen Ländern im Vordergrund, obwohl, wie bereits gesagt, zunächst die reformpolitische Variante den Ton angab, die ursprünglich durch die bahnbrechenden theoretischen Arbeiten Geigers (1947) und Auberts (Aubert et al. 1952; Aubert 1968, 1983) geprägt war. Vor allem in Schweden erlebt die Rechtssoziologie vor diesem Hintergrund des sich ausbreitenden Pragmatismus seit längerem eine institutionelle Blüte (Hydén und Wickenberg 2008). An der Universität Lund verfügt sie über ein eigenständiges Institut mit rechtssoziologischen Studiengängen und einer weltweiten Vernetzung im Feld. Bei aller akademischen Stärke stellt die Rechtssoziologie in Lund aber eine gewisse Insel in der rechtssoziologischen Theorie dar. Sie konzentriert sich praktisch ausschließlich auf Normtheorie und wahrt dabei eine spürbare Distanz zur Theorieentwicklung in der allgemeinen Soziologie (Hydén 2021; Baier 2013). Deshalb steht die Normtheorie in gewisser Weise isoliert neben einer breiten Palette an empirischen Forschungsfeldern, die vom Rechtssystem der zentralasiatischen Republiken über Kinderrechte im globalen Süden bis hin zu Umweltzonen in schwedischen Städten reichen. Aus diesem Grund kann man behaupten, dass auch in Schweden vor allem die „pragmatischen“ Aspekte einer hybriden Mischung von Themen, Topoi und Forschungsmethoden in den Vordergrund treten und die interdisziplinäre Indifferenz den Ton angibt.

In Deutschland erscheint dieser Diskurs, wie wir ausführlich diskutiert haben, in Gestalt der „empirischen“ oder „interdisziplinären Rechtsforschung“ beziehungsweise unter dem Titel „Recht und Gesellschaft“, was an der Umbenennung der Vereinigung für Rechtssoziologie im Jahr 2010 ebenso deutlich wurde, wie in der Benennung des Integrative Research Institute Law & Society an der Humboldt-Universität zu Berlin (bis 2019 „Institut für interdisziplinäre Rechtsforschung“) und an entsprechenden programmatischen Beiträgen (vgl. oben Abschn. 5.3.3).

Man erkennt dieselbe Entwicklung auch in bestimmten diskursiven Strömungen in Großbritannien bis etwa zur Jahrtausendwende. Die Rechtssoziologie im Vereinigten Königreich war lange von einer Konkurrenz zwischen soziologischer Theorie des Rechts (Sociology of Law) und empirischer Rechtsforschung (socio-legal studies) geprägt. Erstere widmet sich der wissenschaftlichen Beschreibung der Rolle des Rechts in der Gesellschaft, ist bisweilen von Begriffsarbeit und Bezügen zur Philosophie geprägt und insofern für viele schwierig im Zugang. Sie wird erst in jüngerer Zeit wieder aufgegriffen (siehe zum Beispiel Thornhill 2016). Der empirischen Rechtsforschung mangelt es hingegen an einer solchen theoretischen Erschließung des Feldes, weshalb schon früh die Forderung nach Konzepten laut geworden war, welche diese Kluft überwinden konnten (Campbell und Wiles 1976). Der – meist engagierten, sozial-ingenieurialen – empirischen Rechtforschung steht im Falle Großbritanniens lange Zeit eine rechtssoziologische Theorie gegenüber, die über weite Strecken direkt an marxistische Traditionen anknüpft. In einer Kritik an Campbell und Wiles, in welcher er zugleich den Stand der Rechtssoziologie in Großbritannien Revue passieren lässt, vertritt Max Travers (Travers 2001) die Auffassung, die empirische Rechtsforschung habe allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz keine substanzielle Verbindung zu soziologischen Theoriebeständen aufbauen können, weshalb das Versprechen einer genuinen Rechtssoziologie insgesamt unerfüllt geblieben sei: „… what often passes for sociology of law these days is not really sociology at all …“ (Travers 2001, 30). Zum einen stehe die britische Rechtssoziologie in zu großer Nähe zur Kritischen Jurisprudenz, die oft soziologiefern operiere. Zum anderen verfüge sie nicht über einen breiten Kanon an soziologischen Theorien (ebd., 32). Entwicklungen in Ethnomethodologie und Konversationsanalyse (Robert Dingwall, Maxwell Atkinson, Paul Drew) versprächen demgegenüber Fortschritte in der Rechtssoziologie und in der empirischen Forschung, ebenso wie seine eigenen Arbeiten auf den Gebieten der Ethnomethodologie und des symbolischen Interaktionismus (ebd., 33). Die nur schwache Wirkung dieser Bemühungen in der britischen Rechtssoziologie führt Travers auf zwei Ursachen zurück, erstens auf das britische Mistrauen gegenüber Theorie und zweitens auf die institutionelle Kluft zwischen Rechts- und Sozialwissenschaften (ebd., 34). Travers, dessen erklärte Absicht es ist, die Rechtssoziologie stärker soziologisch auszurichten („Putting Sociology Back into the Sociology of Law“, Travers 1993), formuliert allerdings selbst keine rechtssoziologische Reflexionstheorie, die eine derartige Entwicklung ermöglichen könnte. Vielmehr münden seine Überlegungen in die theoretisch wenig befriedigende, vage Forderung nach einer Synthese beider Zweige der Rechtssoziologie: „… the only way forward for law and society research in Britain is still some kind of convergence between the two fields, so that socio-legal studies become more theoretical, and sociology of law turns away from the attractions of philosophical jurisprudence and again engages in empirical research.” (ebd., 36, Hervorh. von mir, A.B.). Das kommt reflexionstheoretisch kaum über Parsons‘ Bemerkungen zum Thema Soziologie und Recht hinaus und bildet in tatsächlicher Hinsicht nur ein beziehungsloses Nebeneinander der Perspektiven ab. Im Ergebnis verkörpert dieser weit verbreitete pragmatische Diskurs das reflexionstheoretische Konzept einer indifferenten, mehr oder wenig er resonanzlosen Koexistenz zwischen den Disziplinen.

6.1.3 Rechtssoziologische Theorie und Kritik – Neue Ansätze

Die Konfiguration dieser beiden Diskurse – Reformpolitik und neuer Pragmatismus – bildet auf weltgesellschaftlicher Ebene in groben Zügen eine Situation ab, wie sie im Deutschland der 1970er Jahre zu beobachten war, als die Systemtheorie sich im Hinblick auf das reflexionstheoretische Trilemma aus der Rechtssoziologie zurückgezogen hatte. Im Unterschied dazu bilden sich auf der globalen Ebene seit einiger Zeit neue Diskurse. Stärkeres Interesse an soziologischer Theorie formuliert heute ein rechtssoziologischer Diskurs, der sich in gleicher Weise wie die pragmatischen Positionen vom Marxismus der 1960er und 1970er Jahre abgewendet hat, dabei allerdings den Anspruch auf eine soziologische Theorie des Rechts weiterträgt. An diesem Punkt stößt unsere Analyse auf Strukturen interdisziplinärer Reflexion, die über die bislang geschildert diskursive Konfiguration hinausweisen und sich in zunehmendem Maße einem symmetrischen Verhältnis von Autonomie und Praxis nähern. Es mehren sich mit anderen Worten die Hinweise auf responsive Reflexion. Die Betonung in diesem Diskurs liegt auf der soziologischen Theorie, gepaart mit einer aus den rechtssoziologischen Wurzeln schöpfenden kritischen Haltung. Weltweit beobachtet man in den letzten Jahrzehnten eine beachtliche rechtssoziologische Theorieproduktion in unterschiedlichen Zusammenhängen. Das betrifft nicht nur stark rechtstheoretisch und -philosophisch ausgerichtete Arbeiten (z. B. Přibaň 2007, 2017), sondern auch mikrosoziologische Studien (Scheffer 2016; Lange 2010), Systemtheorie oder Verfassungssoziologie, um nur einige zu erwähnen. Diese Strömungen reichen teils weit zurück in die Entwicklung des Feldes. Sie verbinden sich seit einiger Zeit mit starker Orientierung an der soziologischen Systemtheorie. Eine solche diskursive Wendung scheint sich vor allem in Situationen einzustellen, in denen wohlfahrtsstaatliche Strukturen noch ausbaufähig sind. Das befördert zunächst eine kritische Rechtssoziologie. Diese fällt in den sogleich zu beschreibenden Fällen aber nicht in engagierte Wissenschaft zurück, sondern bemüht sich um eine Integration der kritischen Perspektive in soziologische Theorie, reagiert damit also auf Defizite sowohl reformpolitischer als auch pragmatischer Modelle und sieht sich veranlasst, über Praxis neu nachzudenken. Bisweilen korrespondiert diese kritische empirische Rechtsforschung mit einer intensivierten Theorieproduktion. Dabei sind marxistische Strömungen in einigen Weltregionen noch präsent, zum Teil treten aber auch neue Einflüsse, etwa aus den Theorien Bourdieus oder Foucaults hinzu, in jüngerer Zeit vor allem aber auch ein stärkeres Interesse an der soziologischen Systemtheorie.

So kann man etwa Spannungen zwischen den reformpolitischen und pragmatischen Diskursen einerseits und einer stärker auf die soziologische Theorie hin orientierten Position andererseits erneut am Beispiel Großbritanniens als Reaktion auf eine konservative Wende im Wohlfahrtsstaat (Borchert 1995) studieren. Für die, wie eben erwähnt, von der empirischen Rechtsforschung kritisierte theoretische Rechtssoziologie steht jedenfalls zeitweilig Roger Cotterrell, der sich neben anderen Autoren wie David Nelken (Nelken 2009), Richard Nobles und David Schiff (Nobles und Schiff 2012, 2016) ab Ende der 1970er Jahre zu einer wichtigen Stimme der Rechtssoziologie entwickelt und phasenweise eine modernisierte Variante der kritischen, marxistischen Rechtstheorie vertritt, wenngleich dieser Aspekt in den jüngeren Werken zugunsten einer breiteren soziologischen Orientierung („law and community“ approach) etwas in den Hintergrund rückt (vgl. Cotterrell 1992, 2006, 2018). In der Soziologie allgemein bleibt er aber trotz seiner großen Verdienste um die rechtssoziologische Theorie über Großbritannien hinaus ohne weitreichenden Einfluss. Auf eine kurze Kontroverse zwischen Cotterrell und Nelken über responsive Konzepte von Rechtssoziologie kommen wir im nächsten Abschnitt zu sprechen. Sie ist für unsere Argumentation instruktiv und weist auf Entwicklungsmöglichkeiten hin.

Ebenfalls durch eine kritische Perspektive gekennzeichnet ist die Lage zum Beispiel auch in Portugal, wo die Rechtssoziologie im so genannten rudimentären Wohlfahrtsstaat bis heute nur schwache institutionelle Strukturen hat ausbilden können. Umso ausgeprägter ist die Theorieproduktion, die vor allem durch Boaventura da Sousa Santos‘ Arbeiten zum Rechtspluralismus (de Sousa Santos 2018), zum Recht in der Weltgesellschaft („interlegality“, Sousa Santos 2002, 437) und der Rolle der „Semi-Peripherie“ beeinflusst ist (de Sousa Santos 1985, vgl. auch Guibentif 2014), die in der Tradition kritischer bzw. marxistischer Rechtssoziologie stehen und insbesondere in Lateinamerika, aber auch darüber hinaus Einfluss entfaltet haben. Dort mischen sie sich, wie auch andernorts seit einiger Zeit mit einer starken Rezeption der systemtheoretischen Rechtssoziologie, die im Sinne einer kritischen Theorie der Gesellschaft interpretiert wird. Sie tritt heute vor allem vor dem Hintergrund einer neuen soziologischen Jurisprudenz in Erscheinung. Man beachte in diesem Zusammenhang neuerdings etwa Vestena (2022), die in ihrer Arbeit über Formen kollektiver Mobilisierung von Recht am Beispiel der Anti-Austeritäts-Bewegung in Portugal den engagierten und explizit parteilichen Blick, die Parteinahme für bestimmte politische Akteure mit theoretischer Kombination aus Bewegungsforschung und Rechtssoziologie zu einer kritischen Rechtstheorie (dazu Buckel 2007) verbindet. Dieser Fall verkörpert deshalb mehr als nur eine engagierte Wissenschaft, denn der Text verfolgt vielmehr den Gedanken einer kritischen rechtssoziologischen Theorie, darin vergleichbar den Forschungen zur Bankenkrise oder zur Sozialpolitik, wie sie etwa am Instituto Superior de Ciências do Trabalho e da Empresa (ISCTE) in Lissabon durchgeführt werden.

Einen südeuropäischen Wohlfahrtsstaat mit konservativen Zügen verkörpert Italien, wo die institutionelle Entwicklung der Rechtssoziologie ähnlich wie in Deutschland verläuft. In theoretischer Hinsicht sind die 1960er Jahre thematisch und konzeptionell geprägt durch den Re-Import der Rechtssoziologie, vor allem durch Renato Treves, der nach der Rückkehr aus seinem von den Faschisten erzwungenen Exil in Argentinien nicht nur das Research Committee on the Sociology of Law der ISA mitbegründet, sondern vor allem eine junge Generation von Soziologen mit der Gründergeneration des Feldes in Kontakt bringt (Ferrari und Ronfani 2001, 64). Ähnlich wie andernorts sind die 1960er Jahre vom Geist der sozialreformerischen empirischen Rechtsforschung im Sinne der sozial-ingenieurialen Rechtssoziologie bestimmt, was auch in Italien zu Kritik seitens einer an Theorie interessierten Rechtssoziologie führt. Diese richtet sich damals allerdings nahezu ausschließlich an Parsons aus, wofür sie als struktur-konservativ abgelehnt wird (ebd., 65 f.). Der Marxismus bestimmt auch hier auf Seiten der kritischen soziologischen Theorie das Bild. Im Unterschied zu den zuvor genannten Rechtssoziologien der USA, Großbritanniens und Frankreichs beginnt in Italien allerdings Mitte der 1970er Jahre eine breit ausgreifende Beschäftigung mit Luhmanns Arbeiten (Febbrajo 1975; De Giorgi 1979, Luhmann und De Giorgi 1992), dessen rechtssoziologisches Werk im Laufe der Zeit zum meistdiskutierten und am stärksten umstrittenen in Italien wird (Ferrari und Ronfani 2001, 65 f.): „no other country has experienced the same kind of passion – nor a true fashion – for the thought of the German scholar and, at the same time, of sharp theoretical divide in sociology and, especially sociology of law.“ (ebd., 65). Die aus den anderen Fällen bekannte Kluft zwischen soziologischer Theorie und empirischer Sozialforschung bestimmt auch hier die semantische Oberfläche des Disputs, wozu insbesondere, wie wir am deutschen Beispiel bereits mit hinreichender Deutlichkeit gesehen haben, die Luhmannsche Zurückhaltung gegenüber reflexionstheoretischen Praxisdiskursen beiträgt. Seit Ende der 1980er Jahre ist der Ton zwischen den Lagern versöhnlicher und auch die italienische Rechtssoziologie wird durch eine Art pragmatischen Eklektizismus und Synkretismus geprägt (ebd., 66 ff.). Aus der Nähe zur Tagespolitik zieht sich die Rechtssoziologie dabei zurück (ebd., 68 ff.), um sich stärker reformpolitischen Fragestellungen, beispielsweise Menschenrechten, technologischem Wandel oder der Immigration zu zuzuwenden. In jüngerer Zeit allerdings treten über die Luhmann-Rezeption theoretische Interessen wieder in den Vordergrund, beispielsweise im Zusammenhang mit Fragen der Verfassungssoziologie (Febbrajo und Teubner 1992; Febbrajo und Corsi 2016).

Eine vergleichbare Erneuerung der rechtssoziologischen Theorie beobachtet man auch in Dänemark seit der Jahrtausendwende. Hier macht sich – nachdem lange Zeit Arbeiten zu Rechtsprofessionen (Aubert 1983; Bertilsson 1996, s. o.), zur Institutionalisierung Europäischen Rechts (Madsen 2011, 2014) oder zur Kriminologie vorherrschten – (Hammerslev und Madsen 2014, 408 f.), inzwischen ein starker Einfluss französischer Soziologie bemerkbar. Bourdieu (z. B. Hammerslev 2013), Foucault, Latour oder Boltanski werden rezipiert, aber auch Luhmanns Schriften stoßen auf Interesse (vgl. Hammerslev und Madsen 2014, 404 ff.). Die zeitgenössische Rechtssoziologie in Dänemark ist deshalb in besonders starkem Maße in einen soziologischen Bezugsrahmen eingebettet: „There is a perceptible difference between the applied – often action-oriented – scientific approach that took hold in the 1970 s and the outlined contemporary Danish scholarship, which in many cases is more oriented towards basic science problems and general sociology“ (Hammerslev und Madsen 2014, 410).

Die knappen Hinweise zeigen bereits, dass die neuen Ansätze kritischer rechtssoziologischer Theorie einen transnationalen, über einzelne Staaten hinaus reichenden Charakter aufweisen. Zwar kann man sie zum einen in gewisser Hinsicht sicherlich auch als Resultate nationalstaatlicher Bedingungen interpretieren, insbesondere der jeweiligen Ausprägung wohlfahrtsstaatlicher Strukturen. Das lässt sich an den reformpolitischen Diskursen der Rechtssoziologie gut belegen. Zum anderen bilden sich kritische Ansätze, wie deutlich zu erkennen war, insbesondere auch als Reaktion auf die Engpässe der traditionellen Diskurse, also der engagierten Rechtssoziologie und des Pragmatismus. Heute erkennen wir weltweit im Kontrast zu den 1970er Jahren stärker konstruktive Ansätze, etwa in feministischen, kultursoziologischen und systemtheoretischen Diskursen der Rechtssoziologie. Globalen Charakter haben insbesondere feministische Strömungen, die ausnahmslos mit kritischem Anspruch auftreten, allerdings insgesamt noch wenig Bodenhaftung in der allgemeinen soziologischen Theorie haben. Sie sprechen mit anderen Worten zentrale gesellschaftspolitische Themen an, analysieren deren rechtliche Grundlagen oder ihre rechtspolitische Bedeutung, gelangen darüber hinaus jedoch kaum zu umfassenden theoretischen Begrifflichkeiten, die in vergleichbarer Weise wie Feld-, Diskurs-, Handlungs- oder Systemtheorien mindestens den Anspruch erheben könnten, soziale Phänomene allgemein und sachhaltig erfassen zu können. Als Grundbegriff dieses feministischen Diskurses kann das Konzept der „Alterität“ gelten, das Simone de Beauvoir (1949) als generelle Kategorie in die gesellschaftspolitische Debatte einbrachte und an das etwa Judith Butler in der Soziologie anknüpft (Butler 1990). Aus einer poststrukturalistischen Perspektive verbindet unter anderem Donna Haraway Gender-Theorien mit Wissenschafts- und Technologiestudien. Sie betont die Bedeutung von situiertem Wissen (Haraway 1988), von Andersartigkeit, Differenz und Spezifität (Haraway 2003). In der Rechtstheorie wird vor diesem Hintergrund die Diskussion über geschlechtsspezifische Ungleichheiten unter Begriffen wie „feministische Rechtstheorie“, „feministische Rechtswissenschaft“, „Legal Gender Studies“ oder „Gender Law“ geführt (Berger und Purth 2017; Büchler und Cottier 2012; Elsuni 2006; Baer 2011, 146–152.). Generell geht es in den Anfängen des feministischen Rechtsdenkens um die Kritik sozialer Ungleichheit, welche auf die Überwindung der männlichen Dominanz abzielt. Geschlechterquoten, affirmative action, Grundrechte und spezifischer Schutz für Frauen sind damals die zentralen Themen. Nachdem diese Ansätze als „essentialistisch“ kritisiert wurden, treten in der Folge differenztheoretische Konzepte in den Vordergrund, etwa als Analytik der Macht (MacKinnon (1989). Die postmoderne feministische Rechtstheorie schließlich (Maihofer (1995) analysiert unter Rückgriff auf Butler die soziale Ordnung als Konstrukt und verweist auf eine Realität jenseits des binären Geschlechterkonzepts (Plett 2007) sowie auf Geschlecht, Rasse und Intersektionalität (Crenshaw (1993), die sich explizit auf das Konzept der „Alterität“ (Kapur 2018) bezieht, das in verwandter Form auch unter der Bezeichnung „Diversität“ diskutiert wird (vgl. dazu Bora 2019). Die Ursprünge dieses Begriffs sind in den Protestbewegungen der 1960er Jahre in den USA zu finden, in der Bürgerrechts- und der Frauenbewegung, die für einen gleichen Zugang zu Bildung, Arbeit und Lebenschancen kämpften. Das Konzept der Diversität wird heute in einer Vielzahl von Politikfeldern verwendet. Es gibt jedoch keine soziologische Theorie, die den Begriff grundlagentheoretisch ausbaut.

Aspekte wie Alterität oder Diversität verweisen also auf sekundäre soziale Unterscheidungen jenseits funktionaler Differenzierung. Insofern erfordern sie als Grundlage eine umfassende Gesellschaftstheorie, die elaborierte Konzepte der Kommunikation oder des Handelns, der sozialen Strukturen und der historischen sozialen Entwicklung vorsieht. In dieser Hinsicht beziehen sich viele der erwähnten Ansätze implizit oder explizit auf (neo-)marxistische Konzepte, mit allen ihnen innewohnenden theoretischen Problemen. Es fällt ihnen häufig schwer, sich von der Position einer politischen Haltung zu emanzipieren und eine kohärente und aussagekräftige soziologische Theorie zu entwickeln. Feministische Ansätze bleiben trotz ihrer unbestreitbaren politischen und praktischen Relevanz in Bezug auf die soziologische Theorie in derselben Position, nämlich als „engagierte“, kritische Soziologie, deren theoretische Potenziale noch eher der soziologischen Fundierung bedürfen.

In dem letztgenannten Aspekt zeigen sich gewisse Verwandtschaften zu kultursoziologischen Ansätzen der Rechtssoziologie (vgl. Sarat und Simon 2003; Gephart 2006; Witte und Bucholc 2017), die cum grano salis ebenfalls nicht über ein ausreichend präzises Begriffsrepertoire verfügen, um die Reichhaltigkeit rechtlicher Phänomene sachangemessen abbilden zu können (vgl. dazu bereits die Kontroverse zwischen Rasehorn, Rottleuthner und Blankenburg in der ZfRSoz 1986). Denn der Begriff Kultur ist in der soziologischen Theorie nach wie vor unterbestimmt. Daran ändern inzwischen zahlreiche prominente Texte wenig (Moebius 2012; Reckwitz 2008; Wohlrab-Saar 2010). In seiner kritischen Analyse der Kultursoziologie deutet Dirk Baecker (2000) den Begriff der Kultur als eine Semantik zweiter Ordnung, die – im Gegensatz zu Politik, Wirtschaft oder Recht – der Gesellschaft Alternativen zu sich selbst bietet. Im Vergleich „kultureller“ Differenzen kann die Gesellschaft andere Ordnungsformen und Wege zur Überwindung bestehender Verhältnisse erkennen. Es geht also weniger um einen gegenstandstheoretischen Grundbegriff der Soziologie als um eine Form gesellschaftlicher Selbstbeobachtung, die vor allem Vergleiche anregt. Das ist vor allem auch dort deutlich zu erkennen, wo Rechtstheorie, Rechtssoziologie und insbesondere die Rechtsvergleichung von „Rechtskulturen“ sprechen (Friedman 1969; Cotterrell 2006; Nelken 2004; Gephart und Witte 2017). Baecker zeigt auch die Unschärfe des Begriffs als tertium comparationis, der trotz aller Versuche, eine Kulturtheorie der Gesellschaft zu formulieren, bis heute keine präzise Definition hat. Vielmehr dient er als Indikator für die überraschte Wahrnehmung von Differenzen, das Erstaunen über ungewohnte Praktiken anderswo, das heißt in einer anderen Kultur. Als solcher hat er auch in der Rechtssoziologie sehr instruktive vergleichende Beobachtungen angeregt (siehe zum Beispiel Guibentif 1989; Cotterrell 2006, darin Kap. 6; Nelken 2010). Er setzt dazu im Einzelfall aber eine Soziologie des Rechts bereits voraus, welche über die erforderlichen Konzepte der Norm, des Rechts, des Verfahrens, der Rechtsdogmatik oder der Positivierung verfügt, um nur einige relevante Aspekte zu nennen. Erst auf der Grundlage solcher rechtssoziologischer Theoriebildung lässt sich sachhaltig (rechts-) kulturvergleichend arbeiten. Diese Bedingungen erfüllen die kultursoziologischen Ansätze der Rechtssoziologie oftmals nicht (siehe dazu auch Röhl 2012, § 15). Dennoch manifestiert sich in ihnen auf globaler Ebene ein einflussreicher Diskurs, der sich als weithin anschlussfähig erwiesen hat – ob trotz oder wegen seiner begrifflichen Vagheit, sei dahingestellt.

Eine weltweite Erneuerung der Rechtssoziologie, die mit den feministischen und kultursoziologischen Strömungen in dieser Hinsicht vergleichbar ist, beobachten wir seit einiger Zeit überall dort, wo Luhmanns Werk aufgegriffen und – auch in dem hier vertretenen Sinne – weiterentwickelt wird. Zwar haben seine rechtssoziologischen Schriften seit den 1970er Jahren in der Rechtswissenschaft viele irritierte und ablehnende Reaktionen hervorgerufen. Dabei spielte eine gewisse Schieflage in der Luhmann-Rezeption sicherlich eine Rolle, der Umstand nämlich, dass eine generelle Fokussierung der Debatte auf gesellschaftliche Teilsysteme – die weder in der Systematik der Theorie begründet noch von Luhmann beabsichtigt war – zu einer Hypostasierung der Funktionssysteme bei der Interpretation der Theorie führte. Viele Rezipienten hielten die gesellschaftstheoretische Analyse für die einzige Botschaft, selbst in den Fällen, in denen Luhmann eindeutig Interaktionssysteme oder Organisationen behandelte (vgl. etwa Deflem 2008, 162–180). Dies gilt auch für die von Luhmann deutlich kritisierte Überstilisierung des Begriffs „Autopoiesis“ in vielen Lesarten (Luhmann und Guibentif 2000, 233). Sein Artikel „Kommunikation über Recht in Interaktionssystemen“ (Luhmann 1981, 53–72) wurde offenbar von einer breiten Leserschaft kaum rezipiert. Darüber hinaus ist das Recht als Programm der organisatorischen Entscheidungsfindung auch bei Luhmann nicht zu einem prominenten Thema geworden, obwohl es in der Rechtssoziologie von besonderem Interesse ist (vgl. Band 2, Kap. 10). Auch hat sich zeitweilig im Kontrast zu den oben genannten Tendenzen und unabhängig von gewichtigen Stimmen und Zentren rechtssoziologischer Theoriebildung und Forschung eine gewisse neue Luhmann-Orthodoxie entwickelt. Dabei bildete sich an einigen Stellen (King 1993, 2006, 2009; King und Schütz 1994) eine Form der Klassikerpflege, die Luhmann selbst fernlag, der bekanntlich meinte, dass sich eine solche Rezeption „in Ermangelung von Daten mit den Klassikern des Faches beschäftigt. Teils blank vom vielen Anfassen, teils schwarz vom Rauch der vielen Opferkerzen verlangen sie geradezu nach Restauration und bieten so die Möglichkeit, in immer neuen Entdeckungszügen nachzuweisen, daß die Klassiker mehr gewußt haben, als man heute weiß, daß sie gewußt haben.“ (Luhmann 1992, 69 f.) Die von den genannten Kreisen betriebene strenge Luhmann-Exegese bildet deshalb kaum mehr als den jeweiligen Stand von dessen Arbeiten ab. Zu den uns interessierenden Problemen der rechtssoziologischen Reflexionstheorie trägt diese Form der Klassikerpflege nicht unmittelbar bei (so auch Paterson 2009, 568 ff.).

Im Unterschied zu dieser konservierenden Rezeption in der Luhmann-Orthodoxie hat sich aber weltweit – und das ist für unsere Argumentation von größerer Bedeutung – eine beachtliche Zahl von Arbeiten mit der Übernahme und Weiterentwicklung der Theorie befasst. Dazu zählen etwa in der der englischen Rechtssoziologie, um einige Beispiele zu erwähnen, Arbeiten von Andreas Philippopoulos-Mihalopoulos (2010; Philippopoulos-Mihalopoulos und Webb 2015), Richard Nobles und David Schiff (2013), Hans-Georg-Moeller (2006) oder Chris Thornhill (2018). Thornhill geht sogar so weit, Demokratietheorie allgemein aus der Rechtssoziologie heraus zu begründen und dafür in vieler Hinsicht die Systemtheorie zu bemühen (Thornhill 2018). Demokratische Strukturen im Nationalstaat, so argumentiert er, seien erst über die Konstitution von Menschen- und Bürgerrechten auf globaler Ebene entstanden. Demokratie sei insofern eine Konstruktion des Rechtssystems („a construction of the legal system“, ebd., 501). Im deutschsprachigen Raum haben eine ganze Reihe jüngerer Rechtstheoretiker Beiträge zur Form- und Rechtstheorie geleistet, auf die wir im nächsten Abschnitt zurückkommen werden. Gleiches gilt international für die in jüngerer Zeit zahlreichen Arbeiten zur Verfassungssoziologie (Sand 2008; Kjaer 2014, 2018, 2020; Thornhill 2011; Teubner 2012; Nobles und Schiff 2015; Přibaň2015). Daneben gibt es ebenfalls weltweit eine Reihe von empirischen Studien, die sich durch eine theoretische Orientierung auszeichnen, in der einen oder anderen Weise auf Luhmanns Rechtssoziologie zurückgreifen und teilweise versuchen, sie weiterzuentwickeln. Als Belege kann man neben den genannten Arbeiten zum Familienrecht (Sargent 2015; Newnham 2015), zur Verfahrenssoziologie (Bora 1999; Bora und Hausendorf 2010), zur Lerntheorie des Rechts (Mölders 2011), zum Investigativ-Journalismus (Mölders 2015) oder zum Internationalen Strafrecht (de Vries 2022) heranziehen, um erneut nur einige willkürlich ausgewählte Beispiele zu nennen.

Konturen einer praxisreflexiven, die „Insassenperspektive“ integrierenden Theorie sind also in der rechtssoziologischen Forschung erkennbar. Aus empirischen Analysen gewonnene rechtspolitische Empfehlungen der systemtheoretischen Rechtssoziologie (vgl. Bora 1999) weisen, wie Dammann bemerkt hat (Dammann 2000, 492 f.), auf die reflexionstheoretischen Verwendbarkeit der Luhmannschen Konzepte hin. Ein ebenfalls etwas differenzierteres Bild, als man es aus etlichen rechtssoziologischen Texten Luhmanns gewinnen kann, zeichnet auch Alex Ziegert (2000). Er fragt, wie die Universaltheorie in die Rechtspraxis in Gestalt der Jurisprudenz Eingang finden kann, die durch eine große Vielfalt sich gegeneinander ebenso wie nach außen abschottender Reflexionstheorien gekennzeichnet ist. Luhmann überbrücke alle diese Differenzen in einem radikalen Sinne, so Ziegert. Er transferiere die Theorie des „lebenden Rechts“ (Ehrlich) in die Theorie komplexer, autopoietischer Systeme (Ziegert 2000, 110). Dabei klammere er die Möglichkeit empirischer Forschung gerade nicht aus, sondern biete ihr präzisere Begriffe als die bisherigen Reflexionstheorien. Gerade deswegen sei die Systemtheorie „robust“ (ebd.) Ziegert nutzt dann die Zentrum-Peripherie-Unterscheidung, um Reflexionstheorie zu diskutieren: Im Zentrum liegen juristische Rechtstheorien, Methodenlehren, Argumentationstheorien usw. Reflexionstheorien in Rechtsphilosophie, Rechtssoziologie, Rechtsvergleichung usw. gehören dagegen in die Peripherie des globalen, offenen und akademischen Kommunizierens über Recht (ebd., 113). Alle diese Diskurse nehmen jedoch nicht die soziologische Universaltheorie als ganze in sich auf, sondern rezipieren sie eklektizistisch (ebd., 124). Ziegert zieht daraus den Schluss einer sich gewissermaßen verdichtenden Rezeption, die in eine (mit Geigers Worten) „Befreiung aus der Knechtschaft der Ideologien und Systeme“ durch die präzise Begriffsbildung und Beobachtungsmöglichkeit der Systemtheorie münden werde (ebd., 126).

Seit der Jahrtausendwende lassen sich schließlich nicht nur in den europäischen Rechtssoziologien, sondern vor allem in der so genannten „Peripherie“ der Weltgesellschaft neue Ansätze der rechtssoziologischen Theoriebildung mit teilweise explizitem kritischem Anspruch und auch mit Bezügen zur Systemtheorie erkennen. Der Peripherie-Begriff ist aus guten Gründen nicht unumstritten, da er den Verdacht einer eurozentrischen Positionierung weckt. Er wird hier deshalb nur unter dem Vorbehalt verwendet, dass damit eine im Feld selbst gepflegte Semantik aufgegriffen wird. Marcelo Neves spricht mit Blick auf Lateinamerika von „peripherer Moderne“ (Neves 2006). Damit meint er, „dass es in verschiedenen staatlich begrenzten Regionen (‚peripheren Ländern‘) weder eine adäquate Realisierung der Systemautonomie nach dem Prinzip der funktionalen Differenzierung noch die Verwirklichung der Bürgerrechte (citizenship) als Institution der sozialen Inklusion gegeben hat, die als Merkmale anderer staatlich organisierter Regionen (‚zentrischer Länder‘) gelten. In diesem Sinne definiere ich die periphere Moderne als negative Moderne“ (ebd., 257, siehe auch Mascareño 2010, 349). Im Anschluss an diese und vergleichbare Positionen setzen wir den Begriff hier ein, um vor allem Entwicklungen in der lateinamerikanischen Rechtssoziologie zu beschreiben.

In Lateinamerika hat sich eine vergleichsweise gut institutionalisierte, theoretisch breit informierte und politisch stark engagierte Rechtssoziologie entwickelt, die an juristischen Fachbereichen angesiedelt ist, aber in starkem Maße soziologische Theorie produziert. Das gilt nicht nur für Mexico, wo Javier Torres Nafarrate seit Jahrzehnten nicht nur der wichtigste Übersetzer von Luhmanns Werk ins Spanische, sondern auch mit eigenen Beiträgen zur soziologischen Systemtheorie vertreten ist (Torres Nafarrate 2004; Mansilla und Torres Nafarrate 2008). In gleicher Weise hat sich die Rechtssoziologie in Chile profiliert (Mascareño 2010, 2014), ebenso auch in Argentinien (Birle et al. 2012; Dewey 2012). Besonders in Brasilien ist das Interesse für die Entwicklung rechtssoziologischer Theorie und vor allem der Systemtheorie schon lange sehr ausgeprägt. Das Land weist überdies eine gut ausgebaute und organisierte rechtssoziologische Infrastruktur auf. Das Feld ist institutionell vor allem an juristischen Fakultäten des ganzen Landes gut vertreten. Die wissenschaftliche Selbstorganisation in der Brasilianischen Vereinigung für Rechtssoziologie „Associação Brasileira de Pesquisadores em Sociologia do Direito“ (ABraSD) mit einem eigenen Journal („Revista Brasileira de Sociologia do Direito“) erlaubt es, eine größere Zahl von Tagungen und Kongressen auf nationaler und internationaler Ebene abzuhalten, die in aller Regel gut besucht sind. Die nationale Forschungsförderung „Coordenação de Aperfeiçoamento de Pessoal de Nível Superior“ (CAPES) gewährt Stipendien auch für rechtssoziologische Projekte im In- und Ausland.

An der Lage in Brasilien fällt insbesondere das große Interesse an europäischen Traditionen des Rechtsdenkens und der (Rechts-)Soziologie auf. Die Rechtssoziologie wird Anfang der 1960er Jahre als akademisches Teilgebiet zunächst und schwerpunktmäßig an Rechtsfakultäten institutionalisiert (Schwartz und da Costa 2021, 55 ff., zum Folgenden Justo und Singer 2001, 10 f.). Seit 1963 existiert ein Graduiertenprogramm an der Universidade Federal de Pernambuco UFPE in Recife, angeregt durch Claudio Souto, einen in Bielefeld promovierten Soziologen (Schwartz und da Costa 2021, 59), dem zahlreiche andere folgten, etwa in Brasília und Rio de Janeiro (Arnaud 2017). In den 1970er Jahren ist die Rechtssoziologie Pflichtfach an allen juristischen Fakultäten. Diese Entwicklung bricht – anders als in den zuvor geschilderten Fällen – mit der Militärdiktatur ab. Nach deren Ende erstarkt das Feld nicht nur akademisch, sondern auch mit Blick auf die Politikberatung.

In der Rechtssoziologie rezipiert man in Brasilien seit jeher Kelsens Rechts- und Normtheorie sehr stark, aber in gleicher Weise die kontinentaleuropäische und US-amerikanische Rechtssoziologie. Großen Einfluss entfalten über lange Zeit Boaventura de Sousa Santos, ein Soziologe mit juristischem Studium, und André-Jean Arnaud, Jurist, Directeur de recherche am CNRS (Paris) und Gründungsdirektor des International Institute for the Sociology of Law (IISL) in Oñati. Später wird in zunehmendem Maße Niklas Luhmann rezipiert, der das Land mehrfach bereist hat. Seine Überlegungen zu Inklusion und Exklusion sind unter anderem durch Besuche in brasilianischen Favelas beeinflusst. Das hinterlässt umgekehrt Spuren in der brasilianischen Rechtssoziologie. Tagungen und Seminare zu Luhmanns Rechtssoziologie finden großen Zulauf. Dazu zählen mehrere Veranstaltungen an der UFPE in den 2010er Jahren oder auch eine Seminarreihe zu Luhmanns Systemtheorie als empirischem Forschungsprogramm der Rechtssoziologie („Repensando Luhmann e a pesquisa sociojurídica: uma agenda empírica para a teoria dos sistemas sociais?“) im Jahr 2019 an der Rechtsfakultät der Universidade de São Paulo (USP). Ebenso beobachtet man seit geraumer Zeit eine zunehmende Zahl rechtssoziologischer Publikationen, die von der Systemtheorie beeinflusst sind, sie oftmals produktiv weiterentwickeln oder ihr Potenzial aus der kritischen Auseinandersetzung mit Luhmann schöpfen. Als ein solcher kritischer Leser Luhmanns ragt sicherlich Marcelo Neves hervor (Neves 1992, 1998, 2007, 2013, 2017). Aus seiner Kritik der Luhmannschen Weltgesellschaftstheorie hat er nicht nur, wie eben erwähnt, den Begriff der peripheren Moderne gewonnen. Darüber hinaus speist sich seine Auffassung aus dieser Kritik, dass die Konstitutionalisierungsprozesse in der Peripherie „symbolischen“ Charakter trügen, also strukturelle Defizite und Ungleichheiten überdeckten (Neves 1992, 1998). Die späteren Arbeiten zum Transkonstitutionalismus (Neves 2013, 2017) liegen auf dieser Linie einer Abgrenzung gegenüber Luhmann einerseits und einem Engagement in der weltweiten, systemtheoretisch beeinflussten Debatte zur Verfassungssoziologie andererseits. An Neves‘ Arbeiten knüpft heute eine junge Generation von Rechtssoziologen mit ausgeprägtem Interesse an Systemtheorie an. Sie arbeitet vor allem an verfassungssoziologischen Fragen (Holmes 2013; Carvalho 2016), zur Thematik von Inklusion und Exklusion (Moita 2023), aber auch zu rechtsdogmatisch motivierten Fragestellungen (Ferreira da Fonseca 2019 zu öffentlicher Wohnungsbaufinanzierung). Insbesondere die beiden letztgenannten Arbeiten enthalten empirische Forschungen auf der Grundlage der soziologischen Systemtheorie mit ausgeprägtem Interesse an (responsiver) Theorie.

Fassen wir den kurzen Überblick bis hierher zusammen: Mit Ausnahme der USA, wo es im Grunde seit längerem keine soziologische Theorie des Rechts gibt, finden sich seit 1970 in vielen Weltregionen in Bezug auf rechtssoziologische Theorien Diskurse, wie wir sie am deutschen Fall besprochen haben. Auf dem Gebiet der soziologischen Theorie dominieren – abgesehen von wenigen Ländern, in denen die Systemtheorie bereits länger intensiv rezipiert wurde – marxistische Ansätze, bisweilen in Gestalt machttheoretischer Varianten im Bourdieuschen oder Foucaultschen Sinne, hier und da ergänzt um interaktionistische Konzepte. Sie repräsentieren damit in gewisser Weise die im fünften Kapitel angesprochenen soziologischen Theorien mit ihren je spezifischen rechtssoziologischen Stärken und Schwächen. Allerdings deuten sich seit der Jahrtausendwende Veränderungen an. Die vor allem in romanischen Ländern, mit einiger Verzögerung und mit Abstrichen auch in Großbritannien, einsetzende Luhmann-Rezeption stärkt in gewisser Weise die „Theorie-Seite“ in der Auseinandersetzung, greift aber die dahinterliegende reflexionstheoretische Problematik nur in Ansätzen auf. Der Trend ging und geht in vielen Fällen bis heute zu einem als pragmatisch deklarierten Eklektizismus und Synkretismus, in dem wir das reflexionstheoretische Modell der Indifferenz wiedererkennen. Eine stärker reflexive Theoriedebatte kommt im Kontrast dazu in zweierlei Hinsicht von den Peripherien auf die Soziologie zu, nämlich zum einen aus nichteuropäischen Regionen und zum anderen – das wird uns im nächsten Abschnitt beschäftigen – aus der (soziologischen) Jurisprudenz. Diese birgt reflexionstheoretische Potenziale auch für die Soziologie.

In den Entwicklungen der letzten Jahrzehnte schält sich damit eine Konstellation dreier Diskurse der Rechtssoziologie heraus, in denen sich einerseits die Folgen des in früheren Kapiteln beschriebenen Gründungskonflikts auf dem Feld der Rechtssoziologie erkennen lassen, andererseits aber auch neue Perspektiven sichtbar werden. Die zuletzt geschilderten Entwicklungen machen deutlich, dass sich die Diskurskonstellation im Vergleich zur Konfliktlage der 1970er Jahre verschoben hat. Der alte Konflikt lebt in Gestalt eines Diskurses der kritisch-engagierten Rechtssoziologie und eines pragmatisch-indifferenten Diskurses fort. Insofern spiegelt die globale Entwicklung Strukturmuster wider, die wir im deutschen Fall aus der rechtssoziologischen Theoriegeschichte erklärt und als reflexionstheoretisches Trilemma beschrieben hatten. Neue Perspektiven eröffnen sich demgegenüber in Form eines wiedererstarkten Interesses an einer soziologischen Theorie des Rechts. Trotz der geschilderten Defizite ermöglicht nämlich der „neue Pragmatismus“, indem er die Konflikte zwischen empirischer und theoretischer Rechtssoziologie relativiert, einen reflexionstheoretischen Neubeginn, der in den oben vorgestellten Texten zunächst nur zaghaft zum Ausdruck kommt, zusammen mit weiteren Spuren jedoch schließlich die Konturen responsiver Interdisziplinarität deutlicher erkennen lässt. Das „pragmatische“ Arrangement macht ungeachtet unserer oben geäußerten Kritik doch zugleich den Weg für ein neues Interesse an systematischer Theoriebildung frei. Es schafft gerade durch seine Indifferenz Raum für Diskurse, die sich aus dem reflexionstheoretischen Trilemma zu lösen vermögen. Sie finden sich, wie im Folgenden zu zeigen ist, neben den bereits erwähnten Entwicklungen heute auch in der soziologischen Jurisprudenz, in welcher sich seit einiger Zeit die spannenden Neuerungen in der soziologischen Theorie des Rechts vollziehen.

6.2 Neue soziologische Jurisprudenz: Spuren responsiver Reflexionstheorie

Die oben geschilderten jüngeren Entwicklungen stellen noch keine explizite Reflexionstheorie zur Verfügung, lassen sich also keineswegs schon als Antworten auf unsere zentrale Frage nach einem viablen Konzept rechtssoziologischer Selbstbeschreibung interpretieren. Allerdings weisen sie den Weg zu soziologisch und reflexionstheoretisch fruchtbaren Ansätzen, die sich an anderer Stelle zeigen, nämlich in einer soziologischen Jurisprudenz, die heute, anders als in ihren Ursprüngen juristische Rechtstheorie und soziologische Theorie produktiv verbindet. Diese neuere soziologische Jurisprudenz verarbeitet soziologische Theorie unmittelbar in der juristischen Rechtstheorie. Sie rezipiert frühzeitig und nachhaltig die soziologische Systemtheorie und deren Rechtssoziologie und ist in manchen Ausprägungen mit einem kritischen Anspruch verbunden.

Während man aus den bisher analysierten Entwicklungen den Schluss ziehen könnte, die Rechtssoziologie sei – anders als vielleicht in anderen Weltregionen – für die deutschsprachige Soziologie ein verlorenes Terrain, werden nach dem Niedergang der genuin soziologischen Theorie des Rechts nun auf dem Gebiet der Jurisprudenz die Konturen einer responsiven Reflexionstheorie sichtbar, welche die in der Soziologie bislang klaffende Lücke auszufüllen im Stande sein könnte. Die Rechtssoziologie hat, wie wir gesehen haben, die Entwicklung der allgemeinen Soziologie in zugespitzter Form nachvollzogen (Bender 1994, 106). Thematische Perspektiven, welche sich seit den 1990er Jahren als Indizien eines Neuanfangs anboten (ebd., 140), geben zu Optimismus nur teilweise Anlass, soweit die Soziologie betroffen ist. Über den Umweg der soziologischen Jurisprudenz haben sich allerdings andere inhaltliche Schwerpunkt herauskristallisiert, die responsive, symmetrische Ansätze ermöglichen und auch hervorbringen.

Deshalb soll abschließend dargelegt werden, dass in einem symmetrischen Interdisziplinaritätsverständnis schlummernde Potenziale heute in Spielarten der soziologischen Jurisprudenz zu erkennen sind, wo die soziologische Systemtheorie nicht nur in fruchtbarer Weise rezipiert, sondern – und erst darin liegt erkennbar ein symmetrisches, responsives Verhältnis – selbst weiterentwickelt wird. Anhaltspunkte für diese Vermutung ergeben sich vor allem aus den folgenden drei Gesichtspunkten.

Erstens bildete sich schon früh im Anschluss an die Debatte über Folgenorientierung im Recht das Konzept einer responsiven Rechtsdogmatik, das bis heute innerhalb der Jurisprudenz weiter verwendet und entwickelt wird. Es stellt nur die eine Seite unseres Verständnisses von Responsivität dar – die Seite der Rechtstheorie –, bietet sich aber als Denkfigur an, in welcher das Potenzial einer responsiven Soziologie des Rechts strukturell bereits enthalten ist (Abschn. 6.2.1). Zweitens hat sich gleichfalls aus der Folgenorientierungs-Diskussion heraus anhand der Frage nach einer Gesellschaftsgestaltung durch Recht eine tatsächlich bis in die Soziologie hinein ausstrahlende Debatte über die Möglichkeiten und Voraussetzungen einer mit der Systemtheorie kompatiblem Steuerungs- und Regulierungstheorie herausgeschält. Sie entzündet sich in den 1980er Jahren am Konzept des reflexiven Rechts wird heute von Rechtstheorie und Rechtssoziologie in neuer und anspruchsvoller Gestalt unter anderem unter dem Begriff der Irritationsgestaltung geführt. Diese setzt Responsivität voraus. (Abschn. 6.2.2). Drittens ist schließlich ein Strang kritischer Systemtheorie des Rechts zu beobachten, der in starkem Maße die Grundlagen der soziologischen Systemtheorie um das oben im Zusammenhang mit Habermas‘ Schriften angesprochen Thema der Selbstgefährdung erweitert. Hieraus könnten sich neue Ansatzpunkte für eine soziologische Analyse von Krisensymptomen moderner Gesellschaft ergeben, die gegebenenfalls auch als Grundlage „kritischer“ Rechtssoziologie dienen mögen (Abschn. 6.2.3). Vor diesem Hintergrund können im dritten Teil des Kapitels abschließend die Konturen einer responsiven Rechtssoziologie skizziert werden (Abschn. 6.3).

6.2.1 Responsive Rechtsdogmatik

Über Folgenorientierung im Recht wird seit den 1960er Jahren lebhaft diskutiert. Darauf haben wir oben (Kap. 4) im Zusammenhang mit Luhmanns „Rechtssystem und Rechtsdogmatik“ bereits kurz hingewiesen. Luhmanns Position stößt damals auf breite und einhellige Ablehnung vor allem in jenen fortschrittlich gesinnten Kreisen der Jurisprudenz, die vehement für das interdisziplinäre Einheitsmodell der Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft eintreten. In diesem Zusammenhang ist Folgenorientierung eines der zentralen Merkmale des neuen Rechtsverständnisses (Adomeit 1970; Schünemann 1976; Lübbe-Wolf 1981; Hoffmann-Riem 1985, 24; Hassemer 1982, 494). Folgenabwägung ist, kurz gesagt, die neue Methode der Rechtsgewinnung schlechthin (Kriele 1967, 332; vgl. auch Winter 1971, 178 ff.), welche, wie man seinerzeit argumentiert, nicht nur der Rationalität juristischen Entscheidens zugutekomme, sondern vor allem auch die Gerichte in die Lage versetze, gesellschaftliche Verhältnisse zu beeinflussen (so ausdrücklich Wälde 1979, 11 ff.; Sambuc 1977, 16.). Dass diese Position Fragen offenlässt, ist unumstritten, insbesondere diejenige nach der Reichweite möglicher Folgen, der Feststellung der sozialen Erwünschtheit und der Praktikabilität sowie am Ende der verfassungsrechtlich gebotenen Gewaltenteilung. (Paas 2021, 4 f.) Luhmann argumentiert im Vergleich zu diesen juristischen Einwänden grundlegender und führt die aus seiner Sicht problematische Output-Orientierung des Rechts sowie die drohende Entdifferenzierung von Recht und Moral gegen die Theorie folgenorientierten Entscheidens ins Feld (Luhmann 1974).

Die Reaktion der kritischen Jurisprudenz auf Luhmann ist über weite Strecken von polemischer Abwehr gekennzeichnet. Konstruktiver wird es dort, wo die Rechtstheorie selbst sich in die soziologische Debatte einschaltet. Ein wichtiger Ausgangspunkt ist Gunther Teubners Aufsatz „Folgenkontrolle und responsive Dogmatik“ (Teubner 1975), in welchem er Luhmanns „Rechtssystem und Rechtsdogmatik“ in konstruktiver Absicht rezipiert. Luhmann, so Teubner, habe nicht nur der Folgenberücksichtigung allenfalls korrigierende Bedeutung für die Rechtsdogmatik beigemessen. Er habe daneben auch das Konzept „gesellschaftsadäquater Rechtsbegriffe“ auf einer viel zu abstrakten Ebene angesiedelt. Es müsse deshalb soziologisch geerdet werden. Luhmanns Konzept, so Teubner, „das sozusagen nur hinter dem Rücken der Dogmatik zu verwirklichen ist, soll ein Konzept einer responsiven Dogmatik entgegengesetzt werden, das durch den Einbau kognitiver Strukturen in die Dogmatik selbst die Kooperation Recht/Sozialwissenschaften auf einer konkreten, problembezogenen Ebene ermöglicht.“ (Teubner 1975, 181, Hervorh. von mir). Der Gedanke der Responsivität knüpft bei Teubner also an Luhmanns Kritik der Folgenorientierung an und verspricht Umbauten auf Seiten der Rechtsdogmatik. Damit bleibt diese Debatte zunächst in den vertrauten Bahnen des Rezeptions-Paradigmas. Solche Umbauten erfolgen auf Seiten des Rechts, indem – in Abgrenzung von den Einheitsdiskursen im Sinne des Rechts als Sozialwissenschaft (vgl. oben Abschn. 5.1.2) – die Figur der auf Außenbeobachtung eingestellten Reflexion eingeführt wird.

Zu diesem Zweck zeigt Teubner in einem ersten Schritt, dass Folgenorientierung sozusagen in schwacher Dosierung immer schon in richterlichen Interessen- und Güterabwägungen auftritt (ebd., 184 ff.). Gleiches gilt auch für die Normsetzungs- und -änderungspraktiken des Richterrechts (ebd., 187 ff.). Deshalb, so Teubner, könne Luhmanns Zuweisung der Folgenberücksichtigung ausschließlich auf politische Planung nicht überzeugen (ebd., 189, siehe dazu unsere Bemerkungen zur zweiten Defizit-Diagnose in „Kontingenz und Recht“, oben Abschn. 4.2.3). Nicht drohende Entdifferenzierung sei also das angemessen begriffliche Raster, sondern eine Binnendifferenzierung des Rechtssystems (ebd., 191 ff.) mit einem doppelt, an Input und Output des Rechts orientierten Richterrecht. Aus heutiger Sicht kann man, nebenbei bemerkt, diese Sichtweise relativieren. Teubner gleicht konzeptionell die Gerichte den Verwaltungen an, die bekanntlich die beiden genannten Orientierungen in Gestalt politischer und rechtsanwendender Verwaltung aufweisen. Dass in der rechtlich programmierten Verwaltung weitreichende Probleme in Folge von Moralisierung, Politisierung und so weiter entstehen können, ist mittlerweile gut dokumentiert. Diese Folgenorientierungs-Folgen geben umgekehrt Anlass, die rechtlichen Ausgangsprobleme soziologisch aufzugreifen, welche den Politisierungsprozessen zugrunde lagen und daraus normative, vor allem rechtspolitische Offerten zu entwickeln (vgl. Band 2, Kap. 11–13; weiterhin Bora 1999).

Teubners Text hat diesen letztgenannten Aspekt, wie gesagt, nicht im Blick. Er greift vielmehr im zweiten Schritt Luhmanns Forderung nach „gesellschaftsadäquaten Rechtsbegriffen“ auf und gewinnt daraus sein Konzept der responsiven Dogmatik (Teubner 1975, 195 ff.). Luhmann benutzt den Gedanken der Gesellschaftsadäquanz, um dazulegen, wie Rechtsdogmatik adäquate Komplexität im Recht ermöglichen könne, also strukturierte Komplexität, die gleichzeitig für die Konsistenz sorgt. Im Ergebnis lassen sich damit die Bedingungen dafür schaffen, dass das Recht sich „an einem gesamtgesellschaftlich erzeugten Entscheidungsbedarf orientiert“ (Luhmann 1974, 58). Das, so Luhmann, ermöglicht die Einschaltung der Sozialwissenschaften. Teubners Vorwurf gegen Luhmann geht dahin, dass dieses Konzept zu abstrakt bleibe, um die Rechtsdogmatik zu beeinflussen. Er plädiert dafür, nicht nur auf der Ebene von Entscheidungsprämissen (wie beispielsweise in „Grundrechte als Institution“) zu argumentieren, sondern rechtliche Begriffskonstruktionen und konkrete Fallentscheidungen sozialwissenschaftlich zu informieren (Teubner 1975, 197). Das geschehe in der Praxis ohnehin und sei auch der Rechtstheorie kein fremder Gedanke (Esser 1972, 63 ff.). Aber auch auf der „mittleren“ Ebene der Rechtsdogmatik schlägt Teubner einen neuen Weg ein. Er fragt, ob und wie Dogmatik sich als lernfähig erweisen, also normative mit kognitiven Aspekten verknüpfen könne. An dieser Stelle führt er, anknüpfend an Philip Selznick (Selznick 1961 vgl. später vor allem Nonet und Selznick 1879), den Begriff der Responsivität ein.

Philip Selznick hat aus der Organisationssoziologie kommend (Selznick 1948, 1957) das Augenmerk auf formale Organisationen gelegt und diese als Systeme studiert. Mit Blick auf das Recht betont er die Rolle der Soziologie bei der Analyse gesellschaftlicher Regulierungsbereiche (Selznick und Cotterrell 2004, 299 f.). Gegen die Critical Legal Theorists besteht Selznick später auf der Autonomie des Rechts, aus der sich die Möglichkeit der Responsivität ergibt: „responsive law presumes the achievements of autonomous law“ (ebd., 305 f.). Unter Bezug auf Freud (ebd., 306) und Piaget (ebd., 307) charakterisiert er responsives Recht als eines, das kognitive Erwartungsstrukturen benutzt, um sich an gesellschaftliche Entwicklungen anzupassen, als lernendes Recht also. Am Beispiel Deutschland erläutert er seine Position wie folgt: „For example, the development in Germany of what they call a Sozialstaat has to be understood as an effort to get beyond traditional conceptions of the Rechtsstaat. And so, if you analyse that closely, you would say, well, yes, it has these elements of responsive law in that. Because it was trying to take account – use law to take account – of the social circumstances of modernity.“ (ebd., 308). In vergleichbarer Weise, so könnte man nebenbei bemerken, nutzen sehr viel später Nobles und Schiff (2012) die systemtheoretische Rechtssoziologie, um aktuelle Entwicklungen des Rechtspluralismus jenseits staatlichen Rechts zu diskutieren.

Für Teubner ist Dogmatik im Anschluss an Selznicks Überlegungen dann responsiv, „wenn sie gesellschaftliche Bedürfnisse berücksichtigt, freilich nicht in Form des einfachen Reiz-Reaktions-Schemas, wonach der Wandel gesellschaftlicher Wertungen sich unmittelbar in veränderten Rechtsbegriffen niederschlägt. Vielmehr müssen rechtssystemeigene Modelle des Regelungsbereichs zwischengeschaltet werden, die Informationen auswählen und selbständig verarbeiten.“ (Teubner 1974, 201). Dazu bedarf es interdisziplinärer Kooperation, innerhalb derer das Recht die Informationen rezipiert. Dann flicht Teubner eine bemerkenswerte Feststellung ein: Es seien zu diesem Zweck auf Seiten der Soziologie Theorien mittlerer Reichweite gefragt „über die gesellschaftlichen Teilsysteme, die das ‚Substrat‘ der jeweiligen Rechtsregelung betreffen. Für eine sich praktisch verstehende Rechtssoziologie liegt hier ein zentrales Aufgabenfeld.“ (ebd., 201 f., Hervorh. von mir, A.B.) Die Praxis der (Rechts-) Soziologie besteht also in den Anforderungen der „Rechtsregelung“. In diesem rechtssoziologischen Praxis-Diskurs beginnt sich eine neue Sichtweise auf dem Rezeptions-Paradigma herauszulösen, ohne bereits vollständig zum Durchbruch zu kommen. Denn nach wie vor geht es um Rezeption der Soziologie im Recht, das heißt die Aufgabe der Responsivität wird allein der Rechtsdogmatik attribuiert. Sozialwissenschaftliche Theorien bedürfen der „Übersetzung“ (ebd., 202). Teubner skizziert drei Dimensionen einer responsiven Dogmatik, in denen diese Übersetzung geleistet werden kann. Kategorienbildung ermöglicht mittels Korrektur von Rechtsbegriffen eine erhöhte Lernfähigkeit durch „Dauerkonfrontation mit sozialer Wirklichkeit“ (ebd., 203). Funktionsanalyse stellt den intendierten Wirkungen und Folgen von Rechtsentscheidungen deren beobachtbare latente und manifeste Funktionen gegenüber. Sie hilft dabei, nicht intendierte Folgen zu erkennen und zu vermeiden (ebd., 204). Die Bedingungsanalyse schließlich beleuchtet die empirischen Voraussetzungen für das Funktionieren von Rechtsnormen. Sie führt zu realistischen Folgenabschätzungen und strategischen Empfehlungen. Eine Dogmatik, deren Begriffsbildung über diese drei Dimension mit gesteuert wird, orientiert sich dadurch gleichsam naturwüchsig an den Folgen rechtlicher Regulierung (ebd.).

Mit einem Abstand von zwanzig Jahren greift Teubner das Thema 1995 erneut auf. Er reagiert damit auf das zwischenzeitliche Verstummen der Diskussion um Folgenorientierung und reformuliert seinen rechtstheoretischen Vorschlag, der sich trotz des Fehlens eines expliziten terminologischen Bezugs als renovierte Variante der responsiven Dogmatik erweist (Teubner 1995 (a)). Im Konzept der Folgenorientierung, so heißt es jetzt, manifestiere sich eine Paradoxie: „Ein juristischer Konsequentialismus erweist sich [sc. in der alltäglichen Rechtspraxis] als notwendig, obwohl er unmöglich ist“ (Teubner 1995 (a), 9; ähnlich auch Wiethölter im selben Band, Wiethölter 1995, 120.). Erneut wird auf die Ubiquität des Phänomens hingewiesen. Dieter Grimm etwa argumentiert an derselben Stelle (Grimm 1995, 145), Folgenorientierung sei nicht die Auflösung des Gesetzesbindung, sondern verbesserte Deutung geltenden Rechts, welche die übrigen Methoden der Rechtsgewinnung nicht verdränge, sondern ergänze. Luhmanns Einwand, der auf die Unmöglichkeit der Berücksichtigung aller Folgen (Komplexität) hinweise, sei stichhaltig, führe aber nicht zum Verbot der Folgenberücksichtigung (ebd., 146), sondern zu der Frage, wo und in welchem Umfang sie angebracht sei. Trotz verbreiteter Praxis der Folgenorientierung blase allerdings, so wiederum Teubner, deren rechtstheoretischer Würdigung inzwischen ein „sozialwissenschaftlicher Gegenwind ins Gesicht“ (Teubner 1995 (a), 9, 15 ff.), der sich insbesondere aus Zweifeln an der Prognosefähigkeit der Sozialwissenschaften speise. Angesichts dieser begrenzten Möglichkeiten könne es erstens nicht mehr „um das ehrgeizige Ziel gehen, sozialwissenschaftliche Modelle zur Voraussage künftigen Verhaltens als Reaktion auf Rechtsänderungen einzusetzen, sondern sehr viel bescheidener darum, faktische Informationen darüber zu sammeln, welche realen Änderungen nach der Rechtsänderung eingetreten sind“ (ebd., 15) – also Orientierung an Vergangenheit statt Prognose mit dem Ziel, für zukünftige Entscheidungen zu lernen. Zweitens ergebe sich für das konsequentialistische Recht daraus die Aufgabe der Berücksichtigung gesellschaftlicher „Zweitlektüren“ seines Operierens, also der Beobachtung des Regelungsbereiches daraufhin, wie dort „die Rechtsänderung von den Akteuren real gelesen wird.“ (ebd.), etwa als Kostenfaktor in der Ökonomie, als Machtverschiebung in der Politik und so weiter. Damit entfällt zwar die Möglichkeit einer „Abschätzung“ von Rechtsfolgen. „Das Recht hätte aber“, so Teubner abschließend in einer sehr instruktiven Bemerkung, „deutlich an Realismus gewonnen, wenn es jeweils nur die eine Folge zur Kenntnis nähme, nämlich welche Form die Rechtsentscheidung in der Zweitlektüre des Sozialkontextes annimmt.“ (ebd., 16). Ohne dass der Begriff hier erwähnt wird, hat Teubner die Figur der Responsivität an dieser Stelle erneut aufgegriffen. Sie bezeichnet – wenn auch in anderen Worten – die interne Berücksichtigung externer Beobachtung des eigenen Operierens.

Vergleichbare gedankliche Ansätze finden sich auch andernorts. In Großbritannien entzündet sich beispielsweise wenig später – wenngleich unter anderen terminologischen Vorzeichen und ohne direkten Bezug auf Teubners Vorschlag – eine kurze Debatte um die Frage, ob die Rechtssoziologie zu rechtsdogmatischen Themen Stellung beziehen könne. „Why must legal ideas be interpreted sociologically?“ fragt Roger Cotterrell (Cotterrell 1998) und versucht damit in gewisser Weise den Hiatus von Sein und Sollen zu überwinden. Er beschreibt Rechtssoziologie als „transdisziplinäres“ Unterfangen, in dem die Unterscheidung von interner und externer Beobachtung aufgehoben sei: „When legal thinking is understood sociologically, the distinction disappears between internal (legal participant) views of law and external (for example, social scientific observers’) views. It is replaced by a conception of partial, relatively narrow or specialized participant perspectives on (and in) law, confronting and being confronted by, penetrating, illuminating, and being penetrated and illuminated by, broader, more inclusive perspectives on (and in) law as a social phenomenon.“ (ebd., 188). Diese zunächst abstrakte programmatische Bestimmung erläutert Cotterrell anhand von soziologischen Untersuchungen zu „private purpose trusts“, die deutlich machen, dass und wie die Soziologie sich als Ausdehnung und Reflexion rechtlicher Binnenperspektiven deren Problemsicht qua Übersetzung in die Sprache der Soziologie zu eigen machen kann. (ebd., 190 f.) Allerdings bleibt der Vorschlag ohne konkrete Anbindung an eine begrifflich ausgearbeitete soziologische Theorie und folgt damit letztendlich der oben skizzierten „pragmatischen“ Linie der britischen Rechtssoziologie.

In einer Antwort auf Cotterrell legt David Nelken (Nelken 1998) den reflexionstheoretischen Hintergrund der Debatte frei, indem er seine Bedenken gegenüber Cotterrells „reflexive sociology of law“ im Kern auf das Rezeptions-Paradigma stützt. Cotterrells Lesart einer soziologischen Interpretation rechtlicher Probleme, so Nelken, drohe auf das Recht zurückzuschlagen und es auf die Position einer versozialwissenschaftlichten Jurisprudenz zu drängen (ebd., 410). Er wendet sich gegen Cotterrells Vorschlag einer Auflösung soziologischer Begriffe und disziplinärer Identität im Modell der „Transdiziplinarität“. Stattdessen, so Nelken, komme es auf die Reflexion der jeweiligen disziplinären Möglichkeiten und Limitationen an, aus denen sich erst ein Konzept interdisziplinärer Kooperation entwickeln lasse. Insofern stärkt er gewissermaßen den Aspekt der Responsivität durch eine Reformulierung von Cotterrells Programmatik. Gleichwohl endet diese kurze Debatte in einer der zahlreichen Sackgassen des Rezeptions-Paradigmas, wie Nelkens Bemerkung zeigt: „… where Cotterrell presently seeks the aim of increasing legal reflexivity by requiring sociology to go beyond its limits as an academic subject, I suggest that sociology of law should try better to understand its limits as a way of seeing. Where he argues that sociology has the capacity to transform legal discourses despite their claims to autonomy, I am more interested in noting the way law (necessarily) transforms other discourses. Finally (and as a consequence) we disagree over how easy it is to use ‚social insights’ in deciding what solutions are appropriate in legal disputes.“ (Nelken 1998, 414). Wie schon zuvor Cotterrell verharrt auch Nelken im Programmatischen. Gegen die seiner Ansicht nach überstilisierte Geschlossenheitsthese der autopoietischen Systemtheorie führt er das (von dieser bekanntlich selbst vertretene) Konzept der Kopplung ins Feld, ohne dies auf sein eigenes Bild von Recht und Soziologie als „autonomen“ Diskursen zu beziehen (ebd., 430 f.). Es bleibt bei einem pragmatischen – reflexionstheoretisch indifferenten – Aufruf zur Wachsamkeit: „Sociology of law is obliged to pay allegiance … to both law and sociology.“ (ebd., 426, Hervorh. i. O.).

Diese Debatte findet viel später noch eine kurze Fortsetzung, als 2015 Katayoun Baghai einen Appell an die soziologische Systemtheorie richtet, die Rechtswissenschaft ernst zu nehmen. Sie benutzt die systemtheoretische Rechtssoziologie zum besseren Verständnis höchstrichterlicher Rechtsprechung in den USA. Die Analyse, so ihr zentraler Vorschlag, solle sich nicht – wie viele rechtssoziologische Arbeiten – an Personen, Gruppen, Interessen orientieren, sondern an funktional differenzierten Modi der Kommunikation, welche die Umwelt des Rechts prägen und auf welche dieses in seinen Entscheidungen reagiert. Die Vorgehensweise demonstriert sie mit Hilfe ausführlicher Untersuchungen von Urteilen des Supreme Court, insbesondere auf menschenrechtsrelevanten Gebieten (Rassendiskriminierung, affirmative action, Religionsfreiheit, Schutz der Privatsphäre). Ziel der Argumentation ist allerdings nicht in erster Linie eine stärker responsive Soziologie, sondern ein empirisch angemesseneres Verständnis des Gegenstandsbereichs. In einer kritischen Besprechung deuten Nobles und Schiff (Nobles und Schiff 2017) diese Absicht dann explizit um, indem sie die juristische Anschlussfähigkeit von Baghais Thesen zum eigentlichen Problem erklären (Nobles und Schiff 2017, 1). Sie werfen ihr einerseits vor, normativistisch zu argumentieren (ebd., 36), andererseits dementieren sie auch die Möglichkeit einer responsiven Rechtsdogmatik, fallen insofern also hinter den bei Teubner dreißig Jahre zuvor erreichten Stand der Diskussion zurück: „… would the law itself be able to learn the ‚lesson‘ of Luhmann’s analysis of law’s conditional programmes? Could the external observation on legal practice represented by this analysis become an internal analysis, a self-observation within the legal system that prevented, or restrained, the use of consequential reasoning when interpreting legal texts? The answer here is probably ‚no‘“ (ebd., 33).

In dieser Weise lässt sich die Auseinandersetzung um Responsivität der Rechtsdogmatik bis in die 2010er Jahre charakterisieren. Auf fruchtbareren Boden fallen Teubners Anregungen in jüngerer Zeit innerhalb der deutschsprachigen Rechtstheorie. Dort finden sich seit einigen Jahren vermehrte Hinweise auf responsive Dogmatik, unter anderem in einige Beiträgen zur Festschrift für Gunther Teubner (Calliess et al. 2009) und andernorts (Viellechner 2019, darin auch Prandini 2019). Lars Viellechner spricht beispielsweise mit Blick auf das Recht der Weltgesellschaft von einem „responsiven Rechtspluralismus“ (Viellechner 2012). Michael Grünberger macht sich aus zivilrechtlicher Perspektive für eine responsive Rechtsdogmatik stark (Grünberger 2018). Sein Vorschlag, das digitale Güterrecht aus dieser Perspektive zu analysieren, greift in pointierter Form das Thema wieder auf. Der sofort einsetzenden Kritik aus der Jurisprudenz, die sich unter anderem auf den bereits früher erhobenen Einwand der Gewaltenteilung beruft und in der responsiven Dogmatik vor allem das trojanische Pferd einer neu aufgelegten Interessenjurisprudenz vermutet, setzt Grünberger (Grünberger 2019) eine ausführliche Begründung seiner Position entgegen. Wie zuvor Teubner knüpft er an das Problem der Folgenorientierung an (ebd., 928). Im Spannungsverhältnis zwischen der Autonomie des Rechts und dessen Kopplungen an andere Funktionssysteme bedarf es, so Grünberger, eines komplexen „Übersetzungsmechanismus“. Diesen bietet auf allgemeinster Ebene eine „responsive Rechtswissenschaft“ (ebd., 929). Grünberger versteht unter Responsivität ein Instrument der Sensibilisierung des Rechts für seine verschiedenen Umwelten (ebd., 930), die er wie folgt beschreibt: „(1.) Rechtsdogmatik muss die von den Sozialtheorien gelieferten Beschreibungen seiner Umwelt als Irritationen behandeln, (2.) sie dann rechtsintern mit eigenständiger Begriffsbildung rekonstruieren und (3.) darauf mit autonomer Normbildung und Normkonkretisierung reagieren, (4.) einschätzen, wie die rechtliche Normänderung in der sozialen Welt aufgenommen werden wird und (5.) Mittel zur Korrektur etwaiger Fehleinschätzungen bereithalten.“ (ebd., 929). Wie ein solches responsives Recht aussieht, lässt sich, so Grünberger, am Beispiel des Technik- und Umweltrechts gut beobachten, wo dynamische Verweise auf die Umwelt in Gestalt des Standes von Wissenschaft und Technik zum Standardrepertoire gehören (zu damit verbundenen Problemen vgl. Band 2, Kap. 11–13). Kognitive Defizite des Rechts werden durch Beobachtung der Umwelt kompensiert. Der Übersetzungsprozess spielt sich interessanterweise auf beiden Seiten ab, nämlich dadurch, dass sich bereits in der Wissenschaft anerkannte Kenntnisse zu einer Art „normative[r] Praktiken“ verdichten (ebd., 234; vgl. zu „scientific norms“ und „legal facts“ ausführlich Kap. 7 und 8 im zweiten Band).

Mit diesen knappen Hinweisen auf die Geschichte der responsiven Dogmatik soll es an dieser Stelle sein Bewenden haben. Worauf es bei der kurzen historischen Betrachtung vor allem ankommt, ist das reflexionstheoretische Grundgerüst, das sich in der juristischen Rechtstheorie herauskristallisierte. Aus diesem Grundmuster kann die Rechtssoziologie Gewinn abschöpfen. Während die Debatte um folgenorientiertes Entscheiden, wie wir gesehen haben, ohne substanzielle Beteiligung der Soziologie ablief, was angesichts der Bedeutung, die ihr von der versozialwissenschaftlichten Jurisprudenz beigemessen wurde, erstaunt (so auch Paas 2021, 8), kann sie doch auch aus soziologischer Sicht reflexionstheoretisch genutzt werden. Mit Teubners rechtstheoretischer Intervention verschiebt sich der Themenfokus von der Folgenorientierung zur Responsivität, was die schon fast erloschene Diskussion neu belebt. Das Thema der Responsivität beschäftigt, wie wir gesehen haben, die Rechtstheorie auch heute wieder. Damit – und dieser Aspekt ist für unsere Argumentation von Bedeutung – ermöglicht diese begriffliche Umorientierung nun eine Befassung mit der Frage, was Responsivität für die Soziologie bedeuten kann. Man kann also aus diesen Diskussionen insofern Profit ziehen, als es gelingt, das Argument von der Rechtswissenschaft auf die Soziologie zu übertragen, dort die Bedingungen responsiver Theorie zu eruieren und damit den vergleichsweise engen Gesichtspunkt der responsiven juristischen Dogmatik zu verallgemeinern. Responsivität wird dann in beiden Feldern, gleichsam als doppelte, aber eben responsiv gekoppelte Asymmetrie zu denken sein, als eine sensitive Symmetrie der Asymmetrien, wenn man so will. Wie dies konkret aussieht, wird weiter unten im dritten Abschnitt dieses Kapitels sondiert. Zuvor kommen noch zwei weitere Inspirationsquellen der soziologischen Jurisprudenz für eine responsive Rechtssoziologie und eine professionssoziologische Folgerung zur Sprache.

6.2.2 Reflexives Recht und Gesellschaftssteuerung

Rechtliche Folgenorientierung hat, wie schon erwähnt wurde, einen starken Bezug zu Fragen der Gesellschaftsgestaltung. Folgenorientiertes richterliches Entscheiden legitimiert sich ursprünglich unter anderem aus dem sozial-ingenieurialen Anspruch rationaler Steuerung gesellschaftlicher Verhältnisse. Wie sich in den Debattenbeiträgen von Cotterrell, Nelken, Nobles und Schiff bereits andeutete, spielt im Anschluss an den Aspekt der Gesellschaftsgestaltung im Kontext der Folgenorientierungs-Debatte das Konzept des reflexiven Rechts eine wichtige Rolle. Der Begriff steht einerseits als Synonym für Responsivität, bezeichnet zugleich aber auch ein eigenständiges rechtstheoretisches Konzept, das Gunther Teubner (1982) im Anschluss an Nonet und Selznick (1978) in die Diskussion einführt. Letztere beleben die Evolutionstheorie des Rechts neu und sehen, wie bereits erwähnt, die Rationalität des modernen Rechts in dessen Responsivität. Damit widersprechen sie Luhmanns Idee einer mangelnden Anpassung des Rechts an funktionale Differenzierung, also seiner Forderung nach „gesellschaftsadäquaten Rechtsbegriffen“, ebenso wie Habermas’ Konzept einer Legitimationskrise. Teubner schlägt angesichts dieser Divergenzen vor, nach Gemeinsamkeiten hinter den widerstreitenden Theorien zu suchen (Teubner 1982, 16). Diesem Zweck dient das Konzept des reflexiven Rechts, das im Gegensatz zum responsiven Recht Nonets und Selznicks die innere Dynamik der Rechtsentwicklung mit äußeren sozial-strukturellen Entwicklungen in Beziehung setzt und „diese Beziehung ihrerseits auf ‚gesellschaftsadäquate Komplexität‘ untersucht.“ (ebd., 17). Dann werden gleichsam Reibungsverluste zwischen Rechts- und Sozialstrukturen sichtbar. Materiale Rechtsrationalität kann diese Umweltanpassung nicht ausreichend garantieren, „während eine ‚reflexive‘ Orientierung durchaus Chancen besitzt, als eine sozialadäquate Antwort des responsiven Rechts zu gelten“ (ebd.). „Mit staatsinterventionistischen Konzepten teilt reflexives Recht das Programm eines Rechtsaktivismus, das in soziale Prozesse kompensatorisch zu intervenieren sucht. Jedoch zieht es sich aus der vollen Verantwortung für konkrete soziale Ergebnisse zugunsten einer abstrakteren Steuerung zurück.“ (ebd., 25). Reflexives Recht baut auf Prozeduralisierung, zielt aber im Unterschied zu neoliberalen Konzepten auf „regulierte Autonomie“, fördert selbstregulierende „lernende“ Sozialsysteme und versucht, deren Defizienzen entgegenzuwirken (ebd., 26 f.). In einer funktional differenzierten Gesellschaft stellt das reflexive Recht den Teilsystemen, eine „Sozialverfassung“ zur Verfügung, die „ihre Eigengesetzlichkeiten respektiert, ihnen aber zugleich gesellschaftliche Restriktionen auferlegt“ (ebd., 27).

Ob Teubners Übersetzung des „responsive law“ in die Sprachen der Systemtheorie und der Kritischen Theorie (ebd., 47) gelungen ist, dahingestellt bleiben. Einen Schritt weiter führt uns die Beobachtung, dass die Bedeutung von Reflexion im Recht vor allem darin besteht, die Spannungen zwischen Funktion und Leistung des Rechts zu entschärfen (ebd., 48). Diese Bestimmung ruft exakt die beiden Aspekte auf, welche die Grundlage unserer Suche nach responsiven Reflexionstheorien lieferte: Autonomie und Praxis. Mit der Funktion des Rechts ist die Bereitstellung kongruent generalisierter normativer Erwartungen benannt, die nach den internen Strukturgesetzlichkeiten des Rechts gebildet werden. Seine Leistung verweist hingegen auf Konfliktlösung, Regulierung, Gestaltung, also auf Umweltgesichtspunkte, welche die autonome Reproduktion des Rechts limitieren. Reflexives Recht, so kann man deshalb sagen, bildet – trotz Teubners Kritik an Nonet und Selznick – das Konzept der Responsivität ab, allerdings nunmehr in der von uns vertretenen, auf Kaldewey (2013) und die soziologische Systemtheorie zurückgehenden Fassung, in welcher Autonomie und Selbstlimitierung in symmetrischer, äquilibrierter Form gedacht werden. Dass diese Selbstlimitierung des Rechts mit dem Praxis-Diskurs in dem von uns vorgeschlagenen Sinne deckungsgleich ist, wird dort deutlich, wo Teubner sie inhaltlich bestimmt: Sie besteht darin, „das Recht darauf zu konzentrieren, strukturelle Voraussetzungen für selbstregulatorische Prozesse in anderen Systemen zu schaffen“ (Teubner 1982, 49). Die „These, ist: Ein responsives Recht realisiert seine eigene reflexive Orientierung, indem es strukturelle Voraussetzungen für Reflexionsprozesse in anderen Sozialsystemen schafft.“ (ebd., 50 f.). Wie schon in den Beiträgen zur responsiven Dogmatik ist auch im Konzept des reflexiven Rechts eine juristische Reflexionstheorie angelegt, die unserer Konzeption von Responsivität bereits weit entgegenkommt. Erneut kann man die Frage nach komplementären Möglichkeiten in der Soziologie stellen und dann, um Teubners Begriffsbestimmung zu übertragen, die soziologische Theorie des Rechts in ihrer reflexiven Orientierung dahingehend einstellen, dass sie die Umweltbeobachtung des Rechts beobachtet und daraus strukturelle Voraussetzungen für selbstregulatorische Prozesse in der Wissenschaft gewinnen kann.

Diese Frage wird in der Folge von Teubners Beitrag jedenfalls in ersten Ansätzen in der soziologischen Debatte erkennbar. Dabei ist es insbesondere – neben einem in der Argumentation weitgehend deckungsgleichen englischen Aufsatz Teubners (Teubner 1983) – Teubners und Willkes Darstellung des reflexiven Rechts in der Zeitschrift für Rechtssoziologie 1984 (Teubner und Willke 1984), die für eine Debatte in der Rechtssoziologie sorgt und bis heute nachwirkende Entwicklungen in der soziologischen Theorie anstößt.

Der Grundgedanke des Aufsatzes besteht darin, dass die von Rechtsentscheidungen betroffenen Teilsysteme sich gleichsam unter rechtlicher Beobachtung in Verhandlungssystemen miteinander abstimmen. Dem Recht fällt dabei die Aufgabe zu, den „betroffenen Teilsysteme[n] […] eine Sozialverfassung“ zu geben (Teubner und Willke 1984, 7). Es schafft damit die Voraussetzungen für die Selbstorganisation der zu regelnden Systeme und gibt diesen dafür einen sozialverträglichen Rahmen. Wie schon in Teubners früheren Beiträgen steht der Terminus der Reflexion für diese begriffliche Konstruktion. Reflexives Recht ermöglicht die Beobachtung der je eigenen teilsystemischen Operationen, auf Grund derer es möglich wird, sich darauf einzustellen, „dass in ihrer relevanten Umwelt andere Teilsysteme in Interdependenzbeziehungen agieren und sie selbst deshalb für diese anderen Teilsysteme eine brauchbare Umwelt darstellen müssen“ (ebd., 14). Das Recht nimmt in diesem Konzept keine zentrale Position ein, es ist nicht einmal primus inter pares. Vielmehr läuft die Vorstellung von Sozialverfassungen drauf hinaus, die jeweils eigenen systemischen Relevanzen, die normativen Erwartungen, die das jeweilige Operieren formen, im Lichte ihrer Konsequenzen für andere Gesellschaftsbereiche zu sehen. Im Modus des normativen Erwartens stellt das Recht eine über die „unverbindliche Einladung zum Perspektivwechsel“ hinausgehende Erwartungssicherheit her. Es stellt den Rahmen der Sozialverfassung bereit, nimmt aber keine zentrale „regierende“ Position ein.

Der in der deutschen und internationalen Rechtssoziologie vielbeachtete Aufsatz ist ein Meilenstein der Steuerungs- und Regulierungsdebatte in der Soziologie (vgl. Band 2, Kap. 2). Im selben Heft der Zeitschrift für Rechtssoziologie schildert Luhmann seine aus dem Konzept der Autopoiesis und dem damit verbundenen reflexionstheoretischen Autonomie-Modell resultierenden Probleme mit reflexivem Recht (Luhmann 1985). Seine Einwände. basieren im Wesentlichen auf der Annahme, dass das Rechtssystem für die Aufgaben, die das reflexive Recht stellt, gar nicht gerüstet sei. Er bezweifelt, dass das Recht die nach Teubner und Willke zentrale Beobachtung generieren kann, nach der es ein autopoietisches System in einer durch andere autopoietische Systeme geprägten Umwelt ist. Mehr noch, reflexives Recht konfrontiere das Rechtssystem mit seiner Basisparadoxie. Luhmann lässt lediglich die Möglichkeit der „Selbstsensibilisierung des Rechts für die Faktizität seiner gesellschaftlichen Bedingungen“ offen (ebd., 8).

Richard Münch (1985) bemängelt im selben Zusammenhang das Fehlen einer Handlungstheorie, die mangelnde Sensibilität gegenüber rechtskulturellen Differenzen sowie das Fehlen eines Konzepts der gesellschaftlichen Integration, das erklären könnte, was eine systemintern „brauchbare“ Umwelt ist und weshalb Systeme externe Perspektiven berücksichtigen sollten. Peter Nahamowitz (1985) kritisiert das Konzept als empirisch und theoretisch unangemessen, auf kapitalistische Krisenphänomene nicht anwendbar und im Ganzen die Wirkungsmacht staatlichen Handelns systematisch unterschätzend. Helmut Willke (1985) reagiert mit einer Replik, Blankenburg schließt sich mit einem Beitrag über die kolonisierende Wirkung des reflexiven Rechts (Blankenburg 1986) der Kritik an. Auch unter Juristen weckt das Thema Aufmerksamkeit, etwa in dem 1984 am ZERP abgehaltenen Workshop zu Konzepten des postinterventionistischen Rechts (Brüggemeier und Joerges 1984). Mit einiger Verzögerung erklingt ein skeptischer Zwischenruf Luhmanns mit dem Schwerpunkt auf Fragen der Steuerung (Luhmann 1991), womit zugleich die nächste Diskussionsrunde eröffnet wird.

Denn während der Begriff des reflexiven Rechts sich auch international ausbreitet (z. B. im Arbeitsrecht, Rogowski 2015) und in verschiedenen Popularisierungswellen seine Konturen zu verlieren droht (etwa auf den Gebieten des Umweltrechts und der Nachhaltigkeit, Orts 1994/1995; Sanford 2002/2003), verlegt Teubner nach 1992 den Schwerpunkt (dazu Calliess 2019, 60; Calliess 2009; Prandini 2019, 237 ff.). Reflexives Recht verliert in seinen Schriften gegenüber Fragen des globalen Rechtspluralismus und der Verfassungssoziologie an Bedeutung. Gleichzeitig gewinnt das Thema aber an anderen Stellen neue Relevanz, nämlich im Anschluss an die seit den 1990er Jahren dominante Governance-Debatte in Form eines neuen Interesses an Aspekten der Steuerung, Gestaltung und Regulierung, die nun auf dem Boden der soziologischen Systemtheorie neu interpretiert werden (Paul et al. 2017, siehe auch Band 2, Kap. 26). Rechtliche Regulierung und gesellschaftliche Gestaltung werfen mit anderen Worten innerhalb der Soziologie die Frage nach Praxis in derselben Weise auf, wie sie Jahrzehnte zuvor innerhalb der Rechtstheorie durch die Thematik der Folgenorientierung provoziert worden war.

Das deutet sich schon in der frühen Governance-Debatte an, beispielsweise in Helmut Willkes Aufsatz über die Politische Steuerung der Wissensgesellschaft (Willke 1995), welcher den Kerngehalt von Willkes staatstheoretischen Arbeiten in jener Zeit zur Geltung bringt. Willke legt nach der oben skizzierten Debatte über reflexives Recht zunehmendes Gewicht auf die Rolle des Staates und bestimmt von da her die Aufgabe des reflexiven Rechts. In „Ironie des Staates“ (Willke 1992) arbeitet er die Grundlagen aus, die später in „Supervision des Staates“ (Willke 1997) ausgearbeitet werden.

Gesellschaftstheoretische Perspektiven, so Willke, erzwingen einen Umbau der Staatstheorie. Denn in einer polyzentrischen Gesellschaft wird Staat nicht mehr als zentraler Akteur begriffen; nicht zur Gesellschaft steht er in Opposition, sondern er wird zum inneren Modell der Politik von sich selbst (Willke 1992, 9). Politik steht vor der Aufgabe, nach der Etablierung macht- und geldbasierter Infrastrukturen für innere und äußere bzw. ökonomische und soziale Sicherheit nun auch eine wissensbasierte Infrastruktur für technologische und ökologische Sicherheit zur Verfügung zu stellen. Dieser Gestaltwandel des Staates lässt sich an der Form des Rechts ablesen. Nach dem Konditionalprogramm und dem Zweckprogramm (welches sich, sozusagen „trotz“ Weber und Luhmann entwickelt hat) ist die den modernen Verhältnissen angemessene Form ein „Relationierungsprogramm“ (ebd., 79 ff.), das auf unterschiedliche Systemrationalitäten Rücksicht nimmt. In der Praxis habe diese Entwicklung, wie Willke meint, bereits begonnen. Beispiele wie die Konzertierte Aktion, österreichisch-skandinavische Modelle der Sozialpartnerschaft, das schweizerische Vernehmlassungsverfahren und diskursive Aushandlungsgremien unterschiedlicher Art machten dies deutlich (ebd., 180). Relationierungsprogramme sind vor allem dort relevant, wo Kollektivgüter betroffen sind und Risikosteuerung gefragt ist (ebd., 181). Das Strukturprinzip der Gesellschaft ist nach Willke nicht mehr die funktionale, sondern eine organisierte Differenzierung und gleichzeitige Vernetzung. Der Staat nimmt die Form des Wohlfahrts- bzw. Supervisionsstaats an; die Form des Rechts ist reflexiv und relational, seine Rationalität ist systemisch und diskursiv, Steuerung ist nun dezentrale Kontextsteuerung. Für steuernde Intersystembeziehungen ist deshalb eine „Grammatik von Transformationsregeln“ (ebd., 199) nötig, die angibt, wie externe Bedingungen in die internen Operationen des Systems eingebaut werden. Für das Recht heißt das: Steuerung ist erstens Konditionierung von Selbststeuerung; zweitens ist sie ein relationaler Prozess, bei dem sich beide Seiten verändern; drittens beruht sie auf Fremdbeschreibungen, auf Heuristiken, die im Prozess getestet werden (ebd., 200). Dabei geht der „Veränderungswunsch“ vom „gesteuerten“ System selbst aus, das Recht kanalisiert beziehungsweise relationiert den Prozess lediglich (ebd., 202 f.). Seine Steuerungsleistung besteht darin, angemessene Selbstbeschreibungen zu fördern, „Interdifferenzen“ zu prozessieren und „gewaltfreies“ Prozessieren von Widersprüchen zu ermöglichen (ebd., 204). Das „reflexive Recht“ benötigt dazu prozedurale Qualitäten, die es zu einem Medium der reflexiven Abstimmung widersprüchlicher Teilsystemrationalitäten machen (ebd., 205). Die soziologisch und reflexionstheoretisch interessante Pointe im Unterschied zu Luhmann besteht darin, dass nach Willkes Auffassung das Recht „materiale Gesellschaftstheorie“ werden und sich damit „an der Spitze des Erkenntnisfortschritts“ bewegen muss. Es muss Bedingungen kollektiver Kommunikation in funktional differenzierter Gesellschaft institutionalisieren (ebd., 208).

Trotz nicht zu übersehender Bezüge auf das Rezeptions-Paradigma beginnen sich hier doch die Bindungen an dieses Deutungsmuster zu lockern. Wenn das Recht materiale Gesellschaftstheorie ist, werden die Grenzen gegenüber einer sich als „materiale Rechtstheorie“ verstehenden Soziologie des Rechts fließend. Das ist in der soziologischen Theorie nicht unbemerkt geblieben, wie sich unter anderem an dem bereits erwähnten wiederbelebten Interesse an Fragen der Regulierung ablesen lässt (siehe Band 2, Teil I). Unter dem Stichwort der „Irritationsgestaltung“ hat Marc Mölders – ursprünglich ausgehend von einem Konzept des lernenden Rechts (Mölders 2011) – dazu umfangreiche Untersuchungen vorgelegt (Mölders 2013, 2015, 2019, 2021). Mit Ausbildung der autopoietischen Systemtheorie wurde, wie wir bereits erörtert haben, die Möglichkeit der Steuerung, allgemein der planvollen Gestaltbarkeit von Gesellschaft in Zweifel gezogen. Das hatte sich in Luhmanns Skepsis gegenüber der Folgendebatte bereits deutlich abgezeichnet. Mölders weist darauf hin, dass die Systemtheorie zwei Lesarten des Problems ermöglicht, nämlich neben der an der Oberfläche kaum zu übersehenden Ablehnung der Chancen, in andere Systeme direkt zu intervenieren, auch die etwas versteckte Option der Irritationsgestaltung. In Luhmanns „Die Wirtschaft der Gesellschaft“, so Mölders, zeichnet sich beispielsweise trotz der geforderten Abkehr vom Begriff der politischen Steuerung die Frage danach ab, „was produktive Irritationen fremder Selbststeuerungen auszeichnet“ (Mölders 2013, 8). Mölders verfolgt diese systemtheoretischen Spuren, um die Potenziale der Theorie für ein Konzept der Irritationsgestaltung zu nutzen. Vor dem Hintergrund der Governance-Debatte, die nach dem weithin verkündeten Ende systemtheoretischer Steuerungskonzepte in den 1990er Jahren ausgebrochen war (Mayntz 2004, 2005; Schuppert 2005; Trubek und Trubek 2006; Willke 2006; Blumenthal und Bröchler 2006; Schuppert und Zürn 2008), analysiert er die Voraussetzungen von Intersystem-Verhandlungssystemen. Er fragt, weshalb solche Verhandlungen, die zu Reflexion führen, trotz funktionaler Differenzierung möglich sind (Mölders 2013, 15). Er stützt sich dabei – analog der hier auf reflexionstheoretischer Ebene vorgeschlagen Sichtweise (vgl. oben Kap. 2) – auf Teubners Konzept der Ultrazyklen, in denen wechselseitige Irritationen systematisch und stabil in einem Perturbationskreislauf zusammenfließen, „bei dem die beteiligten Systeme zwar ihrer je eigenen Sinnproduktion treu bleiben (also politische Entscheidungen, Zahlungsoperationen, Rechtsakte usw. erzeugen), diese aber untereinander kompatibel sind“ (ebd., 18). Dies gelingt, wenn der externe Steuerungsdruck internen Mehrwert zu erzeugen in der Lage ist, wie man zum Beispiel an Corporate Codes of Conduct sehen kann (ebd., 20 f.). Heute erlebt in der Post-Governance-Theorie der Begriff der Regulierung eine Renaissance, die bei Mölders ihren Ausdruck im Konzept der Irritationsgestaltung findet (Mölders 2015, 2019). Dabei geht es um ein theoretisch umfassendes Verständnis gesellschaftlicher Interventionsprozesse, in denen weniger die Politik und das Recht im Zentrum stehen, sondern die im Medium von Massenkommunikation einerseits und Protest andererseits gedeihenden Organisationen des investigativen Journalismus. Sie dienen als Fallbeispiele für Mölders’ Abgrenzung gegenüber Luhmanns Diktum vom „praktisch ratlosen Protest“. Das Konzept der Irritationsgestaltung bildet den allgemeinen konzeptuellen Rahmen für die Frage nach unterschiedlichen Mechanismen und Formen der Einflussnahme durch investigative Organisationen, die es, so Mölders, „mit differenzierten und autonomen Informationsverarbeitungen und mit je eigenen Zeitregimes zu tun [sc. zu] haben, die nur über bestimmte (Um-) Wege ansprechbar sind.“ (Mölders 2019, 18). Sie seien mit anderen Worten, nicht ratlos, sondern reflektierten auf die Unmöglichkeit von Direktinterventionen. „Sie zeigen aber auch, dass die Kenntnisnahme solcher Grenzen dazu genutzt werden kann, eigene Informationen mit Zumutungsgehalt anzureichern“ (ebd.). Diese Überlegungen lassen, auch wenn sie sich vom Konzept des reflexiven Rechts entfernt haben, dessen Strukturen noch deutlich erkennen – nunmehr allerdings in Gestalt soziologischer Theorie, eine Entwicklung, die Teubner zustimmend kommentiert. Er unterbreitet den „an Steuerung durch Irritation interessierten Soziologen und Juristen“ den Vorschlag, „das Irritationspotential gegenüber … Mehrwertorientierungen in unterschiedlichen Sozialsystemen näher zu untersuchen und darauf aufbauende Steuerungsstrategien zu entwickeln“ (Teubner 2020, 145, Fn. 14).

Bei den an reflexivem Recht interessierten Juristen sind solche Ansätze, ebenso wie schon in Mölders‘ soziologischer Regulierungstheorie seit längerem zu beobachten. In rechtstheoretischem Zusammenhang hat Lars Viellechner (2013) zunächst Luhmanns Bedenken gegen das Konzept des reflexiven Rechts aufgegriffen. Wie dieser hält er die Idee, dass vom Recht aus die Autopoiesis anderer Funktionssysteme in Gestalt von regulierter Selbstregulierung solle gesteuert werden können, für wenig realistisch. Stattdessen setzt er auf das von Wiethölter ins Gespräch gebrachte Konzept rechtlicher Kollisionsregeln, mit denen auf transnationaler Ebene eine „Abstimmung von verschiedenen Rechtsordnungen, Rechtsregimes und Regelungsarrangements“ soll erreicht werden können (Viellechner 2013, 301). Dieses „responsive“ Recht der Weltgesellschaft (ebd., 297 ff.) baut die „empathische Orientierung nach außen als Selbstverpflichtung in die innere Ordnung“ ein (ebd., 298, Hervorh. von mir, A.B.). Hier wie in anderen Beiträgen zur Figur des Kollisionsrechts in der systemtheoretischen Rechtstheorie (Joerges und Rödl 2009; Ladeur 2009) wird der konzeptionelle Zusammenhang von responsiver Dogmatik und reflexivem Recht besonders deutlich. Responsivität des Rechts bildet die Grundlage neuer Steuerungs- und Regulierungskonzepte. Das zeigen beispielsweise auch Überlegungen zur Methode einer soziologischen Jurisprudenz am Beispiel privatrechtlicher Denkfiguren (Vertrag, Eigentum, Person), deren angemessenes juristisches Verständnis nach einem „lernende[n] Sozialmodell des Rechts“ verlangen (Wielsch 2009, 411), zur Bankenregulierung (Paterson 2009), zum „Verfassungsprivatrecht“, in welchem „Drittwirkung“ und soziale Normbildung miteinander kombiniert werden (Ladeur 2009) oder Vorschläge zur Regulierung des Internets (Ladeur 2013).

Zusammenfassend lässt sich an diesem Punkt festhalten: reflexives Recht setzt die Überlegungen zur responsiven Dogmatik fort und konzentriert sie auf den Aspekt der Steuerung beziehungsweise Regulierung. Es enthält die Merkmale der Responsivität, von denen wir hier Gebrauch machen, nämlich eine Form der System-Umwelt-Beobachtung (Reflexion), in welcher die Umwelt im System mitsprechen kann. Diese Figur wird in neueren Modellen des reflexiven Rechts vornehmlich mit Bezug auf das Recht und dessen Reflexionstheorie entfaltet, das in Viellechners oben zitierten Worten eine „empathische Orientierung nach außen als Selbstverpflichtung in die innere Ordnung“ (Viellechner 2013, 298) einbaut, also, um es mit unserer Terminologie zu sagen, responsive Züge trägt.

6.2.3 Krisendynamiken und Kritik

Aus diesen Entwicklungen sind im deutschsprachigen Raum Vorschläge zu einer „Kritischen Systemtheorie“ mit großer Nähe zu rechtssoziologischen Fragestellungen hervorgegangen (insbesondere Amstutz und Fischer-Lescano 2013; Möller und Siri 2016; Scherr 2020). Anders als der anspruchsvolle Titel vermuten lassen könnte, handelt es sich bei diesen Arbeiten allerdings nicht um ein kohärentes Theorie-Korpus, sondern um heterogene Beiträge unter einem gemeinsamen semantischen Dach. In wissenschaftssoziologischer beziehungsweise reflexionstheoretischer Hinsicht bleibt ein Teil dieser Beiträge unbefriedigend, da dort lediglich auf eine Anwendung der Systemtheorie in kritischer Absicht abgestellt wird. Das unterscheidet sich kaum von den oben kurz erwähnten Bemühungen der britischen Luhmann-Orthodoxie (dazu Paterson 2009, 570) und greift theoretisch zu kurz. Denn erstens vertritt die Kritische Theorie der Gesellschaft, wie sie in der der Frankfurt Schule vertreten wird, einen viel weiter gehenden Anspruch und erschöpft sich nicht in der Verwertung einer in sich kohärenten (System-) Theorie für „kritische“ Zwecke. Deshalb ist sie immer schon gesellschaftstheoretisch viel anspruchsvoller gebaut und versucht, was man von Marx bis Habermas leicht nachweisen kann, ihren normativen Aussagegehalt aus unmittelbar gesellschaftstheoretischen Analysen zu gewinnen und damit den naheliegenden Vorwurf des naturalistischen Fehlschlusses zu entkräften. Von solchen Zusammenhängen ist in manchen Beiträgen zur „kritischen Systemtheorie“ wenig zu erkennen. Zweitens sehen etliche dieser Arbeiten die möglichen Implikationen für eine responsive Reflexionstheorie nicht, aus welcher sich, wie wir hier nachzuweisen versuchen, erst die Möglichkeit ergeben könnte, die Systemtheorie in Richtung eines die soziologischen Autonomie-Dogmen überwindenden Praxis-Diskurses weiterzuentwickeln.

Wenn es also einerseits gute Gründe gibt, der kritischen Systemtheorie mit Zurückhaltung zu begegnen, so findet man dort andererseits doch auch Anstöße für eine weitergehende, responsive Lesart der Systemtheorie innerhalb der Rechtstheorie in einigen Themenfeldern, etwa beim transnationalen Recht, beim Verfassungswandel in der Weltgesellschaft oder bei der Frage nach Recht und Gewalt (vgl. Möller 2020, 252), wie die folgenden Überlegungen zeigen.

Eine „Kritische Systemtheorie Frankfurter Schule“ (Fischer-Lescano 2009) lässt sich insbesondere in Gunther Teubners Werk als Resultat der oben beschriebenen Entwicklung von der responsiven Dogmatik über das reflexive Recht zu den globale Sozialverfassungen und schließlich zur Figur der Selbst- und Fremdgefährdung durch überschießende Mehrwertproduktion erkennen. In „Verfassungsfragmente“ (Teubner 2012) skizziert Teubner die Figur der „anonymen Matrix eines verselbständigten kommunikativen Mediums“, welche die subjektiven Rechte nicht mehr zur Geltung kommen lässt (ebd., 215 ff.). Das ähnelt von ferne Jürgen Habermas‘ These einer „Kolonialisierung der Lebenswelt“ (vgl. oben Abschn. 5.2.5; Habermas 1981), in der eine anonyme „systemische“ Form der Macht das Subjekt in seinen lebensweltlichen Bezügen überwältigt. Dieser Kolonialisierungseffekt resultiert bei Habermas unter anderem aus dem Umstand, dass das Recht in einem weitreichenden Verrechtlichungsprozess als Medium fungiert (ebd., 535 ff.). Bei Teubner liegt nicht ein Widerspruch zwischen System und Lebenswelt zugrunde, sondern die Annahme gefährlicher Überhitzungstendenzen systemischer Selbstreproduktion bzw. Autopoiesis. Das Wachstum funktionssystemischer Operationen in ungebremster Dynamik, so Teubner, erreicht einen „Umschlagpunkt“, jenseits dessen es interne und externe Integritätsschäden auslöst (ebd., 125). Eine inhärente Logik der inflationären Symbolvermehrung lässt dann normales in pathologisches Wachstum umschlagen (ebd., 128).

Während 2012 die Antwort auf die Frage nach den Kriterien für die Identifikation dieses Umschlagspunktes zunächst noch ebenso vage bleibt wie diejenige nach den genauen Mechanismen des überschießenden und schädlichen Wachstums und in gewisser Weise „transzendentalisiert“ wird (vgl. Gruber 2009), bietet Teubner heute eine medientheoretische Erklärung für den ebenso imperialen wie selbstdestruktiven Hang der Funktionssysteme an, durch die Überproduktivität ihrer Operationen ihre Umwelt und sich selbst zu bedrohen. Nach Teubners Auffassung liegt dieser intrinsische Zwang zur überschießenden, grenzenlosen, kaum zu bremsenden, selbst- und fremdschädlichen Aktivität in der medialen Dimension der Funktionssysteme (Teubner 2020; dazu Bora 2022, 314–318; Karavas 2023).

Funktionssysteme erzeugen nach seiner Auffassung „Mehrwertzwänge“, die eine Mehrwertproduktion über die unmittelbare, funktionssystemspezifische Sinnproduktion hinaus zur Folge haben. Durch ihre „exzessive Ambivalenz“ verursachen sie selbst- und fremddestruktive Tendenzen (ebd., 117). Das Argument beruht auf der Beobachtung, dass in Analogie zum Profitzwang in der Ökonomie „die Zugehörigkeit zu einem Funktionssystem jede einzelne Operation dazu [nötigt], über ihre unmittelbare Sinnproduktion hinaus einen systemeigenen – aber gerade nicht-monetären – Mehrwert zu erzeugen“ (ebd., 120). In der Politik führt zum Beispiel jede kollektiv bindende Entscheidung gleichzeitig zu einem Mehrwert an politischer Macht für zukünftiges Entscheiden. Wissenschaftliche Forschung vermehrt Wissen und produziert dabei einen Mehrwert an Reputation. Rechtsentscheidungen schaffen für die Zukunft einen Überschuss an generalisierter juridischer Autorität. Diese gesellschaftliche Mehrwertproduktion basiert auf grundlegenden Eigenschaften des jeweiligen Erfolgsmediums. Der Mehrwert ist ein „Überschuss in der reflexiven Anwendung von Operationen auf Operationen für zukünftige Verwendung … Die Operationen reproduzieren … die eigene Operationsfähigkeit im systemspezifischen Medium“ (ebd., 121).

Das wirft die Frage auf, welche Eigenschaften von Medien die geschilderte Motivationsverstärkung bewirken. Diese beruht nach Teubner nicht auf dem medialen Substrat (Medium) oder der im Medium gebildeten Form, sondern auf der medialen Kompetenz sozialer Positionen. Im Unterschied zum System, das sein Medium nicht verbraucht, müssen soziale Positionen ihre Medienkompetenz regenerieren. In Anlehnung an Luhmann bezeichnet Teubner mediale Kompetenz als „die für die Mehrwertproduktion ausschlaggebende Kapazität einer sozialen Position, die Motivationskraft des jeweiligen Kommunikationsmediums einzusetzen“ (ebd., 129 Fn. 9). Entscheidend ist dabei, dass mediale Kompetenz durch ihren Einsatz auf einer sozialen Position, also im kommunikativen Gebrauch des Mediums, mit der Operation selbst im Lauf der Zeit aufgebraucht wird. Reputation von Akteuren und Institutionen verblasst mit ihrer wiederholten Inanspruchnahme, ebenso schwindet Macht, juridische Autorität wird schwächer. In ähnlicher Weise hat in den Massenmedien Wahrheit als Erfolgsmedium an Wert eingebüßt und wird durch Reputation (mediale „Expertise“) oder durch „Innovativität“ ersetzt. Aus diesem Schwund medialer Kompetenz der sozialen Positionen resultiert ein Zwang zur Kompetenz-Regenerierung. Diese Argumentation kann direkt auf Marx’ Mehrwerttheorie zurückgreifen. Analog zu Marx’ Gedanken, dass körperliche Not die Arbeiterschaft zur materiellen Mehrwertproduktion zwingt, kann die symbolische Not drohenden medialen Kompetenzverlustes als Antrieb zur Mehrwertproduktion im Mediengebrauch verstanden werden.

Der im Mehrwertzwang begründete Beschleunigungs- und Expansionseffekt entsteht also aus dem Umstand, dass im Mediengebrauch, in den kommunikativen Operationen der Funktionssysteme überschießende Erwartungen an die Zukunft enthalten sind, ein „Kredit“ gewissermaßen, der nur durch Mehrleistungen getilgt werden kann und dadurch weiter steigende Krediterwartungen auslöst (ebd., 131 ff.). Diese „Wachstumsexzesse“ beruhen, wie Teubner in Anlehnung an Stichweh (2011), Stäheli (2011) und Girard (1972) formuliert, auf Vorschussleistungen, die Erwartungen an Leistungssteigerungen generieren (Teubner 2020, 133).

Als dysfunktional erweisen sich nach Teubner und in Abgrenzung von prominenten Zeitdiagnosen (Nassehi 2019; Rosa 2005) vor allem zwei Dynamiken, die einerseits als interne „Rationalitätsmaximierung“ und andererseits als externe „kolonisierende Expansion“ unter Abschöpfung fremden Mehrwertes schädliche Folgen im jeweiligen System ebenso wie in der natürlichen, gesellschaftlichen und psychischen Umwelt verursachen: „Immer wieder sind es diese beiden Exzesse, die der eigenen Mehrwertmaximierung und die der Expansion durch Mehrwertabschöpfung aus fremden Gesellschaftsbereichen, mit denen die moderne Gesellschaft ihre Todsünden begeht“ (Teubner 2020, 139).

Allerdings sind überschießende Mehrwertproduktion und damit verbundene Eigen- und Fremdgefährdung nicht als unausweichliches Schicksal zu begreifen, das nur noch soziologisch zu beobachten wäre. Vielmehr lassen sich Ansätze zur theoretischen wie praktischen Rettung der gefährdeten Bereiche erkennen. Beispielsweise hat Karl-Heinz Ladeur (2013) vorgeschlagen, digitale Netzwerke als selbstregulierende soziale Entitäten ernst zu nehmen und zum Zwecke der (Selbst-)Regulierung einzusetzen. Digitale Netzwerke sind das „neue Medium des Rechts“ (Ladeur 2016, 306 ff.). Sie bewirken stärker auf Veränderung ausgerichtete Rechtsformen, ein „learning by monitoring“ und operieren so als Medien des Lernens und der (Selbst-)Regulierung (ebd., 309).

Auch Teubners Analyse bleibt nicht bei der Krisendiagnose stehen, sondern verweist auf inhärente Gegentendenzen, in denen sich gleichsam Emanzipationspotenziale auch in den Mehrwertzwängen der Funktionssysteme identifizieren lassen. Das scheint insbesondere dann der Fall zu sein, wenn und soweit sich die Teubnerschen Sozialverfassungen (Teilbereichsverfassungen, vgl. Teubner 2012) zu Medienverfassungen (Teubner 2020, 141, Fn. 13; Steinhauer 2011) entwickeln. Auf dem Weg zu diesem Ziel lassen sich auch innerhalb der soziologischen Theorie mehrere begünstigende Faktoren denken. Dazu zählen zum einen „Nicht-Mehrwert-Institutionen“ (Teubner 2020, 143 ff.), mit denen im obigen Sinne dysfunktionale Mehrwertorientierungen durch hybride Institutionen konterkariert werden, „die auf den Schutz der Ökologie im weitesten Sinne (Natur, Menschen, Gesellschaft) abzielen“ (ebd., 144, vgl. z. B. Karavas 2019; Bora 2015, 2019). Zum anderen ist an Formen indirekter Steuerung zu denken (Mölders 2014), mit denen die Mehrwertproduktion einen „leverage point“ erreicht, an welchem die expansive Dynamik medialer Mehrwertzwänge gebrochen werden kann.

Damit zeigen sich in der systemtheoretischen Spielart der neueren soziologischen Jurisprudenz deutliche Umrisse einer responsiven Reflexionstheorie, die unmittelbar in die Soziologie des Rechts ausstrahlen. Die von Kaldewey angesprochene Äquilibration von Autonomie und Praxis (vgl. Kap. 2) wird als Limitation der überschießenden Mehrwertproduktion sowohl von innen (Theoriediskurse, Autonomie der Wissenschaft) als auch von außen (Praxisdiskurse, boundary work der Wissenschaft) verwirklicht.

Der Gedanke der affluenten Autopoiesis prägt Ansätze der kritischen Systemtheorie an verschiedenen Stellen. An Teubners Überlegungen anschließend beschreitet Kolja Möller (2020) in Fortsetzung der responsiven Dogmatik einen Weg in eine kritische Systemtheorie. Sowohl in der Rechtskritik der frühen Frankfurter Schule als auch in derjenigen der Systemtheorie diagnostiziert er eine Aporie: Das Recht ist Gegenstand von Kritik und zugleich deren Ausgangspunkt und Grundlage. „Einerseits wird die bestehende Rechtsform mitsamt ihres Verselbständigungs- und Gewaltpotenzials kritisiert, andererseits wird die Eigenrationalität des Rechts als verteidigenswerter Ausgangspunkt für eine Kritik der Gesellschaft gekennzeichnet“ (ebd., 252). Was schon bei Franz Neumann als Kritik des Rechts im Namen des Rechts in Erscheinung trat, manifestiert sich, so Möller, in der „linksluhmannianischen“ Rechtskritik (ebd., 257) als Expansionsdrang und Kolonialisierung in zweierlei Hinsicht, nämlich als destruktive „Eigenrationalitätsmaximierung“ (ebd.) der sozialen Umwelt des Rechts („Allopoiesis“ im Sinne von Neves 2001), aber auch umgekehrt als gleichermaßen kolonisierende Tendenz überbordender Verrechtlichung (Amstutz 2013). Diese von Möller als Aporie bezeichnete Situation führt an den Grenzen zwischen dem Recht und seiner Umwelt zu Prozessen des re-entry, welche in die bekannten Paradoxien der Gründung und Anwendung des Rechts münden (Möller a. a. O., 259 f.) Die Chance der „linksluhmannianischen“ Kritik liegt nach seiner Auffassung darin, dass die Paradoxie „nicht nur die Potenziale kognitiv-anpassenden, sondern auch normativen Lernens“ birgt (ebd., 260). Solche Lernchancen vermutet Möller neben Konzepten der Transzendenz und der Ästhetisierung des Rechts vor allem im responsiven Recht. Er liest die systemtheoretische Rechtskritik damit als Fortsetzung dessen, was mit den Überlegungen zur responsiven Dogmatik begonnen hatte, nämlich der Frage, wie sich „gesellschaftliche Konflikte in die quaestio iuris übersetzen“ lassen (ebd., 263, Hervorh. von mir, A.B.). Allerdings legt er ein nach wie vor sehr formales Responsivitätskonzept zugrunde, welches zum einen nur die Binnenperspektive des Rechts einnimmt und zum anderen gleichsam eine asymmetrische Abbildung von Umweltrelevanzen im Recht unterstellt. „Führt nicht die Responsivität des Rechts dazu“, so fragt Möller, „dass sich die bestehenden Verhältnisse im Recht einfach verdoppeln?“ (ebd.). Hier erweist sich die nun hinreichend bekannte einseitige Modellierung erneut als Fallstrick. Die „Verdoppelung“ wird man nicht mehr als Problem betrachten müssen, sobald man symmetrische Innen-Außen-Beziehungen annehmen darf, dem Recht also, wie es ja die eine Seite der „Aporie“ voraussetzt, eigenständige Relevanzkonstruktionen zubilligt. Mit anderen Worten: hinter diesem avancierten Konzept systemtheoretischer Rechtskritik verbirgt sich auf der reflexionstheoretischen Ebene erneut eine asymmetrische Modellierung. Was in Möllers Beschreibung und im verbreiteten Selbstverständnis der Rechtstheorie als Aporie erscheint, lässt sich allerdings bei symmetrischer Anlage der Reflexionstheorie ohne weiteres als Aufgabe wechselseitiger Resonanz verstehen, als reziprokes Anschlussproblem, wenn man so will. In gleicher Weise, wie die Rechtstheorie sich den Umweltrelevanzen öffnet, ohne sich von ihnen kolonisieren zu lassen, kann sich, so unsere These, umgekehrt auch die soziologische Theorie des Rechts für die Relevanz normativer Gesichtspunkte öffnen und diese als „quaestio sociologiae“ fassen. Das mündet nicht unbedingt in „Gesellschaftskritik“, denn Gesellschaft und ihre Funktionssysteme sind weder adressierbar noch „beeindruckbar“ (Fuchs 2013). Es gestattet aber die Analyse konkreter Lösungen für normativ begründete Problemlagen, die Suche nach Alternativen und damit letzten Endes zwar nicht System- aber doch Strukturkritik (siehe dazu Kette und Tacke 2020, 296).

Auf der hiermit geschaffenen Grundlage können wir einen abschließenden Argumentationsschritt in Anlehnung an Marc Amstutz (2013) gehen, der die in Kaldeweys Wissenschaftssoziologie ausgebildete Figur der Mitsprache der Umwelt am Beispiel des Rechts begrifflich weiter unterfüttert und damit die Möglichkeiten einer responsiven Rechtssoziologie offenlegt. Amstutz führt seine These in einer Analogie zu Werner Heisenbergs Unschärferelation ein. Die Systemtheorie als Beobachtungstheorie berücksichtigt, so sagt er, die Effekte ihres eigenen Operierens im Gegenstandsbereich. Sie leistet „mehr als ein reines Registrieren von Fakten … Durch ihre Erkenntnisse verändert die Systemtheorie die Gesellschaft, die durch ihre Veränderung die Erkenntnisse der Systemtheorie verändert.“ (ebd., 367) Amstutz registriert mit anderen Worten gleichsam eine Art soziologischer Unschärferelation. In der Quantenphysik besagt diese Unschärfebeziehung in einer der Formulierungen Heisenbergs, dass die Messung des Impulses eines Teilchens zwangsläufig mit einer Störung seines Ortes verbunden ist, und umgekehrt. Allgemeiner ausgedrückt, kann man sagen: Der Vorgang der Beobachtung verändert das Objekt der Beobachtung. Das, so Amstutz, trifft auch für die Beobachtungen zu, mit denen die Systemtheorie operiert. Wenn Soziologie als Wissenschaft, wie Amstutz es zu Recht voraussetzt, ihren Gegenstandsbereich durch Beobachtung mit verändert, kann sie dieses transformative Potenzial reflektieren und möglicherweise als Kritik formulieren. Letzteres hat Luhmann abgelehnt mit dem Argument einer fehlenden „Metaposition“ der soziologischen Beobachtung (ebd., 369). Amstutz hält dem die Möglichkeit „interner externer Beobachtung“, also einer in unserem Sinne responsiven Reflexion entgegen (ebd.) und führt diese Möglichkeit am Beispiel der Systemtheorie des Rechts vor. Er vertritt drei Thesen: 1) Die Systemtheorie des Rechts verändert durch ihre Selbstbeschreibung den Gegenstand und hat deshalb gesellschaftliche Folgen, die sie reflektieren kann. 2) Die Erzeugung von Folgen kann als Kritik verstanden werden im Sinne des Ersetzens von manifesten Deutungen durch alternative, latente Sichtweisen. 3) Die Kritische Systemtheorie löst durch die Analyse gesellschaftlicher Widersprüche kritische Selbstreflexionen im Recht aus und nimmt damit eine nicht-normative, aber normativ bedeutsame Perspektive ein (ebd., 269 f.) Uns interessiert an Amstutz‘ Argument weniger die Frage, ob es für die Fundierung einer kritischen soziologischen Theorie ausreicht, als vielmehr seine reflexionstheoretische Struktur, in welcher die Konturen einer responsiven Rechtssoziologie zwar noch nicht ausgebildet, aber in Grundzügen angelegt sind.

Amstutz unterzieht Luhmanns rechtssoziologische Texte einer Zweitlektüre, in welcher er eine „Anomalie“ in der Theoriearchitektur identifiziert, die ihre Ursache in einer Verkennung des Zusammenhangs von Normativität und Faktizität habe. Auf das Problem der Wandelbarkeit positivierten Rechts (ebd., 276) habe Luhmann, so Amstutz, mit einer doppelten Differenzierung zwischen Text und Interpretation einerseits sowie zwischen Normen und Fakten andererseits reagiert (ebd., 377 ff.). Letztere sorge als inhaltliche Kategorie nach Luhmanns Lesart für „Beständigkeit“, während die „Evolutionsfähigkeit“ auf der erstgenannten Unterscheidung und damit auf Interpretation beruhe (ebd.). Dabei verkenne Luhmann den Umstand, „dass die normative Arbeit der Interpretation faktenabhängig ist, … zwischen Rechtstext und Rechtstatsache vermittelt (man könnte auch sagen: als Verschleifung der ‚normativen Kraft des Faktischen‘ mit der ‚faktischen Kraft des Normativen‘)“ (ebd., 378, Hervorh. i. O.). Vor dem Hintergrund dieser Diagnose und angesichts der eingangs erwähnten Annahme gesellschaftlicher Folgen soziologischen Beobachtens vermutet Amstutz die Potenziale kritischer Systemtheorie in der Kopplung von Wissenschafts- und Rechtskommunikation, genauer gesagt in der wissenschaftlichen Versorgung des Rechts mit „regulären“ Irritationen (ebd., 383). Die kritische Systemtheorie des Rechts bietet dem Recht auf diese Weise alternative Möglichkeiten für seine Selbstbeschreibung. Sie macht sich dabei den Umstand zunutze, dass in der Umwelt des Rechts, also in anderen Systemen kommunizierte Erwartungen eine notwendige Bedingung für die Operationen des Rechts selbst darstellen. Sie stehen, so Amstutz, zum Recht in einem Verhältnis der Ergänzung, „bilden mithin im Verhältnis zum Recht ein Supplement im Sinne Derridas.“ (ebd., 399 Hervorh. i. O.). Sie speisen mit anderen Worten „verborgen und unbemerkt sozialen Sinn, d. h. Anliegen und Bedürfnisse anderer Sozialsysteme, in die Operationen des Rechts“ ein. (ebd., 400, Hervorh. i. O.).

Teubner lehnt sich an diese Vorstellung in dem wenig später erschienen Aufsatz zu Sozialtheorie und Recht (Teubner 2014) mit dem Begriff der Eigennormativität an, die sich in allen Sozialbereichen bildet, zwischen diesen kommuniziert und folglich innerhalb des Rechts beobachtet und aufgegriffen werden kann. In Umkehrung dieses Gedankens kann man auch von einer Eigenfaktizität des Rechts und aller übrigen Sozialbereiche sprechen, welche in der Wissenschaft (Soziologie) beobachtet und weiter verwendet werden kann. Wenn dies zutrifft, sind also kognitive wie normative Erwartungen Formen kommunizierten sozialen Sinns, an welche beobachtende Systeme anschließen können. Sie stellen Anlehnungskontexte in der eingangs beschriebenen Bedeutung dar (vgl. Kap. 1, siehe auch Band 2, Kap. 7, „Scientific norms, legal facts and the politics of knowledge“).

In Amstutz’ Modell spricht also, wenn wir Kaldeweys Formulierung noch einmal aufgreifen, ebenso wie in Teubners „Eigennormativität“ die Umwelt in Form von Erwartungen im Rechtssystem mit. Amstutz geht noch einen Schritt weiter und betont, dass dies umso wahrscheinlicher wird, je mehr die Umwelt eine im Sinne reflexiven Rechts für das System „brauchbare“ Umwelt ist. Auch dies hatte Luhmann beiläufig schon bemerkt, als er meinte, eine wissenschaftliche Neuerung könne Auswirkungen im Recht haben, „aber es muss sich dabei immer um eine im System verwendbare Änderung handeln.“ (Luhmann 1993, 10).

Amstutz‘ Argument hat unmittelbare Bedeutung für eine responsive Rechtssoziologie. Es stützt nämlich die soziologische Annahme, dass auch in umgekehrter Richtung die in normative Erwartungen gefasste Umwelt der Soziologie innerhalb dieser in vergleichbarer Weise zu Wort kommen kann wie die gesellschaftliche Umwelt der Fakten im Recht. Wenn man Luhmanns Postulat „gesellschaftsadäquater Rechtsbegriffe“ in Amstutz’ Sinne als Frage nach dem „Supplement“ des Rechts deutet und mit Hilfe des Erwartungs-Begriffs beantwortet, erscheint es zwingend, im Gegenzug nach „rechtsadäquaten Gesellschaftsbegriffen“ (also soziologischen Begriffen mit rechtlichem Anlehnungskontext) zu fragen und auf dieser Grundlage dann Erwartungen aus dem Recht, vor allem aber auch aus dessen Reflexionstheorie als Supplemente der Rechtssoziologie zu begreifen. Amstutz’ Argument, das in erster Linie auf eine kritische juristische Rechtstheorie zielt, lässt sich so mit seinen auf die Theoriearchitektur gemünzten strukturellen Bestandteilen auch als Vorlage für eine responsive soziologische Theorie des Rechts lesen. Die „quaestio sociologiae“ liegt in deren Praxisdiskursen, durch welche die Umwelt mit ihren kognitiven wie normativen Erwartungen in der (Rechts-)Soziologie mitspricht. Sobald sie dort zu Wort kommt, lassen sich Praxis und Autonomie, Leistung und Funktion, Außen und Innen dadurch in ein äquilibriertes Verhältnis bringen. Das ist der reflexionstheoretische Kern einer responsiven Rechtssoziologie. Deren sachlicher Gehalt erweist sich freilich erst im zweiten Zug in Gestalt gegenstandstheoretischer Analysen. Dort erst findet Responsivität einen sachhaltigen Ausdruck.

6.3 Symmetrische Interdisziplinarität

Die Bestandsaufnahme der neueren Debatten ermöglicht es nun abschließend, die Strukturen einer responsiven Interdisziplinarität zu beschreiben, welche innerhalb der soziologischen Theorie Anschlussfähigkeit erzeugen kann (Abschn. 6.3.1). Wenn man aus wissenschaftssoziologischer Perspektive nach den Bedingungen der Möglichkeit einer solchen Weiterentwicklung der soziologischen Theorie des Rechts fragt, stößt man unweigerlich auf die Tatsache der Professionalisierung. Die Jurisprudenz ist eine klassische Profession. Sie besitzt deswegen den professionstypischen Blick für ihre Umwelt, deren Probleme sie sich im professionellen Kontakt mit ihrem Publikum zu eigen macht. Der Gedanke, dass die Umwelt in irgendeiner Weise „mitsprechen“ könne, liegt unter diesen Umständen immer schon nahe. Wir werden ausgehend von dieser Beobachtung nach dem Professionalisierungsbedarf und den Professionalisierungschancen der Soziologie auf dem Feld der Rechtssoziologie fragen (Abschn. 6.3.2) und dann abschließend auf einige für unsere Fragestellung relevante Forschungsfelder hinweisen (Abschn. 6.3.3).

6.3.1 Strukturen einer responsiven Reflexionstheorie

An verschiedenen Stellen haben wir bereits die gegenstandstheoretischen Minimalbedingungen einer soziologischen Theorie des Rechts genannt. Sie umfasst die soziologische Theorie der Norm, des Rechts, des Verfahrens, der Organisationen und Institution des Rechtsbetriebs, der Positivierung des Rechts, seiner Dogmatisierung sowie der Funktion von Geltung, um nur die wichtigsten Elemente zu nennen. In vergleichbarer Weise können wir eine solche Kriteriologie auch für die Reflexionstheorie der Rechtssoziologie entwickeln. Wie die Gegenstandstheorie trägt sie allgemeine und umfassende Züge, ist also extensiv, explizit, empirisch sachhaltig, erzeugt erklärungskräftige und widerlegbare Aussagen und ist in der wissenschaftlichen Kommunikation anschlussfähig. Als Reflexionstheorie stellt sie vor allem klar, welche Fragen innerhalb einer soziologischen Theorie des Rechts wissenschaftlich behandelbar sein können. Sie beantwortet deshalb insbesondere die Frage, ob und wie ein rechtssoziologischer Praxisdiskurs auf Grundlage wissenschaftlicher Autonomie der Soziologie formuliert werden kann. Das Begriffspaar von Autonomie und Praxis ermöglicht es zu verstehen, wie in den Kommunikationen der Wissenschaft sowohl die Sicherung von Autonomie als auch die Anlehnung an Umweltkontexte verwirklicht wird. Praxis bezeichnet einen Diskurs wissenschaftlicher Selbstbeschreibung, der das Verhältnis zur Umwelt intern abbildet. „Nützlichkeit für das Recht“ bildet zum Beispiel als rechtssoziologischer Praxisdiskurs einen Anlehnungskontext der Soziologie. Die Reflexionstheorie der Rechtssoziologie fragt auf dieser Grundlage, welchen Ausdruck von Nützlichkeit sie in ihrer spezifischen Umwelt, dem Recht und der Rechtstheorie als Anlehnungskontext verwenden kann. Vergleichbares ist etwa für die Orientierung an „Innovation im Recht“ bzw. an „Rechtspolitik“ denkbar.

In der systemtheoretischen Soziologie, welche einen starken Akzept auf disziplinäre Autonomie legt, kann, wie zu zeigen versucht wurde, auf der Grundlage kommunikationstheoretischer Überlegungen responsive Interdisziplinarität so verstanden werden, dass Disziplinen autonom operieren, sich dabei aber wechselseitig beobachten und dies vor allem jeweils intern mit Reflexionsleistungen darüber verbinden, welche Effekte und Anpassungsleistungen eigene Operationen in den je anderen Disziplinen erzeugen und was daraus für den eigenen Strukturaufbau folgen könnte. Wir bezeichnen diese Form von System-Umwelt-Beziehungen mit dem Begriff der Responsivität. Sie ist denkbar, weil soziale Systeme operativ geschlossen und kognitiv offenen sind und deswegen Fremdreferenz kennen. Sie beobachten Erwartungen in ihrer Umwelt, welche sowohl als kognitive wie auch als normative Erwartungen interne Anschlüsse ermöglichen. Responsivität bezeichnet folglich ein Modell von Interdisziplinarität, welches nicht die Rezeption der Soziologie durch die Jurisprudenz in den Mittelpunkt stellt, sondern symmetrische interdisziplinäre Beziehungen. Es setzt einen Beobachter voraus, der Operationen in seinem Gegenstandsbereich als Beobachtung seines eigenen Operierens auffasst, in seiner Reflexion solche externen Beobachtungen und Ansprüche intern relevant werden lässt („brauchbar“ im Sinne von Mölders und Amstutz) und darüber eigene Strukturen aufbaut. Responsive Rechtssoziologie meint deshalb mehr als die juristische Rezeption soziologischen Wissens. Sie beschreibt eine ultra-zyklische Verknüpfung von Innen- und Außenreferenzen, in welcher Systemautonomie vorausgesetzt wird, allerdings mit der Möglichkeit, dass die Umwelt intern relevant wird – und zwar in zwei Richtungen, da die Umwelt gleichfalls aus autonomen Systemen besteht, welche auf ihre je eigenen Beobachtungen mit Strukturbildung reagieren. Responsivität bezeichnet damit ein Interdisziplinaritätsmodell, in welchem der soziologische Praxisdiskurs eine grundlegende Bedeutung hat. Ein reflexionstheoretischer Ultrazyklus verbindet dabei Autonomiediskurse mit Praxisdiskursen. Eine soziologisch informierte Rechtstheorie einerseits und eine für die Praxisprobleme rechtlicher Selbstbeschreibung sensible, also responsive Rechtssoziologie andererseits bilden füreinander jeweils Anlehnungskontexte. Dabei besteht, wie sich gezeigt hat, ein gewisser Nachholbedarf an einer juristisch informierten Soziologie, ebenso wie an einem entsprechenden Praxis-Begriff in der (rechts-)soziologischen Reflexionstheorie.

Unsere Überlegungen zu einer responsiven Rechtssoziologie haben versucht, solche Möglichkeiten einer äquilibrierten Selbst- und Fremdbeschreibungen sichtbar werden zu lassen. Sie haben in konzeptioneller Hinsicht gezeigt, dass eine Mitsprache der Umwelt reflexionstheoretisch im Rahmen einer systemtheoretischen Soziologie des Rechts darstellbar ist. Die kommunikationstheoretischen Überlegungen im Anschluss an Teubner und Amstutz haben verdeutlicht, dass die Wissenschaft in Gestalt der Rechtssoziologie als kognitiv offenes System Umwelterwartungen in den Prozess der wissenschaftlichen Beschreibung ihrer Umwelt einspeisen kann, dass also das Recht – beziehungsweise allgemeiner: jede Form von Normativität – der Soziologie eine brauchbare Umwelt sein und sich in der Wissenschaft in Gestalt der Soziologie als verwendbar erweisen kann. Wenn wir an die Problemformulierungen Webers und Schelskys zurückerinnern, werden damit neben dem Recht als Instrument gegebener Zwecke auch normative Zwecke selbst soziologisch behandelbar, nämlich als Anlehnungskontext und Orientierung für die Soziologie des Rechts. Diese pflegt dann nicht mehr allein einen Autonomiediskurs, sondern verwirklicht Reflexion und Limitierung, identity und boundary work in Gestalt eines Praxis-Diskurses, der Umwelt-Relevanzen intern mitberücksichtigt, also normative Aspekte mit in Rechnung stellt.

Die responsive Rechtssoziologie wird so durch eine Anlehnung an das Recht geprägt. Rechtskommunikationen sind an die Selbstbeschreibung der Wissenschaft dergestalt gekoppelt, dass die Programmierung wissenschaftlicher Kommunikation, also die Anwendung der Unterscheidung wahr/nicht wahr durch rechtliche Referenzen mit gesteuert wird, beispielsweise durch die Frage, ob sich aus soziologischer Perspektive vor dem Hintergrund entsprechender empirischer Befunde bestimmte normative Zwecke weiterhin als richtig unterstellen lassen und welche Implikationen dies für entsprechende soziologische Begriffsbildungen hat (vgl. Band 2, Kap. 11–13). Der Funktionsprimat der Wissenschaft wird dadurch nicht angetastet, denn Rechtssoziologie ist als Wissenschaft stets auf den Wahrheits-Code angewiesen. Sie wird jedoch im Hinblick auf die Reflexion darüber, ob und wie dieser Code im Einzelfall zugewiesen werden kann, zugleich durch andere Referenzen beeinflusst. Erfahrungswissenschaftliche Erkenntnisse werden mit Blick auf ihre rechtliche Referenz hin beobachtet, also mit Blick auf Fragen der normativen Richtigkeit. Dabei ist der Umstand von besonderer Bedeutung, dass auf beiden Seiten Wissenschaft als Reflexionstheorie vorkommt. Die Anlehnung der Rechtssoziologie an das Recht kann so den Weg über die soziologische Beobachtung der juristischen Rechtstheorie nehmen.

6.3.2 Die Umwelt mitsprechen lassen – Der Professionalisierungsbedarf der (Rechts-) Soziologie

Unsere Argumentation nahm ihren Ausgang bei empirischen Beobachtungen einer institutionellen Schwäche des rechtssoziologischen Feldes, für deren Rekonstruktion im zweiten Schritt eine diskurstheoretische Analyse als möglicher Erklärungsansatz herangezogen wurde. Nachdem auf dieser Basis die Konturen einer responsiven Reflexionstheorie der Rechtssoziologie beschrieben werden können, wird im zweiten Band das Augenmerk auf der Gegenstandstheorie liegen und damit auf theoretischen und empirischen Untersuchungen zur soziologischen Theorie des Rechts.

Zuvor wollen wir mit einigen wenigen Überlegungen unsere reflexionstheoretischen Untersuchungen abrunden und um die Dimension der Professionalisierung erweitern. Wenn man fragt, wo die reflexionstheoretisch vorformulierte Balance zwischen Innen und Außen, zwischen Autonomie und Praxis ihren wissenschaftlichen Ort hat, stößt man neben den (oftmals mangelnden) organisatorisch-institutionellen Gegebenheiten auf eine strukturelle Ebene wissenschaftlicher Kommunikation, die neben entsprechender Forschung vor allem in der Lehre ihren Ausdruck findet und als Ausdruck wissenschaftlicher Professionalisierung verstanden werden kann. Eine professionalisierungstheoretische Bestimmung der Rechtssoziologie kann deshalb angesichts des Umstandes, dass auf absehbare Zeit im Hinblick auf das akademische Umfeld sich keine signifikante Verbesserung abzeichnet, eine Institutionalisierung symmetrischer Interdisziplinarität auch – rebus sic stantibus vielleicht sogar vorrangig – über Formen der Lehre anstoßen, in welcher die Balance zwischen wissenschaftlichem Autonomie- und Praxisdiskkurs nicht nur ex cathedra als reflexionstheoretisches Desiderat verkündet, sondern als wissenschaftliche Kommunikationsform in der Lehr-Interaktion einsozialisiert werden kann.

Mit diesem Ansatz stoßen wir unmittelbar auf strukturelle Gesichtspunkte, wie sie insbesondere in der revidierten Professionalisierungstheorie Ulrich Oevermanns entwickelt worden sind (Oevermann 1996, 2002, 2005). Wenn wir einige Gedanken aus dieser im Kern handlungs- und gemeinschaftstheoretisch angelegten Soziologie hier im systemtheoretischen Zusammenhang anwenden, so sollen damit die grundbegrifflichen Differenzen zwischen diesen Theorien nicht geleugnet werden, auch wenn sie vielleicht in mancher Hinsicht weniger dramatisch sein mögen als vielfach vermutet (Bora 1994, Schneider 1992, 1995, 1996, 2008). Vielmehr wird der Versuch unternommen, wesentliche Erkenntnisse der neueren Professionssoziologie im wissenschaftssoziologischen Rahmen der Systemtheorie als Anregungen zu nutzen und entsprechend kommunikationstheoretisch zu reformulieren. Wir stellen dazu einige für die weitere Argumentation wichtige Bestandteile der revidierten soziologischen Professionalisierungstheorie dar und behandeln auf dieser Grundlage die Relevanz dieser ausgewählten Aspekte für die Thematik responsiver Interdisziplinarität. Es geht hauptsächlich um die Strukturlogik professioneller Kommunikation als einer in der wissenschaftlichen Autonomie verankerten Bearbeitung praktischer Krisensituationen, in welcher die spannungsreiche Beziehung zwischen Innen und Außen so integriert wird, dass die jeweilige Umwelt intern mitsprechen kann.

Vorweg ist darauf hinzuweisen, dass mit dem soziologischen Begriff der Profession etwas grundlegend Anderes gemeint ist, als es die in hochschulpolitischen Reformdebatten anzutreffenden trivialisierenden Schlagwörter der Berufsorientierung oder der „Professionalität“ als „Rationalitätssteigerung in ökonomisch-administrativer Hinsicht“ nahelegen (Stock und Wernet 2005, 9). Vielmehr geht es um die aus einer Spannung zwischen dem äußeren und dem inneren Beruf der Wissenschaft im Sinne Max Webers (Weber 1975) resultierende Struktur wissenschaftlichen Handelns beziehungsweise wissenschaftlicher Kommunikation, die in diesem Spannungsverhältnis den wissenschaftlichen Autonomiediskurs für den Praxisdiskurs nutzbar macht.

In seinen klassischen Varianten zielt der soziologische Professions-Begriff vor allem auf formale Gesichtspunkte der Bildung von Standesorganisationen sowie einer Professionsethik ab. Sie bilden wesentliche Aspekte der Professionstheorie, wie sie in der auf Durkheim zurückgehenden Traditionslinie beispielsweise von Stichweh (1992) vertreten wird. Emile Durkheim (1893, 41–75) erblickt die Funktion von Professionen hauptsächlich in der Integration auseinanderdriftender gesellschaftlichen Partikularinteressen mittels spezialisierter Ethiken. Parsons (1972) vertritt die Auffassung einer intermediären Funktion der Professionen. Professionen umfassen in dieser strukturfunktionalen Theorie Tätigkeiten, die eine formalisierte Ausbildung und die institutionalisierte Evaluation der Ausbildung wie der Ausgebildeten voraussetzen, die Fähigkeit zur Anwendung spezifischer kultureller und intellektueller Kompetenzen implizieren sowie schließlich institutionalisierte Mechanismen zur sozial verantwortlichen Nutzung solcher Kompetenzen benötigen. Sie finden sich, so Parsons, ausgehend von Universitäten und Forschungseinrichtungen in den kulturellen Feldern der Kunst, Ethik und Moral (der Intellektuellenkultur), ebenso aber auch in der angewandten Wissenschaft, etwa bei Ingenieuren, Technikern, aber auch Medizinern und Juristen. Anwendungsbezug als Bezug des Professionellen zu seiner Klientel ist dann auch für Stichweh der wesentliche Unterschied der Profession zur Disziplin. Letztere beschränke sich im Wesentlichen auf die Beobachtung der innerwissenschaftlichen Umwelt (Stichweh 1994, 310). Wissenschaft als Profession tritt dort auf den Plan, wo es um den Beruf der Wissenschaft innerhalb des „Gesamtlebens der Gesellschaft“ (Weber 1975; Oevermann 2005, 15–20) geht, also um Kommunikation über Umwelt. Wir schlagen im Folgenden in Ergänzung zu Stichwehs Position vor, Disziplinen ebenfalls auf ihre Professionalisierung hin zu untersuchen.

Dazu bedarf es eines Blicks auf die sogenannte revidierte Professionalisierungstheorie Ulrich Oevermanns, die wir anschließend ihrerseits erweitern und ergänzen werden. Diese revidierte Fassung wirft der formalen Bestimmung der Profession vor, auf halbem Wege stehen zu bleiben. Stattdessen definiert sie den Begriff der Profession über deren Funktion. Sie fragt, auf welches Problem professionelles Handeln reagiert und welche Eigenschaften ihm deshalb notwendigerweise zukommen. Es handelt sich, auch wenn der Begriff in der Oevermannschen Theorie verpönt ist, im Kern um eine funktionale Begriffsbestimmung mit Hilfe eines für das zu definierende Phänomen konstitutiven Bezugsproblems. Das Spezifikum des Professionellen beruht nach dieser Ansicht neben allen äußeren Eigenschaften vor allem auf der Kompetenz eines wissenschaftlich Gebildeten zur Bearbeitung außerwissenschaftlicher Handlungsprobleme. Diese verlangt mehr als nur die Anwendung wissenschaftlichen Wissens – darin unterscheidet sich diese revidierte Professionalisierungstheorie von ihren Vorläufern –, weil sie vornehmlich auf die Bearbeitung von Krisen zielt. Oevermann (1996, 2002) bezeichnet das außerwissenschaftliche Bezugsproblem, das zur wissenschaftsbasierten Bearbeitung zwingt, als Krise. Damit ist eine Handlungs- bzw. – in systemtheoretischer Sprache – eine Kommunikationsblockade bezeichnet, die mit den Bordmitteln des außerwissenschaftlichen Alltags nicht behoben werden kann. Professionelle Kommunikation besteht dann in stellvertretender Krisenbewältigung, das heißt darin, „stellvertretend für Laien, d. h. für die primäre Lebenspraxis, deren Krisen zu bewältigen“ (Oevermann 2002, 23 f.). Sie arbeitet, ausgestattet mit spezifischer, nämlich wissenschaftsbasierter Expertise und in Kooperation mit ihren Klienten an der stellvertretenden Lösung von deren krisenhaften und nur deshalb überhaupt nach professioneller Unterstützung verlangenden Handlungs- und Entscheidungsproblemen. In diesem „Arbeitsbündnis“ und für dessen Dauer macht sie sich die Problemformulierungen der Klienten zu eigen, um ausgehend von diesen „Symptomen“ Irritationen zu erzeugen, die einen Umbau von Deutungsmustern ermöglichen. Professionelle Kommunikation nimmt die Perspektive eines Beobachters ein, der die Problemdefinition der Klienten annimmt, um eine aus der Perspektive der Klienten möglicherweise auf den ersten Blick nicht naheliegende, weil nicht an deren Alltagsroutinen angepasste Deutung zu bieten. Sie ist deshalb im Zweifel nicht affirmativ, sondern auf Überraschung aus. Nur so kann sie Lernen auf Seiten der Klienten generieren und die Deutungsmuster ablösen, welche die Krise herbeigeführt haben oder doch ihre Auflösung blockieren. Die Außenbeobachtung des Beraters kann zum Umbau bewährter Schemata der Weltdeutung führen, sofern sie intern als relevant wahrgenommen wird. Eine derartige Struktur ist prekär, da sie den Rationalitäten der Klienten nicht unmittelbar entgegenkommt. Die Außenperspektive zwingt zu Dezentrierung, zur Anerkennung des schmerzlichen Umstandes, dass es andere Perspektiven mit eigenen Rationalitäten gibt, mit anderen Worten zum Lernen. Dies mag einer der Gründe sein, warum professionelle Beratung in der Regel erst in Krisensituationen in Anspruch genommen wird. Sie setzt die Wahrnehmung und Akzeptanz der eigenen Krise voraus. Mit dem Gesichtspunkt der stellvertretenden Krisenbewältigung, welches der klassischen Professionssoziologie fehlt, übernehmen wir im Folgenden aus der Oevermannschen Professionalisierungstheorie das notwendige Bindeglied, welches die diskurstheoretischen Überlegungen zur interdisziplinären Reflexionstheorie mit den wissenschaftssoziologischen Beobachtungen zur institutionellen Schwäche des Feldes zusammenfügt.

Oevermann unterscheidet drei Formen von Krisen, die von Professionen bearbeitet werden (Oevermann 2002). Das sind erstens Krisen der somatischen oder psycho-sozialen Integrität und zweitens Gerechtigkeitskrisen (dazu Wernet 1997); im ärztlichen und rechtspraktischen Arbeiten geht es darum, das Spezifische des je vorliegenden Falles zu erfassen und auf dieser Basis eine akute Krise zu bewältigen. Drittens treten allgemeine gesellschaftliche Geltungskrisen auf, mit welchen sich die Wissenschaft als Profession befasst und die sie mit Hilfe wissenschaftlicher Forschung bearbeitet (Münte und Oevermann 2002; Münte 2004). Die Gemeinsamkeiten dieser Konstellationen liegen in den Strukturmerkmalen professioneller Krisenbearbeitung. In allen drei Bereichen kommen neben der immer auch erforderlichen Anwendung standardisierten Wissens nicht standardisierte Lösungen für grundsätzlich nicht standardisierbare Probleme zum Tragen. Nicht standardisiert ist professionelle Krisenbewältigung, soweit sie auf fallangemessene Problemlösungen hinarbeitet. Oevermann bezeichnet die genannten Krisentypen im Unterschied zur alltäglichen Krise als sekundäre Formen, in welchen stellvertretende Problemlösung betrieben wird (Oevermann 2005, 22 ff.).

Wissenschaft als Profession hat nach Oevermanns Auffassung ihrerseits zwei Aspekte, nämlich die Bewältigung einer akuten Krise in Gestalt von Interventionen in Medizin, Pädagogik und Rechtspraxis und die Bearbeitung einer simulierten Krise in Gestalt von generalisierter und insofern alltagsferner wissenschaftlicher Forschung (Oevermann 2005, 24, Schaubild 2). Die Unterscheidung spielt für Oevermanns Überlegungen zur Professionalisierung der wissenschaftlichen Expertise eine entscheidende Rolle und führt uns zu einer Ergänzung und Präzisierung seines Ansatzes im Hinblick auf die Rechtssoziologie und andere interdisziplinäre Felder.

Zwar gesteht Oevermann der Wissenschaft die Bearbeitung akuter Krisen zu, nämlich in Therapie, Pädagogik und Rechtspflege. Hier bildet professionelle wissenschaftliche Expertise die Grundlage für Interventionen in eine krisenhafte äußere Praxis. Dies gilt dann unter anderem auch für die Rechtswissenschaft, deren Klientel die Rechtspflege in allen ihren Ausprägungen bildet (Rechtspraxis als Umwelt der Rechtswissenschaft). Im Übrigen schlägt Oevermann aber die Wissenschaft ganz allgemein der simulierten stellvertretenden Krisenbewältigung durch Expertise zu (ebd.). Dabei wird übersehen, – und das ist für die Fragen der Interdisziplinarität entscheidend –, dass in der Umwelt eines wissenschaftlichen Feldes eben auch andere Wissenschaftsbereiche vorkommen, so wie wir es am Beispiel der Soziologie des Rechts ausführlich diskutiert haben (Rechtswissenschaft als Umwelt der Soziologie). Diese wissenschaftlichen Umwelten erleben nun gleichermaßen Krisen, die ganz unmittelbar als Erkenntniskrisen überall dort auftreten, wo die Routine des betreffenden Wissenschaftsfeldes ins Stocken gerät und wissenschaftlich relevante Fragen nicht mehr mit Bordmitteln zu lösen sind, was unvermeidlich an den Grenzen von Disziplinen der Fall ist, die ja als Erkenntnisgrenzen definiert sind (vgl. oben Abschn. 2.3). Diese Erkenntniskrisen sind keineswegs simuliert, sondern betreffen den fraglichen Zweig der Wissenschaft unmittelbar und sind in diesem Sinne akut und „primär“. Sie erfordern im Kontrast zu Therapie und Rechtspflege allerdings keine Intervention im klassischen Sinne, sondern wissenschaftliche Kommunikation beziehungsweise Beratung in Form eines interdisziplinären Praxisdiskurses. Wir haben diesen Beratungsbedarf der Rechtswissenschaft in unserer Rekonstruktion der rechtssoziologischen Diskurse an zahlreichen Stellen beobachtet. Deren Begründungen für die Notwendigkeit von Rechtssoziologie lassen sich ganz zwanglos als Krisenkommunikationen interpretieren. Auf diese reagiert die Strukturlogik einer soziologischen Theorie des Rechts als in wissenschaftlicher Autonomie begründeter Bearbeitung praktischer Erkenntniskrisen, welche die spannungsreiche Beziehung zwischen Innen (autonome soziologische Theorie) und Außen (normative Erkenntniskrise) integriert. Professionalisierte wissenschaftliche Kommunikation kann also im Unterschied zu Oevermanns Auffassung auch als Reaktion auf eine akute Krise verstanden werden. Sie verkörpert damit jedenfalls mehr als eine bloße „Als-ob“-Professionalität (so noch Kühl und Tacke 2003), was sich unter anderem dort bemerkbar macht, wo interdisziplinäre Fragestellungen als akute, nicht simulierte Problemlagen im inneren (Praxis-)Diskurs auftreten.

Beratung ist also strukturell mit den von Oevermann angesprochenen Formen der Krisenbearbeitung vergleichbar. Beziehungen zwischen Berater und Beratenem kombinieren in aller Regel eine hohe Autonomie der Beratungstätigkeit mit der Ausrichtung an den Problemen des Beratenen, welcher den Berater wegen dieser Probleme zu Rate zieht (so etwa von Alemann 1996, 25 ff.) Beratungsbeziehungen stellen im Kern professionalisierungsbedürftige Beziehungen dar. Sie entfalten erstens die sozial prekäre Kombination des die Beratung erfordernden Problemdrucks und der Anerkennung der Kompetenz des Beraters einerseits sowie der mit der Beauftragung und Bezahlung des Beraters durch den Klienten verbundenen Sicherung der Autonomie des Beratenen andererseits. Sie sind zweitens durch eine spezifische Leistung des Beraters gekennzeichnet. Diese besteht darin, beim Beratenen produktive Irritationen und damit Lernen zu ermöglichen, das aus der Krise herausführt. Vor diesem Hintergrund ist dann drittens Beratung ebenfalls als stellvertretende Krisenbewältigung zu charakterisieren.

Die spannungsreiche Beziehung zwischen Berater und Beratenem lässt sich auch für die wissenschaftliche Beratung im Praxisdiskurs als ein Arbeitsbündnis im Sinne Oevermanns (Oevermann 2002, 42 ff., 2005, 25 ff.) verstehen. Die Beratung ist eine zwar temporäre, aber doch stabile Beziehung, die Bindung und Autonomie gleichzeitig sichert. Eine solche Beziehung konstituiert komplementäre Asymmetrien, nämlich ein Kompetenzgefälle zwischen Berater und Beratenem auf der einen Seite, das die stellvertretende kooperative Problemlösung ermöglicht;  auf der anderen Seite, im Falle von Therapie und Rechtspflege, eine mit einem Honorar entlohnte Auftragserteilung, die damit auch die Möglichkeit einer Kündigung und damit der jederzeitigen Rückgewinnung der Autonomie des Beratenen ermöglicht. Beratung stellt damit ein Arbeitsbündnis her, welches vor dem Hintergrund der strukturellen Brisanz der Beratungssituation den Berater in die Lage versetzt, weder bloße externe Irritation noch bloße Doppelung der internen Perspektive zu bieten, sondern dem Beratenen zur Restrukturierung seiner Weltsicht und darauf aufbauend zu einer neuen Balance etablierter und neu erworbener Deutungsmuster zu verhelfen.

Allerdings fehlt es im Falle interdisziplinärer Kommunikation offenkundig an der Gegenleistung in Form eines Honorars. An dieser Stelle ist deshalb eine weitere Modifikation des Oevermannschen Gedankenganges hilfreich. Oevermann setzt auch im Falle wissenschaftlicher Profession ein Arbeitsbündnis voraus, betrachtet als dessen außerwissenschaftlichen Partner allerdings die gesellschaftliche Öffentlichkeit (Oevermann 2005, 28, 35). Dieses abstrakte Konzept (ebd., 28) korrespondiert mit der oben erwähnten Annahme einer simulierten Krise und insinuiert eine unspezifische Form von „Gesellschaftsberatung“. Diese Vorstellung ist soziologisch problematisch, da sich Modelle der „Gesellschaftsberatung“ insgesamt als wenig aussagekräftig erwiesen haben, nicht zuletzt deshalb, weil Gesellschaft nicht adressierbar und deshalb auch nicht handlungs- und vertragsfähig ist (Bora 2007; Fuchs 2013). Das Modell des abstrakten Arbeitsbündnisses erscheint für unseren Fall auch deshalb als nicht hilfreich, weil es in der interdisziplinären Kommunikation viel klarer umrissene Adressaten in Gestalt von Disziplinen gibt, zwischen denen ein wechselseitiges Bündnis zweifellos vorstellbar ist. Der Honorierungs-Aspekt eines interdisziplinären Arbeitsbündnisses liegt in der Reziprozität der Erkenntnisleistungen und der daraus resultierenden wechselseitigen Bindung an externe Leistungen, die wir in wissenschaftssoziologischer Hinsicht als Anlehnungskontexte bezeichnen. Der wechselseitige Bezug auf Anlehnungskontexte erzeugt also Bindung trotz der in die Beratungssituation eingebetteten Spannungen. Die Bindung entsteht mit anderen Worten aus der Responsivität der interdisziplinären Beziehung. Im Unterschied zu den intervenierenden Professionen der Medizin und der Rechtspraxis wird die Bindung in der interdisziplinären Kommunikation durch reziproke Erkenntnisleistungen hergestellt. Responsive Interdisziplinarität kann auf dieser Grundlage als Variante eines Arbeitsbündnisses verstanden werden, in welchem die „symmetrische Asymmetrie“ der Erkenntnisleistungen ein funktionales Äquivalent der Honorierung im Falle therapeutischer oder rechtspflegerischer Intervention darstellt. Unter diesen Voraussetzungen kann responsive Interdisziplinarität als eine professionalisierungsfähige Beziehung gedacht werden. Sie umfasst zwei komplementäre soziale Positionen, ist durch komplementäre Asymmetrien und durch ein spezifisches Arbeitsbündnis zwischen Berater und Beratenem gekennzeichnet, in welchem die Autonomie des Beraters gesichert und gleichzeitig seine Bindung an das Interesse der Wiederherstellung oder Sicherung der Autonomie des Beratenen garantiert wird.

Die Komplementarität der Erkenntniskrisen und der daran knüpfenden Praxisdiskurse kann schematisch folgendermaßen charakterisiert werden: Die Erkenntniskrise der Soziologie entsteht mit Blick auf die Rechtswissenschaft angesichts eines selbst professionalisierten Gegenstandes voll expliziten und impliziten Expertenwissens, welcher die soziologische Beobachtung entweder zur bedeutungslosen Trivialisierung verdammt oder aber seinerseits mit Wissen ausstatten kann („supplement“ im Sinne von Amstutz). Die Erkenntniskrise der Jurisprudenz entsteht mit Blick auf die Soziologie angesichts einer theoretisch und methodisch autonomen Disziplin, welche die juristische Beobachtung entweder zur Bedeutungslosigkeit verdammt oder mit Wissen („supplement“) ausstatten kann.

Die jeweils als zweite genannte, nichttriviale Variante der Wissens-Supplementierung steht für Responsivität in Gestalt eines Arbeitsbündnisses, das in der „Ganzheitlichkeit“ professionellen Wissens (Maiwald 2005) seinen Ausdruck findet, nämlich als Einheit der Differenz von Autonomie und Praxis. Der Jurisprudenz als Profession ist diese Ganzheitlichkeit in ihrem Verhältnis zur Rechtspraxis wohlvertraut. Der Soziologie ist sie vielfach noch fremd. Sie wird dort entweder durch überbordende Autonomiediskurse oder durch die Vernachlässigung beziehungsweise Trivialisierung der Praxisdiskurse überdeckt. Wir erkennen in diesem Umstand die Professionalisierungsbedürftigkeit der (Rechts-)Soziologie, schöpfen daraus zugleich aber die Zuversicht, diesen Zustand überwinden zu können.

Eine solche Professionalisierungsbedürftigkeit wird vor allem dort sichtbar, wo Interdisziplinarität nicht mehr bedeutet als die Lieferung von Daten oder von technischem Spezialwissen, wie man in dem für unser Thema wichtigen Bereich der Rechtstatsachenforschung gut erkennen kann. Solche Formen des sachkundigen Beistands lösen bestenfalls technische Schwierigkeiten beim Kunden, lassen sich aber nicht den hier diskutierten Fällen der Krisenbearbeitung zuordnen. Das trifft, wie wir verschiedentlich erwähnt haben, nicht nur für die Rechtstatsachenforschung zu, sondern in gleicher Weise auch für die „empirische Rechtsforschung“, die beide den Autonomie-Charakter der zu Rate gezogenen Hilfswissenschaft implizit verkennen und diese so zum technischen Dienstleister degradieren, der sich, wie wir nun gesehen haben, in struktureller Hinsicht grundlegend vom professionellen Berater unterscheidet. Sie betreffen also nicht die kommunikative Konstellation, innerhalb derer sich die Frage der Professionalisierungsbedürftigkeit der Soziologie erst stellt und mit Hilfe des Konzepts responsiver Interdisziplinarität neu interpretiert werden kann.

Kurz zusammengefasst besagen die Überlegungen zur Erweiterung und Präzisierung des Oevermannschen Modells wissenschaftlicher Profession Folgendes: Das Verständnis von Wissenschaft als Profession wird ergänzt um den Fall der Interdisziplinarität, die sich vor diesem Hintergrund ganz zwanglos als responsive Beziehung entfaltet. Wissenschaft als Profession operiert nicht allein im Modus der Krisensimulation, sondern gleichermaßen qua Beratung. Hier stehen die Mitsprache der Umwelt und das Sich-Zu-Eigen-Machen externer Probleme an erster Stelle. Vor diesem Hintergrund erst kann der verfremdende Blick des interdisziplinären Praxisdiskurses für Irritationen und Lernanregungen sorgen. Im Unterschied zu dem in systemtheoretischen Arbeiten vermuteten „Resonanzgefälle“ ist das aber ein empathischer Blick, welcher gemeinsam mit der Umwelt Lösungen für deren Probleme sucht. Das dabei zugrunde gelegte Kommunikationsmodell geht von Geltungskrisen in der Umwelt in Gestalt kognitiver und normativer Unsicherheiten aus, die Kommunikationsblockaden hervorrufen. Wissenschaft erscheint in diesem Sinne als Form krisenhafter Praxis in Gestalt einer Erkenntniskrise des Gegenstandsbereichs und damit als Aspekt des wissenschaftlichen Praxisdiskurses. Interdisziplinarität als symmetrisches Arbeitsbündnis erlaubt so krisenbezogene Kommunikation im Praxisdiskurs. Die stellvertretende Bearbeitung qua kommunikativem Anschluss an die externen Probleme und Fragestellungen (Stichwort „Supplement“) ist Ausdruck responsiver Interdisziplinarität.

In der Forschung ist eine Professionalisierung rechtssoziologischer Kommunikation ohne Frage an vielen Stellen erkennbar, jedenfalls dort, wo in der empirischen Analyse gegenstandstheoretisch klare Bezüge zur Soziologie dominieren und Praxisprobleme Anlass für soziologische Forschung und Theoriebildung bieten. Dies lässt sich beispielsweise in rechtssoziologischen Fall-Analysen dort gut erkennen, wo sie einen engen Bezug zur juristischen Fallarbeit aufweisen und diese Nähe methodisch fruchtbar machen, indem sie anhand von Rechtsfragen soziologisch generalisierungsfähige Erkenntnisse generieren (vgl. etwa Wolff 2004/05, 2010). Diese Forschung kann gegebenenfalls, wie hier gezeigt wurde, reflexionstheoretisch gestärkt werden, um an den konkreten Fall-Beispielen symmetrische Interdisziplinarität sichtbarer zu machen. Insofern besteht die aktuelle Herausforderung vor allem darin, mit Blick auf die zu interdisziplinärer Enthaltsamkeit neigende Soziologie den Gesichtspunkt der Interdisziplinarität in dem hier vorgestellten anspruchsvollen Sinn zu hervorzuheben und entsprechend im fachlichen Diskurs einzufordern.

Einen Ausgangspunkt weiterer Überlegungen zur Revitalisierung der soziologischen Theorie des Rechts bildet vor diesem Hintergrund die Lehre. Hier werden die für alle institutionellen Verbesserungen erforderlichen Kompetenzen generiert und das wissenschaftliche Personal sozialisiert. Die Rechtssoziologie wird, wenn die hier zusammengetragenen Argumente sich als stichhaltig erweisen sollten, eine Chance im akademischen Betrieb haben, wenn es ihr gelingt, Nachwuchs zu bilden, der in den hier skizzierten Sinne die Fähigkeit zur professionellen Kommunikation besitzt. Das setzt neben dem (derzeit nicht erkennbaren) Aufbau von Studiengängen vor allem didaktische Formen voraus, die in gewissem Widerspruch zu den gängigen Curricula und zu den Leitbildern universitärer Lehre stehen (Oevermann 2005; Maiwald 2005), da sie die frühzeitige Konfrontation mit den Herausforderungen des wissenschaftlichen Praxisdiskurses erfordern und damit Formen der Bildung, die über die aktuell favorisierten Methoden der Lehre hinausgehen. Sie sind auch mit dem im Streit über den Diplomstudiengang generierten Bielefelder Konzept der „aktiven Professionalisierung“ (Bock 1995, 176 ff.) nur sehr unzureichend umschrieben. Dieses war vorwiegend an beruflicher Praxis orientiert und bemühte sich allenfalls halbherzig um die Integration von Nachbarwissenschaften, die im Falle der Rechtswissenschaft dann auch scheiterte (ebd., 183).

Welche Möglichkeiten einer rechtssoziologischen Lehre auf dem Boden solcher Überlegungen sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt bieten, kann hier nicht eingehender besprochen werden, da dies den Rahmen unserer Untersuchung sprengen würde. Einige Beiträge zu dem Thema finden sich im Blog des Berliner Arbeitskreises Rechtswirklichkeit (https://barblog.hypotheses.org/category/reihen/recht-politik-gesellschaft-in-der-lehre). Deshalb seien nur einige auf das Notwendigste verkürzte skizzenhafte Bemerkungen erlaubt.

Das wesentliche Ziel eines innerhalb bestehender Strukturen realisierbaren Lehrprogramms besteht in der Bildung eines wissenschaftlichen Habitus, der zur Bearbeitung interdisziplinärer Probleme befähigt. Das kann im Wesentlichen dann geschehen, wenn die wissenschaftlich reflektierte Balance zwischen Autonomie- und Praxisdiskurs im konkreten Vollzug, also in der wissenschaftlichen Kommunikation selbst erlernt wird. Im Zuge des Bachelorstudiums bedeutet dies in einem angenommenen Schwerpunkt „Rechtssoziologie“ neben einer in Grundlagenmodulen zu vermittelnden allgemeinen wissenschaftlichen Propädeutik, die angesichts der mit Interdisziplinarität verbundenen Schwierigkeiten für die Beherrschung der wissenschaftssoziologischen Herausforderungen unverzichtbar ist, als fachliche Grundlage eine Einführung in die allgemeine Rechtslehre, mit der die Grundstrukturen des Rechts als unverzichtbare Voraussetzung für das Verständnis des Gegenstandes erworben werden und gleichsam den Praxisdiskurs im Vollzug erzeugen. Darauf baut eine Einführung in die Rechtssoziologie anhand von Schlüsseltexten auf, die zum systematischen Verständnis interdisziplinärer Problemlagen und zur basalen Kenntnis soziologischer Theorie des Rechts führt. Sie wird ergänzt durch rechtssoziologische Feldstudien, mit denen quasi als „praktische Propädeutik“ zum Beispiel Gerichtsinteraktion, Justiz- und Verwaltungsorganisation, Gesetzgebung und Gestaltung, Planung und Entscheidung im Feld beobachtet, in ihren dort auftretenden Problemlagen beschrieben und in einem soziologischen Praxisdiskurs bearbeitet werden. Eine vierte Veranstaltung verzahnt soziologische Theorie des Rechts und Praxisanalysen an einem weiteren Beispiel. Feldstudien und erweiternde Veranstaltung können gegebenenfalls durch eine zweisemestrige Lehrforschung ersetzt werden. In diesen Veranstaltungen werden möglichst nahe an den in der Form des Falles sich manifestierenden rechtlichen Problemlagen soziologische Fragen entwickelt und bearbeitet. Erfahrungsgemäß bilden beobachtete und gegebenenfalls protokollierte Interaktionen in Justiz, Verwaltung und Politik empirisches Material, das didaktisch auch in frühen Phasen des Studiums eingesetzt werden kann.

Ein solcher mit zwei Pflichtmodulen ausgestatteter Schwerpunkt lässt sich vermutlich in bestehende Bachelor-Studienmodelle integrieren. Vergleichbares gilt entsprechend für das Masterstudium, in welchem zunächst die Grundlagen des Rechts zu vertiefen beziehungsweise für Neueinsteiger auf Master-Niveau anzubieten sind. Die Lektüre von Schlüsseltexten zum historischen Verständnis rechtssoziologischer Problemlagen und zu soziologischen Theorien des Rechts wird ergänzt durch eingehendere Problemfeldanalysen mit Theorie- und Methodenfundament. Forschungswerkstätten, in denen über mehrere Semester hinweg Theorie, Fragestellung, Material, Methode und Schreiben im Prozess eigener Forschung gelernt werden, sind dann die angemessene Form der Lehre in der Promotion. Sie können zugleich eine Schnittstelle im Übergang vom Masterstudium zur Doktorarbeit bilden.

Offensichtlich erfordert dieses Konzept für einige Veranstaltungen juristisch gebildetes Personal oder entsprechende interfakultative Kooperationen, was aber selbstverständlich ist, wenn man an verwandte Felder mit professionalisiertem Gegenstandsbereich, bspw. an die Medizinsoziologie denkt. Es knüpft damit an alte Magister- oder Diplomstudiengänge an, in denen solche Kooperationen immerhin denkbar waren. Sie sollten im konsekutiven Studienmodell in Folge der Kombinierbarkeit vieler Bestandteile wohl ebenfalls strukturell möglich sein, setzen allerdings, wie aus unseren reflexionstheoretischen Überlegungen deutlich geworden sein dürfte, ein ernsthaftes Bemühen um eine starke Form der Interdisziplinarität voraus.

6.3.3 Von der Reflexions- zur Gegenstandstheorie

Wenn wir unsere Argumentation Revue passieren lassen, so zeigt sich, dass die responsive Rechtssoziologie eine seit den Anfängen der Soziologie sich aufdrängende aber seither soziologisch unvollendete Aufgabe darstellt, dass ihr weitgehendes Fehlen die institutionellen Schwächen der deutschen Rechtssoziologie seit den 1970er Jahren zumindest plausibel werden lässt, dass aber in jüngeren reflexionstheoretischen Konzepten im Umfeld einer systemtheoretisch arbeitenden soziologischen Jurisprudenz fruchtbare Ansätze auch für eine soziologische Reflexionstheorie zu finden sind, in welcher das interdisziplinäre Feld der Rechtssoziologie als diskursiv symmetrisches, Autonomie und Praxis äquilibrierendes beschrieben werden kann. Diese Schlussfolgerung ergibt sich aus der Rekonstruktion rechtssoziologischer Reflexionsdiskurse und aus einem Blick auf die juristische Rechtstheorie. Hier zeichnet, wie wir einleitend beschrieben hatten, Gunther Teubner (2014) das Bild dreier Theoriekatastrophen auf Seiten der Rechtstheorie und -dogmatik (vgl. Kap. 1). Er schlägt eine juristische Reflexionstheorie vor, die durch Transversalität, also eine balancierte Stellung zwischen den unterschiedlichen Ansprüchen, durch Responsivität sowie schließlich durch Eigennormativität aller Sozialbereiche gekennzeichnet ist. Im letzten Aspekt leben die von Amstutz erwähnten externen Erwartungen wieder auf, deren „Brauchbarkeit“ rechtsintern beobachtet werden kann. Die soziologische Rechtstheorie lässt sich, wie wir gesehen haben, komplementär zu einer solchen juristischen Rechtstheorie als responsive Rechtssoziologie konzipieren. Zwar tritt dieser Aspekt in den genannten Arbeiten zur soziologischen Jurisprudenz nicht unmittelbar zu Tage. Er ist jedoch für die Rechtssoziologie deshalb von zentraler Bedeutung, weil die Entwicklung der soziologischen Systemtheorie die Gefahr einer vierten Theoriekatastrophe erkennen lässt, die sich in Gestalt eines Rückzugs der Systemtheorie aus der Rechtssoziologie manifestiert. Dieser Rückzug entblößte die Soziologie im Hinblick auf das Recht zeitweilig von ihren fruchtbarsten Ansätzen. Nach einer Problementfaltung in den Anfängen der Rechtssoziologie haben wir verschiedene Anläufe bis in die 1970er Jahre beobachtet, die im Hinblick auf ein ausgearbeitetes Modell unterschiedlich weit gediehen sind, allesamt ein asymmetrisches Rezeptions-Modell der Interdisziplinarität voraussetzten und vor diesem Hintergrund im Verhältnis zueinander eine konflikthafte Konfiguration gebildet haben. Diese Konfiguration, die insgesamt Züge einer nur schwach oder gar nicht ausgeprägten Responsivität aufweist, trägt zum Verständnis der Probleme bei, in welche das Feld im Laufe der Nachkriegsjahrzehnte bis zur Jahrtausendwende geraten ist. Die dadurch entstehende Lücke konnte in den 1980er und 1990er Jahren relativ zwanglos von soziologischen Zeitdiagnosen und dem neuen Pragmatismus der Rechtssoziologie gefüllt werden mit der Folge, dass diese konzeptionelle Schwäche in einer für die Soziologie ohnehin ungünstigen wissenschaftspolitischen Gesamtlage sich für die Rechtssoziologie zum spürbaren Nachteil in institutioneller Hinsicht entwickeln konnte. Das im Feld selbst vorherrschende Deutungsmuster eines „Scheiterns“ der Rechtssoziologie bildete damit sowohl institutionelle Schwächen ab als auch den reflexionstheoretischen Ausfall der zuvor dominanten und rechtssoziologisch aussagekräftigsten Theorie.

Im Anschluss an die Darstellung dieser Entwicklungen konnten wir allerdings zeigen, dass die vierte Theoriekatastrophe mit ihren Folgen für das Feld der Rechtssoziologie, wenn schon nicht abgewehrt so doch in ihren Effekten gemildert werden kann, soweit die Rechtssoziologie reflexions- und gegenstandstheoretisch die ihr zur Verfügung stehenden Mittel ausschöpft. Denn die Spuren der Responsivität in den interdisziplinären Reflexionen sind nicht vollständig verweht. Aus den „Peripherien“ mehren sich Stimmen, die neue Sichtweisen propagieren. In der soziologischen Jurisprudenz finden sich fruchtbare Ansätze eines Verständnisses von Rechtssoziologie, das bislang in der soziologischen Theorie des Rechts noch weithin brach liegt. Heute stößt, wie wir gesehen haben, das Thema gerade bei jüngeren soziologischen Autoren auf Interesse. Das war in den Bemerkungen über die weltgesellschaftliche „Peripherie“ bereits angeklungen, gilt aber auch für andere Weltregionen und ebenso für die globale Ebene, wie nicht nur die Überlegungen zu Irritationsgestaltung, Steuerung und Regulierung gezeigt haben, sondern auch eine Reihe verfassungssoziologischer Arbeiten.

Wir haben es also, wenn wir die Antwort auf unsere Ausgangsfrage nach den Ursachen für das jedenfalls im deutschen Wissenschaftsraum zu beobachtende Schicksal der Rechtssoziologie zusammenfassen, in gewisser Weise mit einem Verstummen der Soziologie auf der einen und dem Erstarken einer systemtheoretischen soziologischen Jurisprudenz auf der anderen Seite zu tun. Dort, in den soziologisch produktiven Bereichen der zeitgenössischen Rechtstheorie, sind Chancen für eine Zukunft einer soziologischen Theorie des Rechts zu erkennen. Das mag als Ironie der Wissenschaftsgeschichte erscheinen: Was bei Ehrlich als Rücknahme des juristischen Monopolanspruchs aus der Wertschätzung für die damals sich autonomisierende Soziologie entstand, mündet nach über einhundert Jahren in eine theoretisch anspruchsvolle Jurisprudenz, aus welcher reichhaltige Anstöße für die Soziologie hervorgehen, sich vom Paradigma der Rezeption abzuwenden und responsiv zu werden. Von „Rezeptionsproblemen“ der Jurisprudenz im Hinblick auf die Soziologie kann insofern nicht die Rede sein. Ganz im Gegenteil, das Programm einer responsiven Rechtssoziologie wird – wie gesagt: Ironie der Geschichte – am ehesten außerhalb der akademischen Soziologie weiterverfolgt. Dort tritt sie als responsive Dogmatik in Erscheinung, deren konzeptionelle Struktur reichhaltiges Anschauungsmaterial für eine responsive Soziologie des Rechts darstellt und die zugleich in gegenstandstheoretischer Hinsicht eine Vielzahl von Anknüpfungspunkten bietet.

Die Bedingungen und Möglichkeiten dieser responsiven Theorieanlage sind mit der Rekonstruktion einer responsiven Rechtssoziologie zu Tage gefördert worden. Ob sie für das Feld fruchtbar gemacht werden können, hängt davon ab, welche Entwicklung die Soziologie allgemein nehmen wird. Die im fünften Kapitel gesammelten Befunde weisen zwar auf einen Rückzug aus theoretisch anspruchsvollen Konzepten zugunsten einer „Recht-und-Sonstwas“-Forschung (Röhl 2012) hin. Die Hinweise, die in den ersten Abschnitten dieses sechsten Kapitels zusammengetragen wurden, lassen andererseits aber auch die teils noch brachliegenden Potenziale erkennen. Denn die Konturen einer responsiven Soziologie des Rechts werden dort sichtbar, wo rechtstheoretische und -dogmatische Problemlagen „empathische“ Beobachtungen in der soziologischen Theorie und des Rechts anregen, die wiederum als brauchbare Irritationen in die Kommunikationen des Rechts zurück gespeist werden. Auf diese Weise, so das Ergebnis der Argumentation, kann eine responsive juristische Dogmatik ihrerseits einer responsiven Rechtssoziologie „brauchbare“ Umwelt sein - und umgekehrt. Dass die reflexionstheoretische Fundierung einer responsiven Rechtssoziologie vorerst nur zur Revision von Interdisziplinaritätsmodellen anregen und zur Neujustierung einiger zentraler Semantiken des Feldes beitragen kann, versteht sich angesichts der Komplexität des Problemzusammenhangs von Reflexion und Institution von selbst. Wenn wir dennoch mit einiger Zuversicht eine Reform der soziologischen Theorie des Rechts für möglich halten, so schöpfen wir diesen Optimismus aus den im letzten Abschnitt dargestellten professionalisierungstheoretischen Überlegungen, die auf einen Professionalisierungsbedarf der (Rechts-)Soziologie verweisen. Dass man eine solche Professionalisierung im Bereich der Lehre anstoßen kann, haben wir mit einigen Bemerkungen zu didaktischen Modellen angedeutet. Rechtssoziologische Professionalisierung beschränkt sich freilich nicht auf die Sozialisation des Nachwuchses, sondern kommt im Alltag rechtssoziologischer Forschung zum Ausdruck, sobald diese mit einer responsiven Haltung gegenüber Fragen der Interdisziplinarität verbunden ist.

Die Spurensuche nach der responsiven Rechtssoziologie ist auf der Ebene reflexionstheoretischer Modelle der Interdisziplinarität damit an ein vorläufiges Ende gelangt. Dieser erste Band verfolgte das Ziel, Schwächen und Potenziale der soziologischen Theorie des Rechts in der Theoriegeschichte zu identifizieren und die Potenziale der Responsivität für die Gegenstandstheorie fruchtbar zu machen. Daran anknüpfend wird der zweite Band einige Beispiele vorstellen, die deutlich machen können, was mit einem responsiven rechtssoziologischen Forschungshabitus gemeint ist. Schließlich hatten wir unsere Überlegungen mit dem Zusammenhang von Gegenstands- und Reflexionstheorie eingeleitet und mit der Aussicht begründet, aus der Verbindung von Soziologie und Recht auf diesen beiden Ebenen am Ende auch die Perspektive auf die soziologische Theorie des Rechts selbst zu erweitern. Die exemplarischen rechtssoziologischen Untersuchungen weisen darauf hin, dass die responsive Rechtssoziologie in Anlehnung an normative Probleme in methodisch solider Weise theoretisch anschlussfähige soziologische Erkenntnis generieren kann. Verschiedene gegenstandstheoretische Themenkomplexe, mit denen juristische Problemlagen in die soziologische Theorie hinein ausgreifen, haben wir im Laufe unserer Diskursanalysen am Rande schon kennengelernt. Einige von ihnen werden im zweiten Band mit konkretem Bezug wieder aufgegriffen.

So sind, um einem Blick voraus zu werfen, zum Beispiel Folgenorientierung, rechtliche Steuerung und reflexives Recht im erweiterten Problemzusammenhang einerseits innerrechtliche Formeln, die, wie wir gesehen haben, in der Jurisprudenz reichhaltige dogmatische und rechtstheoretische Lösungsansätze hervorbracht haben. In der rechtssoziologischen Theorie zeigen sich komplementäre, responsiv auf die rechtstheoretischen Debatten reagierende Ansätze vor allem dort, wo nicht die Unmöglichkeit gesellschaftlicher Steuerung im Modus einer Kybernetik erster Ordnung kritisiert wird, sondern mit Begriffen der Regulierung, Governance, Steuerung oder Irritationsgestaltung der an der autopoietischen Systemtheorie orientierte Umbau beziehungsweise eine entsprechende Schärfung soziologischer Begriffe in Angriff genommen wird. An die oben skizzierten soziologischen Debatten über Regulierung und Irritationsgestaltung (Mölders 2015, 2019; Paul et al. 2017) sei in diesem Zusammenhang noch einmal erinnert. Ähnlichen Einfluss auf die rechtssoziologische Theorieentwicklung hat, wie wir bereits gesehen haben, die Konstitutionalismus-Debatte in der Rechtswissenschaft gehabt, aus welcher inzwischen eine eigenständige Verfassungssoziologie (Teubner 2012; Holmes 2013; Neves 2013, 2017) mit Bezügen zur Steuerungs-Debatte erwachsen ist.

Partizipation in Gestalt von Bürgerbeteiligung an rechtlichen Planungs- und Gestaltungsprozessen, um ein weiteres Beispiel zu nennen, wird in der Rechtstheorie seit den 1970er Jahren als Ausdruck gesellschaftlich notwendiger Demokratisierung betrachtet (oben Abschn. 5.2.5; vgl. Bora 1999, 32 ff.), aber auch aus Überlegungen zum reflexiven Recht abgeleitet (Teubner 1982). Man betont stärker die politische Legitimität der entsprechenden Verfahren – in Form von Output-Orientierung in Gestalt erhöhter Abnahmebereitschaft – als deren rechtsstaatliche Verankerung. Wechselseitige Information von Entscheidern und Betroffenen, rechtliches Gehör, vorgezogener (Grundrechts-) Rechtsschutz, Kooperation und Kommunikation zwischen den Verfahrensbeteiligten, Effizienzsteigerung und Verfahrensökonomie, bessere Durchsetzbarkeit der Entscheidung, Konsens, Kontrolle und Transparenz durch Publizität sind normative Gesichtspunkte, mit denen entsprechende Novellierungen verschiedener öffentlich-rechtlicher Normen des Umwelt- und Technikrechts unterfüttert werden. Aus soziologischer Sicht sind dies – angesichts massiver empirischer Probleme bei der Umsetzung der partizipativen Verfahren – nicht bloß juristische Selbstmissverständnisse, wie Luhmann meinte, der feststellte, Partizipation erhöhe lediglich die Zahl der Kommunikationsereignisse und blockiere damit die zu treffenden Entscheidungen (Luhmann 1987). Vielmehr kann die Analyse der Kommunikationsprozesse in Verfahren der Bürgerbeteiligung die Ursachen der genannten Verwerfungen identifizieren. Sie liegt, wenn man Teubners „Mehrwert“-Aufsatz heranzieht, in affluenter Autopoiesis und Mehrwertproduktion in Rechts- und Politikkommunikationen, die mit ihrer kolonisierenden Expansion schädliche Effekte erzeugen. Unter Aufgreifen der rechtlichen Programmatik kann eine responsive rechtssoziologische Analyse auf dieser Grundlage rechtspolitische Vorschläge in den Praxisdiskurs zurückspeisen. Dies erfordert innerhalb der Soziologie – etwa am Beispiel des Begriffs der Inklusion – einige Umbauten und ermöglicht zugleich am konkreten Fall quasi eine Theoriefolgenabschätzung im Vergleich integrations- und differenzierungstheoretischer soziologischer Konzepte. Die aus der Reflexion von Praxisdiskursen (hier in der Rechtstheorie) gewonnene Präzisierung soziologischer Begriffe ermöglicht umgekehrt die Formulierung rechtspolitischer Konzepte in Richtung einer prozeduralen Differenzierung statt entdifferenzierender Inklusionsmechanismen im konkreten Fall (Bora 1999, Kap. 8).

Ein weiterer Themenkreis betrifft Fragen der Wissensregulierung. Rechtliche Regulierung und wissenschaftliche Expertise verweisen jeweils auf gegenläufige Formen des Wissensbezugs, Rechtsfakten einerseits und Wissenschaftsnormen andererseits. Diese wechselseitige Bezugnahme koppelt Formen kognitiven und normativen Wissens auf beiden Seiten. Aus rechtssoziologischer Perspektive erkennt man, dass alle sozialen Systeme über Modi kontrafaktischen Erwartens verfügen, also eine je spezifische Form von Normativität aufweisen, was für das hier vorgestellte Kommunikationsmodell der Responsivität von Bedeutung ist.

Ähnliche Fragen tauchen in der Sphäre der Kopplung von Recht und Politik auf, die sich zwar wechselseitig Leistungen zur Verfügung stellen, aber nicht direkt füreinander instrumentalisierbar sind. Ihre Kopplung läuft häufig über Organisationen in Form multireferentieller Programmierungen. Die in der Geschichte der Rechtssoziologie viel diskutierten Phänomene der „Politisierung“ oder der „Verrechtlichung“ lassen sich dann in Organisationen lokalisieren. Insbesondere Verfassungsgerichte als Organisationen operieren mit Referenzen in beide Richtungen. Auf dieser organisationssoziologischen Grundlage nimmt eine Soziologie der gesellschaftlichen Regulierung durch Recht Gestalt an.

Responsive Beziehungen lassen sich auch dort beobachten, wo die rechtstheoretischen Auffassungen von Konzepten der Person, der auf Personen zugerechneten Verantwortung und daraus abgeleiteter Modelle der Haftung sich in einem Wandel befinden. Dabei kommen vermehrt kommunikationstheoretische Grundlagen zur Geltung, die weitreichende Umbauten an den klassischen Grundlagen des Privatrechts nahelegen (vgl. neuerdings Beckers und Teubner 2022), in ähnlicher Weise, wie dies schon mit der Rechtsfigur des Vertrages geschehen war (Abegg 2009; Ladeur 2009; Grünberger 2018). Unter dem Stichwort „Legal Tech“ diskutiert die Rechtswissenschaft ein breites Spektrum an Phänomenen, die von big data über Algorithmen, künstliche Intelligenz und lernende Software bis hin zu autonomen Agenten reichen. Dabei stellen insbesondere autonome maschinelle Entscheidungsprozesse das Recht zunehmend vor Herausforderungen. Die empirischen Fälle umfassen etwa speed trading (Gruber 2016), smart contracts (Müller und Seiler 2019) und neuerdings unter Umständen auch digitale Rechtsprechung (robot judges). Spannend ist an diesen Beispielen weniger die Frage, wie weit ihre technische Umsetzung im Einzelfall vorangeschritten ist, als vielmehr der Umstand, dass die Rechtsdogmatik und die Rechtstheorie die Entwicklung früh aufgegriffen haben und aufmerksam beobachten. Sie eilen damit der Soziologie weit voraus und stellen diese vor Herausforderungen, wie man beispielsweise an Teubners Überlegungen zu digitalen Rechtssubjekten (Teubner 2018) deutlich erkennen kann. Dort zeigt sich, dass es am Ende um die Frage der Letzt-Adressierbarkeit geht, also darum, wo die „Quelle“ rechtlich relevanter Operationen liegt (Bora 2016). Begriffe des Subjekts, des Willens, der Person haben darauf lange Zeit Antworten gegeben (so noch Chinen 2019), die allerdings nicht mehr befriedigen können. Die Philosophie hat spätestens seit Nietzsche die Figur menschlicher Willensfreiheit als letzten Zurechnungspunkt für rechtliche und moralische Verantwortungszuschreibung ernsthaft infrage gestellt. Neuere entwicklungspsychologische und (neuro-)biologische Forschungen scheinen diese Zweifel zu unterstützen. Auch in der Rechtstheorie ist die Frage diskutiert worden; so hat etwa Kelsen den Personenbegriff als eine in der Reflexionstheorie des Rechts konstruierte Figur aufgefasst (Kelsen 1967, 193) Das Recht erzeugt nach dieser Auffassung in seiner Reflexion die „Personalisierung“, die es in seinen Operationen voraussetzt. Im Kontrast zur Rechtstheorie hat die allgemeine Soziologie das Thema bislang nur sehr zaghaft aufgegriffen (vgl. Esposito 2017; Überblick in Muhle 2019). Kommunikationstheoretisch konsequent geht erstmals Florian Muhle (2919) vor, dessen überzeugende Kritik früherer, im Kern essentialistischer Ansätze zu einer Sichtweise führt, die mit Teubners Thesen über weite Strecken konvergiert. Responsive Rechtssoziologie kann hier ansetzen und die Konsequenzen der skizzierten rechtstheoretischen und -dogmatischen Innovationen für die Soziologie weiter untersuchen.

Die genannten Themenfelder sind hier nur skizzenartig umrissen, um den Zusammenhang von Reflexions- und Gegenstandstheorie exemplarisch anzudeuten. Im zweiten Band werden sie neben einigen anderen Aspekten in konkreten Untersuchungen näher vorgestellt. Dies geschieht an Hand bereits publizierter Arbeiten, die bislang nur verstreut vorliegen und bisweilen nicht gut zugänglich sind. Ihre Entstehung beruhte ursprünglich nicht auf einer ausformulierten Konzeption responsiver Rechtssoziologie. Vielmehr lassen sie sich rückblickend auf der Basis einer solchen Theorie interpretieren und machen damit gleichsam ein in den Forschungen von Beginn an schlummerndes Motiv sichtbar. Sie verkörpern an unterschiedlichen Gegenständen die Bestrebung, die allgemeine soziologische Theorie für die Analyse des Rechts so einzurichten, dass im Sinne der neueren Wissenschaftssoziologie ein Praxisdiskurs als Ausdrucksform responsiver Rechtssoziologie entstehen kann.