Bisher haben wir auf der begrifflich-konzeptionellen Basis eines reflexionstheoretischen Untersuchungsansatzes die Strukturen früher Interdisziplinaritätsmodelle in der deutschsprachigen Rechtssoziologie untersucht, in denen die Fundamente aller späteren Entwicklungen gelegt wurden. Rechtswissenschaftliche Autonomie- und Praxisdiskurse, so war deutlich geworden, ließen sich am Ende des neunzehnten Jahrhunderts nicht integrieren und gaben dadurch den Raum für die neu entstehende Soziologie frei. Diese entsprang als eigenständige Disziplin unter anderem aus dem Motiv der Autonomisierung, also eines reflexionstheoretischen Abstands zur Jurisprudenz, in der welcher sich zeitgleich mit der Entstehung der Soziologie Interdisziplinaritätskonzepte etablierten, nach denen die Beziehungen der Soziologie zur Rechtswissenschaft instrumenteller, dienender Natur sind. Die Soziologie antwortete mit ausgeprägten Autonomie-Konzepten, die jedoch nur vereinzelt Raum für eine responsive Form der Interdisziplinarität ließen. Die Inkongruenz der Perspektiven wurde zu einem prägenden Identitätsmerkmal der frühen (Rechts-) Soziologie. Einzelne Theoretiker unternahmen zwar Versuche, Responsivität im Verhältnis von Rechtswissenschaft und Soziologie auszuformulieren – wir haben Weber und Geiger unter diesem Gesichtspunkt näher betrachtet. Nach der Zeit des Nationalsozialismus erschienen solche Ansätze allerdings nur in Einzelfällen als zukunftsweisend. In den ersten Jahrzehnten nach 1945 hat, wie wir gezeigt haben, Helmut Schelsky mit der „transzendentalen Theorie der Gesellschaft“ einem Weg zu responsiven interdisziplinären Beziehungen gesucht. Nachdem diesem Ansatz kein nachhaltiger Erfolg beschieden war, haben sich in der soziologischen Systemtheorie Niklas Luhmanns Ansatzpunkte einer responsiven Reflexionstheorie ausgebildet. Diese sind über die Werkgeschichte hinweg in unterschiedlichen Deutlichkeitsgraden erkennbar. Was sich anfangs als juristisch motivierte Soziologie des Rechts präsentierte, zeigte bald eine zunehmende Abgrenzung der Standpunkte, die um 1970 mit der „Rechtssoziologie“ quasi eine maximale Distanz erreicht – auch wenn einige marginale Aspekte eines responsiven Denkens nicht zu übersehen waren. Diese reflexionstheoretische Position erschien damals in der Gesamtanlage der Theorie gut vertretbar, weil komplementär zur Rechtssoziologie stets eine soziologisch fundierte Rechtstheorie als Programm im Raum stand. Eine solche hat Luhmann allerdings zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlicht. Das posthum erschienene „Kontingenz und Recht“ enthält Hinweise auf responsive Interdisziplinarität, enttäuscht insgesamt aber mit expliziter Abkehr von diesem Gedanken. Die Phase bis etwa Ende 1980er Jahre ist schließlich geprägt von wiederholten Äußerungen zur Inkongruenz juristischer und soziologischer Perspektiven vor dem Hintergrund eines reflexionstheoretischen Paradigmas der Rezeption soziologischen Wissens durch die Jurisprudenz. Auch wenn in „Das Recht der Gesellschaft“, dem letzten großen rechtssoziologischen Werk Luhmanns, sich wieder vermehrte Andeutungen eines Sinneswandels finden lassen, muss doch in der Gesamtschau die Entwicklung der Luhmannschen Rechtssoziologie nach 1972 als ein Abschied der soziologischen Systemtheorie von einer responsiven soziologischen Theorie des Rechts interpretiert werden. Der bis dahin entwickelten Position wurde nichts Wesentliches mehr hinzugefügt. Damit begann, so unsere These, ganz allgemein der Abschied der Soziologie vom Recht. Weshalb dieser Prozess in der Systemtheorie eingeleitet wurde und welche Folgen sich daraus für die Rechtssoziologie insgesamt ergaben, soll im Folgenden erörtert werden.

In Luhmanns soziologischer Systemtheorie ließ die Intensität der Beschäftigung mit rechtssoziologischen Themen seit etwa Mitte der 1970er Jahre nach. Die Zahl rechtssoziologischer oder rechtstheoretischer Veröffentlichungen pro Jahr sank Vergleich zu den vorangegangenen Dekaden, wenn man die Niklas-Luhmann-Bibliografie zu Rate zieht (https://niklas-luhmann-archiv.de/person/nl-bibliographie). Das Anfang der 1980er Jahre erschienene Sammelwerk „Ausdifferenzierung des Rechts“ (Luhmann 1981) enthielt überwiegend Texte bis zur Mitte der 1970er Jahre und nur zwei neue Aufsätze. Ansonsten widmeten sich verstreute Aufsätze rechtssoziologischen Themen, die im Wesentlichen aus den Monografien bereits bekannt waren oder sich mit Teilen von „Kontingenz und Recht“ deckten. Die soziologische Theorie, die sich gründlicher, informierter, weitreichender und tiefgründiger als andere mit dem Recht befasste, zog sich langsam aus dem Feld der Rechtssoziologie und damit auch aus den Bemühungen um Interdisziplinarität zurück. 1993 erschien mit einigem zeitlichem Abstand neben anderen Bänden zu verschiedenen Funktionssystemen (Erziehung, Politik, Wissenschaft, Wirtschaft usw.) „Das Recht der Gesellschaft“. Dort wurde der reflexionstheoretische Abschied, wie wir gesehen haben, trotz vereinzelter gegenläufiger Ansätze mehrfach explizit zum Ausdruck gebracht.

Wie wir vermuten, war dieser Rückzug auch durch die diskursive Konfiguration der Rechtssoziologie der 1970er Jahre mit beeinflusst. Er müsste sich, wenn dies zutrifft, als eine Reaktion auf Umstände rekonstruieren lassen, die in den Diskursen der Rechtssoziologie jener Zeit zu suchen sind und die möglicherweise einer Entwicklung responsiver Reflexionstheorie im Rahmen der soziologischen Systemtheorie zumindest zeitweilig im Wege standen. Am Anfang der folgenden Überlegungen steht deshalb die Frage, in Bezug auf welches Problem sich der geschilderte Rückzug der systemtheoretischen Rechtssoziologie auf einen starken Autonomie-Diskurs als plausible Lösung rekonstruieren lässt. Es geht also um eine funktionale Analyse des im vierten Kapitel ausführlich beschriebenen Prozesses. Diese Überlegungen können, wie mehrfach betont, keine Kausalhypothese im Sinne einer Identifikation aller relevanten Ursachen stützen. Sie dienen vielmehr der Offenlegung einiger notwendiger, aber nicht hinreichender Bedingungen des eben angesprochenen Rückzugsprozesses, legen also Plausibilitätsbedingungen im eingangs (Kap. 2) genannten Sinne offen.

Grundsätzlich könnte die gesuchte Ursache auch in sozialstrukturellen Gegebenheiten begründet sein, wie dies verschiedentlich vermutet wurde. Raiser (2000) benannte als Gründe für die allgemeinen Schwächen der Rechtssoziologie das Fehlen eines Themen- und Methodenkanons, die Heterogenität von Fragestellungen und Methoden, die unklare wissenschaftliche Ortsbestimmung zwischen externer – soziologischer – Beobachtung des Rechts einerseits und Beobachtung sozialer Wirklichkeit durch Juristen aus der Perspektive des Rechts, den personellen und finanziellen Druck auf die juristischen Fakultäten, die mangelnde Bereitschaft der Soziologie, sich mit dem Recht zu befassen, schließlich hohe Kosten und methodische Herausforderungen empirischer Sozialforschung und die in Deutschland gering ausgeprägte Bereitschaft zu interdisziplinärer Kooperation. Luhmann (Guibentif und Luhmann 2000) machte die politische Lage am Ende der 60er Jahre, vor allem die Studentenbewegung und das Verständnis von Rechtssoziologie als linker Gesellschaftskritik mit verantwortlich für das Erlahmen des interdisziplinären Schwungs.

Diese Deutung bleibt jedoch zu sehr der Oberfläche verhaftet. Sowohl Raiser als auch Luhmann thematisieren den Aspekt nicht, der in unserer Argumentation die zentrale Rolle spielt, nämlich die Reflexion der Interdisziplinarität in den soziologischen Theorien und die Konfiguration der in der entscheidenden historischen Phase in den 1970er Jahren vorherrschenden Reflexionsdiskurse. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass drei hierarchische, asymmetrische Konzepte sich wechselseitig blockierten und als solche keine produktiven Anschlüsse offenhielten. Sie bildeten in jener Zeit eine spannungsreiche, konfliktträchtige Konstellation, welche die sozial-strukturelle bzw. institutionelle Entwicklung zumindest mit ermöglichte. In dieser Hinsicht stellen die Reflexionsdiskurse der Rechtssoziologie mit ihren jeweiligen Modellen der Interdisziplinarität eine – notwendige, wenngleich vielleicht nicht hinreichende – Bedingung der im zweiten Kapitel skizzierten institutionellen Schwäche der Rechtssoziologie im deutschsprachigen Raum dar. Mit dieser Perspektive geht die hier vorgeschlagene Interpretation über Raisers erwähnte Diagnose einer mangelnden Bereitschaft der Soziologie, sich mit dem Recht zu befassen, hinaus, ebenso über Luhmanns lakonische Attribution auf die politischen Zeitumstände. Sie fragt nach diskursiven Bedingungen des Mangels an Bereitschaft und sucht das Bezugsproblem in reflexionstheoretischen Diskurs und deren Konfiguration in den 1970er Jahren.

Der erste Teil dieses Kapitels rekonstruiert diese Konfiguration der Reflexionstheorien als Bezugsproblem der zuvor geschilderten systemtheoretischen Ambivalenz. Die Systemtheorie, so die These, sah sich in der entscheidenden Phase einem reflexionstheoretischen Trilemma gegenüber, für das sich verschiedene Lösungen anboten. Im Vergleich derartiger funktional äquivalenter Lösungen konnte die reflexionstheoretische Abstinenz als sparsamster Weg erscheinen. Dieser wurde allerdings mit dem Preis eines Abschieds der systemtheoretischen Soziologie von der interdisziplinären Arbeit am Recht bezahlt (Abschn. 5.1).

Im zweiten Teil des Kapitels geht es darum, wenigstens kurz anzudeuten, welche Folgen dieser reflexionstheoretische Rückzug der Systemtheorie hatte. Er hinterließ nämlich eine Lücke, die von keiner anderen namhaften soziologischen Theorie in jener Zeit zu schließen war. An die Klassiker konnte nicht mehr unbefangen anknüpft werden, da ihre Problemstellungen, wie wir im dritten Kapitel an einigen Beispielen gesehen haben, mit der weiteren Theorieentwicklung verblasst waren und sie mit Ausnahme von Weber und Geiger zum Recht wenig zu sagen wussten. Parsons, Foucault, Bourdieu oder Habermas als jüngere Autoren und als Zeitgenossen Luhmanns fügten dem nur Weniges hinzu. Sie kamen mit Ausnahme von Habermas über verstreute Anmerkungen zum Recht nicht hinaus, die oftmals weit hinter Luhmanns Analysen zurückblieben, oder verfolgten, wie Habermas, stärker rechtsphilosophische Ziele. Das kann in unserem Zusammenhang nicht ausführlich diskutiert werden, soll aber durch einige Bemerkungen zu rechtssoziologischen Schlüsseltexten der genannten Autoren wenigstens kurz demonstriert werden, um die weitreichende Bedeutung des systemtheoretischen Beharrens auf dem Autonomiediskurs für die deutschsprachige Rechtssoziologie zu verdeutlichen und die reflexionstheoretische Lücke sichtbar zu machen, welche die Systemtheorie an dieser Stelle hinterließ (Abschn. 5.2).

Der dritte Teil befasst sich mit den weiteren Folgen für die Rechtssoziologie und damit auch für die Soziologie als ganze. Der Rückzug der Soziologie aus dem Recht vollzieht sich im Wesentlichen in der Rechtssoziologie der 1970er und 1980er Jahre und findet in der turbulenten Epoche nach 1989, gleichsam im Windschatten weltgeschichtlicher Umwälzungen, seinen langsamen Abschluss. Man könnte vermuten, dass im Schicksal der Rechtssoziologie ein viel allgemeineres Symptom zum Ausdruck kommt, nämlich ein Verblassen soziologischer Theoriefähigkeit im Allgemeinen. Darin lägen zugleich, wenn ein solcher Verdacht sich erhärten ließe, mögliche Ursachen für das Verschwinden „Kleiner Fächer“ beziehungsweise soziologischer Randgebiete, die, wenn sie erfolgreich betrieben werden sollen, eben besonders hohe und weit in die Praxisdiskurse ausgreifende soziologische Theorieanstrengungen erforderlich machen. Die Entwicklung der allgemeinen Soziologie in Richtung von Zeitdiagnosen lässt hierfür derzeit wenig Hoffnung. Für die Rechtssoziologie, auf die wir unser Augenmerk richten, könnte dies heute, wie schon vor fünfzig Jahren, erneut im Postulat eines Wiedereinbaus des Rechts in die Soziologie „durch eine ernst gemeinte Soziologie des Rechts“ (Luhmann 1972, 6) münden (Abschn. 5.3).

Im sechsten Kapitel wird sich dann zeigen, dass dieser Wiedereinbau des Rechts in die soziologische Theorie momentan am ehesten im Kreise der soziologischen Jurisprudenz zu beobachten ist, also eines Zweiges der Rechtswissenschaft, aus dem in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche soziologische Innovationen hervorgegangen sind. Kantorowicz könnte angesichts dieser Entwicklung auf unerwartete Weise (und anders vielleicht, als ursprünglich gedacht) Recht behalten. Die theoretisch anspruchsvolle Rechtssoziologie wird heute nicht selten von „Juristen im Nebenamt“ (Kantorowicz 1911, 278) vorangetrieben. Sie enthält Ansätze der Responsivität, welche eine soziologische Reflexionstheorie produktiv nutzen kann.

5.1 Reflexionstheoretisches Trilemma – Das Schweigen der Systemtheorie

Entscheidende Weichenstellungen beim Abschied der Soziologie vom Recht sind in den 1970er Jahren erfolgt. Sie haben nach einer kurzen Blütezeit der Rechtssoziologie mit entsprechendem Engagement auch der Soziologie schließlich ein weitgehendes Erliegen des Feldes begünstigt und zum Rückzug der Soziologie von der Befassung mit dem Recht beigetragen. Bei der Suche nach möglichen reflexionstheoretischen Konfigurationen, welche diesen Prozess mit hervorgerufen haben, soll uns folgende These leiten: Die Rechtssoziologie im deutschen Sprachraum war seit der frühen Nachkriegszeit geprägt von Reflexionsdiskursen, die sich bei allen Unterschieden im Detail insgesamt als hierarchische und asymmetrische Modelle von Interdisziplinarität präsentieren. Sie richteten sich in je spezifischer Weise an Autonomie aus – an der Autonomie der Jurisprudenz, der Gesellschaft bzw. der Politik oder der Soziologie – und kombinierten diese Orientierung jeweils mit dem Modell der Rezeption soziologischen Wissens durch die Jurisprudenz als Konzept für die interdisziplinären Beziehungen. Aus dem Blickwinkel der Rechtstatsachenforschung und verwandter Strömungen tauchte dieses hierarchische Modell in Gestalt eines sachlichen Vorrangs der Rechtswissenschaft auf (Abschn. 5.1.1). Außerdem prägte es vor allem in den 1960er und 1970er Jahren einen Diskurs der Rechtssoziologie als engagierter Wissenschaft, der ein Hierarchieverhältnis zwischen präsupponierten politisch-gesellschaftlichen Zwecken und der Soziologie als diesen Zwecken dienender Wissenschaft voraussetzte (Abschn. 5.1.2). Ein hierarchisches und asymmetrisches Modell wurde, wie bereits dargelegt, im Ergebnis auch von der soziologischen Systemtheorie vertreten, die mangels eines responsiven Interdisziplinaritätsmodells von der reflexionstheoretischen Vorrangstellung der Soziologie und komplementären Rezeptionsproblemen der Jurisprudenz auszugehen hatte (Abschn. 5.1.3).

Das Aufeinandertreffen dieser Deutungsmuster provozierte einen diskursiven Konflikt, der in Gestalt eines reflexionstheoretischen Trilemmas als Bezugsproblem für asymmetrische Autonomie-Modelle rekonstruiert werden kann (Abschn. 5.1.4). Jedes der Modelle verursachte Reflexionsprobleme in mindestens einem der anderen. Ein solches Problem erwuchs für die Systemtheorie aus einer Diskurskonfiguration zwischen der sozial-ingenieurialen engagierten Soziologie und der Rechtstatsachenforschung. Die daraus resultierende argumentative Zwangslage bot für die soziologische Systemtheorie im Wesentlichen zwei unterschiedliche funktional äquivalente Antworten an. Zum einen hätte den beiden genannten Ansätzen, die jeweils in unterschiedlicher Weise die Autonomie der Soziologie infrage stellten, ein Autonomiekonzept entgegengesetzt werden können, welches sowohl die allgemeine gesellschaftliche Praxis als auch die Rechtstheorie als außersoziologische wissenschaftliche Praxis hätte stärken und damit implizite Bedürfnisse der genannten Konkurrenzmodelle im Konzept der Responsivität hätte symmetrisch integrieren können. Zum anderen bot jedoch, soweit eine solche responsive Konzeption zu aufwendig erschien, der Rückzug aus einer insgesamt schwierigen argumentativen Zwickmühle zwischen inkongruenten Reflexionstheorien in gewisser Weise eine naheliegende Lösung. Dass dieser Rückzug auf eine scharfe Betonung soziologischer Autonomie in Verbindung mit dem interdisziplinären Paradigma der Rezeption hinauslief, ist eben den reflexionstheoretischen Voreinstellungen der Systemtheorie zu verdanken. Damit lassen sich aus der Diskurskonstellation jener Zeit Bedingungen rekonstruieren, die den Rückzug der Systemtheorie, wenn schon nicht als zwingend, so doch als immerhin plausibel erscheinen ließen. Das reflexionstheoretische Trilemma kann so die im ersten Kapitel erwähnte „vierte Theoriekatastrophe“ der Rechtssoziologie in ihren Entstehungsbedingungen zumindest verständlich machen.

Als historisch entscheidende Phase wurden bereits mehrfach die Jahre um 1972 angesprochen. Von 1945 bis in die frühen 1960er Jahre war die Rechtssoziologie – von Schelsky abgesehen – mehr oder weniger bedeutungslos geblieben. Gert Bender (1994, 116 f.) spricht von einer Phase der verpassten großen Gelegenheiten. 1965 bis 1975 folgte, wie im zweiten Kapitel beschrieben, ein Aufschwung, getragen von ungebremsten Modernisierungs-, Gestaltungs- und Steuerungserwartungen, in denen sich ein reflexionstheoretischer Diskurs der Gesellschaftsreform qua social engineering manifestierte. Ab Mitte 1960er Jahre traten soziologische Theorien als Universaltheorien auf den Plan, die alle rechtssoziologisch relevant hätten werden können, im Feld aber zunächst kaum rezipiert wurden (ebd., 119 ff.) und auch selbst nur wenig zur soziologischen Analyse des Rechts beitrugen (vgl. dazu unten Abschn. 5.2). Der Strukturfunktionalismus war in Deutschland angekommen, die Weber- und Durkheim-Rezeption setzte langsam ein, seit dem Positivismusstreit erlebte Marx eine Renaissance, Habermas integrierte verschiedene dieser Strömungen. Die Rechtssoziologie blieb in einem cultural lag hinter diesen Entwicklungen zurück. Sie trat im Wesentlichen als engagierte Wissenschaft im Gewand des social engineering auf. Soziologische Methoden – weniger dagegen Theorien – fassten in der Justiz- bzw. Richtersoziologie Fuß. Dort griff die Rechtssoziologie gewissermaßen den Ball aus der Empirischen Soziologie auf.

Zwischen dem Wiederbeginn der akademischen Soziologie in der frühen Nachkriegszeit und den 1970er Jahren vollzog sich der Aufschwung der Rechtssoziologie im Zuge einerseits des Ausbaus der Universitäten und andererseits einer sozialtechnokratisch ausgerichteten gesellschaftspolitischen Reformprogrammatik. Das führte zu hohen Erwartungen an die theoretische wie praktische Leistungsfähigkeit der Soziologie im Allgemeinen und der Rechtssoziologie im Besondern. In theoretischer Hinsicht erwartete man von letzterer vor allem eine wissenschaftliche Gesellschaftsanalyse. In praktischer Hinsicht sollte sie die Verwissenschaftlichung politischer Steuerung und Gesellschaftsgestaltung leisten. Diese Bestrebungen waren bekanntlich mit dem – in seinen weitreichenden Ansprüchen später gescheiterten – Versuch einer Versozialwissenschaftlichung des Jurastudiums verbunden. Die Jahre 1965–1975 können folglich als Blütezeit der deutschen Rechtssoziologie (Bender 1994, 119 ff.) angesehen werden. Während in der allgemeinen Soziologie der 1970er Jahre eine gewisse disziplinäre Normalisierung das Bild bestimmte (Kruse 2006, 167 f.), erlebte die Rechtssoziologie mit etwa zehnjähriger Verspätung einen deutlichen Aufschwung.

Das Jahr 1972 war, wenn man so will, einerseits der Höhepunkt in der Entwicklung der empirischen Rechtssoziologie und deren weitreichenden politischen Ambitionen. Es fiel in die Phase des social engineering in der Rechtssoziologie und der Versozialwissenschaftlichung der Jurisprudenz als engagierter Wissenschaft – Rasehorn ging so weit, 1972 als das „goldene Jahr“ der Rechtssoziologie zu bezeichnen (Rasehorn 2002, 17). Zahlreiche Veröffentlichungen, lebhafte öffentliche Debatten, die Gründung von akademischen Vereinigungen, der Informationsbrief als Vorläufer der Zeitschrift für Rechtssoziologie, die Forschungsgruppe in Hamburg am MPI, verschiedene Förderprogramme (im BMBF und später in der Volkswagen-Stiftung), die Planung für das Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) in Bielefeld und viele vergleichbare Aktivitäten legen Zeugnis ab für die prominente Rolle des Feldes in jener Zeit (vgl. dazu ausführlicher Kap. 2). Wolfgang Kaupen trat mit einem Referat auf dem Deutschen Juristentag in Düsseldorf publikumswirksam für die Rechtssoziologie in Erscheinung. Auf einem (außerordentlichen) Soziologentag in Mannheim wurde die Sektion Rechtssoziologie der DGS gegründet. Rüdiger Lautmann (1972) veröffentlichte „Justiz, die stille Gewalt“. Die ersten Bände des Jahrbuchs für Rechtssoziologie und Rechtstheorie erschienen.

Zugleich bildete das Jahr 1972 aber auch den Wendepunkt in der Entwicklung der rechtssoziologischen Theorie, da es mit dem Erscheinen von Luhmanns Rechtssoziologie und der Nichtveröffentlichung von „Kontinenz und Recht“ einen Kulminations- und vorläufigen Schlusspunkt der soziologischen Theorie des Rechts darstellte. Zum ersten Mal nach Geiger trat mitten im Schlachtenlärm der Gesellschaftskritik eine anspruchsvolle soziologische Theorie des Rechts auf den Plan. Sie entfaltete das seit den Gründerjahren angelegte Programm der autonomen soziologischen Beobachtung des Rechts in einer zuvor und auch später kaum wieder erreichten Reichhaltigkeit und Tiefenschärfe, blieb aber sowohl in der Wissenschaft als auch in der Praxis des Gegenstandsbereichs ohne nachhaltige Konsequenzen. Von einem Kulminationspunkt kann also gesprochen werden, da soweit erkennbar zum ersten und einzigen Mal eine soziologische Theorie des Rechts verfasst wurde, die es ermöglicht, Autonomie und Praxis symmetrisch zu reflektieren. Um einen Wendepunkt handelt es sich insoweit, als der Praxisdiskurs als konstitutiver Bestandteil dieser Reflexionstheorie das Licht der wissenschaftlichen Öffentlichkeit nicht erblickte.

Aufgabe der funktionalen Analyse in diesem Kapitel ist, wie schon gesagt, die Rekonstruktion der prägenden rechtssoziologischen Reflexionsdiskurse jener Jahre, aus deren Zusammenspiel sich, so die These, das Bezugsproblem bildete, auf das die Systemtheorie mit dem ausführlich geschilderten reflexionstheoretischen Rückzug reagierte. Diese Konstellation, das soll im Folgenden nachgezeichnet werden, bestand aus drei Autonomiediskursen mit je spezifischer Orientierung an Recht, Politik oder Soziologie, die zudem jeweils mit dem Interdisziplinaritätsmodell der Rezeption operierten. Die Rede ist erstens von verschiedenen Hilfswissenschafts-Konzeptionen, zweitens von der Rechtssoziologie als engagierter sozial-ingenieurialer Wissenschaft und drittens von der systemtheoretischen Rechtssoziologie. Aus diesem Zusammenspiel, so unsere Vermutung, ergab sich für die Systemtheorie eine gewisse Attraktivität des reflexionstheoretischen Rückzugs.

Die hier vorgeschlagene Begriffsbildung weist eine Verwandtschaft zu drei Diskursen auf, die Rüdiger Lautmann (Lautmann 2022) für die betreffende Phase der Rechtssoziologie beschreibt. Er unterscheidet einen Reformdiskurs, der sich vorrangig auf die Versozialwissenschaftlichung der Juristenausbildung konzentrierte, einen Fusionsdiskurs, der auf der Basis interner Rechtskritik die Jurisprudenz als Sozialwissenschaft verstanden wissen wollte, sowie schließlich einen Traditionsdiskurs, welchem vor allem die Bestandssicherung der Jurisprudenz ein Anliegen war (Lautmann 2022, 13–28). Dem kann man in allen historischen Details ebenso wie in der terminologischen Charakterisierung zustimmen, ohne die hier vorgeschlagene Perspektive preisgeben zu müssen. Während Lautmanns Vorschlag sich an den wissenschaftspolitischen Deutungsmustern der betreffenden Diskurse orientiert, sie also – und dies zu Recht – als disziplinstrategische Programmatiken liest, geht unser Vorschlag dahin, auf der reflexionstheoretischen Ebene nach instruktiven Differenzen zu suchen. Diese sind in den jeweiligen Deutungen von Autonomie und Praxis zu finden. Dabei werden uns im Folgenden etliche von Lautmann beschriebene Einzelaspekte wieder begegnen.

5.1.1 Diskurs der juristischen Autonomie – Rechtstatsachenforschung und aufklärerische Hilfswissenschaft

Im Konzept der Rechtssoziologie als Hilfswissenschaft, darauf hatten wir im dritten Kapitel bereits ganz kurz hingewiesen, kommt ein Autonomiediskurs der Jurisprudenz zur Geltung, der die Rechtssoziologie seit ihrer Entstehung wesentlich geprägt hat und auch die geschilderten Anläufe der Institutionalisierung konzeptionell beeinflusste. Die Aufgabe der Soziologie besteht nach dieser Auffassung darin, die in der Jurisprudenz relevanten empirischen Fragen zu bearbeiten, ohne dass diese für die Soziologie wissenschaftlich relevant sein müssten – und in der Regel auch nicht sind. Man erkennt unschwer, dass dieser Interdisziplinaritätsdiskurs an seiner Umwelt scheitert, nämlich der Soziologie, welche vor dem Hintergrund ihres eigenen Autonomiediskurses an eine solche Selbstbeschreibung kaum anschließen kann. Dieses, gewissermaßen „klassische“ Rezeptionsmodell marginalisiert die Soziologie als Wissenschaft.

Dieser bereits mehrfach angesprochene Autonomiediskurs des Rechts wird in reiner Form durch die seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts machtvoll in die Rechtssoziologie hineinwirkende Rechtstatsachenforschung verkörpert. Sie beeinflusst bis heute die Reflexionsbemühungen der Rechtssoziologie (vgl. Röhl 2012, § 11 IV) und repräsentiert ein Konzept der Autonomie des Rechts, das in der Soziologie nicht auf Anschluss hoffen kann, soweit diese sich als eigenständige Wissenschaft begreift. Im Konzept der rechtswissenschaftlichen Autonomie spricht die Praxis – vertreten durch die Soziologie – gerade nicht mit, um Kaldeweys Formulierung wieder aufzugreifen (oben Abschn. 2.2.2) Sie bleibt gegenüber dem Primat normwissenschaftlicher Fragen marginalisiert (vgl. auch Röhl 1974). Hier manifestiert sich also ein Modell der Rezeption. Ironischerweise wird der häufig zu vernehmende rechtssoziologische Vorwurf mangelnden juristischen Interesses in diesem Diskurs ausgerechnet durch einen elaborierten Hilfswissenschafts- bzw. Hierarchiediskurs widerlegt.

Die Rechtstatsachenforschung bildet über Jahrzehnte hinweg einen institutionell sehr erfolgreichen Zweig der Rechtssoziologie, der auch in der hier zu untersuchenden Periode um 1972 präsent ist (Heinz 1986). In Abgrenzung gegenüber Fuchs’ und Kantorowicz’ freirechtlichen Ansätzen und Ehrlichs soziologischer Rechtswissenschaft einerseits sowie gegenüber dem legal realism andererseits hatte Arthur Nußbaum dieses Programm einer im Dienste der Rechtswissenschaft empirisch forschenden Soziologie um 1914 entworfen und auch selbst entsprechende Studien, insbesondere zur Grundschuld, vorgelegt. Ernst E. Hirsch, Manfred Rehbinder und andere entwickelten diese Position weiter stießen damit eine Fülle an empirischen Untersuchungen auf allen Rechtsgebieten an, die zeitweise sogar durch eine eigene Ressortforschungsabteilung des BMJ gefördert wurden.

Nach Nußbaums Auffassung bestehe die Aufgabe der Rechtswissenschaft und des rechtswissenschaftlichen Unterrichts darin, dem Nachwuchs praktisch relevantes Wissen zu vermitteln (Nußbaum 1914). Dieses reiche über dogmatische Kenntnisse weit hinaus, da nur ein geringer Teil der Juristen in den Richterberuf geht. In den meisten Tätigkeitsfeldern bedürfe es wissenschaftlich fundierter Analyse der rechtlich relevanten Lebenssachverhalte. In Deutschland habe die Rechtstheorie, allen voran Jhering, in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts auf die erstarrte römischrechtliche Dogmatik, die auch durch die historische Rechtsschule nicht aufgelöst worden war, reagiert. Zwar habe Jhering mit dem „Zweck im Recht“ die richtige Intention verfolgt, im Ergebnis habe er aber lediglich eine neue „Begriffswelt an Stelle der alten“ geschaffen (Nußbaum 1940, 59). Die Freirechtslehre habe lediglich ein neues Dogma auf der Basis dieser Kritik formuliert. Nußbaums eigene Schrift über das Hypothekenrecht habe 1913 dagegen eine funktionale Methode angewandt und das Recht mit Rechtstatsachen in Beziehung gesetzt. Nach dem ersten Weltkrieg habe dann diese realistische Perspektive an Gewicht gewonnen, nicht zuletzt etwa auch in der höchstrichterlichen Rechtsprechung.

Dabei, so Nußbaum, handele sich freilich nicht um „soziologische Jurisprudenz“ (Nußbaum 1914, 20). Kern juristischer Kompetenz sei juristisches Denken. Daneben sei aber auch „ein bestimmter Komplex von induktiv zu erforschenden Tatsachen“ relevant (ebd., 21). Welches diese relevanten Tatsachen sind, bestimme allerdings die juristische Perspektive, nicht diejenige der betreffenden Nachbardisziplin. Dies begründe die Verwendung des Begriffs „Rechtstatsachen“ (ebd., 22). Das Problem der zeitgenössischen Rechtswissenschaft bestehe nicht darin, dass die Relevanz von Rechtstatsachen grundsätzlich bestritten werde, sondern dass diese nicht ernsthaft berücksichtigt würden. Nußbaum begründet anhand zahlreicher Beispiele (Inhabergrundschuld u. a., Gewohnheitsrecht, Richterrecht, regionale Differenzierung der Rechtspraxis im Deutschen Reich), weshalb die Erforschung der Rechtstatsachen nicht im juristischen Routinebetrieb, gewissermaßen mit Mitteln des common sense betrieben werden könne, sondern organisierter wissenschaftlicher Anstrengungen, etwa in Gestalt einer „Zentralstelle“ (ebd., 29) erfordere.

Der Bedarf für Rechtstatsachenforschung ergibt sich also nach Nußbaum aus der Divergenz von alltäglich praktiziertem und an den Universitäten gelehrtem Recht (Nußbaum 1920, 48) Dazu geht er von einem „weiten Normbegriff“ aus, der alle das Verhalten „in rechtlich bindender Weise“ bestimmenden Regeln umfasst (ebd., 49) und Gewohnheitsrecht und kautelarjuristisch gebildete Regeln enthält, also nicht-staatliches Recht, beispielsweise das internationale Handelsrecht. Aber auch Gesetzesrecht werfe, wie er sagt, empirische Fragen auf, nämlich nach seiner tatsächlichen Geltung bzw. seinem durch sozialen Wandel verursachten Bedeutungswandel (ebd., 51 f.), schließlich Fragen des praktischen Gebrauchs von Recht, etwa im Falle zivilrechtlicher Formenkonkurrenz, Richterrecht und zuletzt der psychologischen Motivlagen von Richtern.

Nußbaum entwickelt mit anderen Worten eine asymmetrische Reflexionstheorie einer Rechtssoziologie als Hilfswissenschaft, für welche es keine eigenständige wissenschaftstheoretische Bestimmung gibt. Der Diskurs der Rechtstatsachenforschung bleibt ganz innerhalb der Reflexionstheorie des Rechts. Die Autonomisierung der Soziologie entwickelt sich nach dieser Vorstellung unter Führung durch die Rechtsdogmatik; beides zusammen mündet dann in die Rechtstatsachenforschung, Rechtssoziologie fungiert als Instrument für den Wirklichkeitskontakt und die Praxisrelevanz der Jurisprudenz. Die Asymmetrie dieser außerordentlich wirkmächtigen Konzeption liegt im rein handwerklichen Stellenwert der Soziologie. Sie ist Instrument in den Händen des Juristen. Damit hat sie kein eigenes wissenschaftliches Erkenntnisziel und bedarf keiner eigenständigen Reflexion.

Das zeigt sich auch in einem heute wichtigen Text der Rechtstatsachenforschung, der seit 1977 in ununterbrochener Folge, derzeit in der 8. Auflage erscheinenden „Rechtssoziologie“ von Manfred Rehbinder (Rehbinder 2014). Dieser unterscheidet an Kantorowicz anknüpfend die „reine Rechtssoziologie“, die ein gesellschaftstheoretisches Erkenntnisinteresse verfolgt und als soziologische Theorie des Rechts in Erscheinung tritt, von der „angewandten Rechtssoziologie“, die als soziologische Rechtslehre bzw. Jurisprudenz wissenschaftliche Erkenntnisse um ihres praktischen Nutzen Willens anstrebt (ebd., 3 ff.). Diese Unterscheidung steht quer zu derjenigen von empirischer und theoretischer Rechtssoziologie – mit der sie gleichwohl auch zusammenhängt. Empirische Rechtssoziologie ist für Rehbinder nämlich gleichbedeutend mit Rechtstatsachenforschung. Diese kann – sowohl etwa im kritischen Rationalismus als auch in der kritischen Theorie – im Dienste der reinen Rechtssoziologie als soziologischer Theorie des Rechts stehen. Rehbinder sieht den Unterschied zwischen diesen beiden Fällen lediglich im Stellenwert der empirischen Forschung. Seine Rechtssoziologie ist erklärtermaßen angewandte Rechtssoziologie, also Hilfswissenschaft der Rechtswissenschaft, die versucht, „einen Beitrag zu den praktischen Fragestellungen der Rechtswissenschaft zu leisten.“ (ebd., 7). So wird etwa die Praxis der Gerichte bei der Sachverhaltsermittlung „… weitgehend von Alltagstheorien beherrscht, die der Überprüfung nicht immer standhalten. Die Hilfe des Sozialwissenschaftlers wäre daher öfter nötig, als dies in der Praxis angenommen wird.“ (ebd.) Die praktische Bedeutung der Wissenschaft (Soziologie) wird also extern bestimmt, von der Rechtspflege als Problem der Rechtswissenschaft her.

Die Soziologische Jurisprudenz befindet sich, so Rehbinder, im Gegensatz zur Rechtstatsachenforschung in einem praktischen Dilemma, da sie empirische Forschung im Einzelfall nicht anwenden kann, trotz der konzeptionellen Begründungen, die genau darauf hinauslaufen, „und zwar wegen des erforderlichen Aufwandes an Zeit und Kosten“ (ebd., 18). Soziologische Jurisprudenz komme deshalb im Ergebnis „nur für die oberen Gerichte und das Bundesverfassungsgericht in Betracht.“ (ebd., 20) Allerdings komme dort die soziologische Expertise nicht aus der Literatur, die zu allgemein sei, sondern aus fallbezogenen Sachverständigengutachten. In der Rechtspolitik äußert sich die praktische Rolle der Rechtstatsachenforschung erstens in Effektivitätsprognosen (Gesetzesfolgenabschätzung), zweitens in Legitimationsbeschaffung (Akzeptanz-, Effektivitäts-, Durchsetzungschancen). Aus alledem ergeben sich, so Rehbinder, die Grenzen soziologischer Jurisprudenz: „Soziologische Jurisprudenz bedeutet … nur eine Berücksichtigung der Rechtstatsachen bei der erforderlichen juristischen Wertung, nicht eine Ersetzung dieser Wertung.“ (ebd.,23).

Für unsere Frage nach reflexionstheoretischen Konzepten der Interdisziplinarität ist eine schematische Darstellung der Aufgaben der Rechtssoziologie besonders instruktiv, in welcher die wissenschaftssoziologische Stellung der Rechtstatsachenforschung eine begrifflich inkonsistente Gestalt annimmt (ebd., 24). Rehbinder unterscheidet Rechtswissenschaft als Wertungswissenschaft, in welcher die soziologische Jurisprudenz als „Berücksichtigung der Rechtstatsachen bei der erforderlichen juristischen Wertung“ (ebd., 23) enthalten ist, von der Rechtssoziologie, welche in einen empirischen und einen theoretischen Teil zerfällt. Rechtwissenschaft in diesem Sinne ist „Wertung“ plus „sozialer Sachverhalt“ (ebd., 24, Schema Zeilen 1 und 2). Rechtssoziologie ist Empirie plus Theorie. Nun verklammert aber die Rechtstatsachenforschung diese beiden Gruppen. Sie umfasst aus der Rechtswissenschaft die sozialen Sachverhalte und aus der Soziologie die Empirie. Die Rechtwissenschaft als soziologische Jurisprudenz enthält also Wertung plus sozialen Sachverhalt. Die Rechtstatsachenforschung enthält sozialen Sachverhalt qua empirische Forschung und insofern folglich soziologische Jurisprudenz plus empirische Rechtssoziologie. Die Rechtssoziologie hingegen ist entweder empirisch oder theoretisch. Das Schema versteckt den Umstand, dass sowohl soziologische Jurisprudenz als auch Rechtstatsachenforschung ihre beiden Bestandteile jeweils inklusiv handhaben, also als notwendig gleichzeitig vorkommend behandeln. Bei der Rechtssoziologie verhält es sich anders. Sie kann nur empirisch oder theoretisch sein. Damit kommt die theoretische Rechtssoziologie in den rechtssoziologischen Kategorien der Rechtstatsachenforschung und der soziologischen Jurisprudenz nicht vor. Implizit und auf den ersten Blick kaum sichtbar bleibt die theoretische Rechtssoziologie damit für die Rechtswissenschaft vollkommen bedeutungslos. Der Text repräsentiert, wie man unschwer erkennt, ein Modell der sachlichen Hierarchie, welches der Soziologie eine hilfswissenschaftliche Rolle zuweist und sie überdies auf empirische Forschung reduziert. Dass diese Deutung aus der Perspektive der Soziologie als autonomer Disziplin nicht überzeugen kann, ist offenkundig. In der für uns relevanten Zeitspanne lassen sich im Übrigen weitere Beispiele für ein solches asymmetrisches Modell interdisziplinärer Kooperation finden. Die langjährige Arbeit des Referats Rechtstatsachenforschung im BMJ steht dafür (Strempel 1988). Rechtstatsachenforschung bezog dort ihre Legitimation aus praktischen Umsetzungsproblemen der Rechtspolitik und der Gesetzgebung (ebd., 190). „[S]ozialwissenschaftlich aufbereitete Fakten“ dienten der Vorbereitung gesetzgeberischer Maßnahmen“ (ebd., 201, vgl. auch ders. 1984).

Asymmetrische Positionen finden sich allerdings nicht allein in den Hilfswissenschafts-Modellen der Rechtstatsachenforschung, sondern auch in wissenschaftspolitisch ganz anders positionierten Texten. Rüdiger Lautmann stellt in „Soziologie vor den Toren der Jurisprudenz“ (Lautmann 1971) ausdrücklich die Soziologie als „Arbeitsmittel des Juristen“ in den Mittelpunkt. Er vertritt die These, die Rechtssoziologie sei „unentwickelt, weil die Rechtsfakultäten sie vernachlässigen“ (ebd., 17). Dabei spielen in der Arbeit der Juristen, so Lautmann, Alltagstheorien in Gestalt vorwissenschaftlicher Annahmen über soziale Wirklichkeit eine nicht geringe Rolle, etwa bei der Sachverhaltsermittlung und der Folgenbewertung. Er unterscheidet vier Konstellationen, in denen Soziologie der Rechtspraxis von Nutzen sein kann (ebd., 25), nämlich erstens die Information über urteilsrelevante Tatsachen, zweitens die Normermittlung hinsichtlich ihrer (empirischen?) Geltung und der in Subkulturen gültigen Normen, drittens die Kritik des Richterberufs und seiner Programmierung und viertens die nichtjuristische Tätigkeit in Justizorganisation und am Arbeitsplatz. Gegen den Vorwurf des Methodensynkretismus wird auf die Verflechtung normativer und „faktischer“ Erwartungen in der Rechtsanwendung abgehoben (ebd., 27 f.). Normative und deskriptive Wissenschaft überschneiden sich (ebd., 29), denn zumindest die teleologische und grammatikalische Auslegung benutzen empirisches Wissen (ebd., 30). Eine „kritische“ Sozialwissenschaft könne deshalb auch Webers idealtypische Unterscheidung von Sein und Sollen überwinden (ebd., 31). Der Text widmet sich dann weiter der Normgeltung und schließlich der „Normkritik“, bei der in Form einer „wissenschaftliche[n] Rechtspolitik“ Soziologie und Rechtswissenschaft kooperieren (ebd., 43). Er betont jedoch ausdrücklich, dass die Soziologisierung der Jurisprudenz nicht mehr bedeutet als eine Dienstleistung der Sozialwissenschaften, „welche den Juristen Theorien über die soziale Realität und Methoden zur Faktengewinnung anbieten“ (ebd., 98) und spricht explizit von „Hilfswissenschaft“ (ebd.) Was Juristen konkret an sozialwissenschaftlichem Wissen benötigen, richte sich nach dem angestrebten juristischen Berufsfeld (Rechtsanwalt, Strafjurist, Verwaltungsjurist). „Das Ja zur Integration der Sozialwissenschaften impliziert das Ja zur Spezialisierung der Juristenausbildung.“ (ebd., 102).

Wir beobachten also in diesem Text einen Diskurs der Soziologie als aufklärerischer Hilfswissenschaft. Aus heutiger Sicht überrascht die Aufregung, die das Buch seinerzeit verursacht hat. Lautmann bezieht eine insgesamt gemäßigte, nur stellenweise mit Justizkritik und praktisch gar nicht mit revolutionärem Pathos durchsetzte Position der Sozialwissenschaften als aufklärenden Hilfswissenschaften einer sich spezialisierenden Jurisprudenz. Aus unserer reflexionstheoretischen Perspektive wird zugleich aber deutlich, dass der Reformdiskurs im Sinne Lautmanns (2022, 13 ff.) mit Blick auf sein Interdisziplinaritätsmodell in enger Verwandtschaft zu den genannten Diskursen der Hilfswissenschaft steht.

Ein weiterer Hinweis auf die Wirkmächtigkeit dieses Diskurses ergibt sich aus dem Umstand, dass die Rechtstatsachenforschung, auch wenn sie nicht soziologisch im Sinne einer eigenständigen Theoriebildung ist (Röhl 2012, § 11 IV), doch auch aus der Soziologie Zuspruch erfahren hat, und zwar teils explizit (Heinz 1986), teils implizit in Gestalt praktizierter Hilfswissenschaft. Aus der Empirischen Soziologie kommend vertritt beispielsweise seinerzeit Karl-Dieter Opp die Position einer „empirisch-theoretischen Wissenschaft“ der Soziologie (Opp 1973, 25), auch als „analytische Soziologie“ bezeichnet (ebd., 65 ff.), welche die Jurisprudenz nicht ersetzen kann, da sie empirische und nicht normative Aussagen generiert (ebd., 23 ff., 33). Die Brauchbarkeit der Soziologie für die Jurisprudenz wird von daher beurteilt (ebd., 41 ff.). Sie erschöpft sich vor allem in der Prüfung von „Alltagstheorien“ der Juristen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass im Programm der Rechtstatsachenforschung, aber auch in einigen reformerischen Schriften zur Rechtssoziologie über die Fächergrenzen hinweg in den 1970er Jahren ein Diskurs der Soziologie als Hilfswissenschaft verkörpert ist. Ausgehend von der Betonung der Autonomie des Rechts und unter Verwendung des Rezeptions-Paradigmas wird ein Interdisziplinaritätsmodell vertreten, welches wir im zweiten Kapitel als hierarchisches vorgestellt hatten. Es hat sich insofern als leistungsfähig erwiesen, als es gewissermaßen den inneren Horizont der Rechtswissenschaft erweitert. Seine Grenzen liegen auf der reflexionstheoretischen Ebene im Sachverhalt der Interdisziplinarität selbst, für den es lediglich einen von der Autonomie der Rechtswissenschaft ausgehenden Hilfswissenschaftsdiskurs anbietet. Dieser ist zwar, wie wir gesehen haben selbst weiter differenziert, etwa in eine aufklärerische (Lautmann: kritische Überprüfung richterlicher Alltagstheorien) und in eine technokratische Variante (Opp: Daten besorgen), bleibt aber ein Diskurs juristischer Autonomie, in dessen asymmetrischer Gestalt letztlich keine autonome Wissenschaft der Soziologie vorgesehen ist.

5.1.2 Diskurs der Gesellschaftspolitik – Engagierte sozial-ingenieuriale Rechtssoziologie

Als zweite Ausprägung eines hierarchischen Interdisziplinaritätsmodells bestimmt ein Diskurs der Rechtssoziologie als Gesellschaftspolitik die Entwicklung seit den 1960er Jahren. Er lässt sich mit dem Begriff der „Rechtssoziologie als engagierte Wissenschaft“ kennzeichnen und verbindet ein sozial-ingenieuriales Verständnis der Rechtssoziologie, das in mancher Hinsicht in der Tradition der sociological jurisprudence steht, mit einem gesellschaftskritischen Impetus, der bis weit hinein in die Konzepte einer „Rechtwissenschaft als Sozialwissenschaft“ reicht. Den Begriff des Rechtssoziologen als social engineer hatte bereits Roscoe Pound (Pound 1923, 152) geprägt. Der Diskurs der 1960er und 1970er Jahre propagiert, so Bender (1994, 124) den „neuen Juristen“ als Sozialingenieur und dominiert weite Bereiche der Rechtssoziologie in jener Zeit. Er steht nicht in scharfem Kontrast zur Rechtstatsachenforschung, sondern entwickelt sich koevolutionär mit dieser und in gewisser Weise aus ihr heraus. Im Unterschied zu letzterer entfaltet er in seiner zugespitzten Form ein Modell gesellschaftspolitischer Dominanz, das schließlich in einen reflexionstheoretischen Gegensatz zur Rechtstatsachenforschung mündet. Der gesellschaftspolitische Diskurs der engagierten Rechtssoziologie hat mindestens vier Ausprägungen, nämlich erstens die Forderung nach politischer Unterstützung der Rechtssoziologie, zweitens das Programm einer Reform der Justiz und der Juristenausbildung, drittens einer weitgehenden Versozialwissenschaftlichung der Jurisprudenz und der Rechtspraxis sowie viertens die Vorstellung vom Rechtssoziologen als engagiertem Sozialingenieur. Etliche Merkmale des Fusionsdiskurses in Lautmanns Sinne (vgl. oben) lassen sich auf der inhaltlichen Ebene wieder erkennen; strukturell weist der gesellschaftspolitische Diskurs aber über die Wissenschaftspolitik hinausgehende reflexionstheoretische Implikationen auf.

5.1.2.1 Forderung nach politischer Unterstützung

Forderungen nach politischer Unterstützung der Rechtssoziologie werden damals angesichts der „hitzigen Hochkonjunktur der Reformära“ (Bender 1994, 112) öffentlich erhoben. Die Notwendigkeit der Förderung rechtssoziologischer Forschung durch die Politik ergebe sich, so Kaupen, aus der „Nachfrage nach Ergebnissen empirischer rechtssoziologischer Forschung als Hilfsmittel bei der Setzung, Interpretation, Organisation und Anwendung von Recht als Mittel der sozialen Steuerung in der modernen Gesellschaft“ (Kaupen 1983, 180). Die damalige Lage sei durch individuelle Forschungsansätze einzelner Personen gekennzeichnet, die sich meist auf die Rezeption angelsächsischer Forschung beschränkten und kaum über theoretische und methodische Kenntnisse verfügten, insbesondere dort, „wo Rechtswissenschaftler Interesse an der Rechtssoziologie entwickeln, ohne über die Grundlagen der allgemeinen Soziologie unterrichtet zu sein. Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit wird, vor allem durch ausgeprägte wissenschaftstheoretische Gegensätze erschwert.“ (ebd.,181, Hervorh. i. O.). Abhilfe verspreche ein von der Justizministerkonferenz getragener Aufbau eines zentralen rechtssoziologischen Forschungszentrums. Dieses solle drei Abteilungen in sich vereinen, die der Information und Dokumentation, der rechtssoziologischen Didaktik und rechtssoziologischer Forschung gewidmet sind. Die Didaktik gilt der „juristischen Aus- oder Fortbildung“ und damit der verstärkten „Einbeziehung soziologischer Kenntnisse in die juristische Ausbildung“ (ebd., 182). In der Forschung solle „der Bezug zur Rechtspraxis im Vordergrund stehen“ (ebd.). Das Zentrum könne zur „dringend notwendigen Annäherung von Rechts- und Sozialwissenschaften beitragen.“ (ebd.) Die Überlegungen laufen also auf Gesellschaftssteuerung durch Recht unter Einsatz soziologischer Instrumente hinaus. Sie bieten damit noch eine gewisse Ergänzung zu einem juristischen Praxisdiskurs (vgl. Raiser: „rationale Rechtspolitik“), der an einen soziologischen Praxisdiskurs (Steuerung) anschließt. Das gelingt freilich nur, solange die Berufung auf die „Grundlagen der allgemeinen Soziologie“ unscharf bleibt. Auch in dieser reflexionstheoretischen Position geht die wissenschaftliche Autonomie der Soziologie verloren.

5.1.2.2 Der „neue Jurist“

Aus dem Ruf nach Unterstützung wird ein Programm der umfassenden Reform. Raiser nennt in seiner Hamburger Antrittsvorlesung 1970 die Berufs- beziehungsweise Richtersoziologie sowie die Rechtstatsachenforschung als wesentliche Arbeitsgebiete der Rechtssoziologie (Raiser 2011, 117–132). „Rationale Rechtspolitik“, so argumentiert er (ebd., 126), brauche „empirische Sozialforschung“. Das ist ganz im Geiste der Planungs- und Steuerungseuphorie der 60er Jahre gedacht und spiegelt auch den in der Soziologie stilprägenden Gestus der Gesellschaftsreform wider, allerdings ohne auf die in der Soziologie damals diskutierten Theorieangebote einzugehen. Bender spricht vom „Modernisierungsdreieck“ aus Planungseuphorie, Ausbildungsreform und großen Paradigmen, innerhalb dessen sich die Rechtssoziologie als engagierte Wissenschaft entwickelte (Bender 1994, 126). Insofern gibt es jedenfalls für eine kurze Zeit ein begrenztes gemeinsames Projekt einer „Rechtssoziologie“, das von einer speziellen soziologischen Orientierung und einer damals in der Jurisprudenz spürbaren Anknüpfung an freirechtliche und verwandte Rechtstheorien profitiert. Man könnte sagen: In der Rechtstheorie bildet sich ein dogmatisch-systematisch integrierter Diskurs, der die Umwelt als instrumentell einbaute. Der Diskurs entfaltet – seit Kantorowicz und jedenfalls bis zu Raisers Antrittsvorlesung 1970 – eine spürbare Wirkung mindestens am Rande der damaligen Rechtstheorie. Ähnlich wie Kantorowicz sieht Raiser den Eigenwert der Soziologie, nämlich als „Theorie“ und „Kritik“. Wie jener bietet auch er kein reflexionstheoretisches Konzept an. Insofern gibt es in dieser kritischen Phase für eine erstarkende Rechtssoziologie auf Seiten der Jurisprudenz einen Anknüpfungspunkt, der jedoch nicht mit einer integrativen Reflexionstheorie verbunden ist und die Soziologie nur akzeptiert, solange sie gleichsam im „Außen“ verharrt.

Der über Raisers Position noch hinaus gehende Gedanke des „neuen Juristen“ wurzelt in justizkritischen Schriften der 1960er Jahre. Neben Dahrendorfs justizsoziologischen Arbeiten beeinflusst vor allem Wolfgang Kaupens „Die Hüter von Recht und Ordnung“ die junge Rechtssoziologie (Kaupen 1969, siehe auch Apitzsch und Vogel 2021). Kaupen war seit 1967 am Institut für Mittelstandsforschung unter der Leitung von René König tätig. Lautmann würdigt Kaupens justizkritische Schriften allgemein als wesentlichen Beitrag zu und Meilenstein auf dem Weg zu einer neuen Generation von Juristinnen und Juristen, die als „Garanten der Demokratie und Verkünder sozialstaatlicher Responsivität“ wirken (Lautmann 2002, 44). Zusammen mit König formuliert Kaupen das Programm einer Rechtssoziologie, „die sich absichtlich nicht in die Rechtswissenschaft einmischt … So soll also unter der Bezeichnung Rechtssoziologie nicht etwa eine soziologische Rechtstheorie, sondern eine Soziologie des Rechtswesens entwickelt werden, die zentral an den Rechtsberufen ansetzt“ (König und Kaupen 1967, 362). Der Aufsatz schwankt zwischen Parsonianischem Strukturfunktionalismus und an Dahrendorf orientierter Herrschaftskritik. Mit letzterer bereitet der Text die Rechtssoziologie der späten sechziger und der siebziger Jahre vor, wie Lautmann betont (Lautmann 2002, 43). Zugleich vertritt Kaupen aber, so Lautmann, eine „dritte Position“ zwischen den damals dominanten Polen der rechtssoziologischen Debatte, Luhmann und Habermas (ebd., 47), indem er strukturfunktional und kritisch zugleich zu sein versucht. Hier kommt der zentrale Aspekt des gesellschaftspolitischen Diskurses zum Vorschien. Der „neue Jurist“ als Sozialingenieur, so die damalige Vermutung, sei in der Lage, Folgenexpertise zu entwickeln und damit dem Ideal der sociological jurisprudence wieder näher zu kommen und wissenschaftlich fundierte Gesellschaftsgestaltung mit dem Mittel des Rechts zu ermöglichen.

Statt auf staatliche Unterstützung konzentriert sich die Debatte also auf das Programm einer weitreichenden Justizreform. Aus der rationalen Rechtspolitik, deren Ziel eine vom technokratischen Geist der 1960er Jahre geprägte Optimierung gesellschaftlicher Steuerung durch Recht war, entwickelt sich mehr und mehr eine gesellschaftspolitische Debatte über den Stellenwert des Rechts, dem aus kritischer Perspektive seine enge Verbindung zu gesellschaftlichen Herrschaftsstrukturen vorgeworfen wird. Nachdem zunächst lediglich eine Form juristischer „Folgenexpertise“ (Bender 1994, 123) als Reformziel ausgegeben wurde (Teubner 1995; vgl. auch Paas 2021), tritt die Forderung nach einem grundsätzlich neuen Verständnis der Rolle des Rechts als Instrument grundlegender Gesellschaftskritik in den Vordergrund. Weithin rezipierter und namhafter Repräsentant dieser Stimmen ist auf juristischer Seite Rudolf Wiethölter. Er begreift Rechtswissenschaft als „Demokratie-Wissenschaft“ (Lautmann 2022, 19), die selbst eine Form des Politischen darstelle (Wiethölter 1968, ders. Stellungnahme auf der Loccumer Tagung, Loccumer Arbeitskreis 1970, 25–41, 38, vgl. ders. 1984).

Zur Durchsetzung dieses Programms dient insbesondere die Richter- bzw. Justizsoziologie, etwa in dem vom Loccumer Arbeitskreis (1970) veröffentlichten Memorandum. Alfred Rinken (in ders. 1973, 11–36) formuliert diese Position insbesondere in ihren wissenschaftstheoretischen Implikationen sehr prägnant wie folgt: „Eine als Sozialwissenschaft konzipierte Rechtswissenschaft löst sich von dem Verständnis des Rechts als ‚spezifisch juristischer‘ Wesenheit und begreift das Recht nach Inhalt und Form in seiner konkreten gesellschaftlichen Bedingtheit. … In den Vordergrund rechtswissenschaftlichen Interesses rückt die kritische Selbstreflexion, in der Rechtswissenschaft sich als Sozialwissenschaft über die Grenzen ihrer Dogmatik aufklärt, die jede Rechts‚anwendung‘ mitbestimmenden erkenntnisleitenden Interessen aufdeckt, die historischen, politischen, sozialen und ökonomischen Voraussetzungen und Folgen rechtlicher Regelungen berücksichtigt und so die wirklichen Gründe der juristischen Argumentation und Entscheidung offenlegt.“ (ebd., 21) Die mit der Experimentierklausel im Deutschen Richtergesetz 1971 eingeführte, Mitte der 1980er Jahre auslaufende, in Einzelfällen (Hamburg) aber bis Ende der 1990er Jahre praktizierte einphasige Juristenausbildung verkörpert die institutionelle Seite dieser sozialwissenschaftlichen „Suprematie“ (Lautmann 2021, 21; rückblickend Kühling 1997; Rottleuthner 1998). Die Rechtswissenschaft wird in diesem Modell als „Teil einer Einheit der Sozialwissenschaften“ verstanden (Voegeli 1979, 140) oder gar radikal neu definiert, wie Lautmann berichtet, nämlich in der Forderung: „Die soziale Kaste der Juristen muß aussterben.“ (Lautmann 2021, 22).

Wir erkennen hier einen Diskurstyp der Versozialwissenschaftlichung der Jurisprudenz. In einem Einheitskonzept ähnlich demjenigen Ehrlichs wird die Rechtswissenschaft der Autonomie der Soziologie nachgeordnet, wobei freilich die interne Kopplung von normativen und empirischen Erkenntnissen unklar bleibt. Gleichzeitig wird Soziologie nicht als autonome Form von Wissenschaft vorgestellt, sondern als Mittel der Gesellschaftskritik. Sie wird damit – diesmal gegenläufig zur Vereinnahmung durch die Rechtstatsachenforschung – zu politischen Zwecken instrumentalisiert.

5.1.2.3 Versozialwissenschaftlichung der Jurisprudenz

Es gibt seinerzeit aber auch soziologische Stimmen, die sich dem Gedanken des „neuen Juristen“ anschließen. Zu diesen zählt insbesondere und in charakteristischer Weise Hubert Rottleuthners „Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft“ (Rottleuthner 1973 (a)). Der Band verficht einen sehr weitreichenden reflexionstheoretischen Anspruch. Dieser erinnert in Vielem an die Situation im Jahr 1910, wie sie Haferkamp beschrieben hat. Schon damals mehrten sich Stimmen, „die rechtsdogmatische[s] Arbeiten generell verwerfen und durch eine sozialwissenschaftliche Rechtsfindung ersetzen wollen“ (Haferkamp 2021, 227). Auch 1973 geht es „nicht um mehr Interdisziplinarität, sondern um die Institutionalisierung eines neuen wissenschaftlichen Verständnisses von Rechtswissenschaft“ (Rottleuthner 1973 (a), 7) und damit explizit um das weiter gesteckte Ziel einer Veränderung des juristischen Alltags. Das bedeutet vor allem, die Rechtswissenschaft solle eine Theorie staatlicher Aktivitäten und eine Theorie der praktischen Argumentation liefern und außerdem eine Sozialisationsfunktion für das Personal erfüllen. Diese Aufgaben dürften nicht an die Rechtssoziologie oder die Rechtstheorie abgeschoben werden. „In der Rechtspraxis selbst können die Sozialwissenschaften nicht nur als empirische Hilfsdisziplinen dienen; sie führten vielmehr zu deren kritischer Umstrukturierung“ (ebd., 9). Die angestrebte Veränderung der Jurisprudenz obliege also den Sozialwissenschaften. Damit wird ein neues wissenschaftliches Verständnis sowohl der Rechts- als auch der Sozialwissenschaften etabliert, das als solches eine „ideologiekritische“ Aufgabe zu erfüllen habe (ebd., 11). Ziel sei es, den „Schein“ einer autonomen juristischen Kommunikation durch eine „sozialwissenschaftliche Umstrukturierung der Argumentationspraxis“ aufzulösen. Juristische Praktiker könnten sich dann, so Rottleuthner, „nicht mehr zur Legitimierung ihrer Praxis darauf berufen, daß sie ans Gesetz gebunden seien und daß sie doch mit den Mitteln der juristischen Methodenlehre arbeiteten.“ (ebd.) Der Text verweist auf den politischen Charakter des Rechts, der durch juristische Semantik verschleiert werde und zielt auf die Dekonstruktion juristischer „Ideologien“ (ebd., 12). Mit Blick auf die Reform des juristischen Studiums wird die häufig geforderte Orientierung an den Bedürfnissen der juristischen Praxis problematisiert, da die Bedürfnisse der Praxis unklar, historischem Wandel unterworfen und ihrerseits nicht ideologiefrei seien (ebd., 22). Deshalb, so Rottleuthner, müsse zunächst das Augenmerk auf die wissenschaftliche Seite der Jurisprudenz gerichtet werden. Dort müsse von Anfang an eine „Herausführung aus dem juristischen Denken“ geleistet werden (ebd., 23, Hervorh. von mir), bevor die Ausbildung in juristischen Details beginne. Typische juristische „Leitbilder“ seien zu überwinden. Solche Leitbilder – das des „devoten Gesetzespriesters“ (ebd., 25 ff.), des „charismatischen Gesetzespriesters“ (ebd., 33 ff.), aber auch des Juristen als Sozialingenieurs (im Sinne rationaler Rechtspolitik) –, so Rottleuthner, kompensierten als „Fixsterne im pluralistischen Chaos … zum Schein eine Ich-Schwäche, indem sie Orientierungskraft vorgaukeln“ (ebd., 41). In der Ausbildungsreformdebatte schnitten sie überdies theoretische Überlegungen ab, indem sie an die Stelle empirischer Berufsfeldforschung Bekenntnisse setzten (ebd.).

Gegen den antizipierten Haupteinwand (etwa von Naucke 1972), soziologische Analysen seien für die juristische Praxis irrelevant, hält der Text an der Versozialwissenschaftlichung der Jurisprudenz mit folgenden Argumenten fest: „richtige Entscheidungen hängen von den richtigen Attitüden ab“ (Rottleuthner 1973 (a), 169, Hervorh. von mir, A.B.). „Die Rechtswissenschaft könnte sich in dem Maß als Sozialwissenschaft verstehen, in dem sie erkennt, daß richtige Praxis nicht allein durch Normen und deren ‚richtiger‘ Exegese hergestellt werden kann, sondern durch ‚richtige‘ Einstellungen und soziale Verhältnisse, in denen sie zur Geltung kommen kann.“ (ebd., 174 f., Hervorh. von mir, A.B.). Demgegenüber sollen, so Rottleuthner, die Sozialwissenschaften in Zukunft die Art der Rechtfertigung (d. h. der richterlichen Argumentation) „bestimmen“ (ebd., 207.), nämlich im Sinne des Offenlegens erwünschter sozialer Zustände in der juristischen Argumentation.

Rottleuthner argumentiert unter anderem gegen Kelsen. Den Gesichtspunkt der Differenz von Sein und Sollen kontert er mit dem Vorwurf an Kelsen, nicht aus der Bewusstseinsphilosophie heraus den Weg zur Sprachphilosophie gefunden zu haben (ebd., 250). Deshalb missverstehe er Soziologie als Kausalwissenschaft und unterschlage den sinnverstehenden Zugang derselben (ebd.) Dem von Kelsen behaupteten naturalistischen Fehlschluss liege kein „formallogischer“ Fehler, sondern ein Definitionsfehler im Untersatz des Syllogismus zugrunde (ebd., 251). Searle habe die deduktive Ableitbarkeit von normativen aus deskriptiven Aussagen gezeigt (ebd., 253). Wenn sich nachweisen ließe, so Rottleuthner, dass Juristen fortwährend auf empirische „Argumentations-Instanzen“ zurückgreifen müssten, dann wäre juristische Begründungsarbeit per se immer schon „synkretistisch“ (ebd., 254).

Ob sich diese Argumente halten lassen, kann man bezweifeln. Zum ersten blendet der Text den Umstand aus, dass die konstitutiven Sprechakte ihre Normativität selbst aus der impliziten Inanspruchnahme normativer Prämissen („Versprechen müssen eingehalten werden“, pacta sunt servanda) beziehen. Zum zweiten wird man einwenden, dass der Synkretismus in keiner Weise gegen die Differenzierung von Wissensformen und Erkenntnisweisen spricht. Dass Soll-Sätze auf einen (dann empirisch beschreibbaren) Objektbereich referieren, kann ja nicht als Einwand gegen die spezifische Qualität von Soll-Sätzen (kontrafaktisches Erwarten) herangezogen werden. Dass sich die Produzenten von Soll-Sätzen bei der Beschreibung (Bezeichnung und Unterscheidung) des Weltausschnitts, auf den sie sich je konkret beziehen, im Zweifel von Erfahrungswissenschaften empirisches Wissen besorgen, ändert nichts an der Qualität der auf dieser Basis produzierten Soll-Sätze. Ob das empirische beobachtbare Ansichnehmen eines Gegenstandes rechtlich einen Diebstahl darstellt, entzieht sich der erfahrungswissenschaftlichen Erkenntnis. Rottleuthner wirft Kelsen im Ergebnis vor, dessen „Beschränkung aufs Logische verkenn[e] die ‚Logik‘ der Rechtswissenschaft“ (ebd., 255), also den erwähnten Synkretismus. Aber genau das ist, wie gesagt, kein Argument gegen den Vorwurf des naturalistischen Fehlschlusses.

Insgesamt sind einige von Rottleuthners Argumenten aber durchaus plausibel, etwa die Wissenschaftlichkeit des Jurastudiums betreffend. Das gilt im Übrigen auch für das didaktische Programm einer Zusammenarbeit der beiden Disziplinen in der Lehre, wie es etwa in zivilrechtlichen Lehrbüchern der 1970er Jahre bisweilen verfolgt wurde (Paas 2022; siehe dazu auch unten Abschn. 6.2.5). Weitaus weniger vertretbar erscheinen dagegen aus heutiger Sicht die gesellschaftstheoretischen Prämissen und die sozialtechnokratischen Pläne einer Versozialwissenschaftlichung der Jurisprudenz. Das wird beispielsweise deutlich dort, wo Rottleuthner gestützt auf die zuvor behaupteten Unzulänglichkeiten der juristischen Methodenlehre eine Umorientierung der Rechtspraxis auf eine „Normbereichsanalyse“ (Rottleuthner 1973 (a), 263) und auf „Folgediskussion“ in Abwägungsfragen fordert. Man erkennt hier einen technokratischen Aspekt des Versozialwissenschaftlichungs-Diskurses, der neben der Aufklärung der Juristen (Richter) eine klassentheoretisch und psychoanalytisch instruierte Umgestaltung rechtlicher Prozesse (ebd., 265, Stichwort „Verzerrte Kommunikation“) anstrebt. Explizit wird dabei gegen die Ausbildung von Juristen an einer „geschlossenen“ Fakultät und für eine Versozialwissenschaftlichung der Ausbildung argumentiert. Leitbild und Zielvorstellung sind dabei nicht die Autonomie der Rechtskommunikation und dafür spezialisiertes Personal, die im Gegenteil als Ideologie bezeichnet werden (ebd., 267), sondern eine inhaltlich nicht ausbuchstabierte, letztlich vage Utopie.

Auch wenn Rottleuthner selbst den Stellenwert seines Textes heute zu Recht relativiert (Rottleuthner 2017), so bleibt doch für unsere Analyse vor allem dessen reflexionstheoretische Seite aufschlussreich. In dieser Hinsicht nämlich lässt der Text die Art der Rückbindung sozialwissenschaftlichen Wissens an die unterstellte Objektivität gesellschaftspolitischer Präferenzen gänzlich offen. Das Modell beruht zwingend auf der Voraussetzung, dass die Erwünschtheit sozialer Zustände mit normativen Geltungsansprüchen versehen werden kann, die wahrheitsanalog gebaut sind. Insofern wurzelt das gesamte Konzept letztlich, wenn auch unausgesprochen, in der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule. Es rechnet nicht mit gesellschaftlicher Differenzierung, die sich in einem kategorial unaufhebbaren Pluralismus von Zielvorstellungen niederschlägt. Man hat es, das zeigt Rottleuthners Text in sehr anschaulicher und argumentativ anspruchsvoller Manier, mit Vorverständnissen zu tun, die politisch eingeübt, seinerzeit sicherlich im Milieu der Studentenbewegung lebensweltlich verfestigt und im Text dann fortlaufend rhetorisch inszeniert, erzeugt und dargestellt werden. Insofern beobachten wir in Rottleuthners Text das „boundary und „identity work“ einer Rechtssoziologie, die ihren wissenschaftsinternen Geltungsanspruch aus lebenspraktischen Gewissheiten zieht, die sich insbesondere auf kritische Gesellschaftspolitik beziehen. Wir können wir das als Ausdruck einer spezifischen Form von „Versozialwissenschaftlichung“ begreifen. Als Diskurstyp tritt uns in diesem und in verwandten Texten (vgl. auch Rottleuthner 1973 (b)) ein Konzept der Versozialwissenschaftlichung der Jurisprudenz entgegen, welches seine kritische Attitüde gleichsam lebensweltlich immunisiert und der argumentativen Prüfung entzieht, als Reflexionstheorie sowohl der Soziologie als auch des Rechts auftritt, dabei aber die Dominanz politischer Voreinstellungen vorwissenschaftlich verankert und diesen Umstand selbst systematisch ignoriert.

5.1.2.4 Social engineering

Die Verankerung der kritischen Wissenschaft in vorwissenschaftlicher, lebensweltlicher Gewissheit wird insbesondere auch in einem Konzept des Soziologen als engagierten Sozialingenieurs erkennbar. Erhard Blankenburg hat anderthalb Jahrzehnte nach der Umbruchphase in einem rückblickenden Vortrag 1987 am Freiburger Max-Planck-Institut (Blankenburg 1994) diesen politischen Diskurs der Rechtssoziologie auf den Punkt gebracht. Der Text demonstriert die Position eines gesellschaftlich engagierten Wissenschaftlers in ihrer ganzen Ambivalenz. Die Argumentation ist insofern widersprüchlich, als sie erstens das institutionelle Scheitern als Folge mangelnder Praxisrelevanz auf Grund der zurückhaltenden Rezeption empirischer Sozialforschung in der Rechtswissenschaft erklärt, zweitens ein starkes Plädoyer für eine rein autonome wissenschaftliche Beobachtung der Rechtspraxis enthält und drittens beide Forderungen vor dem Hintergrund einer ziemlich starken antitheoretischen Position eines empirischen Soziologen einordnet.

Blankenburg beschreibt Soziologie als wissenschaftliche Disziplin, die vorzugsweise empirische Forschung betreibt. Die deutschen juristischen Fakultäten seien, wie er argumentiert, überwiegend nicht in der Lage, auf die Erkenntnisse der rechtssoziologischen Forschung einzugehen. Diese fehlende Rezeptionsfähigkeit auf Seiten der Rechtswissenschaft sei der Grund für das Scheitern der Rechtssoziologie. „Ich versuche“, so Blankenburg, „dieses Scheitern, eine Disziplin zu institutionalisieren, aus den Bedingungen zu erklären, die sich bei den Abnehmern von rechtssoziologischer Forschung ergeben.“ (ebd., 77). Denn die Rechtssoziologie sei „angewiesen auf die Rezeptionsbereitschaft der Rechtswissenschaftler, zu deren Diskurs sie jedoch einen externen Standpunkt einnimmt“ (ebd., 79, Hervorh. i. O.). „Ohne Anwendungsinteressenten und angewiesen auf die rechtswissenschaftliche Rezeption, bleibt rechtssoziologischer Diskurs eine Metatheorie für Oberseminare“, die sich zu „autopoietischen Orchideenblüten“ (ebd., 79) entwickelt habe. Die Soziologie wird in diesen Passagen in einer selektiven Weise wahrgenommen, nämlich als wissenschaftliche Disziplin, die vorzugsweise empirische Forschung betreibt. Die deutschen juristischen Fakultäten seien dagegen, wie Blankenburg argumentierte, überwiegend geisteswissenschaftlich geprägt und daher „antipragmatisch“ (ebd.). Sie seien daher nicht in der Lage, auf die Erkenntnisse der rechtssoziologischen Forschung einzugehen. Diese fehlende Akzeptanz auf Seiten der Rechtswissenschaft sei der Grund für das Scheitern der Rechtssoziologie. In dieser Analyse spricht der Rechtssoziologe als Social Engineer, als Soziologe, für den die soziologische Beobachtung etwas anderes ist als eine umfassende, systematische Sozialtheorie, sondern vielmehr ein Programm der schrittweisen Gesellschaftsverbesserung durch empirische Daten und rationale Rechtspolitik. Der Begriff „social engineering“ gewann in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren an Aussagekraft, als in Deutschland die sozial-liberale Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt eine Initiative für eine auf „objektiven Daten“ basierende Justizreform startete (Strempel 1998). Eine Reihe von Institutionen nahm die Aufgabe der „rationalen Rechtspolitik“ in Angriff, darunter auch das schon mehrfach erwähnte Referat des Bundesjustizministeriums, mit welchem Blankenburg eine langjährige und enge Zusammenarbeit pflegte.

Im Freiburger Referat von 1987 findet sich aber auch eine auffällige Verbindung zwischen dieser sozialtechnischen Position einerseits und einer Art proto-theoretischer Wertorientierung andererseits. Proto-theoretisch beziehungsweise vorwissenschaftlich ist diese, weil sie auf lebensweltlicher Basis, pragmatischer Gewissheit und nicht auf wissenschaftlicher Reflexion beruht. Insofern geht sie mit der zuvor erwähnten distanzierten Position gegenüber einer allgemeinen soziologischen Theorie einher. Sie ähnelt darin in gewisser Weise den Critical Legal Studies, die mit der Ablehnung soziologischer Theorie in den USA seit den 1970er Jahren sehr viel Einfluss gewinnen, inhaltlich aber mehr einer Protestbewegung als einem wissenschaftlichen Diskurs gleichen (siehe auch Frankenberg 2006). Zugleich bleibt aber das Spannungsverhältnis zwischen den beiden Aspekten – Social Engineering einerseits und normative Orientierung andererseits – in Blankenburgs Text ungelöst. Er endet mit der bloßen Forderung nach beiden Seiten, nach einem „wissenschaftlichen Impuls des Infragestellens und der Theoriebildung“ (Blankenburg 1994, 82) und nach einer „kritischen Distanz gegenüber der Praxis“ (ebd.). Die Rechtssoziologie kann nur eine „externe Beobachtung“ leisten … „ihr methodischer Ansatzpunkt muß sein, das Recht und sein (sic!) Betrieb von außen anzuschauen … Die Daueraufgabe der Kritik zu institutionalisieren, kann nicht auf der Basis rein anwendungsorientierter Forschungsinteressen geschehen. Hierzu braucht es eine Autonomie wissenschaftlicher Institutionen, die Forschungsfragestellungen auch nach ihrer inneren Logik entwickeln können.“ (ebd., 83, Hervorh. von mir, A.B.) Dies ist aus wissenschaftssoziologischer Sicht eine höchst bemerkenswerte Beschreibung, denn Blankenburg spricht von wissenschaftlichen Institutionen, die Forschungsfragen entwickeln, nicht von einer autonomen Wissenschaft in Form einer soziologischen Theorie, die Fragen formuliert und begründet und so der Forschung Orientierung bietet. Relevante Fragen gehen demnach von Institutionen und deren „innerer Logik“ aus. Letztlich werden sie nur durch die organisatorische Autorschaft und so mittelbar durch die Authentizität lebensweltlicher Intuitionen begründet. Die Vorstellung inhaltlicher, also theoretischer Legitimation und damit einer autonomen Wissenschaft bleibt ausgeblendet. Man kann deshalb diese Kombination den Diskurs einer engagierten, sozial-ingenieurialen Soziologie nennen, weil sie beide Seiten umfasst, nämlich eine angewandte praxisrelevante Forschung und deren lebensweltliche Einbindung in eine Form impliziter Wissenschaftssoziologie. Gesellschaftskritik ist in diesem Diskurs als unthematisierbarer Referenzrahmen gesetzt, Soziologie dient zu deren Verwirklichung.

Die Tragik einer solchen Rechtssoziologie besteht darin, dass sie alle Angebote soziologischer Gesellschaftstheorien ins Leere laufen lässt, die gerade in den Boomzeiten der Rechtssoziologie um 1970 entstanden waren und deren empirisches und praktisches Potenzial brach liegen lässt. Freilich: Indem er diese Chance verpasst, bewegt sich der Diskurs der engagierten Rechtssoziologie zweifellos mitten im (rechts-)soziologischen Mainstream. Der künftige Preis für dieses soziologische Desinteresse könnte allerdings im schlimmsten Fall das völlige Verschwinden kleiner wissenschaftlicher Felder wie der Rechtssoziologie sein.

Im Aspekt der engagierten Rechtssoziologie scheitert die Soziologie als Reflexionstheorie also an sich selbst. Sie wird in diesem Diskurs nicht als systematisches Theorieprogramm aufgefasst, sondern als ein Forschungsprogramm zur inkrementellen Gesellschaftsverbesserung durch empirische Daten und rationale Rechtspolitik. Um den dabei notwendigerweise a priori unterstellten Bedarf an Gesellschaftskritik zu begründen, bedarf es einer Verbindung zwischen der sozialtechnokratischen Position einerseits und einer Art proto-theoretischer Wertorientierung andererseits. Was vorzugs- bzw. kritikwürdig ist, versteht sich gewissermaßen von selbst, bildet ein in der politischen Praxis verankertes Apriori und beruht zugleich auf der zuvor erwähnten distanzierten Haltung gegenüber einer anspruchsvollen soziologischen Theorie. Diese Kombination bezeichnen wir als Diskurs der engagierten Wissenschaft, weil sie eine angewandte praxisrelevante Forschung und die lebensweltliche Einbindung politischer Präferenzen amalgamiert, die als „Gesellschaftskritik“ die Forschung anleiten.

In allen seinen Aspekten repräsentiert das Modell der Versozialwissenschaftlichung als Variante des hilfswissenschaftlichen Diskurses also aus der Perspektive einer soziologischen Reflexionstheorie insgesamt die Hierarchie der Gesellschaftspolitik gegenüber der Autonomie der Wissenschaft. Es ist also in dieser Hinsicht aus der Perspektive der Wissenschaft ein reiner Praxisdiskurs, der als solcher spiegelbildlich zum reinen Autonomiediskurs eine starke Asymmetrie zu Gunsten der Praxis enthält. Dieser Hilfswissenschafts-Diskurs der Soziologie ist in doppelter Hinsicht blind. Zum einen verkennt er die Autonomie der Rechtstheorie als Wissenschaft und damit die Strukturgesetzlichkeiten des Gegenstandsbereiches. Er blendet also als Wissenschaftsdiskurs einen relevanten Teil der Umwelt aus. Insofern bleibt er trotz aller Praxis-Dominanz eben auch mit Blick auf die Umwelt/Praxis halbiert. Zum zweiten ist er blind gegenüber der Autonomie der Soziologie als Wissenschaft. Damit marginalisiert er ironischerweise die Soziologie als Theorie und Reflexion im Inneren. In der letztlich allein lebensweltlich verbürgten Gewissheit, moralisch-politische Orientierung immer schon auf ihrer Seite zu haben, verwandelt sich die engagierte Rechtssoziologie entgegen ihren Absichten letztlich der Rechtstatsachenforschung an, die sie doch zugleich als systemstabilisierend und unsoziologisch kritisiert. Dieser Widerspruch ist durch das Fehlen eines symmetrischen Wissenschaftsmodells, eines Responsivitätsdiskurses mit anderen Worten, erzwungen. Die kritischen Rechtssoziologen finden sich hier unvermittelt auf der Seite der sozialtechnologischen Positivisten der Empirischen Soziologie wieder.

Dieses sozial-ingenieuriale Modell, so kann man im Unterschied zur Rechtstatsachenforschung festhalten, denkt von der Soziologie her, etabliert dort aber einen problematischen, weil in lebensweltlich unhinterfragbarer Gewissheit verankerten Vorrang politischer Präferenzen gegenüber der Wissenschaft – eine erneute Indienstnahme und Instrumentalisierung der Soziologie, wenngleich unter kategorial anderen Vorzeichen.

5.1.3 Diskurs der soziologischen Autonomie

Über eine Rechtssoziologie, die sich auch gegenüber der Rechtswissenschaft ausdifferenziert und darin ihre Autonomie gewinnt, haben wir bereits ausführlich gesprochen. Dass eine so verstandene Rechtssoziologie gegenüber den beiden bisher skizzierten Reflexionsdiskursen auf Distanz geht, kann vor diesem Hintergrund kaum überraschen. Schon Schelsky kritisierte den gesellschaftspolitischen Diskurs der engagierten Rechtssoziologie scharf als „bisher ungeschminktesten und zerstörerischsten Angriff auf die juridische Rationalität“ (Schelsky 1980, 63). Vor allem die politische Polarisierung, die in den verschiedenen Ausbildungsreformen ihren Niederschlag gefunden habe, berge die Gefahr einer vollständigen Auflösung der juristischen Gesetzesbindung. Kritische Reflexion werde in die Anfangssemester des Studiums verlegt, ohne grundlegende Kenntnisse des Rechts. In diesen Reformvorhaben werde ein „gutes Vorhaben“, nämlich die Einbeziehung soziologischen Wissens und ein starker Praxisbezug, „durch eine ideologische Täuschung vereitelt“ (Schelsky 1980 (a), 212). Die empirische Rechtssoziologie, die seinerzeit fast ausschließlich Juristensoziologie und „Klassenjustiz“ sei, münde in reine Diffamierung (ebd., 213). Dieser Widerspruch Schelskys betraf nicht nur die Juristenausbildung, sondern die zeitgenössische Rechtssoziologie insgesamt, die komplementär zur versozialwissenschaftlichten Jurisprudenz ein Modell sozial-ingenieurialer, engagierter Wissenschaft entwickelte. Ähnliche Bedenken formulierten auch andere, wenngleich mit deutlichem politisch-konservativem Impetus (Heldrich 1974; vgl. dazu Lautmann 2021).

Ein erhellendes Beispiel für die Argumente des Diskurses soziologischer Autonomie gegen die Versozialwissenschaftlichung der Jurisprudenz bietet eine kurze Debatte zwischen Schelsky und einer Gruppe junger Rechtssoziologen im Jahr 1972. Ein kleiner Text von Erhard Blankenburg, Wolfgang Kaupen, Rüdiger Lautmann und Frank Rotter (Blankenburg et al. 1972) ist von Interesse, weil er gleichsam unter dem Brennglas den damaligen sozial-ingenieurialen, gesellschaftskritischen Habitus sichtbar macht. Ursprünglich als Beitrag zu einer rechtssoziologischen Arbeitstagung im Juni 1971 am Zentrum für interdisziplinäre Forschung in Rheda verfasst, erscheint der Text im dritten Band des Jahrbuchs für Rechtssoziologie und Rechtstheorie. Während die Tagung dem Thema „Sozialisation und sozialer Wandel durch Recht“ gewidmet war, beschränkt sich das Jahrbuch auf die Frage der Effektivität, das heißt des Einflusses von Recht auf soziale Strukturen aller Art. Dabei sind erkennbar bereits die theoretischen Prämissen umstritten: Soll man Effektivität als Ausdruck der Durchsetzungschancen und -mittel jeweils existierender Rechtsordnungen verstehen oder als Voraussetzung gesellschaftlich notwendigen Wandels durch Recht? Vor diesem Hintergrund wird ein latenter Zwiespalt in den Beiträgen sichtbar, der sich in den wechselseitigen methodologischen Anwürfen am Ende des Bandes manifestiert.

Blankenburg, Kaupen, Lautmann und Rotter bemängeln in ihrem Beitrag eingangs das „unterschiedliche Niveau methodologischer und theoretischer Grundlagen“, also nicht unterschiedliche Prämissen oder Paradigmen, sondern die methodischen Standards, welche die Schwierigkeiten interdisziplinärer Kommunikation „kaum überbrückbar“ machen (ebd., 600). Die Evidenz von Argumenten hänge an Methoden, die sich in dem Grad unterscheiden, „zu dem sie intersubjektive Nachprüfungen ermöglichen und fordern“ (ebd.). Die Rechtssoziologie, soweit sie in der rechtsphilosophischen Tradition stehe, habe, da an normativen Fragen orientiert, bislang ein „niedriges Evidenzniveau“. Die Argumentation wendet sich dann gegen die Allgemeinheit rechtsphilosophischer Aussagen, die gegen empirische Evidenz ebenso immun sei, wie die Interpretation von historischen Einzelfällen. Als Grenzfall wird die soziologische Systemtheorie akzeptiert, da sie immerhin die Generierung empirisch überprüfbarer Aussagen zulasse. Überdies müsse die theoretische Relevanz aller Befunde am „Entwicklungsstand der Sozialwissenschaften“ gemessen werden (ebd., 601). Interdisziplinäre Arbeit erfordere die „Präzisierung von Begriffen und wissenschaftstheoretischen Grundlagen“ in diesem Sinne. Hier sei angesichts der Machtaffinität von „Recht und Jurisprudenz“ besonders kritisches Bewusstsein bei der „Auswahl des Forschungsgegenstandes und bei der Formulierung der Aussagensysteme“ erforderlich. Die Gefahr liege im Rekurs auf „juristisches Selbstverständnis und damit vorgegebene, unreflektierte Wertentscheidungen“ (ebd.). Das gelte insbesondere für die Identifikation mit Ordnungsvorstellungen. „Hier wird die Forschung über Effektivität des Rechts zur Produktion von Herrschaftswissen“ (ebd.). Deshalb müssten politische Implikationen von Fragestellung und Forschung diskutiert werden. Rechtssoziologie könne sich selbstverständlich nicht in ein „statisches Ordnungsdenken“ einfügen lassen. Die zentrale Frage sei vielmehr, wie Recht als Mittel sozialer Veränderung eingesetzt werden könne (ebd., 602). Kurz gesagt, enthält das Papier das folgende Argument: Empirisch-quantitative Sozialforschung auf der Basis gesellschaftskritischer bzw. -verändernder Beschreibung der Gesellschaft gilt als objektiver soziologischer Standard, an dem sich die interdisziplinäre Kommunikation der Rechtssoziologie zu orientieren hat. Als Diskurstyp kristallisiert sich die bekannte Position engagierter Wissenschaft auf empirischer Basis heraus, innerhalb derer sich die Berechtigung von Gesellschaftskritik aus lebensweltlicher, wissenschaftlich nicht weiter begründeter Gewissheit speist.

Schelsky (1972, 603–611) greift die kritischen Rechtssoziologen scharf an und widerlegt deren drei Kernaussagen. Gegen die Hypostasierung des empirisch-analytischen Paradigmas und statistischer Methoden in der Soziologie als höchstes Evidenzniveau aller Wissenschaften insistiert er erstens auf dem methodologischen Eigenrecht hermeneutischer, sinnrekonstruktiver Verfahren (ebd., 605). Er charakterisiert das als Forderung nach einer fiktiven Einheitswissenschaft, die den wissenschaftlichen Herrschaftsanspruch einer kleinen Gruppe innerhalb der Soziologie deutlich mache und wirft seinen Gegnern einen Rückzug der interdisziplinären Debatte aus der Sache in die Methode vor, den Habermas im Positivismusstreit schon als Austrocknen der wissenschaftlichen Kommunikation kritisiert habe (ebd., 606). Die kritischen Rechtssoziologen finden sich auf der Seite der sozialtechnologischen Positivisten wieder. Das rechtfertigt unter anderem die Bezeichnung dieser Position als sozial-ingenieurial.

Zweitens, so Schelsky, hypostasierten Blankenburg et al. die Theorie der Gesellschaft als Kriterium des Entwicklungsstandes von Sozialwissenschaft überhaupt (ebd., 607). Demgegenüber weist er dem Papier allerlei umstrittene theoretische Prämissen über Wesen und Funktion des Rechts nach und betont den soziologischen Theoriepluralismus, der nicht ex cathedra einseitig zu Gunsten eines im Übrigen keineswegs unumstrittenen Paradigmas aufgelöst werden könne.

Drittens wendet er sich gegen den Versuch, die diesen Standards nicht entsprechenden Diskussionsteilnehmer als Produzenten von Herrschaftswissen aus der Wissenschaft zu eskamotieren. Dabei teilt er ausdrücklich die Forderung nach kritischer Reflexion politischer Implikationen wissenschaftlicher Fragen, wirft den Autoren allerdings vor, sie selbst unterwürfen sich diesem Postulat nicht, sondern hypostasierten vielmehr eine ungeprüfte gesellschaftspolitische Prämisse, nämlich diejenige der Systemveränderung. Die klischeehafte Charakterisierung anderer Beiträge als Produktion von Herrschaftswissen laufe zu sehr auf Justizsoziologie hinaus und übersehe, dass Recht und Justiz grundlegendere gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen zum Ausdruck brächten. Die Autoren betrieben insofern eine „Rechtssoziologie ohne Recht“ (ebd., 609). Die Kritik an den Juristen sei gesinnungshaft und münde in eine „Diffamierungssoziologie von Recht und Juristen“ (ebd., 610). „Es kann zu keiner Kooperation der beiden Wissenschaften kommen, wenn man die Lage mit der arroganten Formel einer ‚Soziologie vor den Toren der Jurisprudenz‘ bestimmen will; es wäre viel leichter nachweisbar, daß die ‚Tore der Soziologie‘ gegenüber Einsichten, was das Wesen des Rechts ist, heute und seit Generationen viel vernagelter sind, als eine unkritische Soziologie fähig und bereit ist, sich einzugestehen.“ (ebd., 611)

Mit Schelskys Position in Rheda ist also eine soziologische Abgrenzung gegenüber der engagierten, sozial-ingenieurialen Rechtssoziologie bereits öffentlich deutlich geworden. Bezeichnend ist vielleicht, dass Luhmann, dessen reflexionstheoretischen Autonomie-Diskurs wir ausführlich beschrieben haben, im Unterschied zu Schelsky damals nicht eingreift. Eher indirekt äußert er sich in „Rechtssystem und Rechtsdogmatik“ (Luhmann 1974) zur engagierten Rechtssoziologie. Auch dort orientiert sich freilich die Fragenstellung am Modell der Rezeption, der „Berücksichtigung der Sozialwissenschaften in der Jurisprudenz“ (ebd., 7). Luhmann argumentiert damals gegen die im Kontext der engagierten Rechtssoziologie propagierte „Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft“ sowie gegen die Folgenorientierung rechtlichen Entscheidens. Erforderlich sind, so Luhmann, „gesellschaftsadäquate Rechtsbegriffe“. Der Begriff dient ihm, wie wir in Kap. 4 gesehen haben, als die zentrale Problemformel für eine angemessene Rezeption auf Seiten der Jurisprudenz. Ob auf der anderen Seite, der Soziologie, eine komplementäre Form der soziologischen Aufmerksamkeit für rechtstheoretische Problemlagen, also so etwas wie „rechtsadäquate Gesellschaftsbegriffe“, mindestens denkbar wäre, bleibt außer Betracht. Klar ist aber, wie wir schon ausführlich diskutiert haben, dass Luhmanns Rechtssoziologie reflexionstheoretisch in starkem Maße auf Autonomie beharrt. Diese Haltung wird seit den 1980er Jahren gewiss auch durch die Wende zur Autopoiesis befördert. Autopoiesis zwingt allerdings nicht zu Hypostasierung von Autonomie, wie Kaldeweys Wissenschaftssoziologie inzwischen zeigt. Wenn Luhmanns soziologische Systemtheorie also mit Blick auf die Rechtssoziologie den Autonomiediskurs in den Vordergrund stellt, ist dies keine notwendige Folge der Theorieentwicklung, sondern eine Entscheidung über reflexionstheoretische Konzepte, die auch anders hätte ausfallen können (ähnlich Kuchler 2006). Die soziologische Systemtheorie hat sich in dieser Weise seit den 1970er Jahren im Ergebnis auf die Autonomie der Wissenschaft in Gestalt der Soziologie konzentriert und das Konzept wissenschaftlicher Praxisdiskurse kaum beachtet, aus dem sich möglicherweise eine stärker symmetrische Reflexionstheorie hätte entwickeln lassen.

Wenn man sich vor diesem Hintergrund die Konfiguration rechtssoziologischer Reflexionsdiskurse ungefähr um die Mitte der 1970er Jahre vor Augen führt, wird unmittelbar einsichtig, in welche Lage die theoretisch anspruchsvolle soziologische Theorie des Rechts geraten ist. Der Diskurs der juristischen Autonomie verficht die Dominanz der Rechtswissenschaft gegenüber der Soziologie. Die engagierte Rechtssoziologie propagiert ein ausgeprägt hierarchisches Denken auf der Grundlage der Dominanz einer lebensweltlich verankerten, unhinterfragten Praxis gegenüber der Autonomie der Soziologie als Wissenschaft und ebenso gegenüber der Rechtswissenschaft. Sie distanziert sich damit vom Gedanken autonomer wissenschaftlicher Kommunikation. Luhmanns systemtheoretische Rechtssoziologie lässt eine fortschreitende Tendenz zur Autonomie der Soziologie erkennen und entwickelt allenfalls eine sehr schwache Form von Responsivität, ohne ausgearbeiteten Praxisdiskurs, mit einer hierarchischen Beziehung der Disziplinen in einem asymmetrischen Rezeptionsmodell. Eine Möglichkeit, diese per se nicht zwingende starre Haltung der Systemtheorie in Sachen responsiver Interdisziplinarität vor dem Hintergrund der hier geschilderten Diskurs-Konfiguration zu verstehen, liegt in der vergleichsweise höheren Attraktivität des Beharrens gegenüber dem Aufwand, der im Zuge der Hinwendung zu Autopoiesis-Konzepten mit der Entfaltung eines responsiven Modells verbunden wäre. Die Systemtheorie reagiert, so die im Folgenden vertretene These, auf ein Trilemma der Reflexionstheorien mit dem Festhalten am hierarchischen Modell.

5.1.4 Reflexionstheoretische Blockade – Wege aus dem Trilemma?

Wir stoßen also in dieser historischen Phase in den Reflexionstheorien der Rechtssoziologie auf drei widerstreitende Diskurse, die sich in ihren Konzepten der Interdisziplinarität wechselseitig ausschließen und damit ein reflexionstheoretischen Trilemma bilden. Die drei Modelle von Interdisziplinarität blockieren sich gegenseitig in mehrfacher Weise: Der Diskurs der juristischen Autonomie funktioniert nur um den Preis der Marginalisierung von Soziologie als autonomer Wissenschaft. Der Diskurs der engagierten kritischen Rechtssoziologie fordert gleichfalls den Preis der Marginalisierung von Soziologie als Wissenschaft gegenüber der Gesellschaftspolitik. Der Diskurs der Soziologie als autonomer Wissenschaft bezahlt den Preis der Marginalisierung seiner Umwelt und der Vernachlässigung eines innerwissenschaftlichen Praxis-Diskurses, welcher in Gestalt der Jurisprudenz als Wissenschaft in einer responsiven Rechtssoziologie hätte mitsprechen können. Jedes der drei Modelle verursacht also Anschlussprobleme in mindestens einem der beiden anderen.

Zur Charakterisierung dieser Konfiguration bietet sich der Begriff des Trilemmas an. Er wird üblicherweise in einer starken Fassung als Formulierung eines wahrheitstheoretischen Problems vertreten, die auf Hans Albert zurückgeht und die erkenntnistheoretische Unmöglichkeit der Letztbegründung wissenschaftlicher Aussagen bezeichnet. Danach muss jede Theorie scheitern, die einen derartigen Anspruch erhebt. „Während der klassische Rationalismus gewisse Instanzen – die Vernunft oder die Sinne – zu epistemologischen Autoritäten erhob und sie dadurch unfehlbar und damit kritikimmun zu machen suchte, weil sonst das Ziel der sicheren Begründung nicht erreichbar erschien, kann der kritische Rationalismus keiner Instanz mehr Unfehlbarkeit und damit das Recht der Dogmatisierung bestimmter Problemlösungen zugestehen. Es gibt weder eine Problemlösung noch eine für die Lösung bestimmter Probleme zuständige Instanz, die notwendigerweise von vornherein der Kritik entzogen sein müsste. Es kann sogar angenommen werden, dass Autoritäten, für die eine solche Kritikimmunität beansprucht wird, nicht selten deshalb auf diese Weise ausgezeichnet werden, weil ihre Problemlösungen wenig Aussicht haben würden, einer sonst möglichen Kritik standzuhalten. Je stärker ein solcher Anspruch betont wird, umso eher scheint der Verdacht gerechtfertigt zu sein, dass hinter diesem Anspruch die Angst vor der Aufdeckung von Irrtümern, das heißt also: die Angst vor der Wahrheit steht.“ (Albert 1991, 44) Versuche einer Letztbegründung führen, so Albert, in ein „Münchhausen“-Trilemma. Sie münden entweder in einen Zirkelschluss, einen infiniten Regress oder in den Abbruch der Begründung durch Dogmatisierung einer Lösung.

Die Debatte über diese Variante und die verschiedentlich daran geübte Kritik soll uns hier nicht weiter interessieren, da wir auf der Grundlage von Alberts Gedanken eine allgemeinere und das heißt schwächere, weniger anspruchsvolle Variante des Trilemma-Begriffs verwenden. Aus der Perspektive eines solchen schwachen Trilemma-Begriffs ist mit dem Terminus lediglich eine unvermeidbare Wahl aus drei Optionen angesprochen, von denen jede sich als inakzeptabel oder ungünstig erweist. Man versteht dann ein Trilemma entweder als unabwendbare Wahl unter drei ungünstigen Optionen oder als Zwang zur Wahl aus drei günstigen Möglichkeiten, von denen höchstens zwei zugleich ausgewählt werden können beziehungsweise unter denen ein Trade-off besteht, also die Präferenz für eine der Optionen die Entscheidung zugunsten mindestens einer der beiden anderen unmöglich macht. Jede Wahlmöglichkeit nimmt Implikationen in Anspruch, die von den einer oder beiden anderen dispräferiert werden und auf deren Kosten gehen.

Gunther Teubner gebraucht den Begriff in diesem eher schwachen Sinne, wenn er im Kontext der Debatte um post-interventionistisches Recht von einem „regulatorischen Trilemma“ spricht und damit eine spezifische Form des Regulierungsversagens im Blick hat. In einer Situation, in welcher die rechtliche Regulierung nicht hinreichend auf die strukturellen Kopplungen zwischen Recht, Politik und Gesellschaft Rücksicht nimmt, stellen sich zwangsläufig drei Formen von Regulierungsversagen ein, nämlich entweder eine „‚Inkongruenz‘ von Recht, Politik und Gesellschaft“, eine „‚Überlegalisierung‘ der Gesellschaft“ oder schließlich eine „‚Übersozialisierung‘ des Rechts“ (Teubner 1984 (a), 128 f.). An anderer Stelle heißt es entsprechend: „Jeder regulatorische Eingriff, der diese Grenze überschreitet, ist entweder irrelevant oder hat desintegrierende Wirkungen für den gesellschaftlichen Lebensbereich oder aber desintegrierende Wirkungen auf das regulatorische Recht selbst zur Folge.“ (Teubner 1984 (b), 316.) Was vordergründig einen gegenstandstheoretischen Bezug hat, erlangt reflexionstheoretische Bedeutung dort, wo Teubner diese regulatorische Krise auf Selbstbeschreibungen des Rechtssystems bezieht, auf „strategische Rechtsmodelle“, wie er sagt (Teubner 1984 (a), 119 ff.). Das Recht beschreibt seine System-Umwelt-Beziehung in Konzepten von Implementation, Reformalisierung und Selbstregulierung. Wenn die Reflexion des Rechts die Besonderheiten struktureller Kopplung der Funktionssysteme missachtet, so Teubner, endet die Regulierung „unvermeidlich in einem Trilemma. Sie führt entweder zu einer ‚Inkongruenz‘ von Recht und Gesellschaft oder zu einer ‚Überlegalisierung‘ der Gesellschaft oder zu einer ‚Überlegalisierung‘ des Rechts.“ (ebd., 126, vgl. auch Calliess 2009, 475 ff.)

Wir verwenden den Begriff in ähnlicher Weise für den Bereich der soziologischen Reflexionstheorien und die konkurrierenden Interdisziplinaritätsdiskurse. Hier lässt sich entsprechend beobachten, dass Konzepte der Interdisziplinarität, welche die Möglichkeit responsiver System-Umwelt-Beziehungen außer Acht lassen, eine Überpolitisierung, Überlegalisierung oder Irrelevanz der Soziologie zur Folge haben. Sie wird zum Vehikel politischer Präferenzen, zur Hilfswissenschaft der Jurisprudenz oder zur praktisch bedeutungslosen Außenbeobachtung. Jede Lösung verursacht, wie oben skizziert, bei den jeweils anderen Diskursen Probleme. Die Blockade zwischen diesen Diskursen entsteht dabei aus der von allen implizierten asymmetrischen Form der Interdisziplinarität. Solange jeder dieser Diskurse seine Umwelt instrumentalisiert, kann er tatsächlich von dieser keine „Rezeption“ erwarten, obwohl alle drei Diskurse genau dies voraussetzen. Hier verstärken sich Hierarchiedenken und Rezeptionsmodell in ihren Effekten. Eine wechselseitige Blockade der Reflexionstheorien ließe sich nur vermeiden, wenn die Juxtaposition von Autonomiediskursen nicht als Rezeptionsproblem, sondern als Anlass für Responsivität gedeutet würde.

Wir haben es also auf allen Seiten des Trilemmas mit Prozessen zunehmender Autonomisierung zu tun, allerdings mit jeweils unterschiedlichen Vorzeichen. Gemeinsam ist ihnen aber die Betonung der Autonomie. Diese geht, solange kein anspruchsvolles Konzept von Responsivität vorliegt, mit der Vorstellung einher, die jeweils externe Kehrseite von Autonomie sei Rezeption durch die jeweilige Umwelt. Im Zusammenspiel bieten diese Autonomiekonzepte keinen Anhaltspunkt für produktiven interdisziplinären Austausch. Vielmehr verstärken sie jeweils infolge der historisch begründeten Autonomie-Bestrebungen die Tendenz, die Annahme ihrer Beschreibungen durch die Umwelt als zentrales Problem zu behandeln. Insofern liegt bei allen Diskursen eine ausgeprägte Form reflexionstheoretischer Asymmetrie vor. Im Ergebnis resultiert daraus insgesamt eine Konfiguration reflexionstheoretischer Diskurse, die in verschiedenen Varianten hierarchische, asymmetrische, auf Abnahmebereitschaft abstellende Interdisziplinarität abbildet. Jede dieser Varianten produziert, wenn man so will, „Verlierer“. Ansätze einer symmetrischen, responsiven Reflexion der Rechtssoziologie sind insgesamt zu schwach ausgeprägt. Sie gehen deshalb letztlich unter. Es bleibt in allen Ansätzen beim Konzept der interdisziplinären Rezeption.

Keine der drei Lösungen ist für eine autonome Soziologie wirklich attraktiv, welche Autonomie und Praxis als symmetrische, balancierte Perspektiven betrachtet. Wenn aber der Ausbau eines solchen responsiven Interdisziplinaritätsmodells dem Autonomie-Gedanken zu widersprechen scheint, wie wir es in Luhmanns rechtssoziologischen Schriften rekonstruiert haben, könnte der Verzicht auf Interdisziplinarität sich tatsächlich als Ausweg angeboten haben. Die praktische Irrelevanz ließe sich damit beobachtungstheoretisch gewissermaßen auf Distanz bringen.

In dieser Situation optiert die soziologische Systemtheorie also reflexionstheoretisch für eine wenig komplexe Lösung. Anstelle der theoriekonstruktiv aufwendigeren, ausbalancierten Kombination von Autonomie- und Praxisdiskurs – dem später von Kaldewey (2013) entwickelten Modell –, stellt sie den beiden konkurrierenden Hierarchiemodellen die ebenfalls hierarchisch gebaute Reflexionstheorie einer autonomen Soziologie im Rezeptionsmodell der Interdisziplinarität gegenüber. Damit unterscheidet sie sich reflexionstheoretisch nicht von der Konkurrenz, kann aber inhaltlich mit einer soziologischen Gegenstandstheorie aufwarten, deren begriffliche Tiefenschärfe, konzeptionelle Präzision, thematische Reichweite, Kohärenz und Stringenz den reflexionstheoretischen Preis reiner Autonomie – zumal auf einem offenkundigen Randgebiet der Soziologie – möglicherweise zu rechtfertigen scheint.

Vor diesem Hintergrund ist die beschriebene Entwicklung der systemtheoretischen Rechtssoziologie und deren Reflexionstheorie zwar kein zwingender Schritt. Sie stellt aber eine von mehreren funktional äquivalenten Reaktionen auf die beschriebene Diskurskonstellation dar. Diese erklärt die getroffene Entscheidung nicht  zwingend, lässt sie aber unter dem Gesichtspunkt des argumentativen und wissenschaftspolitischen Aufwandes als plausibel erscheinen. Das Beharren auf Autonomie liegt in jener historischen Phase nahe, denn es ergibt sich aus der theoriegeschichtlichen Entwicklung und wäre nur unter gewissen Mühen durch eine Form responsiver Reflexionstheorie abzulösen. Das hat unter anderem der Blick auf die systemtheoretische Rechtssoziologie im vierten Kapitel gezeigt, wo sehr deutlich wurde, wie stark responsive Ansätze unter dem begrifflichen Gerüst der in den 1970er Jahren sich entwickelnden autopoietischen Systemtheorie verborgen blieben und welches argumentativen Aufwandes es bedurft hätte, diese freizulegen, eines Aufwandes, der nicht einmal mehr mit „Kontinenz und Recht“ unternommen wurde, obwohl dort hinreichender Anlass für eine solche Wende vorgelegen hätte.

Für die Rechtssoziologie im deutschsprachigen Raum bedeutete dieser Rückzug der Soziologie, wie im Folgenden diskutiert werden soll, eine nachhaltige Schwächung. Das Trilemma blieb unaufgelöst, was Konsequenzen in der Sache hatte. Denn in der allgemeinen Soziologie entwickelte sich damals, wie wir sehen werden, abgesehen von Luhmanns Systemtheorie kein nachhaltiges Interesse für das Thema „Recht“. Theorie-Alternativen wurden nicht in relevantem Umfang entwickelt. Unter diesen Voraussetzungen musste das Bestehen der Systemtheorie auf der Beobachtungsperspektive der Soziologie gravierende Folgen haben. Die Rechtssoziologie verlor an Strahlkraft.

5.2 Soziologie und Recht: Das Desinteresse anderer soziologischer Theorien

Angesichts der systemtheoretischen Abstinenz stellt sich die Frage nach Theorieangeboten, welche in jener Zeit die soziologische Theorie des Rechts um eine Praxisperspektive hätten ergänzen können. Um diese Frage zu beantworten, werden wir in aller Kürze soziologische Theorien der 1970er bis 1990er Jahre auf ihr rechtssoziologisches Potenzial hin betrachten. Wir fragen, ob und gegebenenfalls welche Möglichkeiten sie in jener theoriegeschichtlich entscheidenden Phase – in der Phase des systemtheoretischen Rückzugs zwischen der „Rechtssoziologie“ (1972) und „Das Recht der Gesellschaft“ (1993) – für andere Weichenstellungen geboten haben. Im Ergebnis wird sich zeigen, dass auch für die soziologischen Theorien, die in den beiden Jahrzehnten an fachinterner Bedeutung gewannen, Luhmanns Diagnose aus der „Rechtssoziologie“ zutraf: „Es fehlt ihnen das Recht selbst“ (Luhmann 1972, 6). Sie haben im Großen und Ganzen keine Soziologie des Rechts entwickelt, weshalb sich für sie mangels substanzieller Rechtssoziologie die weitergehende Frage nach reflexionstheoretischen Konzepten für eine interdisziplinäre Kooperation zwischen Rechtswissenschaft und Soziologie in aller Regel gar nicht erst stellt. Die Ansätze soziologischer Überlegungen zum Recht, die sich in diesen soziologischen Theorien finden, enthalten damit bestenfalls ein weiter zu entwickelndes Instrumentarium für die Rechtssoziologie, dessen Brauchbarkeit sich im Einzelfall zu erweisen hätte. Vor ihnen liegt jeweils ein recht langer Weg bis zu einer soziologischen Theorie des Rechts. Dieses rechtssoziologische Schweigen der allgemeinen soziologischen Theorie verleiht dem systemtheoretischen Rückzug ein besonderes Gewicht.

5.2.1 Normative Integration von Gesellschaft – Talcott Parsons

Unter den soziologischen Theoretikern der 1950er und 1960er Jahre sticht insbesondere Talcott Parsons hervor, dessen Tod 1979 in die hier relevante Zeitspanne fällt, dessen theoretischer Stern aber, wie man vielleicht sagen darf, damals bereits im Sinken ist. Dennoch zählt sein Werk zu den großen soziologischen Theorieangeboten jener Zeit. Es enthält an verschiedenen Stellen und unter je spezifischen Gesichtspunkten zahlreiche Verweise auf das Recht (Gephart 1993, 179 f.). Von der voluntaristischen Handlungstheorie (Parsons 1937) bis zum späteren Strukturfunktionalismus (Parsons 1971) hat Parsons zwar immer wieder die Strukturleistungen des Rechts hervorgehoben (Damm 1976; Gephart a. a. O.). Allerdings hat das Recht zunächst keine spezifizierte Funktion und ist keinem Bereich des Handlungssystems zugeordnet. Es ist kein Subsystem der Gesellschaft, aber auch kein eigenständiges Medium des Handelns. (Gephart 1993, 251). Das Augenmerk richtet sich in allgemeinerer Form auf die Rolle von Normen bzw. Recht für die auf den Gesichtspunkt der Integration des Handelns.

Parsons‘ Integrationstheorie ist zunächst vor allem eine Reaktion auf Ideen der marktförmigen Integration, beispielsweise in Herbert Spencers Utilitarismus, der die Elemente des gesellschaftlichen Organismus durch die Verfolgung von Eigeninteressen gekoppelt sieht (dazu und zum Folgenden auch Bora 1999, 38–63). Ursprünglich an einer voluntaristischen Handlungstheorie interessiert, die er aus dem Hobbesschen Problem der sozialen Ordnung heraus und in Auseinandersetzung mit Spencers ökonomischer Sichtweise entwirft (Parsons 1937), wendet sich Parsons in „The Social System“ (Parsons 1951) der Frage zu, in welcher Weise allgemeine Bedingungen menschlichen Handelns in Form eines „action frame of reference“ formuliert werden können (ebd., 3). Ein System von „pattern variables“ gibt die Alternativen an, zwischen denen ein Akteur in jeder Situation zu er wählen hat: affectivity vs. affective neutrality, self-orientation vs. collectivity orientation, universalism vs. particularism, achievement vs. ascription, specifity vs. diffuseness (ebd., 67). Die Selektion zwischen diesen Möglichkeiten wird als Integration über Wertorientierungen bezeichnet (ebd., 12, 201). Im Strukturfunktionalismus taucht dieser Gedanke dann im Schema der vier Grundfunktionen adaptation, goal attainment, integration und latend pattern maintenance (AGIL) wieder auf. Integration wird dabei zunächst als normreguliertes Handeln aufgefasst. Erst mit dem Umbau der Theorie in ein Konzept allgemeiner Verschachtelung von Systemebenen wird der Integrationsfunktion jeweils ein eigenes Subsystem zugeordnet. Das Recht erscheint dann Im Rahmen der „societal community“, welche mittels eines Normengefüges gesellschaftliche Loyalität erzeugt. Mittels dieser „Fusion von Sozialität und ‚normativer Ordnung‘“ (Gephart 1991, 196) fällt dem Recht eine gesellschaftsintegrierende Aufgabe zu.

Parsons betrachtet seit der Entwicklung des Systembegriffs Ende der 1950er Jahre das Recht als spezifische Errungenschaft moderner Gesellschaften. Es ist ein Teil der Sozialstruktur, ein institutionelles Phänomen. Es befasst sich, so Parsons in einem Aufsatz von 1962, mit „normativen Verhaltensmustern“ (Parsons 1962/1967, 121) und muss deshalb von der „konkreten Gruppenstruktur und de[n] Rollen in ihnen“ unterschieden werden. Recht ist außerdem unspezifisch im Hinblick auf den funktionalen Gehalt sozialer Phänomene wie Wirtschaft, Arbeit, Familie usw. Deshalb kann man schließen, dass Recht ein allgemeiner Mechanismus sozialer Kontrolle ist, „der so gut wie alle Gesellschaftsbereich wirksam durchdringt.“ (ebd., 122).

Mit Blick auf die gesellschaftsintegrierende Funktion stellen sich vier Hauptprobleme: erstens die Legitimationsgrundlage des Rechts selbst, zweitens die konkrete Bedeutung einer Norm für den Einzelfall, drittens die Folgen abweichenden Verhaltens (Sanktionen) und viertens die „Jurisdiktionsgewalt“ (ebd.), d. h. einerseits der Adressatenkreis und andererseits die Durchsetzungsmacht, die hinter einer Norm steht. Der Text befasst sich mit den Bedingungen, unter denen die die Antworten auf die genannten vier Fragen in differenzierten Gesellschaften institutionalisiert werden. Wenn man Recht und Politik analytisch trennt, zeigt sich, dass das Recht auf eine „angemessene Verbindung zum Staat“ angewiesen ist, „um durch dessen Organe physische Sanktionen durchführen zu lassen.“ (ebd., 124) Diese Angewiesenheit auf die Zentralgewalt führt auch dazu, dass die Jurisdisktionsgewalt in aller Regel territorial begrenzt ist. Nur innerhalb dieser Grenze kann konsistente Normgeltung (Universalismus) garantiert werden (ebd., 125).

Die analytische Trennung von Recht und Politik erweist sich auch mit Blick auf Legitimation und Interpretation als notwendig. Nur so lässt sich beispielsweise erklären, weshalb das Recht „einen Brennpunkt in den Beziehungen zwischen Religion und Politik“ bildet (ebd., 126). Im Hinblick auf die Interpretation zeigt sich die Eigenständigkeit des Rechts insbesondere in der Unabhängigkeit des Richterstands (ebd., 126), aber auch in der Bedeutung des Anwalts als eines unabhängigen Organs der Rechtspflege (ebd., 127).

Rollenspezifische Spannungen im juristischen Beruf werden sodann professionalisierungstheoretisch gedeutet (siehe dazu auch Parsons 1952). In Analogie zu Medizinern wird zunächst die wissenschaftliche Fundierung hervorgehoben, auf deren Basis die Spannung zwischen Nützlichkeitserwägungen und äußerem Druck erstens, übertriebenem rechtlichem Formalismus zweitens sowie einer Überidentifikation mit Parteiinteressen drittens ausbalanciert werden muss (Parsons 1967, 129). Soziologisch betrachtet, so Parsons, „können die professionalisierten Berufe … als ‚Mechanismen sozialer Kontrolle‘ betrachtet werden“ (ebd.). Sie tragen entweder zur Sozialisation junger Menschen bei, führen Kranke – die insofern „Außenseiter“ geworden sind –, wieder in die Gesellschaft zurück, oder wirken zusätzlich noch vorbeugend, wie im Falle des Rechts, das durch Sanktionsdrohungen abschreckt und im Falle der Abweichung tatsächlich sanktioniert. Die Tätigkeit des Juristen stellt im Ergebnis (ebd., 132) einen wichtigen Mechanismus der Integration differenzierter Gesellschaft dar.

Rechtssoziologie ist bei Parsons also in entscheidenden Punkten als Professionssoziologie verfasst, weniger jedoch in Form einer umfassenden soziologischen Theorie des Rechts (siehe nochmals Gephart 1991, 179 ff.). Parsons, der in der deutschen Soziologie früh rezipiert wird und lange Zeit ein wichtiger Referenzpunkt soziologischer Theoriebildung ist, bemängelt zwar allgemein die soziologische Zurückhaltung gegenüber dem Recht (Parsons 1977), bleibt aber selbst in reflexionstheoretischer Hinsicht bei programmatischen Forderungen. Es bedürfe, wie er meint, „irgendeiner Art von Synthese“ zwischen beiden Bereichen („some kind of synthesis“, ebd., 51). Im Übrigen erlangt insbesondere in den späteren Schriften, wie wir gesehen haben, das Konzept normativer Integration von Gesellschaft eine gewisse Bedeutung. Auf der Grundlage dieses insgesamt unscharfen gegenstandstheoretischen Konzepts des Rechts bleibt auch Parsons’ Interdisziplinaritätsmodell jenseits der vagen Forderung nach Synthese (Parsons 1977) unausgearbeitet. Luhmann hatte Parsons’ Übergeneralisierung normativer Integration kritisiert (Luhmann 1972, 20). Darüber hinaus wäre anzumerken, dass Parsons im Unterschied zu Weber, auf den er sich in zentralen Punkten beruft, gerade keine soziologisch sachhaltige Analyse rechtlicher Formen, Strukturen, Semantiken und Verfahren leistet, sondern auf dem Niveau von Funktionszuschreibungen verharrt, ohne diese dann im Einzelnen am Gegenstand selbst zu verifizieren. Angesichts dieses Zuschnitts der Theorie kann man zwar rechtssoziologische Ansätze erkennen, die aber gegenstandstheoretisch nicht weiter verfolgt werden und reflexionstheoretisch in programmatischen Bemerkungen verharren.

Stärker strukturfunktionalistisch argumentiert später in der Parsons-Tradition Richard Münch (vgl. etwa Münch 1984 (a)). In einer Verknüpfung von Voluntarismus und sozialer Ordnung (ebd., 27) wird die Rolle des Rechts im institutionellen Gefüge der Politik angesiedelt, wobei der Schwerpunkt nicht auf Differenzierung und Integration liegt, sondern mehr auf einer Interpenetration der Funktionsbereiche. Die „Conditio Humana“ zeichnet sich durch eine Binnengliederung nach dem AGIL-Schema aus, innerhalb dessen im Feld Integration das Handlungssystem erscheint, für welches wiederum das Soziale System als Integrationsbereich dient, in welchem das Gemeinschaftssystem erneut die Integrationsfunktion übernimmt und das politische System die Zielverwirklichung (ebd., 35). Alle diese Subsysteme sind auf den unterschiedlichen Ebenen jeweils funktional spezialisiert und verfügen über die dafür nötigen Strukturen (ebd., 37). Innerhalb der Politik taucht nun das Recht an zwei Stellen auf, in Gestalt der Verfassung in der L-Funktion und als positives Recht erneut im Bereich der Integration (ebd., 306), jeweils mit weiteren Binnendifferenzierungen nach dem AGIL-Schema. Münch arbeitet insofern die Parsonssche Theorie weiter aus, fügt letztlich aber keine Erweiterung im Sinne einer begrifflichen Analyse des Rechts hinzu.

5.2.2 Conditio Humana – Sozialanthropologie und Mikrosoziologie

Einen entfernten Anklang an die sozialanthropologisch anmutende Konstruktion der conditio humana bei Parsons findet man möglicherweise auch in einigen kleineren sozialanthropologischen Schriften zur Rechtssoziologie im deutschen Sprachraum, die in den 1970er Jahren in Deutschland veröffentlicht wurden, allerdings kurz vor beziehungsweise nach Parsons’ Tod erschienen und inhaltlich andere Anknüpfungspunkte suchten. Heinrich Popitz’ „Prozesse der Machtbildung“ (Popitz 1976) stellt einen sozialanthropologisch ansetzenden Versuch dar, der Anleihen bei Geiger macht, aber ohne dessen Reflexionsniveau zu erreichen. Von einem häufig zu beobachtendem Missverständnis des Rechts geprägt hypostasiert der Text das Strafrecht als Recht schlechthin und bleibt auch sonst deutlich hinter dem damals erreichten Stand der Rechtssoziologie zurück, ähnlich wie auch „Die normative Konstruktion von Gesellschaft“ (Popitz 1980). Günter Dux, heute vor allem für seine von Helmuth Plessner und Thomas Luckmann beeinflusste Sozialanthropologie bekannt (Dux 1972; vgl. Bora 2003(a)), veröffentlicht etwa zur selben Zeit eine „Rechtssoziologie“ (Dux 1978), welche ebenfalls stark sozialanthropologisch orientiert ist, sich an Luhmanns zentrale Unterscheidung von kognitiven und normativen Erwartungen anlehnt, auch mit Blick auf die Entmystifizierung juristischer Selbstbeschreibungen und den Begriff der Geltung einige Parallelen aufweist, aber in systematischer Hinsicht nicht vergleichbar weit in das Gebiet des Rechts vordringt. Dux arbeitet an dem weitreichenden Programm einer anthropologisch fundierten Soziologie, seine Rechtssoziologie bleibt aber unter dem Gesichtspunkt soziologischer Durchdringung des Gegenstands „Recht“ von der Anthropologie beeinflusst und daher insbesondere im Vergleich zu Luhmann begrifflich weniger weit entwickelt. Interessant sind seine reflexionstheoretischen Überlegungen dennoch, die den oben (Kap. 3) referierten Diskussionsstand bei Weber und Geiger aufgreifen (Dux 1978, 141 ff.). Sie gelangen allerdings nicht über den Geigerschen empirischen Geltungsbegriff (ebd., 144) hinaus und erschöpfen sich reflexionstheoretisch im Postulat einer nicht näher bestimmten Kooperation der Disziplinen (ebd., 152). Darin spiegelt sich der Diskussionsstand jener Zeit. In diesem Zusammenhang kann man vielleicht auch Georges Gurvitch erwähnen, der als Jurist und Soziologe seinerzeit für seine Wissenssoziologie bekannt war und die Cahiers Internationeaux de Sociologie mit begründet hatte. Er wurde in 1960er und 1970er Jahren in Deutschland rezipiert. Gurvitch interpretiert Rechtssoziologie vor allem als Mikrosoziologie und entwirft vor diesem Hintergrund eine Typologie des Rechts der Gruppen und der Gesellschaften sowie eine genetische Rechtssoziologie (Gurvitch 1949/1960; vgl. Banakar 2006). Seine Arbeiten sind in soziologischer Hinsicht der Epoche der Gesellungslehren zuzuordnen, die sich aus den zwanziger Jahren heraus entwickelten und im Falle Gurvitchs zu beeindruckender Filigranarbeit geführt haben, sich jedoch in Folge ihrer zu sehr – beziehungsweise trotz gegenteiliger Versicherungen im deutschen Vorwort: ausschließlich – mikrosoziologisch gedachten Bauweise als zu wenig komplex für eine aussagekräftige soziologische Theorie des Rechts erwiesen haben (vgl. Colson und Field 2016, 308).

5.2.3 Disziplinierungsdispositive – Michel Foucault

In der fraglichen Zeitspanne gewann das Werk von Michel Foucault international an Bedeutung. In der deutschsprachigen Rechtssoziologie wurde es damals nur zögerlich rezipiert und erregte erst etwa seit der Jahrtausendwende deutlich mehr Aufmerksamkeit. Heute finden sich viele rechtssoziologische Arbeiten, die sich in der einen oder anderen Weise auf Foucault beziehen oder ihn als rechtssoziologische Inspirationsquelle benutzen. Für unser Argument kommt es weniger auf diese Debatten als darauf an, dass Foucault jedenfalls in den 1970er bis 1980er Jahren keine genuin soziologische Perspektive auf das Recht entwickelte. Er konzentrierte sich, wie Petra Gehring hervorhebt, stattdessen im Wesentlichen auf speziellere Aspekte, nämlich auf eine Art materielle Strafrechtsgeschichte, auf Recht als Epochensignatur der Souveränität sowie auf die juridische Konzeption der Macht (Gehring 2007). Diese Aspekte sind werkgeschichtlich in den Vorlesungen über die Wahrheit und die juristischen Formen, sodann in „Überwachen und Strafen“ (Foucault 1975) sowie schließlich in den Überlegungen zur Gouvernementalität verkörpert. Bei der Betrachtung dieser Schriften zeigt sich, dass Foucaults Interesse am Recht sich durchgängig auf dessen Bedeutung als Instrument umfassenden Überwachens beschränkt. Es fehlt ihm wegen dieser Beschränkung eine soziologische Theorie des Rechts selbst, das er ausdrücklich nicht zum Gegenstand seiner Theorie macht (Guibentif 2010, 72). Pierre Guibentif zählt stattdessen eine Reihe von „Begegnungen“ der Foucaultschen Theorie mit dem Recht auf („moments de rencontre avec le droit“, ebd., 71 ff.). Aus den insgesamt apokryphen Bemerkungen zum Recht lassen sich in Foucaults Werk, wie Guibentif sagt, Elemente und Dynamiken der Rechtswirklichkeit identifizieren (ebd., 72). Rechtswirklichkeit meint dabei für Foucault nicht einen distinkten Bereich des Sozialen. Rechtliche Phänomene werden zwar als solche bezeichnet, in der Regel aber mit anderen Inhalten gefüllt, insbesondere mit Politik. Anders als bei Luhmann resultiert daraus nicht die Frage nach einem „rechtlich-politischen“ Komplex. Foucault versucht sich insgesamt nicht an einem theoretischen Modell des „Juridischen“. Sein Hauptaugenmerk gilt vielmehr den diskursiven Praktiken, wie zum Beispiel Internierungsmechanismen, der Anwendung von Gewalt oder der Produktion entsprechender Diskurse im juridischen Diskurs, der Entstehung der „Disziplinargesellschaft“ aus der Neuordnung des Gerichtswesens und des Strafrechtes und des Panoptismus im 18. und 19. Jahrhundert in „Die Wahrheit und die juristischen Formen“ (Foucault 1994) oder der Adressierung der Gesamtbevölkerung durch den Überwachungsstaat in den Texten zur Gouvernementalität. Diese insgesamt zurückhaltende Einschätzung im Hinblick auf Foucaults Bedeutung für die Rechtssoziologie lässt sich an einigen Beispielen begründen.

In drei 1973 an der Katholischen Universität in Rio de Janeiro gehaltenen Vorträgen mit dem Titel „Die Wahrheit und die juristischen Formen“ (Foucault 1994) schlägt Foucault zwar einen argumentativen Bogen von subjekttheoretischen Überlegungen zum Recht. Der Text handelt aber, anders als es der Titel nahelegt, kaum von rechtlichen Formen, sondern viel mehr von den Kontroll-, Überwachungs- und Disziplinierungsdispositiven der Moderne, für deren Entstehung rechtliche Regeln der Konstitution von Wissen beziehungsweise Wahrheit eine zentrale Rolle spielen. „Die juristischen Praktiken, also die Art und Weise, wie man über Schuld und Verantwortung unter den Menschen urteilte; wie man in der Geschichte des Abendlandes festlegte, dass bestimmte Verhaltensweisen als Vergehen galten, nach denen die Menschen verurteilt werden konnten; wie man von bestimmten Menschen für gewisse Taten eine Wiedergutmachung verlangte und anderen eine Strafe auferlegte – all diese Regeln oder, wenn Sie so wollen, all diese Praktiken, die zwar geregelt waren, in der Geschichte aber auch ständig abgeändert wurden, scheinen mir eine der Formen zu sein, in denen unsere Gesellschaft Typen von Subjektivität definiert hat, Formen von Wissen und damit auch Beziehungen zwischen dem Menschen und der Wahrheit …“ (ebd., 13). Der Text bleibt mit langen historischen Passagen und allgemeinen Hinweisen auf das Recht insgesamt recht vage und vermittelt keine präzise Vorstellung davon, wie, aus welchen Gründen und mit welchen spezifischen Mitteln das Recht seine politische Aufgabe  erfüllt. Rechtsformen als Wissensformen sind nach Foucaults Auffassung unmittelbarer Ausdruck von und Mittel zur Etablierung von Macht und Herrschaft. Diese Sichtweise geht im Grunde genommen kaum über die schon von Marx vertretene Position hinaus. Unklar bleiben die sozialen Mechanismen dieser politischen Instrumentalisierung. Deren Analyse würde freilich eine detaillierte soziologische Theorie des Rechts und seiner Strukturen verlangen, die man bei Foucault nicht nur an dieser Stelle vergeblich sucht. Damit ist die theoretische Linie vorgezeichnet, die sich später bis zu den Schriften über Gouvernementalität hinzieht.

„Überwachen und Strafen“ (Foucault 1975) ist, obwohl es in rechtssoziologischen und kriminologischen Schriften bisweilen als solches zitiert wird, ebenfalls kein rechtssoziologisches Werk. Vielmehr ist es bekanntlich dem Thema der Disziplinarmacht gewidmet, stellt also einen Beitrag zur politischen Soziologie dar. Die vier großen Themen Marter, Bestrafung, Disziplin und Gefängnis kommen ohne systematischen Bezug auf das Recht aus. Selbst dort, wo sich Anknüpfungspunkte anböten, wie etwa im Begriff des Falls (ebd., 246 ff.), bleibt das Recht ausgeblendet. Die Schriften bis 1976 befassen sich insgesamt eher mit Aspekten des antiken Rechts (Schauer 2006, 245 ff.), während später die Analyse von Machtdispositiven und biopolitischen Diskurse in den Vordergrund tritt (ebd., 296 ff.).

Die heute in rechtssoziologischen Zusammenhängen (Frerichs 2010; Paul 2013; Kretschmann und Legnaro 2021) immer wieder erwähnten Arbeiten zur Gouvernementalität (Foucault 1978; Foucault 2004; vgl. Bröckling et al. 2000; Krasmann und Volkmer 2015) streifen das Recht ebenfalls nur beiläufig. Das Konzept der Gouvernementalität beherrscht eine ganze Schaffensphase, in der Foucault sich mit der Frage staatlicher Machtausübung beschäftigt. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen Politik und Staat. Letzterer erscheint dort vor allem in Gestalt des „Verwaltungsstaates“, im Gegensatz zum „Gesetzesstaat“ des feudalen Zeitalters. Das Recht wird lediglich als ein marginaler Aspekt der Gouvernementalität angesprochen (vgl. Gehring 2007; Bröckling et al. 2010; Hunt und Wickham 1994). Es operiert in Foucault Begrifflichkeit zwischen Herrschaft und Disziplin und verschafft die Möglichkeit, Herrschaftsentscheidungen in die disziplinären Institutionen der Gesellschaft zu kanalisieren und im Sinne von Gouvernementalität das Leben aller Individuen insgesamt zu regulieren. Recht und „Bio-Macht“ liegen eng nebeneinander (Tadros 1998). Sie provozieren Gegenbewegungen von den „Rändern“ des Sozialen her („governing the margins“, Rose 2006, 412 ff.).

Besonders deutlich wird Foucaults geringe theoretische Wertschätzung des Rechts in der Gouvernementalitäts-Vorlesung (Foucault 1978). Dort beschreibt er anhand der anti-machiavellistischen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts die Entwicklung der modernen Herrschaft von der Souveränität des Herrschers hin zur Kunst des Regierens. Diese wandelt sich von der „Ökonomie“ als Hausherrschaft mit der Kontrolle über einzelne Individuen hin zu einem richtigen Verfügen über alle Dinge im weitesten Sinne. Das Augenmerk richtet sich dann nicht mehr auf die Familie, sondern auf die Bevölkerung. Wissen in Gestalt statistischer Daten wird zum zentralen Herrschaftsinstrument. „Gouvernementalität“ bezeichnet in diesem Zusammenhang drei sehr unterschiedliche Aspekte: Erstens meint sie in Foucaults Worten „die Gesamtheit, gebildet aus den Institutionen, Verfahren, Analysen und Reflexionen, den Berechnungen und den Taktiken, die es gestatten, diese rechts spezifische und doch komplexe Form der Macht auszuüben, die als Hauptzielscheibe die Bevölkerung, als Hauptwissensform die politische Ökonomie und als wesentliches technisches Instrument die Sicherheitsdispositive hat.“ (Foucault 1978, 64). Zweitens bezeichnet sie eine „Tendenz oder Kraftlinie, die im gesamten Abendland unablässig und seit sehr langer Zeit zur Vorrangstellung dieses Machttyps, den man als ‚Regierung‘ bezeichnen kann, … geführt … hat“ (ebd., 65). Drittens ist sie ein „Vorgang, … durch den der Gerechtigkeitsstaat des Mittelalters, der im 15. Und 16. Jahrhundert zum Verwaltungsrat geworden ist, sich Schritt für Schritt ‚gouvernementalisiert‘ hat.“ (ebd.).

Die drei Bedeutungsvarianten von Gouvernementalität, das Ensemble von Handlungs- und Wissensformen, die Ursache für diese Phänomene („Kraftlinie“) sowie schließlich der Prozess – oder dessen Ergebnis, das bleibt unklar – werden in ihrem begrifflichen Zusammenhang  nicht geklärt. Foucault gibt keine Auskunft darüber, wie die verschiedenen Aspekte aufeinander bezogen werden können, sodass ein Abgleich mit empirischen Sachverhalten nahezu unmöglich ist. Ähnliches gilt für die historische Dimension. Dort wird Recht als geschichtlich absterbendes Phänomen aufgefasst. Es charakterisiere, so Foucault die mittelalterliche „Gesellschaft des Gesetzes“ (ebd., 66), die aber durch eine Gesellschaft der Sicherheitsdispositive abgelöst worden sei. Dieser empirischen Diagnose einer „rückläufigen Entwicklung des Gesetzes“ (ebd., 54) kann man aus rechtssoziologischer Perspektive angesichts zahlreicher seit der frühen Neuzeit zu beobachtender Verrechtlichungsschübe und der weltweiten Bedeutung des Rechtsstaats als Form der modernen Herrschaft nicht folgen. Sie lässt sich, sowohl die Verwaltung als auch das Recht betreffend, kaum belegen. Diese mit Blick auf die Rechtssoziologie befremdliche Charakterisierung  steht allerdings in Einklang mit Foucaults übergreifendem Desinteresse am Recht, das für ihn kein spezifischer Gegenstand wissenschaftlicher Aufmerksamkeit ist (Schweitzer 2015). Er kritisiert im Gegenteil die angebliche Überbetonung des Rechts in den Sozialwissenschaften (Banakar und Travers 2009, 151 ff.) und hebt vor allem den Bedeutungsverlust des Rechts in der Moderne hervor (Hunt und Wickham 1994, 65, sprechen von „expulsion of law“).

Spätere Foucault-Rezeptionen, die sich mit Fragen des Rechts befassen und zu diesem Zweck Foucaults Begrifflichkeiten anwenden (etwa Hunt und Wickham 1994, Ewald 1986, Lascoumes 1993, Schweitzer 2015, aber auch verschiedene Strömungen der Critical Legal Studies, dazu Frankenberg 2006), suchen zwar nach rechtssoziologisch fruchtbaren Anschlussmöglichkeiten, sprechen aber nicht gegen unsere Beurteilung der Situation um 1970. Das zeigt sich beispielsweise auch an Golders und Fitzpatricks rückblickend geäußerter Auffassung, man müsse Foucaults Texte ausdrücklich gegen ihren Wortlaut lesen, um deren Bedeutung angemessen zu erfassen und rechtssoziologisch nutzbar machen zu können (Golder und Fitzpatrick 2009). Derartige „vereinnahmende“ Perspektiven versucht Sarah Burgess mittels eines „rhetorischen“ Ansatzes zu überwinden (Burgess 2012, 298), der aber beim Versprechen stehen bleibt, die Frage zu untersuchen, wie Subjekte, die „außerhalb“ oder „gegen“ das Gesetz stehen, sich die Bedingungen des Rechts aneignen, verweigern oder dagegen ankämpfen. Eine kritische Untersuchung des Rechts, so Burgess, solle offenlegen, wie die Sprache des Rechts von Rechtssubjekten produziert wird (ebd., 309). Ein solches Projekt fügt der rechtssoziologischen Theorie kaum neue Aspekte hinzu, verharrt im Programmatischen und lässt nicht erkennen, mit Hilfe welcher Begriffe die skizzierte Aufgabe gelöst werden kann.

Man kann damit insgesamt davon ausgehen, dass Foucaults Schriften in den 1970er und 1980er Jahren die von der soziologischen Systemtheorie verweigerte rechtssoziologische Reflexionstheorie nicht ersetzen können. Denn es fehlt Foucault bereits auf der gegenstandstheoretischen Seite an einer soziologischen Theorie des Rechts. Mangels einer ausgearbeiteten Rechtssoziologie bietet die Foucaultsche Theorie damals erst recht keinen Ansatzpunkt für ein Konzept responsiver Interdisziplinarität. Inwieweit sich dies im Zuge einer insbesondere in der anglo-amerikanischen Diskussion prominenten rechtssoziologischen Foucault-Rezeption in Zukunft ändern könnte, ist eine offene Frage. Die bislang erkennbaren Ansätze bleiben begrifflich und theoretisch-konzeptionell vage. Anknüpfungspunkte für unsere Untersuchung haben sich im Kontrast dazu eher im Hinblick auf die Wissenschaftssoziologie aus Foucaults diskurstheoretischen Überlegungen ergeben (oben Kap. 2).

5.2.4 Das „juridische Feld“ als Kampfplatz – Pierre Bourdieu

Pierre Bourdieu gehört ebenfalls zu den einflussreichen Soziologen, deren Werk in der für unsere Untersuchung relevanten Periode an Bedeutung gewinnt und der nach anfänglichem Schwerpunkt in der Ethnologie nun vor allem mit Studien zur allgemeinen soziologischen Theorie hervortritt. Wie schon Foucault äußerst er sich allerdings insgesamt nur sehr selten zur Soziologie des Rechts. Neben dem häufig zitierten Aufsatz „La force du droit“ (Bourdieu 1986/2019) finden sich lediglich einige verstreute Bemerkungen zum Recht in seinen Schriften (Guibentif 2010, 273). Nur zwei weitere Aufsätze sind dem Recht und den Juristen gewidmet (Bourdieu 1990, Bourdieu 1991). Bei etwas großzügigerer Zählung kommt Guibentif (2019) auf insgesamt sechs einschlägige Fundstellen. Bourdieus wenige Arbeiten zum Recht sind im Wesentlichen zwischen 1983 und 1991 erschienen (Guibentif 2019, 99; ders. 2010, 272 f.), also in der zweiten Hälfte des für unsere Untersuchung der Rechtssoziologie relevanten Zeitraums. Damit sind sie für unser Argument zur Lage der Rechtssoziologie nach der entscheidenden Phase der systemtheoretischen Rechtssoziologie in den 1970er und 1980er Jahren ebenfalls von Bedeutung.

„La force du droit“ (Bourdieu 1986/2019, im Folgenden zitiert nach der deutschen Ausgabe 2019) ist der zentrale Text und locus classicus für Bourdieus Auffassung vom Recht. Er wird vorbereitet durch den Aufsatz „Habitus, code et codification“ (Bourdieu 1986), wo der Prozess der Kodifizierung mit Hilfe des Habitus-Begriffs soziologisch bestimmt wird (Guibentif 2010, 276 ff.). Daraus wird zugleich eine reflexionstheoretische Weiterung abgeleitet, nämlich die Forderung, auf allen Ebenen die Frage nach den sozialen Bedingungen der Möglichkeit von Kodifizierung und Theoretisierung zu stellen, sowie nach deren sozialen Effekten in Gestalt der Sozialwissenschaften („… poser dans toute sa généralité le problème des conditions sociales de possibilité de l’activité même de codification et de théorisation, et des effets sociaux de cette acitivité théorique, dont le travail du chercheur en sciences sociales preprésente lui-même une forme particulaire“, Bourdieu 1986, 105).

Dass für Bourdieu in irgendeiner Weise Fragen des Rechts auf Reflexionsprobleme der Soziologie verweisen, kommt dann in „La force du droit“ sehr prägnant zum Ausdruck. Interessanterweise werden dort im einleitenden Abschnitt die in „Habitus, code et codification“ angerissenen impliziten Bezüge zwischen juristischer Praxis und den Erkenntnisweisen unterschiedlicher sozialer Positionen herausgearbeitet. Dabei vertritt der Text zunächst eine unserer Auffassung ähnliche Ansicht, nach welcher die offenkundige Differenz zwischen Rechtstheorie und -dogmatik einerseits und soziologischer Beobachtung andererseits in vielen Theorien durch einseitige Überhöhung jeweils eines der beiden Gesichtspunkte unangemessen behandelt werde (Bourdieu 2019, 36; vgl. dazu auch García-Villegas 2004, 66 sowie Dezalay und Madsen 2012, die auf das reflexive Potenzial des Ansatzes hinweisen). Auf Seiten der Jurisprudenz dominiere eine „Berufsideologie der Doktorengemeinschaft“ (Bourdieu 2019, 36), die in ihrem „absoluten Autonomieanspruch“ (ebd., 35) die soziale Funktion des Rechts verkenne. Ihr gegenüber stehe insbesondere die marxistische Ideologiekritik, welche umgekehrt die Autonomie des Rechts, „die spezifische Form des Rechtsdiskurses“ (ebd., 36) vernachlässige. Man könnte in dieser Charakterisierung eine Variante unserer Beschreibung von Autonomie-Diskursen und ihren Problemen erkennen. Beide Seiten, so Bourdieu, ignorieren die „Existenz einer von äußeren Ansprüchen relativ unabhängigen sozialen Welt, … in der rechtliche Autorität hervorgebracht wird. … Rechtliche Praktiken und Diskurse ergeben sich aus der Funktionsweise eines Feldes, dessen Eigenlogik durch zwei wesentliche Merkmale bestimmt ist: einerseits durch die spezifischen Kräfteverhältnisse, die es strukturieren … und andererseits durch die innere Logik des Rechtskanons, der jederzeit den Raum des Möglichen und so das Universum genuin rechtlicher Lösungen begrenzt.“ (ebd.) Bourdieu verlangt hier also eine symmetrische Betrachtung beider Seiten. Auf der Seite des Rechts betont er interessanterweise dessen „innere Logik“, also all die Phänomene, auf deren soziologisches Verständnis die soziologische Systemtheorie Luhmanns so großen Wert legte. Das verlangt nun im nächsten Zug eigentlich nach einer soziologischen Beschreibung dieser internen Strukturen, nach einer soziologischen Theorie des Rechts, mit anderen Worten.

Allerdings wird das in diesen programmatischen Bemerkungen enthaltene Versprechen von dem insgesamt nur kurzen und kursorisch argumentierenden Text verfehlt. So findet man im weiteren Verlauf keinen Versuch einer soziologischen Analyse des Rechts, seiner Strukturen, Verfahren, Institutionen, Programme. Auch in reflexionstheoretischer Hinsicht enttäuscht der Text die selbst geweckten Erwartungen, da er entgegen seiner erklärten Absicht schließlich doch mit Ideologiekritik endet. Beide Gesichtspunkte lassen sich mit einigen Beispielen belegen:

Das „juridische Feld“ wird vor dem Hintergrund der Bourdieuschen Begriffsarchitektur als „Kampfplatz“ definiert, auf dem die Inhaber unterschiedlichen juridischen Kapitals um ihre Positionierung streiten. Juridisches Kapital erscheint in Gestalt des sozial anerkannten Vermögens der Auslegung eines Textkorpus (ebd., 37 f.). Als Inhaber solchen Kapitals kommen zunächst „Theoretiker“ und „Praktiker“ des Rechts (ebd., 42 ff.) in Betracht, deren Kräfteverhältnis durch ihr jeweiliges Vermögen bestimmt wird, „ihre Vision des Rechts und ihre Rechtsauslegung durchzusetzen.“ (ebd., 43). Das erscheint empirisch wenig plausibel, nicht nur, wenn man an die übliche Kombination beider Rollen bei Hochschullehrern denkt. Auch die Auffassung, das deutsche Recht sei wesentlich „Professorenrecht“ (ebd.), vermag allenfalls als unscharfe Kontrastierung des kontinentaleuropäischen civil law gegenüber dem anglo-amerikanischen common law einzuleuchten, welche im Ergebnis die Bedeutung richterlicher Rechtsfortbildung im deutschen Recht vernachlässigt. Weitaus problematischer erscheinen im Vergleich dazu sodann gesellschaftskritische Bemerkungen wie etwa die Behauptung, das Recht („vor allem das Privatrecht“) bekräftige die Herrschaft der „höchsten Rechtsbeamten“ (ebd.), deren wissenschaftlicher Gehalt sich kaum empirisch-methodisch überprüfen lässt. Auch die Behauptung, Richter und andere Praktiker richteten das Recht auf eine Kasuistik aus (ebd., 44), ist angesichts der Bedeutung von Rechtsdogmatik jedenfalls im kontinentalen Recht nicht stichhaltig und bedürfte ausführlicher Begründung. Insgesamt erscheint die Darstellung des Beitrags unterschiedlicher Professionen und Rollen zur „Kodifizierungsarbeit“ wenig differenziert. Denn die Interpretationsbedürftigkeit von Gesetzestexten, die Bedeutung der Normanwendung in diesem Interpretationsprozess und vor diesem Hintergrund der tatsächliche Stellenwert von Richterrecht kann sowohl in der Rechtspraxis als auch in der Rechtsdogmatik und -theorie als Allgemeinplatz gelten.

Ähnlich begründungsbedürftig bleibt im zweiten Abschnitt des Textes die These vom Ausschluss der Laien aus dem Recht (ebd., 49 ff.). Diese erfüllen im Unterschied zu Bourdieus Auffassung wesentliche Funktionen, nicht nur in der Öffentlichkeits- und Publikumsrolle – wie Luhmann in „Legitimation durch Verfahren“ hervorhob –, sondern auch beim Generieren von Rechtsstoff in Gestalt von Fällen, die ohne Zugang zum und Mobilisierung von Recht nicht denkbar wären. In beiderlei Hinsicht sind Laien konstitutive Voraussetzung und zwingender Bestandteil rechtlicher Kommunikation (Blankenburg 1980; Fuchs 2021).

Das Entscheidungsmonopol von Berufsjuristen äußert sich schließlich, anders als Bourdieu es darstellt (Bourdieu 2019, 57), nicht im numerus clausus rechtswissenschaftlicher Studiengänge – der im Übrigen kein unveränderliches Merkmal der Juristenausbildung ist –, sondern allenfalls im verfassungsrechtlichen Gebot des gesetzlichen Richters, der nicht zwingend ein Berufsrichter ist. Laien sind auch hier keineswegs ausgeschlossen (z. B. Machura 2006).

Soweit historische Verrechtlichungsschübe als „Annektierungsprozesse“ und „objektive Komplizenschaft zwischen kulturell beschlageneren Gewerkschaftsvertretern und Juristen“ (Bourdieu 2019, 57) verstanden werden, könnte dies gegebenenfalls soziologisch mit empirischen Belegen unterfüttert als vertretbare Behauptung akzeptabel erscheinen. Allerdings fehlen solche Belege vollständig. Die „stillschweigende Komplizenschaft“ zwischen Juristen und gesellschaftlichen Machteliten (ebd., 64) wird ausschließlich auf Daten aus den 1950er Jahren gestützt. Vergleichbare Befunde sind auch in der deutschen Rechtssoziologie der 1960er und 1970er Jahre im Nachgang zur Fraenkelschen Klassenjustiz-These noch anzutreffen (Dahrendorf 1964, Kaupen 1969, Kaupen und Rasehorn 1971), gelten allerdings heute nicht mehr als unbesehen haltbar (Apitzsch und Vogel 2021). Die Unterscheidung zwischen reaktionären („Privatrecht“) und fortschrittlichen Rechtsgebieten („Öffentliches Recht, Arbeitsrecht“) (Bourdieu 2019, 74) weist ebenfalls einen vagen zeitpolitischen Bezug auf die frühen 1970er Jahre auf, lässt sich in dieser Form aber gleichfalls kaum soziologisch verallgemeinern.

Darüber hinaus zeigen auch die Vermutungen über die Notwendigkeit eines „stillschweigenden Glaubens“ der Rechtsunterworfenen (ebd., 64), dass der Text ohne Anschluss an die zeitgenössische Rechtssoziologie operiert. Luhmann hatte in „Legitimation durch Verfahren“, wie wir oben erwähnt hatten, deutlich gemacht, dass Zustimmung im Sinne eines „Glaubens“ an die Rechtsordnung gerade keine Voraussetzung für deren empirische Wirksamkeit ist.

Am Ende steht – entgegen der erklärten programmatischen Zielsetzung des Textes – mit der Behauptung einer „geringen Autonomie“ des juridischen Feldes (ebd., 72) gerade keine reflexionstheoretisch balancierte Perspektive zwischen dem absoluten Autonomieanspruch der juristischen Doktorengemeinschaft auf der einen Seite und der marxistischen Ideologiekritik auf der anderen, sondern tatsächlich nur der seit Marx bekannte Kanon der Ideologiekritik. Die Eigenlogik rechtlicher Strukturen und der emanzipatorische Gehalt von Recht geraten dabei entgegen der programmatischen Ankündigung aus dem Blick. García-Villegas verweist zu Rrecht auf die Unzulänglichkeiten dieses Konzepts: „The emphasis on symbolic efficacy of law as an expression of legitimated state violence gives one the impression that the law is part of a hegemonic monolithic institutional order and that the fissures in this order are insignificant. This view of the state and of law has obscured the emancipatory potential which occasionally arises in the discourse on rights.“ (García-Villegas 2004, 67). Die relative Bedeutungslosigkeit des Rechts in Bourdieus Werk, so García-Villegas, hänge möglicherweise mit der geringen Relevanz des rechtssoziologischen Feldes in der französischen akademischen Landschaft zusammen.

Die Beschreibung dieser Situation in den 1970er Jahren spricht jedoch, wie schon im Fall von Foucault, nicht dagegen, das Werk insgesamt als Inspirationsquelle zu nutzen und von da her auch eine Perspektive auf das Recht zu öffnen. Der Sammelband von Andrea Kretschmann (Kretschmann 2019) bietet zum Beispiel in dieser Hinsicht einen überzeugenden Ansatz. Eine breitere Bourdieu-Rezeption setzt in der Rechtssoziologie erst deutlich nach der Jahrtausendwende und insofern mit großem zeitlichem Abstand zu der uns interessierenden Phase ein. Sie wirft darüber hinaus Fragen nach ihrer theoretischen Reichweite auf. Denn die Versuche, die in Bourdieus Text enthaltenen „Andeutungen“, „das Potenzial des juridischen Feldes“ für praktische und politische Perspektiven zu nutzen (Guibentif 2019, 106), entbehren trotz ihres Zugewinns an Erkenntnissen heute nicht eines gewissen Optimismus, da sie, wie oben anzudeuten versucht wurde, durch das theoretische Werk Bourdieus selbst allenfalls schwach unterfüttert sind. Dessen Bemerkungen zum juridischen Feld als Anstoß für eine Intensivierung der reflexionstheoretischen Bemühungen zu nutzen (Guibentif 2019, 108), deckt sich zwar in ihrer Intention mit der hier aus gänzlich anderen Gründen entwickelten reflexionstheoretischen Perspektive. Diese lässt es aber im Vergleich der soziologischen Theorien als wenig erfolgversprechend erscheinen, die Fundierung eines solchen reflexionstheoretischen Unternehmens ausgerechnet auf die insgesamt theoretisch sparsamen Bourdieuschen Andeutungen zum Recht zu stützen (optimistischer insofern Dezalay und Madsen 2012.)

Im Ergebnis muss man also trotz einzelner späterer Versuche, Bourdieu für die Rechtssoziologie fruchtbar zu machen, für die uns interessierende Zeitspanne das Fehlen jener Elemente attestieren, die für eine soziologische Theorie des Rechts unabdingbar sein dürften: eines soziologischen Begriffs der Norm, des Rechts, des Verfahrens, von Organisationen des Rechts, schließlich einer soziologischen Analyse der Positivierung des Rechts und von damit verbundenen dogmatischen und rechtstheoretischen Problemlagen, etwa Fragen der Geltung usw. Das ist sicherlich in der, wie Barbara Kuchler bemerkt hat (Kuchler 2006), insgesamt asymmetrischen Theorieanlage des Werkes mit seinem „Primat der Wirtschaft“ (ebd., 9) begründet, schließt aber instruktive Weiterentwicklungen nicht nicht grundsätzlich aus.

5.2.5 Recht und Kritik – Jürgen Habermas

In dem für uns relevanten Zeitraum wurde auch Jürgen Habermas in der deutschsprachigen Rechtssoziologie als soziologischer Theoretiker des Rechts wahrgenommen. Das Interesse beruhte vor allem in den 1970er Jahren auf dem normativen Gehalt seiner Diskurstheorie, deren Nähe zur Moraltheorie und auf dem Bemühen, die Kritische Theorie der Gesellschaft zu modernisieren. In der Zeitschrift für Rechtssoziologie war Habermas in den 1980er Jahren mit einigem Abstand hinter Niklas Luhmann und deutlich vor Parsons, Foucault oder Bourdieu der am zweithäufigsten erwähnte sozialtheoretische Autor. Wenn einige seine Schriften hier unter der Überschrift „Recht und Kritik“ behandelt werden, so verfehlt diese Darstellung zugestandenermaßen die große Breite und den Reichtum der Habermasschen Theorie. Die thematische Engführung soll jedoch zeigen, dass das Grundmotiv der Kritischen Theorie der Gesellschaft bei Jürgen Habermas durchgängig mit einer Theorie des Rechts verknüpft ist, welche nicht immer als soziologische Theorie auftritt, sondern mit ihren Bezugsproblemen stärker der Politikwissenschaft oder der politischen Philosophie zugerechnet werden kann.

Wir befassen uns mit den beiden Schaffensphasen im Habermasschen Werk, die durch die „Theorie des kommunikativen Handelns“ (Habermas 1981) sowie durch „Faktizität und Geltung“ (Habermas 1992) umrissen sind. In der ersten Phase steht der Zusammenhang von Kritischer Theorie und Kolonialisierung der Lebenswelt im Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit. Er wird durch eine charakteristische Doppelung des Rechts als Medium und Institution mit der soziologischen Theorie des Rechts gekoppelt. In der späteren Phase (Habermas 1992) untermauert eine auf zivilgesellschaftliche Partizipation abstellende Theorie des demokratischen Rechtsstaats die philosophische Diskurstheorie des Rechts. Die erste Werkgruppe liegt in dem für uns relevanten Zeitraum, während die zweite darüber hinaus reicht und bis in Habermas’ jüngste Arbeiten wirkt. Gleichwohl lassen sich in letzterer noch Argumentationsmuster erkennen, die für die Theorie des kommunikativen Handelns bereits prägend waren. Wir treffen auch hier auf den Gedanken der Kolonialisierung, und zwar nunmehr in Gestalt eines die diskursive Rationalität der zivilgesellschaftlichen Peripherie bedrohenden „Systempaternalismus“.

Die Figur der Rationalitätsbedrohung durch innere Kolonialisierung spielt für Habermas’ Bemühen um eine Revitalisierung der Kritischen Theorie der Frankfurt Schule eine wichtige Rolle. Nachdem die Anläufe der älteren Frankfurter Schule aus verschiedenen Gründen als gescheitert betrachtet werden mussten, ist deren zentrales Anliegen in Habermas’ Neuauflage der Kritischen Theorie der Gesellschaft erhalten geblieben, nämlich Rationalität als Grundlage von Vergesellschaftung empirisch auffindbar zu machen, um so mit soziologischen Mitteln Gesellschaftskritik wissenschaftlich fundieren zu können. Grundlage ist zum ersten der linguistic turn, in welchem die soziologische Analyse an zentraler Stelle auf Kommunikationstheorie in Form der Sprechakttheorie ausgerichtet und an der linguistischen Pragmatik orientiert wird. Sie wird zum zweiten mit diskurstheoretischen Kategorien kombiniert, vor allem mit der Transzendentalpragmatik Karl Otto Apels. Habermas will letztere jedoch von transzendentalphilosophischen Konnotationen befreien, weshalb er auf die Vorstellung einer Universalpragmatik baut, die im Begriff des kommunikativen Handelns gründet.

Eine solche Universalpragmatik provoziert das Problem gesellschaftlicher Pathologien. Angesichts eines aus der Handlungstheorie gewonnenen Verständnisses von kommunikativer Rationalität stellt sich die Frage, ob und in welcher Weise pathologische Phänomene, wie etwa verzerrte Kommunikationsstrukturen, die Entmündigung von Individuen und ungerechtfertigte Machtakkumulation theoretisch aufgegriffen werden können. Es liegt im Rahmen der Theorieanlage in gewisser Weise nahe, empirisch fraglos zu beobachtende Rationalitätsdefizite durch nicht handlungstheoretisch konzipierte Strukturen zu erklären. Diesen Weg geht die Theorie des kommunikativen Handelns mit Hilfe der Unterscheidung von Lebenswelt und System sowie der daran anknüpfenden Kolonialisierungs-These (dazu Bora 1991, 116–136). Universale, kommunikativ nicht hintergehbare Bedingungen zwangs- und herrschaftsfreier kommunikativer Verständigung sind in einen Lebenswelt-Begriff integriert. Er übernimmt zwei Aufgaben, die man als Horizont- und Ressourcen-Funktion beschreiben kann (vgl. Matthiesen 1984). Erstere bezieht sich auf den für die Teilnehmerperspektive relevanten Handlungshorizont, der a tergo die Interaktionsteilnehmer mit nicht hintergehbaren Handlungsorientierungen und normativen Gewissheiten ausstattet. Aus der Beobachterperspektive steht der Lebenswelt-Begriff zweitens für die Ressourcen, welche die Konstitution von Persönlichkeit und Gesellschaft zulassen. Das führt zu einem über Weber hinausgehenden Konzept gesellschaftlicher Rationalisierung, die als Rationalisierung der Lebenswelt beschrieben wird. Sie bildet die Grundlage eines universalen Rationalisierungsprozesses, der sich auf empirisch vermessbarem Terrain abspielt.

Auf dieser Grundlage wird das soziologische Pathologie-Problem durch einen zweistufigen Theorieaufbau gelöst (vgl. Bora 1991, 137–147). Das Konzept der in terms kommunikativen Handelns ausgearbeiteten Lebenswelt wird durch die Systemperspektive ergänzt. Beide werden durch die Theoreme der „Entkoppelung von Lebenswelt und System“ sowie der „Kolonialisierung der Lebenswelt“ verbunden. Die Lebenswelt reproduziert sich symbolisch über Verständigung, materiell über Zwecktätigkeit. Integrationsprobleme der Gesellschaft können demnach unter zwei Aspekten thematisiert werden, nämlich als soziale oder als funktionale Integration. Der gesellschaftliche Rationalisierungsprozess bringt mit fortschreitender sozialer Differenzierung Systeme hervor, die nicht über kommunikative Rationalität, sondern über instrumentell-strategische Rationalität von Medien wie Geld, Macht oder Recht funktional integriert sind.

Auf dieser Unterscheidung von sozialer und funktionaler Integration basiert Habermas’ Konzept der Kommunikationsmedien, die das Bindeglied zwischen Lebenswelt und System bilden. Einige von ihnen nehmen eine doppelte Gestalt an, nämlich als generalisierte Formen der Kommunikation einerseits, welche rational motiviertes Vertrauen schaffen, und als Steuerungsmedien andererseits, die für instrumentell motivierte Bindung sorgen (Habermas 1981, Band 2, 272, 411 ff., 417). Generalisierte Kommunikationsformen erzeugen dementsprechend rational motiviertes Vertrauen, Steuerungsmedien im engeren Sinne, also Geld und Macht, erzeugen empirisch motivierte Bindungen. Letztere vereinfachen nicht lediglich die rationale kommunikative Verständigung, sondern ersetzen sie. Dadurch wird die Lebenswelt technisiert und entwertet. Sie wird zur Handlungskoordination in diesen Bereichen nicht benötigt. Andererseits können andere Medien, vornehmlich Einfluss und Wertbindung, keine derartigen Effekte entwickeln, da sie wegen der rationalen Motivation eng an die Lebensweltstrukturen angebunden sind, die sich innerhalb dieser Handlungsbereiche der Umstellung von Sozial- auf Systemintegration widersetzen.

Parallel zur System-Lebenswelt-Dichotomisierung wird anhand des Begriffs der Verrechtlichung in den Rechtsbegriff selbst eine entsprechende Zweiteilung eingebaut (vgl. Bora 1991, 150–158). Verrechtlichung manifestiert sich einmal als Ausdehnung des Rechts auf bis dahin nichtrechtliche Bereiche, zum anderen als Verdichtung rechtlicher Strukturen in ohnehin rechtlich konstituierten Sphären. Von Anfang an hat im modernen Sozialstaat, so Habermas, der Vorgang der Verrechtlichung einen ambivalenten Charakter. Es sind nach seiner Auffassung nämlich gerade Mittel der Freiheitsverbürgung selbst, welche freiheitsbedrohende Effekte hervorrufen, beispielsweise im Sozialrecht die Wenn-Dann-Struktur des konditionalen Rechts ebenso wie die auf bürokratischen Verwaltungsvollzug zugeschnittene Allgemeinheit des Tatbestandes, welche die Marginalisierung und Desintegration lebensweltlicher Lebenszusammenhänge hervorrufen, deren Stabilisierung eigentlicher Zweck des Sozialrechts ist (Habermas 1981, Band 2, 523 f.).

Die Unterscheidung von Freiheitsverbürgung und Freiheitsentzug ist nach Habermas anhand des Legitimationsmodus einzelner Rechtstypen zu treffen, die je nachdem, ob sie „nur durch Verfahren legitimiert werden können, oder ob sie einer materiellen Rechtfertigung fähig sind“ als Medium oder Institution bezeichnet (ebd., 535). Recht als Medium zeichnet sich durch einen positivistisch formellen Legitimationsmodus, nämlich durch die Möglichkeit eines bloßen Verweises auf ein korrektes Verfahren aus; es besitzt legitimierende Kraft allein für formal organisierte Handlungsbereiche. Recht als Institution verweist auf einen materiellen Legitimationsmodus, der sich auf die legitime Ordnung einer Lebenswelt bezieht. Die erwähnte Ambivalenz des Verrechtlichungsprozesses resultiert aus einem Übergreifen des Mediums Recht auf rechtlich institutionalisierte Lebenssachverhalte und den dort als solchen wahrnehmbaren Pathologien. Diesen Vorgang bezeichnet Habermas als Kolonialisierung. „Es ist das Medium des Rechts selbst, das die kommunikativen Strukturen des verrechtlichten Handlungsbereichs verletzt.“ (ebd., 543). Im Kern beruht diese Variante der Kritischen Theorie der Gesellschaft also auf der Trennung zwischen Recht als lebensweltlicher Institution und als Steuerungsmedium sowie auf der kausalen Zuordnung von pathologischen Effekten zur Medienseite.

Habermas’ theoretisches Grundgerüst kann soziologisch in verschiedener Hinsicht nicht überzeugen. Begrifflich ist es einigermaßen problematisch, wenn man etwa an die Konzepte der empirischen Geltung bei Weber und Geiger zurückdenkt. Legitimitätsüberzeugungen lassen sich nicht einfach von der formalen Qualität von Rechtssätzen abtrennen. Beide spielen zusammen, wie wir oben unter anderem an Luhmanns rechtssoziologischen Schriften erörtert haben. Überdies ist kein Grund ersichtlich, weshalb die von Habermas angesprochenen formal organisierten Handlungsbereiche nicht rechtfertigungsfähig im Sinne der Diskurstheorie sein sollten. Die dahinter steckende empirische Geringschätzung positiven Rechts ist aus rechtssoziologischer Sicht theoretisch überraschend und wenig sachhaltig. Schließlich lässt sich auch die Unterscheidung in Recht als Medium und Institution empirisch nicht abbilden. Beliebig viele Rechtsmaterien lassen sich denken, die beiden Bereichen gleichzeitig angehören (Beispiele in Bora 1991, 148–236.) Die Doppelrolle des Rechts als Medium und Institution ist in ihrer Unterscheidung von rechtfertigungsfähigem und „bloß“ prozedural legitimiertem Recht also konzeptionell unklar und widersprüchlich. Es erscheint deshalb nur folgerichtig, dass Habermas diesen, wie Gephart sagt, „gescheiterte[n] Versuch einer medientheoretischen Fassung von Recht“ (Gephart 1993, 180) später ausdrücklich aufgibt und nicht weiterverfolgt (Habermas 1992, 502, Fn. 47). Zwischen 1970 und dem Ende der 1980er Jahre stellt die „Theorie des kommunikativen Handelns“ mit diesen insgesamt problematischen rechtssoziologischen Grundannahmen insofern keine substanzielle Alternative zur systemtheoretischen Rechtssoziologie dar.

In „Faktizität und Geltung“ (Habermas 1992) wird die Frage der Rechtfertigungsfähigkeit auf das Recht insgesamt ausgedehnt und in einen stärker rechtsphilosophischen, begründungstheoretischen Ansatz integriert, der als Diskurstheorie des Rechts bekannt geworden ist. In dieser Fassung lässt sich dann die Kolonialisierungs-These nicht mehr ohne Weiteres vertreten. Vielmehr geht es jetzt in dem Begriffspaar von faktischer und normativer Geltung darum, ob und mit welchen Mitteln sich legitimes Recht erzeugen und gegenüber nicht zu rechtfertigenden Formen kommunikativer Macht, insbesondere in der Politik, empirisch durchsetzen kann. Nunmehr ist es der Rechtsstaat als ganzer, der doppeldeutige Züge trägt. Dessen Organisation soll (!) der „Selbstorganisation einer Gemeinschaft dienen, die sich aus dem System der Rechte als eine Assoziation freier und gleicher Rechtsgenossen konstituiert hat“ (ebd., 217). Die Diskurstheorie des Rechts verfolgt, wie man sieht, normative Ziele und steht aus diesem Grunde einer erfahrungswissenschaftlichen Rechtssoziologie relativ fern. Diese gewinnt in „Faktizität und Geltung“ erst vor dem Hintergrund einer Theorie der deliberativen Politik und der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit an Bedeutung, in welcher die diskurstheoretische Geltungsbegründung mit der soziologischen Theorie des Rechts in einen Zusammenhang gebracht wird. Das Recht wird dort im Ergebnis als Vermittlungsinstanz betrachtet, mittels derer kommunikative Rationalität aus der gesellschaftlichen Peripherie in das Zentrum des politisch-administrativen Machtkreislaufs eingeschleust werden kann. Dazu bedarf es allerdings einer partizipativen Verfahrensausgestaltung, um einer deliberativen zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit die Möglichkeit zur Beeinflussung des Zentrums zu geben.

Der Gedanke einer solchen Beeinflussung des Machtzentrums durch das Recht geht auf Bernhard Peters zurück (Peters 1993; vgl. Bora 1999, 46 ff.). Nach seiner Auffassung stellen die Orientierung an gemeinsamen Überzeugungen, die argumentative Klärung und die Selbstbindung durch freiwillige Vereinbarung „einen real wirksamen Modus der Vergesellschaftung und ein in modernen Gesellschaften wirksames Ideal für die Gestaltung sozialer Beziehungen“ dar (Peters 1993, 236). In Recht und Politik kann dieser Originalmodus egalitärer, rationaler Vergemeinschaftung gegen soziale Objektivationen zur Geltung gebracht werden. Bewusste kollektive Selbstorganisation, so die Vermutung, kann mit den Instrumenten des Rechts und der Politik in bestimmtem Umfang und unter angebbaren Bedingungen realisiert werden (ebd., 304).

Das geschieht in der Beeinflussung des gesellschaftlichen Macht-Zentrums durch die zivilgesellschaftliche Peripherie im sogenannten „Schleusenmodell“ (ebd., 327). Zum institutionellen Zentrum des Regierungssystems gehören der parlamentarische Komplex, das Rechtswesen, Regierung und Verwaltung. In der Peripherie sind Strukturen und Prozesse der Problemdefinition und Interessenartikulation angesiedelt, die ein System von „Schleusen“ im Bereich des rechtlich-politischen Systems passieren müssen, um vom Zentrum wahrgenommen und in Entscheidungen berücksichtigt zu werden (ebd., 340). Als solche Schleusen fungieren sowohl Gesetzgebungsverfahren, Wahlen, Einflusskanäle politischer Parteien oder die richterliche Rechtsfortbildung, als auch die wenig oder gar nicht formalisierten Einflussmöglichkeiten von Interessengruppen, sozialen Bewegungen, Massenmedien, Professionen usw. Die Peripherie führt so dem im Routinemodus operierenden Zentrum im Wege der öffentlichen Thematisierung und Dramatisierung Problemmasse zu, die nur den „privaten“, „bewusst vergesellschafteten“ Bereichen verfügbar ist. Auf diesem Wege bringt sich der Originalmodus sozialer Integration gegenüber sozial „verselbständigten“ Strukturen zur Geltung. Er stemmt sich damit gegen eine Marginalisierung durch staatliche Macht – gegen eine neue Form der Kolonialisierung, wenn man so will. Im Unterschied zur Theorie des kommunikativen Handelns wird nun der Widerstand allerdings selbst in Formen des Rechts und der Politik kanalisiert, unter expliziter Ausnutzung staatlicher Institutionen. Dazu ist die Inklusion aller, ihre Partizipationsmöglichkeit in egalitären Vergemeinschaftungsprozessen ebenso wie an den Schleusen des Systems erforderlich. Allein die egalitäre – partizipatorische, allen gleiche Chancen gewährende – Struktur peripherer Vergemeinschaftungen ist die Quelle für Problemwahrnehmungen, die dem Zentrum letztendlich Integrationskraft verleihen.

Habermas spitzt die Figur des Schleusenmodells in „Faktizität und Geltung“ weiter zu und konzipiert die Vermittlungsstelle als „deliberative Öffentlichkeit“. Das Recht übernimmt die Rolle des gesellschaftlichen Vermittlers zwischen der Faktizität staatlicher Rechtsdurchsetzung und der „Legitimität begründenden Kraft eines dem Anspruch nach rationalen, weil freiheitsverbürgenden Verfahrens der Rechtsetzung.“ (Habermas 1992, 46; zum Folgenden auch Bora 1999, 48–52). Es ist über die Institutionalisierung der systembildenden Medien Geld und Macht in den sozial integrierten Ordnungen der Lebenswelt mit allen Ressourcen gesellschaftlicher Integration zugleich verknüpft und trägt auch die Spannungen zwischen diesen Integrationsmodi in sich. Im Rechtsstaat äußert sich dies als Widerspruch zwischen kommunikativer, dem Einvernehmen zwischen handelnden Personen entspringender und administrativer Macht (Arendt 1970, 45). Habermas deutet so das Verhältnis von Faktizität und Geltung als Differenz von administrativer und kommunikativer Macht. Das Recht ist dann in der modernen Gesellschaft modernen Gesellschaft das Mittel, welches kommunikative in administrative Macht umsetzt (Habermas 1992, 187).

„Deliberative Politik“ als Form der Partizipation von Betroffenen spielt sich in den politischen Arenen des Parlaments, der Öffentlichkeit, unterschiedlicher kultureller Kontexte und deren sozialer Basis ab. Das Recht bietet einen – mit der Zunahme von Normbildungselementen in der Rechtsanwendung weiter werdenden – Rahmen für partizipatorische Kommunikation. Es trägt damit die Spannung zwischen Faktizität und Geltung intern aus. Wenn es eine Schleusenfunktion erfüllen soll, können kommunikative Meinungsbildungsprozesse nicht auf dem Wege klassischer Gewaltenteilung in die parlamentarische Arena verwiesen werden. Vielmehr muss deliberative Öffentlichkeit selbst von der „Institutionalisierung entsprechender Verfahren und Kommunikationsvoraussetzungen, sowie vom Zusammenspiel der institutionalisierten Beratungen mit informell gebildeten öffentlichen Meinungen“ (ebd., 362) abhängig sein.

Der gesellschaftliche Ort solcher Verfahren ist die partizipative Öffentlichkeit in administrativen Entscheidungsprozessen. Vermittlungsprozesse können sich nicht in korporatistischen Verhandlungssystemen verwirklichen, weil gerade dort die Gefahr der Akkumulation administrativer Macht nicht gebannt, sondern im Netz neuer Arkanpolitiken vergrößert wird (ebd., 422 f.) Deshalb muss, so Habermas, der Expertendiskurs mit der demokratischen Meinungs- und Willensbildung rückgekoppelt werden, wenn man nicht Gefahr laufen will, die Problemwahrnehmungen der Experten gegen die Bürger in Form eines „legitimationsgefährdenden Systempaternalismus“ einfach nur durchzusetzen. Die rechtlich geregelten Verfahren administrativer Macht werden so durch „deliberative Politik, nämlich durch den öffentlich organisierten Meinungsstreit zwischen Experten und Gegenexperten“ kontrolliert (ebd., 426). Öffentlichkeit kann durch den Filter des Rechts die administrative Macht ehesten erreichen über „partizipatorische Formen der Beteiligung, die eine implementierende Verwaltung an die Diskurse ihrer als Staatsbürger ernstgenommenen Klienten anbindet“ (ebd., 428). Politische Öffentlichkeit, die über ihre zivilgesellschaftliche Basis in der Lebenswelt verwurzelt ist, kann mit anderen Worten in den rechtlich institutionalisierten Verfahren wirksam werden, wenn und soweit sie als partizipatorische Kommunikation potenziell Betroffener angelegt ist. In dieser Weise wirkt die deliberative Öffentlichkeit „über den Haushalt normativer Gründe ohne Eroberungsabsicht auf alle Teile des politischen Systems“ (ebd., 533).

Wie deutlich geworden sein sollte, liegt der inhaltliche Schwerpunkt von „Faktizität und Geltung“ auf der Diskurstheorie des Rechts. Ob ein solches prozeduralistisches Rechtsverständnis als Grundlage einer rechtsphilosophischen bzw. rechtstheoretischen Geltungsbegründung trägt und ob man dem Argument insofern begründungstheoretisch zu folgen bereit wäre, kann an dieser Stelle dahin gestellt bleiben. Die Diskussion nach dem Erscheinen des Werkes fand vor allem in der Rechtstheorie und -philosophie statt (vgl. pars pro toto Dreier 1994; Neumann 1996; Ladeur 1996). Aus der Rechtssoziologie und der allgemeinen Soziologie kamen vereinzelte Reaktionen (Luhmann 1993; Teubner 1996; Blanke 1994; Blankenburg 1994, 1996; Bora 1994 (b), 1999.) Sie wiesen insbesondere darauf hin, dass in der Figur der deliberativen Öffentlichkeit im Recht empirische Voraussetzungen in Anspruch genommen werden, die aus rechtssoziologischer Sicht nicht haltbar sind. Auch in „Faktizität und Geltung“ wird die Perspektive der Emergenz sozialer Ordnung zugunsten der normativen Geltungsbegründung vernachlässigt, wie dies schon in der Theorie des kommunikativen Handelns zu beobachten gewesen war. Die normativ präferierten Formen zivilgesellschaftlicher Partizipation erweisen sich in der Realität als keineswegs legitimationsfördernd im Sinne der Diskurstheorie des demokratischen Rechtsstaates. Sie verursachen gerade im Hinblick auf den Zusammenhang von Recht und Politik erhebliche Verwerfungen (vgl. Bora a. a. O.). Das schränkt die Aussagekraft des rechtstheoretischen Modells insgesamt ein und erschwert folglich auch in der Rechtssoziologie mögliche Anschlüsse. „Faktizität und Geltung“ enthält folglich ebenso wie die „Theorie des kommunikativen Handelns“ weder eine soziologische Theorie des Rechts noch empirische belastbare und damit rechtssoziologisch theoriefähige Konzepte.

Habermas hat, so kann man zusammenfassend festhalten, trotz seiner weit ausstrahlenden wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Wirkung seit den 1960er Jahren in der entscheidenden Phase der deutschen Rechtssoziologie nach 1972 keinen nachhaltigen Einfluss auf das Feld entfalten können. Das lag sowohl an internen theoriearchitektonischen Problemen als auch am Fehlen einer starken rechtssoziologischen Theorie. Die Theorie des kommunikativen Handelns verwendet an theoretisch wichtiger Stelle ein begrifflich und empirisch schwaches Konzept des Rechts, das in der Soziologie nicht anschlussfähig ist und später von Habermas explizit verworfen wird. Wie Foucaults und Bourdieus Beiträge bietet sich auch die Theorie des kommunikativen Handelns sicherlich für eine normative Rechtskritik an, stellt dafür aber keine soziologischen Konzepte zur Verfügung. Folgerichtig treten keine reflexionstheoretischen Fragen auf, und dies trotz umfangreicher Auseinandersetzung mit Durkheim, Weber und Parsons, die aber nicht als soziologische Theoretiker des Rechts gelesen werden. Dazu besteht aus der Sicht der Diskurstheorie kein Anlass. Insofern ist mit Blick auf Habermas’ Schriften bis etwa 1980 die reflexionstheoretische Lücke nicht geschlossen, welche sich beim Rückzug der systemtheoretischen Rechtssoziologie nach 1970 öffnet. Der Blick in die folgenden Jahrzehnte ergibt in „Faktizität und Geltung“ erneut eine, dieses Mal prägnanter ausgearbeitete, wichtige theoretische Rolle des Rechts, die aber aus soziologischer Sicht in Idealisierungen mündet. Die methodisch beobachtbare Realität widerspricht den Unterstellungen des Schleusenmodells in zentraler Hinsicht. Wenn man diese Sichtweise aufgibt, kann man aus differenzierungstheoretischer perspektive gut verstehen, weshalb in den partizipativen Arrangements anstelle einer deliberativen, die Administration mit Rationalität ausstattenden Öffentlichkeit ein fundamentaler Widerstreit und Kommunikationszusammenbruch zu beobachten ist. Er resultiert aus Struktursicherungsoperationen des Rechts gegenüber Normbildungskommunikationen in Rechtsanwendungsverfahren (Bora 1999). Die von Habermas befürwortete Politisierung, so nachvollziehbar sie aus diskurstheoretischer Sicht sein mag, verursacht Kosten, welche aus dieser idealisierenden Perspektive auf das Recht unsichtbar bleiben, sich aber in der rechtssoziologischen Rekonstruktion als Antrieb für andere Formen sozialer Ordnungsbildung (zum Beispiel Protest) nachweisen lassen. Dass sich auf dieser gegenstandstheoretischen Grundlage wiederum keine reflexionstheoretischen Fragen nach responsiver Interdisziplinarität stellen, ist offensichtlich. Im Ergebnis ist also auch das spätere Werk von Jürgen Habermas wenig geeignet, die rechtssoziologischen Reflexionstheorie weiter zu entfalten. Wir werden im abschließenden Kapitel jedoch sehen, dass der Kolonialisierungs-Gedanke sich als langlebig erwiesen hat und in rechtssoziologisch relevanten Zusammenhängen, insbesondere in der neueren juristischen Rechtstheorie, wieder Resonanz findet. Dort erscheint er, wie wir sehen werden, in einer Form, die instruktiv für die responsive Rechtssoziologie ist und zu Anschlussüberlegungen anregt.

5.2.6 Zwischenfazit – Die reflexionstheoretische Lücke

Der kurze Überblick über soziologische Theorien der 1970er und 1980er Jahre sowie deren Beiträge zur Rechtssoziologie jenseits der Systemtheorie sollte deutlich machen, dass der Rückzug der systemtheoretischen Rechtssoziologie tatsächlich einen signifikanten Bedarf an soziologischer Reflexion hinterließ, der zu jener Zeit von keinem anderen soziologischen Theorieangebot gedeckt wurde. Die Konzentration der Systemtheorie auf einen soziologischen Autonomiediskurs verhinderte eine balancierte Reflexionstheorie, in welcher Autonomie- und Praxisdiskurs gleichermaßen zu Wort kommen. Die übrigen soziologischen Theorien vernachlässigten in unterschiedlichem Ausmaß das Recht als Gegenstand und unternahmen schon allein deshalb in aller Regel kaum Anstrengungen, eine Reflexionstheorie der Interdisziplinarität zu entwickeln.

Die Untersuchung rechtssoziologischer Reflexionsdiskurse in diesem und dem vorhergegangenen Kapitel ergibt damit insgesamt ein ambivalentes Bild des Feldes. Auf der rechts- und wissenschaftspolitischen Oberfläche erlebt die Rechtssoziologie bis Mitte der 1970er Jahre ihre Blütezeit. Sie ist mit weitreichenden Hoffnungen auf rationale Rechtspolitik, Gesellschaftsreform, Steuerung und Gestaltung verbunden. In institutioneller Hinsicht kann sie, wie im zweiten Kapitel erörtert wurde, bescheidene Erfolge im Hinblick auf wissenschaftliche Selbstorganisation und Zuwachs an publizistischen Möglichkeiten verzeichnen, auch wenn sie niemals über den Status einer marginalen Erscheinung hinausgelangt. Gleichzeitig, das kann man als Ergebnis der bisherigen Diskurs-Analysen festhalten, werden in dieser Blütezeit aber auch einige Ursachen für das spätere, nahezu vollständige Verschwinden der Rechtssoziologie gelegt. Sie ist in dieser entscheidenden Phase geprägt durch ein fundamentales Desinteresse soziologischer Theorien, die mit Ausnahme der Systemtheorie sowohl eine Rechtssoziologie im strengen Sinne als auch entsprechende reflexionstheoretische Bemühungen vermissen lassen. Selbstverständlich entfalten alle oben erwähnten Theorien jeweils großen, fachuniversellen und oft weit darüber hinaus reichenden Einfluss; sie bieten aber ebenso gewiss keine soziologischen Analysen des Rechts und keine fruchtbare Konzeption interdisziplinärer Kooperation an. Die Systemtheorie, das wurde weiterhin zu zeigen versucht, lässt in dieser Phase ihr durchaus vorhandenes reflexionstheoretisches Potenzial verkümmern. Sie betont im Konkurrenzverhältnis mit den rechtssoziologischen Diskursen der juristischen Autonomie, der Gesellschaftspolitik und der engagierten sozial-ingenieurialen Rechtssoziologie die Autonomie der soziologischen Theorie auf der Basis eines Rezeptions-Modells interdisziplinärer Beziehungen und kappt damit die Möglichkeit eines symmetrischen, responsiven Konzepts der Interdisziplinarität. Infolge des Ausfalls anderer soziologischer Theorien auf dem Gebiet des Rechts hinterlässt dieser systemtheoretische Rückzug aus der rechtssoziologischen Reflexionstheorie unbeantwortete Fragen, die sich schließlich als nachteilig für die Chancen institutionellen Erfolges erweisen. Denn die Rechtssoziologie gerät seit jener Zeit in den im zweiten Kapitel dargestellten Abschwung, aus dem sie sich seither kaum hat lösen können. Dieser mündet reflexionstheoretisch insgesamt in eine Sackgasse, aus welcher das Feld lange Zeit keinen Ausweg findet, wie im folgenden Abschnitt dargestellt wird.

5.3 Misserfolg der Rechtssoziologie – Reflexionstheoretische Deutungen

Der Niedergang der Rechtssoziologie in Gestalt des Abschieds der Soziologie vom Recht ist angesichts der zuvor geschilderten reflexionstheoretischen Schwierigkeiten vermutlich unabwendbar gewesen. Er vollzieht sich nach Jahrzehnten des Aufschwungs etwa seit Mitte der 1970er Jahre. Einige Strukturdaten zu diesem institutionellen Niedergang des Feldes wurden im zweiten Kapitel bereits vorgestellt. Die Rechtssoziologie ist, wie wir gesehen hatten, mit Ausnahme eines größeren Förderprogramms und der seit 1980 etablierten, aber immer gegen die Schwächen des Feldes kämpfenden Zeitschrift für Rechtssoziologie weder im akademischen Leben als Sub- Disziplin, noch in den großen Forschungseinrichtungen und -programmen, noch in der Politikberatung dauerhaft und sichtbar präsent. Die Institutionalisierungsbemühungen lassen deshalb seit den 1980er Jahren in den meisten Bereichen nach bzw. versiegen bis zur Jahrtausendwende weitgehend. Auf die Beschreibung im zweiten Kapitel wird hier Bezug genommen, um nun nach der Reflexion dieser Probleme im Feld selbst zu fragen. Dort wird ab den 1970er Jahren angesichts des institutionellen Fehlschlags die Frage nach dessen wissenschaftlicher Position diskutiert. Zum ersten Mal seit der Gründungsphase wird Interdisziplinarität wieder zum reflexionstheoretischen Thema. Die seit Mitte der 1960er Jahre herrschende Euphorie bezüglich der Zukunftsaussichten des Feldes erlischt mangels institutioneller Nachhaltigkeit. Interventionskonsens und Modernisierungsemphase sind abgeebbt. Die Weigerung, Hilfswissenschaft zu sein, schneidet das Feld zugleich von Ressourcen ab (Bender 1994, 131), ohne dass sich, wie wir gesehen haben, ein funktional äquivalentes, symmetrisches Konzept interdisziplinärer Beziehungen etabliert. Die Ambition, Juristen dazu zu bringen, „auf dem Niveau der Sozialwissenschaften“ zu operieren (Lautmann 1973 48), gibt nicht länger den Ton an. Das Fach Soziologie beginnt, sich aus den Themenfeldern zurückzuziehen, die seit Mitte der 1960er Jahre die öffentliche und wissenschaftliche Debatte mitbestimmt hatten. Die aus der Rezession 1966 hervorgehende Debatte um gesellschaftliche Steuerung, daraus resultierende Interventionsprogrammatiken und ein gerade um 1970 weltweit außerordentlich hohes Interesse an wissenschaftlicher Folgenabschätzung, nicht nur auf dem Gebiet technisch-wissenschaftlicher Innovation, das oben bereits angesprochene Bemühen um eine als Versozialwissenschaftlichung angelegte Justizreform, eine am labeling approach ausgerichtete neue Kriminologie – alle diese schwungvoll begonnenen wissenschaftlichen Strömungen geraten in einen tiefgreifenden Umbruch. Nicht nur in den Arbeiten zur Klassenjustiz, sondern auf breiter Linie „versiegt“, so Bender (1994, 133), „die einschlägige Produktion“. Dies geschieht nicht nur in Folge sich abzeichnender personeller und struktureller Veränderungen in der Justiz, „… vor allem aber kommt das social engineering, sei es durch Justiz, sei es durch öffentliche Verwaltungen, immer mehr in Verruf und wird im Zuge neoliberaler Erneuerung sukzessive zum Regierbarkeitsproblem erhoben“ (Bender 1994, 133 f.; vgl. auch Band 2, Kap. 4). Themen wie Verrechtlichung und Evolution (statt Planung) dominieren die Agenda, Deregulierung und Governance ersetzen steuerungsoptimistische Einstellungen, die „Grenzen des Rechts“ geraten in Sichtweite (Bender 1994, 137 f.) Die reformwissenschaftliche Perspektive verblasst, „‚heroische‘ Erklärungsmuster werden verabschiedet“ (Bender 1994, 134), nach dem Umbruch beginnt etwa Mitte der 1970er Jahre eine breite Bilanzierung der zu Ende gegangenen Epoche.

Diese Zeit des Umbruchs wird im Feld selbst als eine Phase des Scheiterns erfahren und entsprechend beschrieben. Mit nur geringer zeitlicher Verzögerung setzt eine Debatte über den Niedergang der Rechtssoziologie ein. Sie wird hier in drei Aspekten kurz aufgegriffen, erstens in einigen Einzelstimmen der 1970er Jahre (Abschn. 5.3.1), zweitens in der Debatte um die sogenannte Verwendungs-Forschung in den 1980ern (Abschn. 5.3.2) und drittens in der expliziten Auseinandersetzung um die Interdisziplinarität der Rechtssoziologie an der Wende zu den 1990er Jahren und danach (Abschn. 5.3.3).

5.3.1 Reflexionstheoretischer Auftakt – Einzelstimmen

Bereits 1975 bereitet Alex Ziegert (Ziegert 1975) diese Entwicklung in einem der seltenen Beiträge zur Reflexionstheorie der Rechtssoziologie mit vor. Das Argument stößt seinerzeit nicht auf Zustimmung und ist seither wenig beachtet geblieben, soll uns aber dennoch als Beleg für die reflexionstheoretische Brisanz der Lage um 1975 dienen. Ausgangspunkt der Überlegungen ist Frage der Effektivität der Rechtssoziologie. Sie wirft das Problem interdisziplinärer Beziehungen auf, welches nach einer wissenschaftssoziologisch verallgemeinerbaren Antwort verlangt. Der Text setzt bei der Frage nach der Leistung („Wirksamkeit“) des Rechts (ebd., 3) an und bringt diese in einen aufschlussreichen Zusammenhang zur Rechtssoziologie. Ziel ist es, „das Problem der rechtlichen Wirkung so einzukreisen, dass eine Aussage zu seiner Lösung zugleich als Grundlage für die Lösung des Problems der Rechtssoziologie verwendet werden kann …“ (ebd., 4). Die Gegenstandstheorie soll mit anderen Worten so formuliert werden, dass sie reflexionstheoretisch ergiebig ist. Wir finden hier eine frühe Fassung des Problemzusammenhangs, der auch in unsere Überlegungen hineinspielt. Legt der Text doch den Gedanken nahe, die Verfassung (die „Effektivität“, also die Leistungsfähigkeit) der Rechtssoziologie könne etwas mit deren begrifflicher Fassung der „Außenwirkungen“ des Rechts zu tun haben. Soweit in Ziegerts Text der Zusammenhang von soziologisch gehaltvoller Theorie und Praxisbezug angesprochen wird, deckt sich dies mit der hier verfolgten Intention.

Ziegert verwendet zur Ausarbeitung seines Gedankens das Konzept der „Soziotechnik“. Über zwei Dimensionen „theoretisch – nicht-theoretisch“ und „basic – applied“ (ebd., 6) ergibt sich eine Vierfeldertafel, in welcher eine Kategorie vorkommt, die als „theoretisch und angewandt orientierte Forschung“ bezeichnet wird. Die Anwendungsorientierung besteht in Gesellschaftskritik und Sozialplanung, also in dem bereits mehrfach angesprochenen social engineering, auch Soziotechnik genannt (ebd., 9). Das Verhältnis der Rechtssoziologie zur „gesellschaftlichen Aktivität“ wird im Anschluss an Etzionis Begriff (Etzioni 1968) als „societal guidance“ (Ziegert 1975, 34 ff.) bezeichnet. Der Anspruch dieser Gesellschafts-Leitung besteht darin, „gesellschaftliches Handeln planbar zu machen“ (ebd., 34), und zwar auf der Basis soziologischer Theorie.

Das ist zwar ein Ansatz im Geist der Technokratie, der soziologischen Theorie als Basis von Gesellschaftsplanung, und nicht eine Vorstellung der Limitation und Reflexion von Wissenschaft durch eine Semantik der Praxis. Außerdem behandelt der Text sowohl die Beziehung zwischen Recht und Gesellschaft als auch diejenige zwischen Wissenschaft (Soziologie) und Gesellschaft, ohne beides zu trennen. Societal Guidance bezieht sich auf letztere, in der Zusammenfassung des ersten Teils steht dann jedoch „das Problem sozialer Wirkungen des Rechts“ (ebd., 49) im Vordergrund. Am Ende ist dann nicht das Recht, sondern die Gesellschaft „das Untersuchungsobjekt der Rechtssoziologie“, die den Ausgangspunkt der societal guidance bezieht (ebd.).

Trotz dieser Unklarheiten wird jedoch Frage des Theorie-Praxis-Verhältnisses im vierten Teil des Buches in aufschlussreicher Weise behandelt. Die Rechtssoziologie, so Ziegert, hat „Rechenschaft darüber abzulegen […], wie weit Rechtswissenschaft und Soziologie, wenn sie theoretische Aussagen über das Recht machen, damit Wirkungen auf das gesellschaftliche Gesamtsystem haben und wie sich diese Wirkungen darstellen lassen.“ (ebd., 88) Ziegert betont die „Korrektivfunktion der Rechtssoziologie, sowohl gegenüber der Rechtswissenschaft …, als auch gegenüber der Soziologie …“ und rückt so „die gesellschaftliche Bedingtheit von Recht in den Mittelpunkt gemeinsamen Interesses von Rechtswissenschaft und Soziologie und näher an die wissenschaftliche Bewältigung gesellschaftlicher Problematik.“ (ebd., 89) Im Anschluss wird die Rechtssoziologie weder der Rechtswissenschaft noch der Soziologie zugerechnet, sondern als ein „wissenschaftliches Kommunikationsmodell“ bezeichnet (ebd., 91), das in den Dienst der „Bewältigung gesellschaftlicher Problematik“ (ebd., 92) gestellt werden kann.

Diese Vorstellung ist interessant, weil sie, wenn man einmal von dem etwas hoch gesteckten Anspruch eines Modells absieht, die wechselseitige Beobachtung, das Zusammenspiel von Reflexionstheorien, die Frage der Resonanz aufwirft, auch wenn dies in einen, gewissen Zügen des Zeitgeists geschuldeten, technokratischen Denkstil eingebettet ist. Die Frage, die Ziegert stellt, ist jedenfalls aktuell geblieben. Er will wissen, „was von soziologischer Seite geboten werden kann, um einen Bezug zu schaffen, auf dem man sich rechtssoziologisch mit der Rechtswissenschaft begegnen kann. … Was hat die Soziologie in diesem Zusammenhang bisher geleistet und was leistet sie gegenwärtig?“ (ebd., Hervorh. von mir, A.B.). Die alte Frage nach dem Verhältnis der Disziplinen wird hier, soweit ersichtlich, erstmals nach Weber und Geiger wieder an die Soziologie und nicht mehr ausschließlich an die Rechtswissenschaft adressiert.

Der Text zeigt vor allem, dass mit der Systemtheorie diese Frage nach der externen Referenz unmittelbar auf den Plan tritt. Auch wenn Ziegerts Ansatz von Semantiken der Gesellschaftskritik und der Technokratie durchsetzt ist, ändert dies nichts an der Bedeutung der Fragestellung, die symptomatisch ist für die Phase des beginnenden Selbstzweifels der Rechtssoziologie, selbet wenn die Antworten, zu denen er gelangt, unter dem ungeklärten Verhältnis der beiden Fragen nach der Wirkung des Rechts und der „Effektivität“ der Rechtssoziologie leiden, die der Text trotz gegenteiliger Beteuerungen im Schlusswort nicht trennscharf voneinander abgrenzt. Insgesamt treffen wir also in der Phase des beginnenden Niedergangs der Rechtssoziologie auf eine reflexionstheoretische Position der Gesellschaftssteuerung als Praxis des Rechts und der Rechtssoziologie. Reflexionstheoretisch wird dieser Praxisdiskurs an theoretische Ambitionen rückgebunden, insbesondere im Hinblick auf die Systemtheorie, ohne dass jedoch der Gesichtspunkt wissenschaftlicher Autonomie zu den Praxisformen in eine reflexionstheoretisch schlüssige Beziehung gebracht würde. Damit ist die Frage aufgeworfen, die heute auf der Grundlage neuerer wissenschaftssoziologischer Arbeiten zur Formulierung einer responsiven Reflexionstheorie anregt.

In diesem Zusammenhang sei noch einmal kurz an Helmut Schelsky erinnert, der ungefähr zur selben Zeit (Schelsky 1978; in Schelsky 1980, 77–94) die Rechtssoziologie scharf angreift. Die im vierten Kapitel geschilderten Argumente gegen Gehlen, Dahrendorf, Habermas und Luhmann belegen seine – rückblickend betrachtet: hellsichtige – Diagnose eines Abschieds der Soziologie vom Recht, die er als doppeltes Versagen brandmarkt, nämlich als Scheitern soziologischer Theorie angesichts des Gegenstandes und als Fehlen eines Praxis-Konzepts für eine interdisziplinäre Kooperation.

Solche Theorie-Defizite sind innerhalb der rechtssoziologischen Reflexion immer wieder ein Thema. Daran erinnert in Heft 2 des Jahrgangs 1981 der ZfRSoz ein Angriff aus der kritischen Kriminologie (Smaus 1981) auf die Forschung über „knowledge and opinion about law“ (KOL), die als technokratisches „social engineering“ (ebd., 260) kritisiert wird. Man erkennt darin die reflexionstheoretische Variante eines engagierten Diskurses, der im Unterschied zu den oben erwähnten gerade keine Verbindung mit den Sozialtechnokraten eingeht, sondern diese als theorielos kritisiert. In Heft 2 des Jahres 1982 folgt eine kurze Debatte zwischen Blankenburg und Smaus. In Heft 2/1983 publiziert Rasehorn einen Nachtrag zu der Kontroverse, der einen fast versöhnlichen Aufruf von Smaus provoziert, sich verstärkt der in der Soziologie entwickelten Schichtungstheorien zu bedienen. In diesem Vorschlag spiegelt sich in charakteristischer Weise der kritische Habitus wider, dem soziologische Theorien als Instrumente für vordefinierte Problemlagen dienen. Das ansonsten eher nebensächliche Beispiel soll lediglich deutlich machen, dass die Reflexionstheorie der Rechtssoziologie keinen konstruktiven Ausweg aus ihrer seit den Anfängen verfahrenen Situation findet, sondern sich wieder in den Fallstricken der bekannten Reflexionsdebatten verfängt. Auch wenn um die Mitte der 1970er Jahre also ein reflexionstheoretischer Auftakt vorgegeben wird, ist keine zufriedenstellende reflexionstheoretische Beschreibung von Interdisziplinarität in Sicht.

5.3.2 Verwendungs-Forschung

Wenig anders ergeht es der bald einsetzenden breiten Auseinandersetzung um die Verwendung rechtssoziologischen Wissens. Während die bislang genannten Beiträge vereinzelte Stimmen sind, entfaltet sich seit Beginn der 1980er Jahre eine systematische reflexionstheoretische Beschäftigung mit den Chancen und Schwierigkeiten der Rechtssoziologie innerhalb des Feldes selbst. Diese rechtssoziologische Debatte über den Niedergang des Feldes ist eingebettet in eine seit 1980 in der allgemeinen Soziologie entstandene Beschäftigung mit der „Verwendung sozialwissenschaftlichen Wissens“. 1980 wird ein DFG-Schwerpunktprogramm mit diesem Titel ins Leben gerufen. 1982 gibt Ulrich Beck einen Sonderband von „Soziale Welt“ mit dem Titel „Soziologie und Praxis“ heraus (Beck 1982). Darin beklagt Blankenburg in seinem Beitrag „Die Praxisrelevanz einer Nicht-Disziplin. Der Fall (der) Rechtssoziologie“ das Ausbleiben einer dauerhaften institutionellen Konsolidierung des Feldes infolge der mangelnden Rezeptionsbereitschaft der Rechtswissenschaft. Nach dem Erscheinen des dritten Jahrgangs der Zeitschrift für Rechtssoziologie äußert Alberto Febbrajo Kritik an deren interdisziplinärer Position, welche den Widerspruch zwischen juristischer und erfahrungswissenschaftlicher Perspektive nicht überwinden könne (Febbrajo 1983). Blankenburg reagiert darauf mit dem Vorwurf der „Ignoranz aus Komplexität“ und plädiert für einen reflexionstheoretischen Inkrementalismus, für eine Praxis des Machbaren und für eine „Strategie der kleinen Erkenntnisschritte“ (Blankenburg 1985). Wir hatten oben den sozial-ingenieurialen Diskurs analysiert und auf seinen inneren Zusammenhang mit dem Rezeptions-Modell von Interdisziplinarität hingewiesen. Dieser Konnex wird hier nun explizit und läutet für die Rechtssoziologie die Phase der „Verwendungsforschung“ ein.

Unmittelbar im Anschluss an die Kontroverse zwischen Febbrajo und Blankenburg erscheint 1985 in Heft 2 der Zeitschrift für Rechtssoziologie ein Bericht von Doris Lucke über das Jahrestreffen der Sektion Rechtssoziologie (Lucke 1985). Sie nutzt diesen zu einer Bestandsaufnahme und Kritik des Zustandes, in welchem sich das Feld seinerzeit befindet. Sie klagt über „gepflegte Beliebigkeit“ und fragt, ob die Rechtssoziologie ihre thematische Orientierung verloren habe, noch bevor sie sich in einem Entwicklungsstand befinde, in welchem sie ihren Gegenstand exakt zu definieren und sich als autonomes Fachgebiet an deutschen Universitäten habe konstituieren und praktische Bedeutung habe erlangen können, die sich in sozialer Anerkennung als anwendungsorientierte und nützliche Wissenschaft hätte niederschlagen können. Lucke beklagt das Verflachen wissenschaftlicher Diskussionen und den Verlust des Schwungs und der Zuversicht, die das Feld anfänglich ausgezeichnet hätten. Ein Prozess „sekundärer Versozialwissenschaftlichung“ (ebd., 332) habe zu einem Zustand friedlicher Koexistenz zwischen Recht und Soziologie, zwischen Wissenschaft und Praxis geführt, zu einem „cooling out“ der wissenschaftlichen Auseinandersetzungen, einem unproduktiven Nebeneinander anstelle fruchtbarer Auseinandersetzung. Die Problembeschreibung trifft den Kern der Krise, in welche das Feld seinerzeit hineingerät. Gleichwohl bleiben tiefergehende Analysen aus.

Nach einem Artikel von Lautmann und Meuser über die „Verwendung der Soziologie in Handlungswissenschaften am Beispiel von Pädagogik und Jurisprudenz“ in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1986 (Lautmann und Meuser 1986) folgt 1988 in der Zeitschrift für Rechtssoziologie ein Schwerpunktheft „Verwendung soziologischen Wissens in juristischen Zusammenhängen“, verantwortet von Doris Lucke (Lucke 1988). In ihrer Einleitung schlägt sie eine historische Phaseneinteilung der Verwendung soziologischen Wissens (ebd., 123 ff.) vor, nämlich erstens von den 1960er bis erste Hälfte 70er Jahre die Zeit der Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft und der Reformpolitik mit Hilfe der Sozialwissenschaften (ebd., 123), zweitens von Mitte bis Ende der 70er Jahre eine Phase der Entbehrlichkeits- und Verzichtbarkeitsbehauptungen (ebd., 124), einer resignativen Selbstmarginalisierung der Rechtssoziologie mit anderen Worten, und drittens seit Anfang der 1980er Jahre eine Phase der Konsolidierung, geprägt von wechselseitigem Respekt und von einer gewisse Selbstverständlichkeit im Umgang (ebd.). Nach einem kurzen Rückblick auf die Geschichte der „Verwendungsforschung“ (ebd., 124 ff.), die in den USA seit 1970 zu gewisser Blüte gelangt, in Deutschland an eine weiter zurück reichende Theorie-Praxis-Debatte anschließt und den Entwicklungen der Wissenschaftstheorie bzw. -soziologie folgt (dem sogenannten linearen Modell der Wissenschaft, ebd., 125), beschreibt sie den seinerzeit aktuellen Stand als so genannte „revidierte Verwendungsforschung“. Mit diesem Begriff verbinden Ulrich Beck und Wolfgang Bonß (Beck und Bonß 1989) die These des „Verschwindens“ sozialwissenschaftlichen Wissens im Zuge seiner alltagspraktischen Aneignung. Versozialwissenschaftlichung des Alltagswissens bedeutet nach ihrer Auffassung notwendig zugleich eine Trivialisierung wissenschaftlichen Wissens. Daraus leiteten sie die Empfehlung ab, Disziplingrenzen zu überschreiten, „auf Entdifferenzierung und eine gleichsam ‚undisziplinierte‘ Praxisrelevanz zu setzen“ (ebd., 126), ein normatives Konzept von Wissenschaft, das man in vielen Konzepten sogenannter „problemorientierter“ Forschung vorfindet und das auch in der so genannten „Finalisierungs“-Debatte seinerzeit eine gewisse Rolle spielt (Böhme et al. 1973). Mit guten Gründen weist Lucke auf das Problem der Selbstimplikationsfähigkeit dieser Thesen hin und auf andere Schwierigkeiten, die den Ansatz jedenfalls mit Blick auf die Rechtssoziologie letztlich zur Bedeutungslosigkeit verdammen (Lucke 1988, 127).

Für die Konzeption des Schwerpunkt-Heftes bleiben diese theoretischen Vorüberlegungen allerdings insgesamt folgenlos. Lucke zieht keine Konsequenzen aus den Sackgassen der Verwendungsforschung. Das Heft präsentiert sich vielmehr als eine theoretisch nicht weiter begründete Sammlung interessanter Fälle, aus denen sich der damals aktuelle Stand der „Verwendung“ entnehmen lassen soll. Dazu zählen unter anderem zwei Beiträge zur Ressortforschung von Ronge und Strempel, zum Familienrecht von Lucke und Limbach, zum Arbeits-, Bau-, und Gleichstellungsrecht sowie weiteren Themen. Deren Heterogenität bildet zugleich das weitgehende Fehlen eines reflexionstheoretischen Ergebnisses ab. Allenfalls stellt die Erkenntnis, dass auf Seiten der Jurisprudenz die Ablehnung der Sozialwissenschaftlichen möglicherweise weniger strikt ist als zuvor, eine Gemeinsamkeit der verschiedenen Studien dar. Lucke attestiert in diesem Zusammenhang Hinweise auf „sinkende Selbstreferentialität juristischer Instanzen und Agenturen“ (ebd., 122). In einer kurzen Reaktion auf das Schwerpunkt-Heft fordert Theo Rasehorn (Rasehorn 1989) eine „Wissenschaft der Praxis“, die er als Grundlagenwissenschaft versteht. Er sieht die Systemtheorie auf dem falschen Weg, erinnert dagegen an Marx, Weber, Adorno, Schelsky, König, Habermas sowie Dahrendorf und erwähnt als einzige Theorie-Hoffnung am Ende Ulrich Beck. In dieser Deutung manifestiert sich ebenso wie im Schwerpunkt-Heft in gewisser Weise die reflexionstheoretische Ratlosigkeit des Feldes.

Insgesamt erkennt man im Konzept der Verwendung soziologischen Wissens bereits im Begriff erneut das reflexionstheoretische Rezeptions-Paradigma. Die die semantische und konzeptionelle Unschärfe des Verwendungs-Begriffs geht über wissenschaftssoziologische Differenzen zwischen linearem Modell, komplexeren Modellen, Konzepten wechselseitigen Lernens oder der späteren Mode-2-Diskussion hinweg (vgl. Nowotny et al. 2004). Das asymmetrische Konzept der Interdisziplinarität als Rezeption soziologischen Wissens durch die Jurisprudenz kommt einigermaßen unerschütterlich zum Ausdruck. Die Ansätze responsiver Reflexionstheorie, die in der Systemtheorie ein Jahrzehnt zuvor abgebrochen waren, scheinen jetzt innerhalb der Rechtssoziologie vollständig aus dem Blick geraten zu sein.

5.3.3 Interdisziplinarität – unabgeschlossene reflexionstheoretische Debatten

Einen systematischen Versuch, die „Beziehungen zwischen Rechtssoziologie und Rechtsdogmatik“ zu klären und den Begriff der Interdisziplinarität zu schärfen, unternimmt Raiser 1989 in „Droit et Societé“ (Raiser 1989). Er grenzt sich von einfachen Trennungs- oder Integrationsmodellen ab und unterscheidet drei Modelle von Interdisziplinarität, die sich wie folgt mit unserem Kriterium der Symmetrie verbinden lassen: In einem proto-soziologischen Modell, das Ehrlich vorgeschlagen hatte, ist die Beziehung instrumentell gedacht, so Raiser „als Mittel, um ein besseres Verständnis der Natur und Funktionsweise des Rechts in der Gesellschaft zu erreichen“ (Raiser 1989, 148). Wir hatten im Gegensatz dazu Ehrlichs Konzept als Modell der Indifferenz charakterisiert, weil es über die Natur der instrumentellen Beziehung keine konsistente Aussage trifft. In Max Webers von der Soziologie aus argumentierendem Modell werden Wechselwirkungen, so Raiser, auf der Grundlage einer „logischen“ und „methodologischen“ Trennung der Sphären beschrieben (ebd., 149 ff.). Im gleichfalls von der Soziologie her denkenden Modell Luhmanns gehe es lediglich um „Einflüsse“ in Gestalt von Irritationen. Raiser bewegt sich also konzeptionell in gewisser Nähe zu unseren Überlegungen. Allerdings unterläuft er mit seinem als Versöhnungsangebot formulierten Fazit von der „Mehrdeutigkeit der theoretischen Modelle“ (ebd., 154 ff.) und der Forderung nach neuen Modellen, welche „Selbstbestimmung und Autopoiese ersetzen oder doch wenigstens kompensieren“ (ebd., 159), die methodologischen, metatheoretischen, wissenschaftstheoretischen Konsequenzen und verharmlost die Unterschiede in den reflexionstheoretischen Positionen. Man muss zum Beispiel nicht bestreiten, dass Luhmanns Theorie „Einflüsse“ zwischen Systemen beschreiben kann (ebd., 155), um doch auf der Radikalität seines Autopoiese-Konzepts und den daraus gerade für die Rechtstheorie resultierenden Implikationen zu beharren. Gleichwohl formuliert Raiser in dieser Phase eine Einsicht, die auch unsere Überlegungen sich zunutze machen, wenn er vermutet, dass „der interdisziplinäre Dialog, den Luhmann am Schluss selbst empfiehlt schon nach seinen eigenen Prämissen aussichtsreicher sein [dürfte], als er es erwartet, wenn er nur dichter und intensiver wird als bisher.“ (ebd., 155) Das erscheint aus neuerer wissenschaftssoziologischer Sicht einerseits klug gedacht, andererseits verdeckt die Forderung nach mehr gutem Willen die tiefer liegende reflexionstheoretische Herausforderung. Unsere Überlegungen zum reflexionstheoretischen Trilemma hatten dies zu verdeutlichen versucht.

In seiner Berliner Antrittsvorlesung 1993 postuliert Raiser folgerichtig eine disziplinäre Einheit der Rechtssoziologie, allerdings dann doch wieder unter dem Dach der Rechtswissenschaft (Raiser 2011, 133–143). Er begründet dies zum einen mit einer tatsächlichen Unmöglichkeit, die Fächer zu trennen, die beide sowohl mit textwissenschaftlichen, hermeneutischen als auch mit erfahrungswissenschaftlichen Methoden arbeiten. Weiterhin macht die Rechtswissenschaft als Normwissenschaft in zweifacher Hinsicht von Tatsachenbehauptungen und Wahrheitsfähigkeit Gebrauch, nämlich in der Produktion wahrheitsfähiger Aussagen über Normen und deren Zusammenhänge und in der Benutzung wahrheitsfähiger Aussagen über empirische Sachverhalte. Sofern Soziologie zu beidem beiträgt, meint Raiser ganz im Sinne Kantorowiczs, ist sie Teil der Rechtswissenschaft.

Die Vorlesung wird 1994 in der Zeitschrift für Rechtssoziologie veröffentlicht und entfacht eine lebhafte eine Auseinandersetzung um Raisers Position. Ziegert (1994) meint, Raisers Konzeption der „Einheit von Rechtswissenschaft und Rechtssoziologie“ sei eine Erklärung für die Schwäche des Feldes. Soweit erkennbar ist, wird hier erstmals wörtlich vom „Misserfolg“ der Rechtssoziologie gesprochen (ebd., 12). Raisers Konzept wird als „Schließung des rechtswissenschaftlichen Konzepts von Rechtssoziologie“ (ebd., 13) kritisiert. Die von Raiser skizzierte Traditionslinie der Rechtssoziologie sei in erster Linie eine „Verwissenschaftlichung“ der Rechtswissenschaft gewesen, was immerhin insofern ein interessanter Gedanke ist, als die Rechtssoziologie nicht als eine bloße Reaktion der Jurisprudenz auf die Erfahrungswissenschaften gelesen wird, also im Sinne einer „Versozialwissenschaftlichung“ im landläufigen Sinne, sondern als „Empirisierung“, womit der Versuch einer erfahrungswissenschaftlichen Fundierung der Jurisprudenz gemeint ist. Diese Verwissenschaftlichung des Rechts, so Ziegert, sei als Variante „soziologischer Physik … kaum vom Interesse an wissenschaftlicher Erkenntnis getragen …, sondern vielmehr vom juristischen Traum der besseren Entscheidung“ (ebd., 14). Besseres Entscheiden qua erfahrungswissenschaftlicher Analyse der empirischen Realität, so könne man das ursprüngliche Programm einer an der Empirischen Soziologie orientierten Rechtssoziologie charakterisieren, die im Übrigen, so Ziegert, von der Freirechtsschule bis zu Teubner zu beobachten sei (ebd., 14.) Soziologie sei aber für diese Hilfsaufgabe gar nicht geeignet, müsse zwangsläufig und kläglich an ihr scheitern. Was bleibe, sei ein Zerrbild der Soziologie in dieser von Raiser vertretenen Art rechtssoziologischen Denkens: „theorielose Variablenanalyse“ werde empiriefreier Theorie gegenübergestellt. Soziologische Alltagspraxis sehe in Wirklichkeit anders aus. Sie ziele auf das „Unerklärliche“ des Rechts und biete dafür außerrechtliche Erklärungen oder, wie Ziegert sagt, kausale Analysen. Dabei habe die Soziologie „Konzepte und Vorgehensweisen entwickelt …, die von den, in der rechtswissenschaftlichen Praxis unter Entscheidungsdruck erarbeiteten Konzepten und Vorgehensweisen erheblich abweichen müssen.“ (ebd., 21) Die soziologische Analyse umfasse damit wesentlich mehr als die Variablenanalyse, die von der rechtswissenschaftlichen Rechtssoziologie typischerweise in Anspruch genommen werde. Soziologie habe vor diesem Hintergrund, so Ziegerts Fazit, der Rechtswissenschaft nicht die Beobachtung des Rechts, sondern die Beobachtung „menschlicher Praxis“ (ebd., 22) anzubieten. Sie habe die Aufgabe, zu einem Beobachtungsstandpunkt der „verpflichtenden Phantasie“ zu ermächtigen (ebd., 23), also zu produktivem Umgang mit Irritationen, würde man heute vielleicht sagen. Wie dies geschehen könnte und welches Konzept von Interdisziplinarität dies implizieren könnte, bleibt damals allerdings weiterhin offen.

Erhard Blankenburg (1994) reagiert auf Ziegerts Behauptung der erfahrungswissenschaftlich fundierten Brauchbarkeit soziologischer Rechtssoziologie mit der Frage, ob sich Rechtstheorien „operationalisieren“ lassen. Er vermisst diese erfahrungswissenschaftliche Brauchbarkeit bei den soziologischen Rechtskonzepten Luhmanns und Habermas’. Im Falle Luhmanns kritisiert er vor allem die Härte des binären Codes, der angeblich keine empirischen „Graustufen“ zulasse. Blankenburgs Text ist damit einerseits ein Beispiel für die verbreitete und durch Luhmanns Texte manchmal nahegelegte Fehlperzeption, die sich nur auf Codes und Funktionssysteme bezieht (Bora 2012, 234 f.). Andererseits enthält er ein Körnchen Relevanz, wenn man an die von Kaldewey (2013) überzeugend dargestellte „Leere“ des Codes erinnert, die erst im Kontrast zu unterschiedlichen Gegenbegriffen (Programm, Referenz) gefüllt wird. Man kann also Blankenburgs Kritik in einigen Punkten akzeptieren, ohne seine engspurige Rezeption teilen zu müssen.

Eine inhaltlich ebenfalls wenig präzise Position vertritt wenig später auch Dorothea Jansen (Jansen 2003). Unter Bezug auf die damals aktuelle Wissenschaftssoziologie und -theorie schlägt sie eine interdisziplinäre Theorieentwicklung über Problembezüge vor, beispielsweise über das Thema „Governance“. Sowohl in der soziologischen Jurisprudenz als auch in der Rechtstatsachenforschung vermutet sie ein grundsätzliches Dilemma wissenschaftlicher Praxisberatung (ebd., 25). Weder aus integrierter noch aus isolierter Rechtstatsachenforschung, so Jansen, könne eine soziologische Theorie des Rechts entstehen. Das gelte aber allgemein für das Verhältnis von Wissenschaft und Praxis. Vor dem Hintergrund neuerer wissenschaftssoziologischer Ansätze, nach denen lineare Modelle der Wissenschaftsvermittlung durch komplexere Vorstellungen abgelöst wurden, ergeben sich nach ihrer Auffassung Chancen für interdisziplinären Perspektivenöffnung. Die sei erstens durch eine Aufwertung „sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Grundwissen[s] für die juristische Praxis und Ausbildung“ (ebd., 25) sowie zweitens durch eine Annäherung zwischen den Disziplinen im Hinblick auf Theorie denkbar, nämlich als problemorientierte Forschung gepaart mit einem gegenseitigen In-Rechnung-Stellen der jeweils anderen Perspektive (ebd., 26). Eine solche interdisziplinäre gegenstandsbezogene Theorieentwicklung sei, so Jansen, am besten mit den theoriesprachlichen Mitteln des Neoinstitutionalismus denkbar, und zwar mit dem begrifflichen Kristallisationspunkt der „Governance“ (ebd., 32). Sie erklärt damit die oftmals kritisierte normative und analytische Mehrdeutigkeit des Governance-Begriffs zur Stärke mit dem Ziel, (normative) Praxis und (sozialwissenschaftliche) Theorie zu integrieren. Die Formel der Integration lautet: „Mehrebenenanalyse“ (ebd., 34). Den theoretischen Bezugsrahmen bildet der Erlanger Konstruktivismus (Lorenzen) mit dem Postulat permanenter Rückkopplung zwischen Theorie und Praxis. Offen bleibt dabei die theoretische Integration divergenter Beobachtungsperspektiven. Der Praxis-Begriff hat zwar eine zentrale Bedeutung (qua „Rückkopplung“), bleibt aber inhaltlich unscharf.

Die genannten Beiträge machen deutlich, in welche Sackgasse die rechtssoziologische Reflexionsdebatte in den neunziger Jahren gerät. Die Reflexion des Feldes erschöpft sich, wenn nicht in wechselseitigen Vorwürfen so doch bestenfalls in der Leerformel des Sich-Annäherns über „Problembezüge“. Die Positionen entsprechen mit wenigen Modulationen denen, die das oben skizzierte reflexionstheoretische Trilemma generiert hatten. Das Feld bilanziert spätestens in den 1990er Jahren, um es mit Gerd Bender zu sagen, „die zu Ende gegangene Zeit der großen Ambitionen“ (Bender 1994, 135). Gleichzeitig glaubt Bender aber auch Anzeichen eines Neubeginns zu erkennen. Er nennt reflexives Recht, Steuerung, Risiko, Sicherheit als die damals „kommenden Themen“ der Rechtssoziologie. Diese Erwartung erfüllt sich allerdings nur zum Teil. Die genannten Themen sind seither überwiegend von anderen Nebengebieten der Soziologie oder von Nachbardisziplinen besetzt worden, die keine rechtssoziologischen Analysen betreiben. Das Feld selbst ist in eine große Zahl von Themenfeldern, Ansätzen und Forschungsbereichen zerfallen. Diese Entwicklung setzt gleichsam die von Beck und Bonß propagierte „undisziplinierte“ Auflösung des Feldes mit einiger Verspätung in die Tat um.

Solche Auflösungserscheinung sind insbesondere bei zeitgenössischen Strömungen unter der Bezeichnung „Recht und Gesellschaft“ beziehungsweise „interdisziplinäre Rechtsforschung“ (so bereits Plett und Ziegert 1984, später Boulanger 2008, Estermann 2009, Baer 2015, Boulanger et al. 2019) zu beobachten. Hier wird seit Anfang des Jahrtausends anstelle der von Bender genannten neuen Themen eher auf ein begrifflich schwaches Verständnis von Interdisziplinarität gesetzt, welches sich in Aufrufen nach mehr Vernetzung und Ähnlichem erschöpft. Diese Aktivitäten beginnen 2003 und 2005 mit zwei von Nachwuchswissenschaftlern organisierten Tagungen, deren Erträge 2006 als Schwerpunkt-Heft der Zeitschrift für Rechtssoziologie veröffentlicht werden (Rafi und Klose 2006). Wegen ihres programmatischen Charakters lassen sie die Schwächen dieser Bestrebungen deutlich sichtbar werden und sollen deshalb kurz exemplarisch diskutiert werden. Statt um Interdisziplinarität soll es um eine „disziplinübergreifende Herausforderung“ gehen, wie der Titel des Schwerpunkts ankündigt. Dies wird damit begründet, dass „Recht nur als gesamtgesellschaftliches und damit kulturelles Phänomen adäquat beschrieben werden kann.“ (ebd., 175). Deshalb sei es mit den Tagungen darum gegangen, einen „Austausch über … Forschungen anzuregen“ (ebd.). Die Unbestimmtheit des Gesellschaftsbegriffs und die Vagheit des Programms als „Austausch“ werden vor allem durch die Emphase kompensiert, mit welcher die Neuheit des Unternehmens proklamiert wird, nämlich als Abgrenzung gegenüber einem angeblich unbrauchbar gewordenen Begriff der Interdisziplinarität. „Während der Begriff ‚interdisziplinär‘ suggeriert, Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen würden sich gegenseitig ihren Denkstil darstellen, soll ‚disziplinübergreifend‘ eine Emanzipation der Forschung von disziplinären Einschränkungen … ermöglichen, … die eigenen Methoden kritisch … reflektieren und … neue Ansatzpunkte zu entdecken.“ (ebd., 176). Das angestrebte Neue unterscheidet sich in der Darstellung überraschenderweise in keiner Hinsicht von dem Anliegen, welches mit der Semantik der Interdisziplinarität seit langem verfolgt wird, wie wir im zweiten Kapitel ausführlich erörtert haben. Es geht dabei immer schon darum, die Beschränktheit disziplinärer Perspektiven in irgendeiner Weise zu überwinden. Worin genau die Beschränktheit bestehen könnte und wie die Überwindung gelingen könnte, das ist, wie wir ausführlich erörtert haben, seit etwa einhundert Jahren eine der Fragen, welche die Rechtssoziologie bewegen. Man ist etwas ratlos angesichts der Unbekümmertheit, mit der nach Jahrzehnten rechtssoziologischer Reflexion ohne jeden Verweis auf die reichhaltige philosophische, wissenschaftstheoretische und -soziologische Literatur zum Thema „Interdisziplinarität“ eine gänzlich neue Entwicklung eingeläutet werden soll. Die Unzufriedenheit mit dem Zustand des Feldes ist deutlich spürbar, jedoch überrascht die Verweigerung jeglichen Bezugs auf historische Debatten und das bis dahin Erreichte.

Eine vergleichbar geringe Aufmerksamkeit für die Theoriegeschichte kennzeichnet auch den einzigen reflexionstheoretischen Beitrag des Heftes von Michael Wrase (Wrase 2006). Trotz der Ankündigung, die Rechtssoziologie in Deutschland untersuchen zu wollen, widmet sich der Aufsatz lediglich der bundesrepublikanischen Entwicklung, die jedoch, wie wir gesehen haben, ohne die davor liegenden Phasen unverständlich bleibt. Er diagnostiziert eine Krise des Feldes und schlägt im Ergebnis vor, diese durch eine Übernahme des Konzepts von „Law and Society“ zu überwinden. Dieser Vorschlag beruht auf der Überzeugung, Interdisziplinarität habe in ihrer bisherigen Form ausgedient und sei durch neue Strukturen zu ersetzen, die als eine „echte Kooperation“ (ebd., 292), als ein „wirkliche[r]“ beziehungsweise „tatsächliche[r] interdisziplinäre[r] Austausch“ (ebd., 298) benannt werden. Diese „echte“ Interdisziplinarität zeichnet sich nach Wrases Auffassung vor allem dadurch aus, dass sie begrifflich gar nicht auf Disziplinen zurückgreift, deren Beziehung dann ja im Konzept der Interdisziplinarität näher zu bestimmen wäre. Vielmehr hält er disziplinäre (insbesondere soziologische) Perspektiven generell nicht für geeignet, zur geforderten Aufklärung über die „geschichtlichen, sozialen und kulturellen Hintergründe“ des Rechts (so die Defizit-Diagnose mit Blick auf die Jurisprudenz, ebd., 297) beizutragen. Die Forderung nach einer „wahren“ und „echten“ Interdisziplinarität kann offenkundig nur plausibilisiert werden, indem man die Beschreibung der Rechtssoziologie entsprechend abwertend rahmt. Sie erscheint in Wrases Darstellung, soweit sie Soziologie ist, im Wesentlichen als institutionalisiertes Denkverbot, nämlich als „unnötige Einengung“ des Denkens (ebd., 300). Diese überzeichnende Darstellung irritiert insbesondere deshalb, weil sie unterstellt, dass die Orientierung an wissenschaftlichen Kriterien als Merkmal einer Disziplin auf die Verhinderung anderer Perspektiven hinauslaufe. Dabei trifft, wie wir oben (Abschn. 2.2) gesehen hatten, vielmehr das Gegenteil zu. Das Beharren auf disziplinären Standards sichert für den betreffenden Gegenstandsbereich die Unterscheidung zwischen der Wissenschaft und ihrer Umwelt, zwischen wahrheitsfähigen Aussagen und allen anderen Kommunikationen. Sie schließt andere Formen der Unterscheidung nicht aus, sondern garantiert die Beachtung soziologischer Relevanzen genau dann und nur dann, wenn und soweit mit Blick auf das Recht soziologisch argumentiert wird. Dass daneben andere (auch: andere disziplinäre) Perspektiven möglich sind, ist dabei begriffsnotwendig vorausgesetzt und bildet überhaupt erst die Voraussetzung für alle Semantiken der Interdisziplinarität.

Weil also „falsche“ Interdisziplinarität für die diagnostizierte rechtssoziologische Krise ursächlich ist und deren Bewältigung Lösung folglich in „wahrer“ Interdisziplinarität zu suchen ist, richtet sich der Blick im Text auf die USA und die dortige „Law-and-Society“-Bewegung, die keine vergleichbare Krise erlebt hat und deshalb als Beispiel erfolgreicher Institutionalisierung des Feldes dient. Vier Faktoren, so Wrase, seien dafür vor allem verantwortlich, nämlich erstens die kritische Abwendung von der Dominanz normativer Rechtstheorien (ebd., 304), zweitens ein wissenschaftlicher Austausch und institutionelle Vernetzung, aus der ein Zusammengehörigkeitsgefühl einer „community“ entspringe (ebd.,), drittens „Meetings“ und „Networking“ (ebd., 305) sowie viertens aktive Nachwuchsförderung. „Wahre“ Interdisziplinarität, um es deutlich zu sagen, entsteht nach dieser Auffassung nicht aus dem Zusammenhang von Gegenstands- und Reflexionstheorie, wie das seit den Privatrechtslehren des neunzehnten Jahrhunderts zu beobachten ist, sondern aus einer Haltung, nämlich einer kritischen Attitüde, gepaart mit Aktivität, Austausch, Vernetzung, Meetings und Networking. In der Folge solcher Aktivitäten soll sich Vergemeinschaftung (community) einstellen.

Dass dieses Konzept – ungeachtet der Frage, ob es sich in den USA in dieser Form empirisch finden lässt – als Ansatz einer Neuerfindung der Rechtssoziologie propagiert wird, mag unter Umständen sympathisch erscheinen, ebenso die daraus hervorgegangene Organisation von Tagungen. Als Konzept ist es aber letztlich inhaltsleer und unterläuft die Problemlagen einer Reflexionstheorie der Rechtssoziologie bei weitem. Im rechtssoziologischen Alltag ist es zwar keineswegs erfolglos, wie die oben erwähnte Literatur zeigt, ebenso wie die genannten Kongresse. Gerade durch diesen Erfolg verkörpert die „interdisziplinäre Rechtsforschung“ allerdings die grundlegende reflexionstheoretische Schwäche des Feldes und liefert damit einen weiteren Beleg für unsere These vom Zusammenhang zwischen der Reflexion von Interdisziplinarität und den institutionellen Schwierigkeiten. Jedenfalls kann man an dieser Stelle Hinweise darauf erkennen, weshalb eine derartige Vorstellung von Interdisziplinarität es wissenschaftlich bisweilen schwer hat. Sie sieht weder die Problemlagen, wie wir sie oben mit dem Begriff des reflexionstheoretischen Trilemmas skizziert hatten, noch verfügt sie reflexionstheoretische Mittel zu dessen Bearbeitung. Ob vor diesem Hintergrund regelmäßige organisatorische Bemühungen das Feld tatsächlich nachhaltig stärken können, wird die Zukunft zeigen.

Das wird auch in der Rechtssoziologie selbst stellenweise so gesehen. Klaus F. Röhl (2012, § 13 II) spricht angesichts der beschriebenen Auflösungserscheinungen von „Law-and-Something-Fächer[n]“ und resümiert: „Auch in Deutschland gibt es Bestrebungen, die sozialwissenschaftliche Befassung mit dem Recht unter dem Titel ‚Recht und Gesellschaft‘ neu und breiter aufzustellen (Wrase). Der Erfolg ist nicht garantiert, obwohl der Ruf nach Interdisziplinarität heute so laut erklingt wie nie zuvor. Die größere Breite interdisziplinärer Rechtsforschung führt fraglos zu einer Bereicherung. Auf der anderen Seite sind damit aber auch negative Konsequenzen verbunden. Es werden viele Trivialitäten gehoben. Manches, was in diesem weiten Rahmen produziert wird, ist kritische Jurisprudenz, Rechtspolitik oder auch nur Feuilleton.“ (ebd.) Wenig später heißt es: „Die Recht- und-Sonstwas-Forschung ist in ihrer Vielfalt kaum koordiniert und wenig vernetzt. Vieles steht unverbunden nebeneinander und verliert dadurch an Wirkung. Da es den einschlägigen Arbeiten an der Selbstwahrnehmung als rechtssoziologisch fehlt, verzichten sie darauf, von dem vorhandenen und bewährten Angebot der Rechtssoziologie Gebrauch zu machen. Die Folge ist Zersplitterung und der Verlust von möglichem Kooperationsgewinn. Vielfach wird längst Bekanntes reproduziert. Andererseits werden verdienstvolle Arbeiten nicht gebührend zur Kenntnis genommen oder bald wieder vergessen, weil sie nicht in einen größeren Zusammenhang eingebettet sind. Hier breitet sich eine neue Unübersichtlichkeit aus, die es praktizierenden Juristen erschwert, auf sozialwissenschaftliche Forschung zurückzugreifen.“ (ebd.) Röhls beunruhigende Erklärung für diese Entwicklung weist auf ein allgemeines Problem auf Seiten der Soziologie hin: „Die Rechtssoziologie befindet sich in einer Schwächephase. Aber das ist kein isoliertes Problem der Rechtssoziologie, sondern gilt auch für die allgemeine Soziologie. Das Interesse hat sich auf andere Fächer wie Politikwissenschaft und vor allem die Kulturwissenschaften … verlagert.“ (ebd., Hervorh. von mir, A.B.) Diese weitreichende Schlussfolgerung müsste gegebenenfalls im Detail belegt werden, könnte aber vielleicht einige Plausibilität besitzen. Für die Rechtssoziologie spiegelt sie jedenfalls die offen gebliebenen reflexionstheoretischen Grundsatzfragen treffend wider.

5.4 Nach dem Wendepunkt: Responsivität als Aufgabe

Der Rückzug der Soziologie aus dem Recht kann also im Ergebnis unter anderem auch auf die Konfiguration der widerstreitenden Interdisziplinaritätsdiskurse in den 1970er Jahren zurückgeführt werden. Sie stellten je spezifische Varianten des bereits erörterten Hierarchie-Konzepts dar, die sich wechselseitig blockieren und die Perspektive einer responsiven Interdisziplinarität in den Hintergrund drängen. Auch die soziologische Systemtheorie hat die Chancen nicht ergriffen, die sich ihr auf Grund ihrer Theorieanlage grundsätzlich angeboten hätten.

Diese reflexionstheoretische Zurückhaltung hat sich als folgenreich erwiesen. Denn andere soziologische Theorien haben in den Jahrzehnten nach 1945 das Recht im Großen und Ganzen vernachlässigt, und zwar auch dann, wenn sie dessen gesellschaftlichen Stellenwert und seine Bedeutung für die Theorie gesehen haben. Das zeigte sich im Werk von Talcott Parsons, ebenso wie später auch in Jürgen Habermas’ Schriften, die an zentraler Stelle rechtstheoretische Argumente benutzen, letztlich aber keine soziologische Theorie des Rechts enthalten. Dasselbe konnte mit Blick auf Michel Foucaults und Pierre Bourdieus Arbeiten zum Recht gezeigt werden. Beide haben das soziologische Denken seit der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts entscheidend mitgeprägt, haben aber zur Genese, zur Funktion, zu den Strukturen und zu den Leistungen des Rechts keine soziologischen Beiträge geliefert. Wenn man gängige rechtssoziologische Lehrbücher als Indiz für rechtssoziologisch relevante Themen heranzieht (z. B. Röhl 1987), fällt auf, dass in den genannten soziologischen Theorien kaum einer dieser – von den juristischen Lehrtexten zwar benannten, aber nicht soziologisch verarbeiteten – Aspekte behandelt wird. Auch aus soziologischer Sicht erweist sich unmittelbar die Bedeutung des Gesamtzusammenhangs dieser Fragen. Sie bilden die Grundlage jeder soziologischen Theorie des Rechts, sofern sie sich um ein komplettes Verständnis ihres Gegenstandes bemüht. Von den genannten soziologischen Theorien kann man dies nicht behaupten. Im Grunde fehlen ihnen eine soziologische Theorie der Norm, ein soziologischer Begriff des Rechts, ebenso eine Theorie des Verfahrens, eine sachhaltige Theorie der Justizorganisationen, ebenso wie eine soziologische Beschreibung zentraler rechtstheoretischer und -dogmatischer Begrifflichkeiten, etwa des Konzepts der Geltung angesichts der Positivierung des Rechts. In jüngerer Zeit zu beobachtende Anläufe, diese Lücken zu schließen, sind zweifellos sehr verdienstvoll, ändern aber am Kerngehalt der Diagnose einer weithin fehlenden soziologischen Theorie des Rechts vorerst nichts.

In der Rechtssoziologie im deutschen Sprachraum hat dieser seit spätestens Mitte der 1970er Jahre einsetzende Abschied vom Recht spürbare Folgen interlassen. In der Folgezeit seit den 1980er Jahren wanderte der wissenschaftliche Praxisdiskurs in Zeitdiagnosen, „studies“ und „approaches“ aus, in sogenannte themen- und problemorientierte Forschung, die offen oder implizit den Anspruch auf eine integrative Theoriebildung preisgibt, wie das heute unter Stichworten wie „Recht und Gesellschaft“ oder „empirische Rechtsforschung“ zu beobachten ist. Wir hatten dies im zweiten Kapitel auch an den Beispielen großer Förderprogramme, der Ressortforschung und anderer Entwicklungen gesehen.

Der Höhepunkt der Rechtssoziologie in den frühen 1970er Jahren markiert, wie wir gesehen haben, zugleich einen Wendepunkt in der Entwicklung des Feldes. Die soziologische Systemtheorie als einzige soziologische Theorie, welche an diesem Punkt das Potenzial zur Überwindung beziehungsweise Vermeidung einer reflexionstheoretischen Blockade hat, schöpft dieses nicht aus. Damit ist die Stelle der soziologischen Theorie in der Rechtssoziologie unbesetzt. In diese Leerstelle drängen Konzepte, die den fortlaufenden Betrieb sicheren, dies aber mit dem Preis des Verzichts sowohl auf rechtssoziologische Gegenstandstheorie im Allgemeinen als auch auf symmetrische Reflexion und auf soziologische Leistungen im Besonderen bezahlen.

Diese Epochenschwelle der Rechtssoziologie hat nicht allein mit dem später diagnostizierten Ende der „großen Erzählungen“ oder mit der „neuen Unübersichtlichkeit“ zu tun. Die Ursachen der seither verbreiteten Theorieverweigerung und kleinteiligen Forschungsorientierung liegen sicherlich auch in der Schwierigkeit, komplexitätsangemessen Theoriearbeit zu betreiben und dabei über den erreichten Stand der Systematisierung hinaus zu gelangen. Die mit den genannten Vokabeln beschriebene Fragmentierung der allgemeinen Soziologie ist vielmehr ihrerseits ein Effekt des Phänomens, das wir auch in der Rechtssoziologie beobachten, nämlich des Rückzugs soziologischer Theorie von einem Gegenstand, der ihr ein anspruchsvolles reflexionstheoretisches Konzept von Autonomie und Praxis abverlangt hätte. Sicherlich beobachtet man hier Auswirkungen des Zeitgeistes jener Jahre. Mit dem Abebben der Theorieproduktion besetzen in zunehmendem Maße mehr oder weniger soziologisch gehaltvolle Zeitdiagnosen die wissenschaftliche und vor allem die mediale Arena (vgl. Osrecki 2011).

Innerhalb der Systemtheorie lassen sich zwar, wie wir gesehen haben, sehr fruchtbare theoretische Ansätze erkennen, die aber in einer inzwischen stärker auf Zeitdiagnosen zielenden und zunehmend theorie-aversen Soziologie kaum Resonanz erzeugen. Theorie wird in der Soziologie allgemein durch Zeitdiagnose, Praxisreflexion eher durch kleinteilige Ansätze ersetzt. Jedenfalls mit ursächlich für eine solche Konstellation ist freilich auch der Rückzug der außerordentlich weit entwickelten soziologischen Theorie, die sich in der kritischen Phase nach 1970 der reflexionstheoretischen Aufgabe entzog, ein symmetrisches Modell von Autonomie zu entwickeln und damit die Stabilisierung des Faches auf dem Weg zu einer „normal science“ zu ermöglichen.

Ohne reflexionstheoretischen Halt in der allgemeinen Soziologie hat die Rechtssoziologie sich unter solchen zunehmend schwieriger werdenden äußeren Bedingungen nicht wirklich erfolgreich behaupten können. Die Folgen sind jedenfalls in der deutschsprachigen Rechtssoziologie in Gestalt eines weitgehenden Ausfalls soziologischer Theorie des Rechts bis heute spürbar. Dieser Befund lässt es umso reizvoller erscheinen, weiter nach den Spuren responsiver Rechtssoziologie zu forschen, die sich, wie wir oben gesehen haben, in Luhmanns rechtssoziologischen Schriften abzuzeichnen begannen, dann aber verlassen wurden. Sie werden, wie im Folgenden zu zeigen ist, im Schatten der soziologischen Theorie des Rechts heute wieder sichtbar. Inhaltliche Konturen einer responsiven Rechtssoziologie könnten vor dem Hintergrund solcher Analysen aus den eben erwähnten liegen gebliebenen Ansätzen gewonnen und in theoretisch aktualisierter Form entwickelt werden. Diese Überlegungen werden Gegenstand des sechsten Kapitels sein.