Aus den bisherigen Überlegungen ist mit Blick auf die wenig erfolgreiche Entwicklung der Rechtssoziologie nach 1945 eine wissenschaftssoziologische These hervorgegangen. Sie besagt in ihrer vorläufigen und allgemeinen Form, dass die schwierige institutionelle Lage der Rechtssoziologie im deutschsprachigen Raum unter anderem ein Resultat spezifischer reflexionstheoretischer Konfigurationen ist. Das interdisziplinäre Feld der Rechtssoziologie, so war angenommen worden, hat keine reflexionstheoretisch nachhaltige Beschreibung seiner System-Umwelt-Relation hervorgebracht. Dieses Defizit müsste, wie man vermuten kann, in den diskursiven Konfigurationen der Rechtssoziologie empirisch zum Ausdruck kommen. Im Folgenden geht es deshalb darum, die Rechtssoziologie auf diese Konfigurationen hin zu beobachten. Dabei spielt die Entstehungsphase des Feldes eine wichtige Rolle. Dort haben sich, wie man sehen wird, Deutungsmuster etabliert, welche die weitere Geschichte der Rechtssoziologie mitgeprägt haben und heute noch nachwirken. Deshalb gilt es zunächst, in den Anfangsjahrzehnten nach den Ursprüngen solcher Problemlagen zu forschen.

Der Begriff „Rechtssoziologie“ stellte, ebenso wie die verwandten Begriffe „soziologische Rechtstheorie“ oder „soziologische Jurisprudenz“ und ähnliche Topoi seit seinem ersten Auftreten um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ein essentially contested concept dar. Gallie (1956) verwendete diese Bezeichnung für Termini, deren weiter Bedeutungshorizont (semantischer Hof) divergierende Verwendungsweisen (Polysemie) ermöglicht, die sich in grundlegender Hinsicht widersprechen und nicht ohne weiteres ineinander übersetzt werden können. Man kann das zum Beispiel am Begriff der „Verfahrensgerechtigkeit“ zeigen (Bora 1995). Die Selbstcharakterisierung des interdisziplinären Feldes als „Rechtssoziologie“ hat von Anfang an einen derartigen Effekt erzeugt. Sie implizierte unterschiedliche reflexionstheoretische Diskurse, die sich in Interdisziplinaritätsmodellen konflikthaft miteinander verschränken. Wir haben solche Modelle im vorangegangenen Kapitel in abstrakter Form begrifflich vorweggenommen. In der Entstehungsgeschichte der Rechtssoziologie haben sich, wie nun zu diskutieren sein wird, reflexionstheoretische Konzepte dieser Art empirisch gebildet. Die Semantik der „Rechtssoziologie“ ist dabei zunächst innerhalb der Reflexionstheorie des Rechts, also in der Rechtswissenschaft entstanden. In der Folge der durch die Umbauten der Rechtstheorie im 19. Jahrhundert mit angestoßenen Autonomisierung der Soziologie als eigenständiger wissenschaftlicher Disziplin entwickelte sich eine Reflexion über das Verhältnis von Rechtswissenschaft und Soziologie, welche die Grundlage einer sich später manifestierenden Semantik der Interdisziplinarität bildete. Die epistemologischen und reflexionstheoretischen Probleme bei der Bestimmung des Ortes und der Leistungen einer Soziologie des Rechts wurden dabei von Anfang an in sehr unterschiedlicher Weise bearbeitet.

Ein Ergebnis der historischen Beobachtungen vorwegnehmend sei bereits an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass sich hinter diesen gleich zu schildernden Divergenzen zwischen verschiedenen Diskursen der Rechtssoziologie eine gemeinsame Denkfigur identifizieren lässt, nämlich eine grundlegende Asymmetrie der interdisziplinären Beziehung. Alle Positionen in diesen frühen Debatten fragten nach den Leistungen der Soziologie für das Recht bzw. dessen Wissenschaft. Sie waren – und zwar unabhängig von ihrer disziplinären Provenienz – im weitesten Sinne an der Rezeption der Soziologie durch die Jurisprudenz interessiert. Der Aspekt soziologischer Responsivität, also einer Integration von Rechtsfragen als Praxisdiskursen in eine Soziologie des Rechts, der soziologischen Relevanz solcher Fragen mit anderen Worten, tauchte stellenweise zwar auf, blieb im Wesentlichen jedoch ausgeblendet.

Diese asymmetrische Struktur der rechtssoziologischen Reflexionstheorien, die sich hinter dem Gründungsmythos einer interdisziplinären Wissenschaft verbarg, soll im Folgenden in ihren Grundzügen rekonstruiert werden. In der Gründungsphase der Rechtssoziologie etwa zwischen 1850 und 1930 entstanden in der deutschsprachigen Rechtssoziologie die fraglichen Selbstbeschreibungen vor allem entlang wissenschaftstheoretischer Kontroversen. Für den wissenschaftssoziologischen Zugang zu den später daraus erwachsenen, untereinander inkongruenten Varianten dieses Musters wird der Begriff des Diskurses in der im vorangegangenen Kapitel skizzierten systemtheoretischen Variante verwendet. Auf dieser Grundlage vollzieht dieses Kapitel die Geburt der Soziologie aus dem Geist der Privatrechtstheorie in aller Kürze nach. Denn hier finden sich die Wurzeln der später dominanten Autonomie- und Praxiskonzepte in Gestalt privatrechtstheoretischer Gesellschafts-Konzepte.

Bei diesen Überlegungen kann die außerordentlich reichhaltige rechtshistorische Literatur ebenso wie die große Zahl von Studien zur soziologischen Theoriegeschichte nur in sehr bescheidenem Umfang herangezogen werden, um den Rahmen der Darstellung nicht zu sprengen. Die vorgeschlagene Interpretation vor dem Hintergrund der reflexionstheoretischen Konzepte der Autonomie und der Praxis ergänzt insofern die vorliegende Literatur um einen Aspekt. Sie kann bestenfalls auf Anschlussfähigkeit hoffen, rechts- und soziologiehistorische Untersuchungen aber keinesfalls ersetzen. Im Zusammenhang der gesamten Argumentation und in Ergänzung dieser wissenschaftshistorischen Forschungen soll sie drauf hinweisen, dass für das Verständnis späterer Probleme der Rechtssoziologie die reflexionstheoretische Ausgangslage in der Gründungsphase aufschlussreich ist. Doris Schweitzers Analysen der reflexionstheoretischen Dispositive im Übergang vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert (Schweitzer 2021) und David Kaldeweys wissenschaftssoziologische Untersuchungen (Kaldewey 2013) helfen dabei, in den Reflexionstheorien der Rechtssoziologie die genannte Asymmetrie sichtbar zu machen, die im Gegensatz zum erwähnten dominanten Deutungsmuster rechtssoziologischer Selbstbeschreibungen nicht von den Disziplinen gebildet wurde, sondern von Selbstdeutungen des Feldes, die als konkurrierende Reflexions-Diskurse in Erscheinung traten, unter ihrer Oberfläche jedoch den Gesichtspunkt der Asymmetrie in Gestalt des Rezeptions-Paradigmas teilten.

Dabei wird es aus den im ersten Kapitel genannten Gründen im Folgenden um die Entwicklung im deutschsprachigen Wissenschaftsraum gehen. Hier beobachten wir Besonderheiten, aus denen sich einige Spezifika rechtssoziologischer Reflexionstheorie rekonstruieren lassen. Während beispielsweise der frühe US-amerikanische legal realism (Holmes 1897) und die wenig später einsetzende sociological jurisprudence (Pound 1907, 1923, 1927; Cardozo 1921) scheinbar zwanglos und ohne große Probleme – wenngleich nicht ohne Substanzverlust (Vogl 2022) – die rechtstheoretischen Arbeiten Rudolf von Jherings (1872), die Konzepte der Interessenjurisprudenz, aber auch Eugen Ehrlichs Rechtssoziologie (Ehrlich 1913) und das Gedankengut der Freirechtslehre (Kantorowicz 1910) in die rechtstheoretische Selbstbeschreibung übernahmen und in das Konzept einer soziologischen Jurisprudenz integrieren konnten, blieb im Kontrast dazu die deutsche Rechtssoziologie bis heute von reflexionstheoretischen Spannungen geprägt. Die rechtssoziologische Theoriebildung hat hier von Anfang an Sonderwege beschritten (so schon Teubner 2014).

Bei den nachfolgenden Überlegungen sollen die gängigen Darstellungen der Geschichte der Rechtssoziologie als Grundlage vorausgesetzt werden, wie wir sie etwa in den Lehrbüchern von Raiser (1986), Röhl (1986) oder Baer (2011) finden (zu den Anfängen des Feldes vgl. auch Trappe 1968, 8 ff.; Rottleuthner 2009, 202). Sie zeichnen die konstitutive Phase des Feldes meist in Gestalt „großer Namen“ von den Vorläufern Montesqieu, Comte, Marx und Engels, Maine oder Lorenz von Stein über die italienische und französische Kriminalsoziologie, Franz von Liszt, Durkheim, Ehrlich, und Weber bis hin zu verschiedenen Strömungen der „Rechtstatsachenforschung“ in Deutschland, der skandinavische Rechtssoziologie und in den USA nach. Die im zweiten Kapitel eingeführte Unterscheidung von Autonomie- und Praxisdiskursen hebt sich in gewisser Hinsicht von diesen gängigen Erzählungen ab. Sie ersetzt die klassischen, die Selbstbeschreibungen vor allem des Rechts prägenden Unterscheidungen von „Recht und Gesellschaft“, „Staat und Gesellschaft“ oder „geschriebenem und lebendem Recht“, die gewissermaßen ontologisierend Eigenschaften ihres jeweiligen Gegenstandsbereichs zu beschreiben versuchen, durch eine auf die Reflexionstheorien selbst bezogene Beobachtung zweiter Ordnung. Reflexionstheorien der Jurisprudenz und der Soziologie werden darauf hin beobachtet, ob und gegebenenfalls in welcher Weise sie die Autonomie und die Umweltreferenz (den Praxis-Diskurs) ihrer Disziplin zum Thema machen.

Vor diesem theoretischen Hintergrund soll im Folgenden verständlich werden, dass und wie sich in der Entstehungsphase der Rechtssoziologie ein Autonomiediskurs der jungen Soziologie und ein Praxisdiskurs der Rechtstheorie in einer Art und Weise verschränkten, die alle folgenden Debatten vorformatierte. Beide verhielten sich vor dem Hintergrund der eben angesprochenen asymmetrischen Fragestellung nach der Leistung der Soziologie für das Recht komplementär zueinander. Die Rechtsreflexion betonte, wie zu zeigen sein wird, den Leistungscharakter der Soziologie, nahm insofern also die Perspektive der Rezeption ein. Die Soziologie machte dagegen zunächst ihren Autonomieanspruch stark und behandelte das Leistungsproblem unter diesem Gesichtspunkt. Allerdings trat dabei wiederum die Rezeption in den Vordergrund, nämlich als Frage nach der Vermittlung eines angenommenen privilegierten Erkenntnisanspruchs der Soziologie gegenüber der Jurisprudenz. Beide Diskurse lassen sich mit anderen Worten als Resultat einer einseitigen Fragestellung rekonstruieren, die zwar im historischen Kontext sich als nachvollziehbar erweist, die weitere Entwicklung einer responsiven, also die Praxisbedürfnisse der Rechtswissenschaft integrierenden Rechtssoziologie aber zunächst erschwert hat.

3.1 Der Gesellschaftsbegriff der Privatrechtswissenschaft – Interdisziplinarität in der Reflexion des Rechts

Die Rekonstruktion rechtssoziologischer Reflexionstheorie beginnt mit einigen kurzen Hinweisen auf rechtswissenschaftliche Konzepte von „Gesellschaft“ in der Privatrechtstheorie im neunzehnten Jahrhundert. Dort findet sich einer der Ausgangspunkte für die Entwicklung der allgemeinen Soziologie als autonomer Disziplin. Für die Rechtssoziologie ist dabei der Umstand von besonderem Interesse, dass sich die Soziologie im neunzehnten Jahrhundert nicht nur gegenüber der Philosophie und der Ökonomie ausdifferenziert hat, sondern dass sie auch in gewisser Weise das Produkt einer im Recht und in der Rechtswissenschaft fortschreitenden funktionalen Differenzierung war. Diese fand, wenn man Luhmanns Argumentation (Luhmann 1972, Kap. IV) folgt, vor allem in der Positivierung des Rechts ihren Ausdruck. Der Begriff ist nicht unumstritten (vgl. etwa Jansen 2019). Er wird deshalb hier nur in einer vergleichsweise sparsamen Variante verwendet, nämlich als Ausdruck eines in der Reflexion des Rechts selbst sich durchsetzenden Bewusstseins kontingenter Geltung. Nicht nur der konkrete Rechtssatz, sondern vor allem dessen Geltung lässt sich nur mehr auf Entscheidungen zurechnen. Dieses Verständnis hebt sich, so Luhmann, von früheren Ansätzen zur Positivierung ab. „Das Kriterium“, schreibt er, „liegt nicht in der ‚Rechtsquelle‘, nicht im einmaligen Akt der Entscheidung, sondern im laufend aktuellen Rechtserleben. Positiv gilt Recht nicht schon dann, wenn dem Rechtserleben ein historischer Akt der Gesetzgebung in Erinnerung ist – dessen Geschichtlichkeit kann traditionellem Rechtsdenken gerade als Symbol der Unabänderlichkeit dienen –, sondern nur, wenn das Recht als kraft dieser Entscheidung geltend als Auswahl aus anderen Möglichkeiten und somit als änderbar erlebt wird. Das historisch Neue und Riskante der Positivität des Rechts ist die Legalisierung von Rechtsänderungen“ (Luhmann 1972, 209, Hervorh. i. O.). Positivierung stellt aus dieser Perspektive also einen Ausdruck zunehmender Autonomisierung in der Reflexion des Rechts dar, einer Schließung gegenüber äußeren Geltungsgründen und -mechanismen mit anderen Worten. Auch wenn man dem Begriff kritisch gegenübersteht, wird man anerkennen müssen, dass die Reflexionstheorien des Rechts im neunzehnten Jahrhundert von ihm beeinflusst waren, sowohl in der Rechtsquellenlehre als auch in Bezug auf das Wesen und die Geltung des Rechts. Auf dieser Grundlage interessiert uns im Folgenden die rechtswissenschaftliche Entdeckung der Gesellschaft und die Frage, in welcher Weise sie mit zur Entstehung der Soziologie als Disziplin beigetragen hat. Daran anknüpfend werden wir untersuchen, wie das Verhältnis dieser beiden Disziplinen interpretiert wurde, welche reflexionstheoretischen Interdisziplinaritätsmodelle sich mit anderen Worten in dieser Anfangsphase bildeten.

In seiner mit der Positivierung voranschreitenden Ausdifferenzierung grenzte das Recht sich zugleich auch reflexionstheoretisch gegenüber seiner gesellschaftlichen Umwelt ebenso ab wie gegenüber den für diese Umwelt zuständigen Reflexionstheorien, insbesondere der im Entstehen begriffenen Soziologie. Die Autonomisierung und Schließung des Rechtssystems und seiner Reflexionstheorie, der Rechtswissenschaft, brachte eine Autonomisierung und Schließung der im neunzehnten Jahrhundert entstehenden Soziologie mit sich. Dieser Doppelprozess vollzog sich sowohl zunächst innerhalb der juristischen als auch später der soziologischen Theoriebildung im Begriff der „Gesellschaft“. Doris Schweitzer hat in ihrer Monografie „Juridische Soziologien“ (2021) diesen im folgenden skizzierten Wandel in den Privatrechtstheorien des 19. Jahrhunderts ausführlich beschrieben. Dabei traten, wie sie zeigt, in der historischen Abfolge drei Deutungsmuster des Verhältnisses von Recht und Gesellschaft auf den Plan. Sie interpretierten das Recht zuerst als Repräsentation des Volksgeistes, sodann als zweckfunktionales Mittel und schließlich als autonome Sphäre des Normativen. In diesem Prozess verdichtete sich die Notwendigkeit einer eigenständigen Wissenschaft des Sozialen. Zugleich hinterließ die Reflexionstheorie des Rechts dieser neu entstehenden Soziologie mit der Differenz von Sein und Sollen ein lange nachwirkendes reflexionstheoretisches Muster.

3.1.1 Repräsentation

Innerhalb der Reflexionstheorien des Rechts hat sich im neunzehnten Jahrhundert der Begriff der Gesellschaft zunächst etabliert und dann in seiner Bedeutung allmählich verändert. Dieser Prozess begann mit der Historischen Rechtsschule. Er setzte sich mit der Abkehr der Privatrechtslehre von der als Begriffsjurisprudenz kritisierten Pandektenwissenschaft fort und mündete in frühe Varianten einer soziologischen Jurisprudenz, die als Freirechtslehren beziehungsweise als Interessenjurisprudenz bekannt geworden sind.

Für die Rechtstheorie der Historischen Rechtsschule gewann der Bezug auf Gesellschaft seine Relevanz anhand der Frage nach den nichtrechtlichen Grundlagen des Rechts. Diese Frage wurde innerhalb der Rechtstheorie meist als Problem der Rechtsquellen behandelt. Der Verweis auf den Staat als Ursprung des Rechts rief dabei in der Anfangsphase anti-positivistische Bedenken auf den Plan, da im Staatsbegriff ein Gründungsproblem sichtbar blieb, nämlich in Gestalt der Rechtsförmigkeit eines das Recht erst begründenden Staates. Friedrich Carl von Savigny und die Historische Rechtsschule versuchten diesem Problem mit Hilfe des Begriffs des Volksgeistes aus dem Wege zu gehen. In ihm sollten mögliche Widersprüche zwischen göttlichen und menschlichen Ursprüngen des Rechts aufgehoben sein (Haferkamp 2018, 173 ff., 180 ff.). Recht, so die Vorstellung, entsteht unmittelbar aus dem Leben des Volkes, aus dem in Gewohnheiten sedimentierten „Gemeinbewusstsein“ (ebd., 126). Das Volk bildete in der Rechtswirklichkeit eine philosophisch vorausgesetzte geistige Einheit von Individuum und Staat ab. Savigny sah sich in dieser Hinsicht jedoch mit dem Erkenntnisproblem einer direkten Beobachtbarkeit des Volksgeistes in dessen empirischem Organismus konfrontiert, welches er mit Hilfe der Idee der Repräsentation zu lösen versuchte. Das Privatrecht verkörpert nach dieser Auffassung den Volksgeist. „Das Recht wächst also mit dem Volke fort, bildet sich aus mit diesem, und stirbt endlich ab, so wie das Volk seine Eigenthümlichkeit verliert.“ (von Savigny 1814, 21) Doris Schweitzer bezeichnet dieses reflexionstheoretische Deutungsmuster als Repräsentations-Dispositiv (Schweitzer 2021, 167 ff.). Im Modell der Repräsentation manifestierte sich eine frühe, noch rein rechtstheoretische, Auffassung der Bedeutung von Sozialwelt für das Recht. Das Modell lässt gewisse Vorläuferschaft zu der später von Durkheim vertretenen Position erkennen, nach welcher unterschiedliche Formen des Rechts Mechanismen gesellschaftlicher Solidarität repräsentieren (ebd., 391 ff.). Die Begrenztheit dieser juristischen Reflexionstheorien wird zugleich in dem Umstand sichtbar, dass die Privatrechtslehren der Historischen Rechtsschule das Verhältnis von Staat und Volk ungeklärt ließen. Denn die inhärente Spannung zwischen der als Volk begriffenen Sozialwelt und dem im Staat verankerten Recht wurde – wohl infolge einer verbreiteten Distanz gegenüber Theorien des positiven Rechts – noch nicht begrifflich aufgelöst. Eine solche Theorie lehnte Savigny vielmehr ausdrücklich ab, ebenso wie die in den napoleonischen Kodifizierungen angelegten naturrechtlichen Begründungen, denen ein auf den Volksgeist bezogenes Gewohnheitsrecht entgegengestellt wurde (so auch Puchta 1837). Jenseits dieser Besonderheiten lag die Bedeutung der historischen Rechtsschule noch in einem weiteren Moment, nämlich darin, dass beide Sphären, das Recht wie die Sozialwelt, eine wissenschaftliche Beobachtung erforderten. Gesellschaft wurde als Gegenstand einer (rechts-)wissenschaftlichen Theorie konstituiert, in welcher Wahrheitspostulate sich noch ungeschieden auf empirische wie normative Sachverhalte beziehen. „Das Daseyn des Rechts ist von nun an [d. h. mit der Entstehung der modernen Wissenschaft, A.B.] künstlicher und verwickelter, indem es ein doppeltes Leben hat, einmal als Theil des ganzen Volkslebens, was es zu seyn nicht aufhört, dann als besondere Wissenschaft in den Händen der Juristen.“ (Savigny 1814, 32). Die (Rechts-) Wissenschaft bezieht sich mit anderen Worten auf beide Aspekte, auf das gesellschaftliche Leben des Volkes und auf das Recht.

Im Falle der Privatrechtstheorien stand die Gesellschaftswissenschaft als Rechtswissenschaft in der fraglichen Periode, wie gesagt, vor der noch ungelösten Aufgabe, einen wissenschaftlichen Zugang zu Wirklichkeit zu finden (Schweitzer 2021, 87 ff.). Die Historische Rechtsschule wurde dieser Herausforderung seit den „Krisendebatten“ der 1820er Jahre gewahr (Haferkamp 2018, 139), als „Streitfragen um das Verhältnis von Wissenschaft zu Gegenwartsbezug, Lebensnähe oder Praxistauglichkeit“ (ebd., 155) sich aufzudrängen begannen. Hier entstanden aus der Rechtswissenschaft heraus proto-soziologische Begriffsbildungen. Sie waren schon früh angelegt, etwa in Savignys Begriff der „Observanz“ beziehungsweise des „lebendigen Gewohnheitsrechts“ (Savigny 1814, 133), welcher partikulares Gewohnheitsrecht gesellschaftlicher Gruppen bezeichnete (dazu Schweitzer 2021, 171).

Man kann angesichts dieser Entwicklung die Behauptung wagen, dass aus der Privatrechtstheorie der Historischen Rechtsschule heraus die Gesellschaftswissenschaft als Rechtswissenschaft entstand. Sie hat sich im Laufe der Zeit von dieser Herkunft gelöst und als autonome Disziplin etabliert. Damit stoßen wir, nebenbei bemerkt, auf eine Besonderheit der deutschen Soziologiegeschichte, die anderorts nicht in vergleichbarer Weise anzutreffen war. In Großbritannien, um nur ein Beispiel zu nennen, bildete etwa das Fehlen einer disziplinären Identität der Biologie ein Hindernis für die Autonomisierung der Soziologie, welche sich in ihrer Entstehungsgeschichte vor allem mit der Biologie auseinandersetzte (Halliday 1968).

3.1.2 Sozialer Zweck

Um die Mitte des neuzehnten Jahrhunderts verloren die Konzepte der Historischen Rechtsschule an Akzeptanz. An ihre Stelle trat innerhalb der Rechtstheorie ein sich immer breiter entfaltender Gesellschaftsbegriff. In verschiedenen rechtswissenschaftlichen Konzepten von Recht und „Gesellschaft“ wurde damit ein Keim für spätere, erfahrungswissenschaftliche Ansätze gelegt. „Die Objektivität des Volksgeistes wandelt sich immer mehr zur Objektivität der Gesellschaft“, wie Schweitzer formuliert (Schweitzer 2021, 171). Das wurde auch auf der semantischen Ebene erkennbar. 1850 sprach Lorenz von Stein als einer der ersten Juristen von einer „Wissenschaft der Gesellschaft“ (ebd.). In der Folge haben Rechtstheorien mit zur Verselbständigung der Soziologie als Wissenschaft beigetragen. Auf dem Weg zu diesen späteren erfahrungswissenschaftlichen Theorien vollzog sich innerhalb der Privatrechtstheorie ein grundlegender Umschwung von einer auf empirische Erkenntnis des Sozialen als historischer Manifestation des Volksgeistes angewiesenen Lehre hin zu einer die Autonomie des Normativen betonenden Theorie des Rechts, in welcher dann die Erkenntnis der Sozialwelt von den rechtswissenschaftlichen Theorien abgekoppelt und der sich neu formierenden Disziplin der Soziologie übertragen wurde.

Die mit dem Ende der Historischen Rechtsschule fortschreitende Autonomisierung der Rechtstheorie erzwang, wie nun kurz zu erörtern ist, die Autonomisierung erfahrungswissenschaftlicher Gesellschaftstheorie (ausführlich Schweitzer 2021, § 2). Dieses Ende wurde im Wesentlichen durch die Trennung von Rechtsgeschichte und Rechtsdogmatik herbeigeführt, aus welcher die Pandektenwissenschaft hervorging (Haferkamp 2018, 315 ff.), die sich als positivistische Rechtstheorie insbesondere dem Projekt der Kodifikation des Privatrechts durch das spätere BGB widmete. Es ging, wie Haferkamp sagt, darum, „ein praxistaugliches Zivilrecht zu konstruieren“ (Haferkamp 2018, 316). Indirekte Hinweise auf eine Ausdifferenzierung rechtlicher und gesellschaftswissenschaftlicher Denkweisen liefert beispielsweise der aus der deutschrechtlichen Tradition stammende Begriff der Autonomie. Er bezeichnete die private Rechtsetzungsbefugnis, die als Rechtsquelle neben Gewohnheitsrecht und Gesetz trat. Wie das Gewohnheitsrecht ist sie ein Phänomen nichtstaatlicher, „privater“ oder „gesellschaftlicher“ Rechtssetzung Wenig überraschend lehnten die in der römischrechtlichen Tradition stehenden Savigny und Puchta diese Vorstellung ab. Hingegen vertrat die germanistische Rechtswissenschaft überwiegend die Auffassung, dass neben der staatlichen Rechtsetzung auch nicht-staatliche Akteure eine solche Kompetenz besäßen (Kremer 2012, 13). Während ursprünglich nur der Adel als Träger einer solchen Autonomie verstanden worden war, übertrug die germanistische Privatrechtstheorie das Konzept nun auf Körperschaften unterschiedlichster Art (ebd., 14 f.). Das damit sich abzeichnende Konzept eines aus dem Alltag sozialer Verbände hervorgehenden Rechts prägte wenig später, wie wir sehen werden, auch die junge Rechtssoziologie.

Noch sichtbarer vollzog sich der Abschied von der Historischen Rechtsschule in einem Deutungsmuster, das seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts immer klarere Konturen gewann und vor allem die Auseinandersetzungen über das BGB prägte. Doris Schweitzer bezeichnet es als zweckfunktionales Dispositiv der Rechtstheorie (Schweitzer 2021, § 4). In dieser Denkweise ist der Begriff des Rechts über dessen gesellschaftliche Aufgabe bestimmt. Als prominentester Ausdruck dieses zweckfunktionalen Deutungsmuster kann das Werk Rudolf von Jherings bezeichnet werden. Jhering stand zunächst der historischen Sichtweise nahe und beteiligte sich an der Entwicklung der Dogmatik in der Absicht, die überkommenen Begriffe der Historischen Rechtsschule zu entmystifizieren. Später wandte er sich von der Pandektenwissenschaft ab und kritisierte sie als bloße Begriffsjurisprudenz. Auf dem Weg zu einer stärker erfahrungswissenschaftlich beeinflussten Perspektive entstand dabei eine naturhistorische Methode der Rechtserkenntnis. Sie trug durch formallogische, an Mathematik und Geometrie orientierte Verfahren wesentlich zur Verabschiedung des Historismus bei. Rechtswirklichkeit trat, wie Haferkamp bemerkt, an die Stelle des Volksgeistes (Haferkamp 2018, 318). Jhering etablierte seine naturhistorische Methode in der ausdrücklichen Absicht, „der Herrschaft des Rechtsgefühls ein Ende zu machen.“ (Jhering 1858, 377). Die Probleme, welche mit der Anwendung naturalistischer Methodologie und Erkenntnistheorie sowohl auf die kommunikative Innenwelt des Rechts als auch auf dessen Beziehung zu seiner sozialen Umwelt verbunden waren, riefen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verschiedene Kritiken auf den Plan. Jhering reagierte mit einer weiteren Neupositionierung. In „Der Kampf ums Recht“ (Jhering 1872) und „Der Zweck im Recht“ (Jhering 1877) formulierte er einen funktional auf die Gesellschaft bezogenen Rechtsbegriff. Das Recht ist nach dieser Vorstellung zweckhaft auf in der Gesellschaft liegende, wissenschaftliche beschreibbare Interessen bezogen. Es drückt in diesem Sinne objektivierte gesellschaftliche Interessen (Zwecke) aus und kann vor diesem Hintergrund in seiner je konkreten Gestalt kritisiert werden. Individuelle, auf Rechtsgefühl fußende Interessenverfolgung ist der Antrieb, der zur Bildung eines gesellschaftlichen Ordnungsgefüges führt. In diesem verwirklichen sich rechtlich dann schutzwürdige allgemeine Zwecke (Jhering 1872, 27 ff.) „Wer sein Recht behauptet, verteidigt innerhalb des enges Raumes desselben das Recht.“ (ebd., 26 f. Hervorh. i. O.).

In dieser Phase lief Jherings Position auf eine deutliche Trennung von Sozialwelt und Recht hinaus. Gesellschaft stellte für ihn ein Zwecksubjekt dar, das mit Mechanismen der Kooperation und Kontrolle allgemeingültige Zwecke verfolgt. Jhering entwickelte sich vom Anhänger der Historischen Rechtsschule mit starkem Interesse am Römischen Recht über eine allgemeine Naturlehre des Rechts (Jhering 1852, 12) und eine zweite große Wende voll „bitteren Spotts über die ‚Begriffsjurisprudenz‘“, wie er selbst meinte (Jhering 1872, 38), bis schließlich hin zu einer frühen Form der Interessenjurisprudenz in „Der Kampf ums Recht“ (Jhering 1872), für welche das Recht ein Mittel zur Verfolgung präsupponierter gesellschaftlicher Zwecke bildete. Jherings Position wurde später als Quelle einer sich explizit formierenden Interessenjurisprudenz (Heck 1914) verstanden. Zunächst aber lieferte insbesondere sein den Naturwissenschaften entlehntes mechanistisches und deshalb einigermaßen statisches Verständnis der Gesellschaft Stoff für kritische Diskussionen. Man stellte Jherings Sichtweise verschiedene Organismus-Konzepte gegenüber, in denen sich die Dynamik widerstreitender gesellschaftlicher Interessen angemessener abbilden sollte (Schweitzer 2021, 297 f.). An der grundlegenden Bedeutung des funktionalen Zweck-Dispositivs änderte dieses Verständnis von Gesellschaft als eines lebendigen, von wechselnden Interessen geformten Organismus allerdings wenig. Auch in dieser Konzeption stellte die Gesellschaft den Zweck des Rechts dar. „In einer Gesellschaft, die durch antagonistische Verhältnisse gekennzeichnet und daher … einem beschleunigten Wandel ausgesetzt ist, kann das Recht nicht mehr – wie im Repräsentations-Dispositiv – als Selbstzweck verstanden werden, sondern wird als Mittel zum Zweck adressiert.“ (Schweitzer 2021, 295).

Entscheidend für die Entstehung der Soziologie ist dabei der Umstand, dass die juristische Theorie auf der Grundlage dieses Zweckdenkens die Gesellschaft nun als etwas Äußerliches betrachtete. Sie provozierte damit die Frage, ob und gegebenenfalls wie sich diese nicht-rechtliche Umwelt im Recht methodisch und dogmatisch beobachten lässt. Diese Frage kann vor dem Hintergrund unserer wissenschaftssoziologischen Begriffsbildung, als Gegenstand eines juristischen Praxis-Diskurses interpretiert werden. Daraus sich entwickelnde Konzepte normativer Autonomie antworteten mit dem Gegensatzpaar von Sein und Sollen und verwiesen, wie wir im Folgenden sehen werden, Rechtswissenschaft wie Soziologie auf divergierende Gegenstandsbereiche.

3.1.3 Autonomie des Normativen

Sobald die Rechtswissenschaft die Eigenständigkeit des Sozialen außerhalb des Rechts anzuerkennen begann, ergaben sich für den juristischen Praxis-Diskurs im Grunde zwei Möglichkeiten, mit dieser Beobachtung umzugehen. Zum einen konnte die Reflexionstheorie des Rechts intern das Rechtsquellenproblem zu einer rechtswissenschaftlichen Form sozialer Geltungsbegründung weiterentwickeln und versuchen, die Autonomie sozialer Sphären innerhalb der Rechtstheorie abzubilden. Zum anderen konnte sie ihre eigene Autonomie betonen, war damit aber gezwungen, die Zuständigkeit für autonome soziale Felder jenseits des Rechts, für „Gesellschaft“ also, auf eine nunmehr ebenfalls als eigenständig wahrgenommene Soziologie abzugeben. Beide Möglichkeiten sind im Entstehungsprozess der Soziologie zu beobachten gewesen. Am Ende stand die Autonomisierung sowohl der Rechtswissenschaft als auch der Soziologie (vgl. zum Folgenden Schweitzer 2021, § 5).

Die oben geschilderte Dogmatisierung der Rechtswissenschaft am Ende der Historischen Rechtsschule rief schon seit Jherings späteren Schriften Kritik hervor. Die Vermutung systematischer Vollständigkeit des Rechts ließ sich im Rechtsalltag angesichts offenkundig werdender Lücken kaum mehr aufrechterhalten. Die Frage, wie solche Lücken zu schließen seien, beantworte man zunächst mit Hinweis auf Gesetzesauslegung in der Rechtsprechung. Unter dem Pseudonym Gnaeus Flavius vertrat Hermann U. Kantorowicz (1906) diese Auffassung, ebenso Eugen Ehrlich in seiner „Grundlegung der Soziologie des Rechts“ (Ehrlich 1913). Beide zählten zur Freirechtsbewegung, einer inhaltlich wenig kohärenten Intellektuellengruppe (Boehncke 2021, Rückert 2008). Neben den genannten Namen gehörten ihr vor allem Gustav Radbruch, Theodor Sternberg und Ernst Fuchs an. Die Freirechtler nahmen in gewisser Weise eine Position ein, die trotz einiger Unterschiede der wissenschaftlichen Positionierung in ihrer Ablehnung der Begriffsjurisprudenz der bereits erwähnten Strömung der Interessenjurisprudenz (Jhering 1877, Heck 1914) ähnelte.

Diese seinerzeit breit diskutierten Abgrenzungen ließen jedoch mögliche Strukturen einer sich neu formierenden Reflexionstheorie des Rechts allenfalls in Ansätzen erkennen. Als Hauptproblem schälte sich die Frage nach dem Wissenschaftscharakter dieser Strömungen heraus (Schweitzer 2021, 312 ff.) An diesem Punkt, so kann man im Hinblick auf unser Thema sagen, trat die Reflexionstheorie auf den Plan. Fragen aus der Rechtspraxis riefen unmittelbar reflexionstheoretische Fragen hervor. Der Wissenschaftscharakter der neuen Ansätze, so die zunächst gefundene Lösung, sollte sich aus der Erkenntnis gesellschaftlichen, „lebenden“ Rechts (Ehrlich 1903), aus der „Rechtswirklichkeit“ (Sinzheimer 1909) mit anderen Worten ergeben.

3.1.4 Interdisziplinaritätsmodelle: Indifferenz und sachliche Hierarchie

Jenseits solcher programmatischer Bestimmungen blieb jedoch zu klären, mit welchen wissenschaftlichen Methoden die Erkenntnis der Rechtswirklichkeit gewonnen werden konnte. Aus der Freirechtsbewegung kam die Antwort einer „soziologischen Methode der Rechtswissenschaft“ (Fuchs 1910). Soziologisch ermittelte Tatsachen sind nach dieser Vorstellung die Grundlage richterlicher Rechtsfindung und bilden zugleich deren Wertmaßstab (Schweitzer 2021, 325). Aus interessenjuristischer Perspektive galt es gleichfalls, im Rechtsurteil auf der Grundlage der wissenschaftlich erkannten Wirklichkeit eine Abwägung der unterschiedlichen Interessen vorzunehmen (ebd., 332). Offensichtlich waren diese Vorschläge reflexionstheoretisch noch unzureichend, da beide an der „Unausweichlichkeit normativer Wertung“ scheiterten (ebd., 338). „Konnte man der ‚Wirklichkeit‘ auch ‚Richtigkeit‘ entnehmen?“ (Haferkamp 2021, 218). Über die Frage, ob man diese konzeptionelle Hürde am besten mittels einer Soziologisierung der Rechtsanwendung oder einer Teleologisierung der juristischen Methode überwinden könne, entstand langanhaltender und tiefgreifender Streit, aus dem sich im Wesentlichen drei reflexionstheoretische Positionen herauskristallisierten.

Deren erste, vertreten insbesondere von Ignatz Kornfeld (Kornfeld 1911), meinte, die Rechtswissenschaft sei überhaupt als Soziologie zu verstehen und zu betreiben. Aus dieser sehr weitgehenden Perspektive, die reflexionstheoretisch für einen Diskurs sachlicher Dominanz der Soziologie stand, bezog sich das Recht nicht auf ein Sollen, sondern auf eine „Geltungsart des Seienden“ (ebd., 15), weshalb Rechtswissenschaft nur als Erfahrungswissenschaft verstanden werden könne. Diese Position hat sich in der rechtswissenschaftlichen Reflexionstheorie angesichts deren sich gerade erst vollziehender Autonomisierung nicht durchsetzen können.

In einer etwas moderateren zweiten Sichtweise ging Eugen Ehrlich (1903) von einer wissenschaftlichen (das hieß: soziologischen) Fundierung der Rechtsfindung aus. Richterliches Entscheiden erfordere, so Ehrlich, die Kenntnis gesellschaftlicher Verhältnisse und der in ihnen sich manifestierenden Interessen, um diese richtig würdigen und die besonders schutzwürdigen fördern zu können (Ehrlich 1917, 433). Im Ergebnis standen Soziologie und Rechtswissenschaft trotz des Anspruchs einer „soziologischen Jurisprudenz“ in einem reflexionstheoretischen Diskurs der Indifferenz unvermittelt nebeneinander, wie sich gleich zeigen wird.

Eine dritte Sichtweise, vertreten beispielsweise von Hugo Sinzheimer, Arthur Nußbaum oder Hermann U. Kantorowicz, kritisierte Ehrlich heftig – Sinzheimer zieh ihn gar des Positivismus (Sinzheimer 1909, 22) – und forderte, die Soziologie lediglich als Ergänzung der juristischen Methode zu begreifen. Kantorowicz sprach speziell von der Rechtssoziologie als einem „Grenzgebiet“, welches von zwei Seiten betreten werden könne, aber unter der Herrschaft der Rechtswissenschaft stehe (Kantorowicz 1923, 91). Rechtssoziologie wurde in diesem frühen Begriffsgebrauch als eine „Zwischenwissenschaft“ beschrieben, wie Schweitzer (2021, 361) sagt, als ein interdisziplinäres Feld mit anderen Worten, dessen zentrale Aufgabe innerhalb eines reflexionstheoretischen Modells juristischer Dominanz darin bestand, „Hilfswissenschaft der dogmatischen Jurisprudenz“ zu sein (Kantorowicz 1911, 287).

Die beiden letztgenannten Positionen standen damit für zwei der im zweiten Kapitel abstrakt entwickelten reflexionstheoretische Modelle von Interdisziplinarität. Sie sollen ausführlicher diskutiert werden, weil sie für die junge (Rechts-)Soziologie Folgen hatten.

Das Werk von Eugen Ehrlich verkörperte, wie gesagt, im Ergebnis ein Interdisziplinaritätsmodell der Indifferenz. Ehrlich wird bis heute vielfach als Gründervater der Rechtssoziologie bezeichnet (dazu und zu Hugo Sinzheimer als möglichem Urheber dieser Zuschreibung vgl. Seinecke 2022, 316). Er entwickelte Ausgang des neunzehnten Jahrhunderts den Gedanken einer neuen Einheit von Rechts- und Gesellschaftstheorie im Geist einer soziologisierten Jurisprudenz (Ehrlich 1913, zur Gesamtwürdigung siehe auch Rehbinder 1986; Vogl 2003; Hertogh 2009; Papendorf et al. 2014). Damit führte er die oben geschilderte Tradition der juristischen Gesellschaftstheorien fort, zog aber im Gegensatz zu diesen den Schluss, Rechtswissenschaft sei als Sozialwissenschaft, also insgesamt als Rechtssoziologie zu konzipieren. Seine wissenschaftliche Position war dabei allerdings insgesamt wenig klar, was schon Ernst Fraenkel 1929 kritisiert hatte (vgl. Seinecke 2022, 317). Dies lag nicht zuletzt am großen inhaltlichen Facettenreichtum seines Schaffens (Cotterrell 2009). In der romanistischen Tradition stehend und damit auch der Historischen Rechtsschule noch verbunden (Seinecke 2022) galt er als Mitbegründer des Freirechts, wobei er sich über diese Urheberschaft mit Kantorowicz uneins war. Mit dem Gegensatzpaar von lebendem und staatlichem Recht wurde er zum Vordenker des späteren Rechtspluralismus (Röhl und Machura 2013). Entsprechend vielfältig sind in der Rezeption die heutigen „Ehrlichbilder“ (so Seinecke 2022). Sein wissenschaftliches Programm blieb vor diesem Hintergrund nur schwach konturiert. Zum einen wollte er die, wie er meinte, von Savigny und Puchta abgebrochene Erforschung des Gewohnheitsrechts vollenden (Ehrlich 1913, 25 ff.). Zum anderen hielt er Kodifikationen durch staatliches Recht ebenso für unverzichtbar (Ehrlich 1903, 18) wie die Bindung des Richters an das Gesetz (Ehrlich 1913, 160). Unklar und reflexionstheoretisch problematisch blieb in Ehrlichs Werk das Verhältnis zwischen lebendem und staatlichem Recht und dabei vor allem die Frage, was aus der soziologischen Erforschung des Ersteren für das normwissenschaftlich relevante Urteil in der Sache zu folgen habe.

Sein Konzept der Rechtswissenschaft als Erfahrungswissenschaft beruhte auf einem Verständnis des Rechts als Ordnung menschlicher Verbände. Deren innere Ordnung war als ursprüngliche Form sozialer Integration vor jedem positiven Recht gedacht, als Rechtsnorm vor jedem Rechtssatz, als „lebendes Recht“, das allen gesellschaftlichen Einrichtungen zugrunde liegt. Dieses Recht ist nach Ehrlich der Gegenstand der soziologischen Jurisprudenz. Dabei arbeitete er jedoch trotz aller Plausibilität seiner erfahrungswissenschaftlichen Beobachtungen die reflexionstheoretischen Implikationen seines Ansatzes nicht deutlich heraus. Vor allem blieb er die Antwort auf die Frage nach dem Erkenntnisziel der soziologischen Jurisprudenz schuldig. Dieses Ziel schien trotz der erfahrungswissenschaftlich informierten Methodologie normwissenschaftlich geprägt zu sein. Denn es ging Ehrlich um Rechtserkenntnis, also um normative Aussagen, die aus Annahmen über die Geltung und die Reichweite des lebenden Rechts geschöpft wurden. Der Schwachpunkt dieser Argumentation zeigte sich auf der einen Seite bei der Frage, wie die Jurisprudenz aus dem „lebenden Recht“ normative Argumente gewinnen sollte. Luhmann hat bemerkt, das hänge gewissermaßen an dem bei Ehrlich nicht überwundenen „überholten Gesichtspunkt einer Trennung von Staat und Gesellschaft“ (1972, 22), also daran, dass Ehrlich die Ausdifferenzierung von Rechtswissenschaft und Soziologie zwar aufgegriffen, aber letztlich nicht mit vollzogen habe. Er sei, so Luhmann, gewissermaßen soziologisch irrelevant geblieben, weil er vorrangig rechtliche Geltungsfragen bearbeitet habe.

Auf der anderen Seite hat Ehrlichs Argumentation bekanntlich für harsche rechtstheoretische Kritik bei Hans Kelsen (1915/17) geführt, der Ehrlichs empirischen Geltungsbegriff kritisierte (vgl. Bora 2021). Kelsen trennte Sollenswissenschaft mit ihrer deduktiven Methode scharf von der induktiv verfahrenden Seinswissenschaft. Rechtswissenschaft kann seiner Auffassung nach nur ersteres sein. Beide Sichtweisen könnten, so Kelsen, nicht in gleicher Weise als Rechtswissenschaft bezeichnet werden (Kelsen 1915/17, 7). Soweit eine erfahrungswissenschaftliche Sichtweise möglich sei, meine ihr Begriff des Rechts etwas völlig anderes als derjenige der Rechtswissenschaft. Ehrlich changiere zwischen einer Unterscheidung von Rechtssoziologie und Jurisprudenz mit Hilfe des Begriffspaars theoretisch-praktisch und einer Beschreibung der Jurisprudenz als „praktischer Wissenschaft“ (ebd., 48 ff.). Wenn Ehrlich die Erforschung des „lebenden Rechts“ fordere, vermische er Form und Inhalt. Dem hielt Kelsen die fehlende formalnormative Geltung des lebenden Rechts entgegen. Er erkannte den Wert soziologischer Beobachtungen für den Gesetzgeber an, nicht aber für die Rechtsanwendung (ebd., 52). Im Übrigen sei unklar, ob Rechtssoziologie im strengen Sinne überhaupt möglich sei, da sie ihren Gegenstand extern, aus der normativen Rechtswissenschaft, beziehen müsse. Ihre Grenzen erschienen aus soziologischer Sicht als willkürlich (ebd., 53).

Auch wenn Kelsen in gewisser Weise den Neukantianismus ontologisch überstrapazierte, ihn also nicht als eine Bestimmung der Ableitbarkeit von Sätzen aus Sätzen, sondern als Aussage über Weltausschnitte verstand und dabei die Möglichkeit ausklammerte, Normen und Recht als empirische Gegenstände zu beobachten, so traf er doch Ehrlichs schwachen Punkt in einer Hinsicht. Kelsen ging es um normative Geltungsbegründung, die Ehrlich mit seinem erfahrungswissenschaftlichen Ansatz nicht bieten konnte. „Das ist doch offenbar das ‚Lebende‘ an der von Ehrlich entdeckten Art des Rechts, daß es eine Regel tatsächlichen Geschehens, d. h. seienden und nicht bloß gesollten Handelns, daß es ein Stück lebendiger in der Außenwelt sich abspielender Wirklichkeit darstellt, von dem man freilich nicht weiß, warum es denn auch gesollt sei. Denn daraus, daß es tatsächlich ist, kann doch nicht folgen, daß es auch sein soll!“ (ebd., 68). Kelsen warf Ehrlich vor, induktive Wissenschaft als einzig gültige theoretische Wissenschaft anzuerkennen und von da her dann die praktische Jurisprudenz zu kritisieren. In seiner Verwendung des Regelbegriffs vermische Ehrlich empirische Verhaltensregelmäßigkeit und normatives Sollen.

In dieser Auseinandersetzung um normative versus faktische Geltung bewegten sich beide Kontrahenten auf dem Boden einer nachmetaphysischen Rechtstheorie, in Abgrenzung von der Diltheyschen Tradition verstehender Wissenschaft. Beim Thema der Geltung bestand allerdings Dissens. Geltung bedeutete bei Ehrlich Wirksamkeit, beruhend auf gesellschaftlicher Anerkennung. Mit seiner Aufmerksamkeit für private Rechtsetzung als Quelle von Rechtsgeltung war Ehrlich zwar ein Vorläufer der modernen Theorien der Sozialverfassungen. Jedoch unterschätzte er die Bedeutung und das Potenzial des positiven Rechts, in dessen Rahmen vor allem durch legislatorische Aktivität erhebliche Anpassungsleistungen an gesellschaftliche Strukturveränderungen geschehen, das also viel moderner ist, als Ehrlich annahm (vgl. Röhl und Machura 2013, 1120). Schließlich blieb Ehrlich auch ohne eine entsprechende Wissenschaftstheorie beim Postulat einer „Rechtswissenschaft als Soziologie“ stehen, wofür ihn Kelsen – insofern zu Recht – angriff. Geltung verwies bei Kelsen demgegenüber auf gesetzgeberische Entscheidung über Verfassung bzw. Grundnorm sowie danach lediglich auf logisch stringente Deduktion. Diese Position übersah die Möglichkeit, Normen und Recht als empirische Gegenstände zu beobachten, während Ehrlich in umgekehrter Perspektive den Verdacht eines naturalistischen Fehlschlusses nicht ausräumen konnte. Die Debatte wies im Horizont des Werturteilsstreits und damit auf den späteren Positivismusstreit vorgreifend Besonderheiten der Entwicklung im deutschen Sprachraum auf. Das zeigte schon allein der Umstand, dass im Konflikt zwischen Kelsen und Ehrlich jeder Bezug auf Durkheim fehlte, der mit den nichtvertraglichen Grundlagen des Vertrags die soziologische Beobachtung des Rechts argumentativ eingerichtet hatte. Niklas Luhmann hat erst sehr viel später in seiner Rechtssoziologie die „Tatsache des Sollens“ als einem Gegenstand in den Mittelpunkt soziologischer Analyse gerückt.

Ehrlich entwickelte, so kann man zusammenfassend formulieren, ein Einheitsmodell von Recht und Gesellschaft, in welchem das Recht als Grundstruktur gesellschaftlicher Ordnung den Gegenstand erfahrungswissenschaftlicher Beobachtung mit dem impliziten Ziel empirischer Geltungsbegründung bildete. Er argumentierte im Modell der soziologischen Jurisprudenz reflexionstheoretisch von einem Praxis-Diskurs des Rechts her, welches als „lebendes Recht“ aus der Ordnung menschlicher Verbände heraus zu verstehen sei, und versuchte von daher die Reflexionstheorie des Rechts zu begründen. Bei aller Plausibilität seiner erfahrungswissenschaftlichen Beobachtungen vernachlässigte Ehrlich die reflexionstheoretischen Implikationen seines Ansatzes. Auf der Seite des Rechts gab er keine Antwort auf die Frage nach dessen Autonomie, was ihm etwa die nachvollziehbar harsche Kritik Kelsens einbrachte, der eben von der Seite rechtlicher Autonomie her argumentierte und den rechtstheoretischen Schwachpunkt der Ehrlichschen Theorie ansprach, nämlich die Frage, wie die Jurisprudenz aus dem „lebenden Recht“ soll normative Argumente schöpfen können. Auf Seite der Soziologie fehlte es Ehrlich erstens an einer Theorie, die in der Lage gewesen wäre, das funktionale Verhältnis von gesellschaftlicher Ordnung und Recht mit begrifflichem Leben zu füllen; Karl Marx hatte mit dem Basis-Überbau-Theorem dafür eine Vorlage geliefert, die Ehrlich aber aus verschiedenen Gründen nicht benutzte. Zweitens mangelte es seinen soziologischen Bemühungen auch an einem begrifflichen Instrumentarium, um sich zur Autonomie rechtlicher Selbstbeschreibungen ins Verhältnis setzen zu können.

Unabhängig von der Bewertung der vieldiskutierten Ehrlich-Kelsen-Debatte kann man damit sagen, dass Ehrlich ein Modell von Rechts- und Gesellschaftswissenschaft entwickelte, welches das Recht als Grundstruktur gesellschaftlicher Ordnung zum Gegenstand soziologischer Beobachtung machte. Diese sollte gleichzeitig für empirische Geltungsbegründung in Anspruch genommen werden. Dass diese Position angesichts der wie oben beschrieben an Schärfe zunehmenden Differenz zwischen Erfahrungs- und Normwissenschaft im normativen Dispositiv auch in der Soziologie als synkretistisch und wenig wissenschaftlich aufgenommen wurde, zeigte sich implizit in Max Webers Wissenschaftssoziologie. Ohne Ehrlich namentlich zu erwähnen, grenzte Weber juristische Begriffsbildung und kausal-empirische Wirklichkeitsanalyse scharf voneinander ab – sie hätten gar nichts miteinander zu schaffen, wie er sagte. (so z. B. Roscher und Knies MWG I/7, 302). Normwissenschaft und Gesellschaftswissenschaften, so Weber, benutzen denselben Begriff „Recht“ in kategorial unterschiedlichem Sinn: „Das Wort ist dasselbe, – was gemeint ist, etwas in logischem Sinn toto coelo Verschiedenes. Der juristische Terminus ist hier teils Bezeichnung einer oder vieler faktischer Beziehungen teils ein „idealtypischer“ Kollektivbegriff geworden. Daß dies leicht übersehen wird, ist die Folge der Bedeutung rechtlicher Termini in der Praxis unseres Alltagslebens; – und im übrigen ist der Sehfehler nicht häufiger und nicht schwerwiegender als der umgekehrte: daß Gebilde juristischen Denkens mit Naturobjekten identifiziert werden.“ (ebd., 302 f.).

Ehrlichs reflexionstheoretische Unschärfe, darauf sollten diese wenigen Anmerkungen hindeuten, rief Angriffe von sehr unterschiedlichen Seiten hervor. Sein Modell rechtssoziologischer Interdisziplinarität formulierte zwar ein anspruchsvolles Programm, blieb aber begrifflich und konzeptionell noch den Rechtstheorien des neunzehnten Jahrhunderts verbunden und setzte sich damit zu Recht der Kritik des rechtswissenschaftlichen Positivismus wie der soziologischen Theorie aus. Rechtssoziologie blieb bei Ehrlich ein Konglomerat konzeptionell kaum aufeinander abgestimmter norm- und beobachtungstheoretischer Aussagen. Ein spezifischer Praxisdiskurs des Rechts („lebendes Recht“) stand in diesem Konzept unvermittelt – und damit in unserem Sinne indifferent – neben dem sich gerade bildenden Autonomiediskurs der Soziologie (Gesellschaft als Ordnung von Verbänden, Normen als soziale Tatsachen). Wenig erstaunlich ist deshalb, dass Ehrlich in der Rezeption der 1920er Jahre zwar allgemein großer Respekt gezollt wurde, dass sich sein Entwurf aber in keiner der damals entstehenden Varianten der Soziologie als inhaltlich anschlussfähig erwies (Schweitzer 2022). Ehrlichs reflexionstheoretisches Konstrukt verkörperte einen Diskurs der Interdisziplinarität als Indifferenz. Dieser lag quer zur sich gerade festigenden Identität der Soziologie als autonomer Wissenschaft, die als solche einen umfassenden analytischen Anspruch erhob.

Neben diesem Indifferenz-Diskurs gewann als zweiter reflexionstheoretischer Diskurs in der Anfangsphase der Rechtssoziologie das Modell der sachlichen Hierarchie an Aufmerksamkeit. Die Debatte über den wissenschaftstheoretischen Standort der Rechtssoziologie beschäftigte den Ersten Deutschen Soziologentag 1910 in Frankfurt an prominenter Stelle. Als einziger Jurist wurde auf Betreiben Max Webers Hermann U. Kantorowicz zu einem Vortrag eingeladen, der sich nach den Absichten der Veranstalter mit „Rechtswissenschaften und Wirtschaftswissenschaften“ befassen sollte (Haferkamp 2021, 216, Gephart MWG I/22–3, Einleitung, 17). Unter dem Titel „Rechtswissenschaft und Soziologie“ wandte sich Kantorowicz, der Gründungsmitglied der DGS und also auch ein Soziologe der ersten Stunde war, einem anderen Thema zu (siehe auch Verhandlungen, 273) und vertrat dabei eine Position, die auf der Sitzung für Unruhe (Lautmann 2021, 261 f. spricht von „Tumult“) und Unterbrechungen durch den Vorsitzenden Tönnies sorgte, der, wie Kantorowicz sich mit einigem Recht beschwerte, das Prinzip der Werturteilsfreiheit für Geschäftsordnungszwecke missbrauchte (Verhandlungen 313 f.). Kantorowicz hatte nämlich in seinem Vortrag die Rechtssoziologie in Abgrenzung gegenüber Ehrlich (Haferkamp 2021, 224 ff.) im Grunde als Annex der Rechtswissenschaft bezeichnet. Sie könne sich, so sein viel zitiertes Fazit, von der Rechtsdogmatik aus systematischen Gründen nicht emanzipieren, sondern werde „stets Aufgabe eines Juristen von Fach“ sein (Verhandlungen, 301). Damit grenzte er sich nicht nur gegen Ehrlich, sondern insbesondere auch gegenüber Ernst Fuchs und anderen ab, die unter dem Stichwort „soziologische Jurisprudenz“ eine Soziologisierung der juristischen Praxis im Geiste der Erfahrungswissenschaften erreichen wollten.

Kantorowicz behandelte in dem Frankfurter Vortrag zwei Fragen. Erstens ging es um den Nutzen der Rechtssoziologie für die Jurisprudenz und zweitens um die wissenschaftstheoretische Stellung der Rechtssoziologie (Haferkamp 2021, 220). Kantorowicz verstand Rechtssoziologie als „reine Soziologie“, welche die „Beziehungen mehrerer Sozialgebiete untereinander“ betreffe, beispielsweise Wirtschaft, Technik, Sitte, Kunst, Religion, Recht (Kantorowicz 1910, 276). Als reine Wissenschaft bezeichnete er nach heutigem Verständnis also eine Art Theorie der Funktionssysteme. Die angewandte Soziologie beziehe sich vor diesem theoretischen Hintergrund, so Kantorowicz, auf die Analyse von Einzelphänomenen. Angewandt meinte die „Anwendung dieser Lehren auf die Betrachtung der gleichmäßig mehreren Seiten des sozialen Lebens angehörenden Erscheinungen, z. B. auf die Familie, die Großstadt, die öffentliche Meinung, die Presse, den Klassenkampf …“ (ebd.) In diesem Sinne ist dann Rechtssoziologie zunächst einmal reine Soziologie. Auch wenn Kantorowicz mit der Bestimmung der Rechtssoziologie als „reiner“ (im Gegensatz zur angewandten) Soziologie einen reflexionstheoretischen Autonomiediskurs anklingen ließ, blieb damit doch das Verhältnis der Rechtssoziologie im Vergleich zum Recht asymmetrisch. Die Rechtssoziologie konnte der Rechtsprechung bei der Beantwortung der Rechts- und der Tatfrage zur Seite stehen. Zu letzterer gehörte auch die sogenannte Interessenabwägung (Kantorowicz ebd., 292 ff.). die sich auf einen normativen Rahmen, ein übergeordnetes Drittes, einen „Kulturwert“ bezog: „Die Rechtssoziologie ist … eine theoretische, die Wirklichkeit des sozialen Lebens mit Beziehung auf den Kulturwert des Rechtszwecks generalisierend bearbeitende Wissenschaft. Die dogmatische Jurisprudenz dagegen, die Lehre vom Inhalte und System der Rechtsnormen, steht außerhalb dieses Schemas, da sie, … nicht – theoretisch – auf Werte sich beziehend verfährt, sondern – als Normwissenschaft – selber wertet … Nunmehr erkennen wir, wie völlig verfehlt es ist zu meinen, die Jurisprudenz könne je durch die Soziologie ersetzt werden …“ (ebd., 297).

Neben dem erkennbaren Einfluss neukantianischer Gedanken – die auch in Max Webers grundsätzlich zustimmender Diskussionsrede zu Kantorowicz’ Vortrag zum Ausdruck kamen (Verhandlungen, 323 ff.) – fällt vor allem die konzeptionell in der Schwebe gehaltene Bestimmung des Verhältnisses von Norm- und Wirklichkeitswissenschaften ins Auge. Letzteres hing an der bei Kantorowicz allenfalls vorausgesetzten, aber nicht begrifflich geklärten Stellung des „Kulturwert[s] des Rechtszwecks“ innerhalb der soziologischen Theorie. Am Beispiel des Boykotts (Kantorowicz 1910, 300) führte er aus, Nationalökonomen und Sozialwissenschaftler könnten „als Vertreter theoretischer Wissenschaften ausschließlich lehren, was der Boykott ist“ … „Die am Rechtswert orientierte Rechtssoziologie kann noch einige Schritte weitergehen: kann die für die rechtliche Regelung wesentlichen Seiten des Boykottphänomens herausarbeiten, kann zeigen, welche tatsächlichen Wirkungen die auf den Boykott tatsächlich angewandten Normen des Zivil- und Strafrechts haben … Aber nur der Dogmatiker kann den letzten Schritt tun, kann – gestützt auf diese Lehren – untersuchen, wie die Gesetze ausgelegt und ihre Lücken ausgefüllt werden sollen …“ Und weiter: „Die Rechtssoziologie kann sich also von der Rechtsdogmatik ganz und gar nicht emanzipieren, muß also auch, … stets Aufgabe eines Juristen von Fach bleiben“ (ebd., 301). Schließlich: „Dogmatik ohne Soziologie ist leer, Soziologie ohne Dogmatik ist blind.“ (ebd., 303) Die Rechtssoziologie als reine, also theoretische Wissenschaft konnte nach Kantorowicz‘ Auffassung die für Jurisprudenz wesentlichen tatsächlichen Aspekte herausarbeiten, sie blieb aber bei der Bestimmung dieser „Wesentlichkeit“ auf die juristische Dogmatik angewiesen. Das war in deutlichem Gegensatz zu Ehrlichs Einheitsmodell aus der Perspektive eines Autonomie-Diskurses des Rechts stimmig formuliert, erforderte jedoch eine komplementäre Reflexionstheorie der (Rechts-)Soziologie, die deutlich machte, in welcher Weise die rechtlichen „Wesentlichkeiten“ eigentlich für die reine Wissenschaft der Rechtssoziologie relevant werden konnten.

In dieser von Haferkamp angesprochenen (vgl. oben Haferkamp 2021, 2020) zweiten Hinsicht blieb Kantorowicz freilich hinter seinem selbst gestellten Anspruch zurück. Er bestimmte die wissenschaftstheoretische Position der Rechtssoziologie lediglich ex negativo, nämlich als das, was aus rechtsdogmatischer Sicht als von dieser selbst nicht zu klärender Rest an Tatsachen offenblieb. Damit wurde auch der wissenschaftliche Stellenwert der Soziologie durch die Rechtswissenschaft per negationem definiert. Als autonome Wissenschaft kam sie nicht vor, was im historischen Kontext für die junge Soziologie nicht annehmbar sein konnte. Kantorowicz legte die daraus resultierende Spannung selbst offen. Denn das Finale seiner Argumentation ließ diese Spannung als blinden Fleck sichtbar werden. Er sagte: „Ich bin damit am Ende meiner Ausführungen angelangt, möchte aber nicht schließen, ohne zu erklären, daß die Rechtssoziologie nicht nur durch ihre Unentbehrlichkeit für die Jurisprudenz, sondern auch, wie jede Wissenschaft, an sich Wert besitzt. Wenn in meinen Ausführungen hauptsächlich von ersterem die Rede war, so geschah dies nur deshalb, weil das letztere selbstverständlich ist.“ (ebd., 309) Mit dem Hinweis auf scheinbar Selbstverständliches vermied er zugleich aber die explizite Antwort auf die Fragen, worin jener Eigenwert genau bestehe, wie beide Wissenschaften sich als je autonome zueinander verhielten und wie sie wissenschaftstheoretisch zu integrieren seien. Das Modell der sachlichen Hierarchie geht, wie bei Kantorowicz offensichtlich wird, auf Kosten der Soziologie als autonomer Disziplin.

Hans-Peter Haferkamp würdigt vor diesem Hintergrund den von Kantorowicz erkennbar vertretenen, in der Beschäftigung mit dem südwestdeutschem Neukantianismus (insbesondere Rickert, dazu Haferkamp 2021, 226 ff.) wurzelnden Methodenpluralismus als Integration sich ergänzender Perspektiven im interdisziplinären Zugriff: „Es ging um ein notwendiges Miteinander, nicht bloßes Unterstützungswissen.“ (ebd., 228). Dieser Sichtweise kann man entgegenhalten, dass das Verhältnis doch tatsächlich asymmetrisch gedacht war. Worin bestand nach Kantorowicz jeweils die Autonomie beider Bereiche? In welcher Weise konnten sie sich wechselseitig mit jeweils intern anschlussfähigen, relevanten Problemen ausstatten, also ihre (pluralen) Methoden aufeinander beziehen? Eine Antwort im Sinne eines Interdisziplinaritätsmodells, in welchem Autonomie und Praxis integrieren könnte, war von Kantorowicz nicht zu erhalten, der, so kann man zusammenfassen, im Kern für die Soziologie ein Konzept der sachlichen Hierarchie im Sinne einer juristischen Hilfswissenschaftskonzeption anbot. Das muss auch Haferkamp konzedieren, wenn er feststellt, dass Kantorowicz „die Rechtssoziologie in das Recht integrieren wollte“ (ebd.) Lautmann charakterisiert die reflexionstheoretische Lage deutlicher: „Er [Kantorowicz] sieht die Bezüge wohl nur in der einen Richtung“ (Lautmann 2021, 250). Soziologische Reflexionstheorien, für welche die Autonomie der Disziplin im Vordergrund stand, konnten daran nicht anschließen.

Im Anschluss an Kantorowicz trat in er Jurisprudenz die bis heute außerordentlich erfolgreiche Strömung der Rechtstatsachenforschung als Spielart der Rechtssoziologie auf den Plan. In ihr manifestiert sich das Interdisziplinaritätsmodell der sachlichen Hierarchie in besonderer Klarheit. Arthur Nußbaum (seit seiner Emigration: Nussbaum) hat dieses Programm einer im Dienste der Rechtswissenschaft empirisch forschenden Soziologie etwa um 1914 entworfen und auch selbst entsprechende Studien, insbesondere zur Grundschuld, vorgelegt (Nußbaum 1914). Ernst E. Hirsch, Manfred Rehbinder und andere entwickelten diese Position weiter. Sie haben damit in den Folgejahrzehnten eine unübersehbare Fülle an empirischen Untersuchungen auf allen Rechtsgebieten angestoßen, die, wie im zweiten Kapitel erwähnt, in späterer Zeit sogar durch eine eigene Ressortforschungsabteilung des BMJ gefördert wurden. Ähnlich wie Kantorowicz beharrte auch Nußbaum (1914) darauf, dass allein die Jurisprudenz festlegen könne, was normativ relevante empirische Tatsachen sind. Daher sei der Begriff „Rechtstatsachen“ der einzig angemessene (ebd., 22). Die Notwendigkeit der Rechtstatsachenforschung war nach Nußbaum durch den Umstand begründet, dass „das Recht sich keineswegs so mit dem wirklichen Recht deckt, wie es die Schulmeinung lehrt.“ (Nußbaum 1920, 48) In einem später erschienenen Aufsatz (Nußbaum 1940) unternahm er eine wissenschaftstheoretische und -geschichtliche Einordnung seiner Arbeiten. Insgesamt entwickelte er dabei eine Reflexionstheorie der (Rechts-)Soziologie als Hilfswissenschaft, für die es keine eigenständige Bestimmung gibt. Der Diskurs der Rechtstatsachenforschung blieb ganz innerhalb eines Autonomie-Diskurses des Rechts, die Soziologie unter Führung durch die Rechtsdogmatik. Beides zusammen mündete in die Rechtstatsachenforschung. Rechtssoziologie fungierte als Instrument für den Wirklichkeitskontakt und die Praxisrelevanz der Jurisprudenz. Sachliche Hierarchie bestimmte auch hier den Interdisziplinaritätsdiskurs. Die Rechtstatsachenforschung ist unter anderem wohl auch deswegen in der Soziologie praktisch unbemerkt geblieben – trotz ihrer insgesamt hohen Produktivität.

3.1.5 Zwischenbilanz: Norm- und Erfahrungswissenschaft

Fassen wir den Zwischenstand kurz zusammen: Die Autonomisierung der Rechtswissenschaft vollzog sich mit der Festigung des von Doris Schweitzer genannten normativen Zweck-Dispositivs zunächst im juristischen Reflexionsdiskurs. Dort hatte der juristische Methodenstreit eine Aufwertung der Soziologie als Wissenschaft zur Folge, da sie nunmehr als eigenständige Disziplin ins Blickfeld der Rechtswissenschaft trat. Unklarheit herrschte darüber, worin ihr Wissenschaftscharakter bestand. Als Denkmöglichkeiten boten sich für die Soziologie sowohl der Naturalismus mit einem induktiv-deskriptiven, auf Kausalgesetzlichkeiten ausgerichteten Verständnis von Soziologie an, als auch der Kulturalismus beziehungsweise Historismus auf das Verstehen von Sinn- und Deutungszusammenhängen ausgerichtetes Wissenschaftskonzept. Aus der reflexionstheoretischen Perspektive des Rechts blieb eine Festlegung in dieser Hinsicht zunächst aus. Viel folgenreicher in dem über diese Frage entbrannten vielstimmigen Streit (Schweitzer 2021, 373 f.) war der Umstand, dass die Rechtswissenschaft einen eigenen Gegenstandsbereich für sich reklamieren konnte. Sie verstand und bezeichnete sich fortan ausdrücklich als Normwissenschaft. Die Abgrenzung gegenüber der Erfahrungswissenschaft Soziologie wurde damit zur „zentralen wissenschaftstheoretischen Herausforderung“ der Jurisprudenz, zum „Abgrenzungshorizont“, vor dem sich die Rechtswissenschaft als Disziplin bestimmte (ebd., 374). Die seit der Historischen Rechtsschule schwelende und mit der von Jhering bis Fuchs fortschreitenden Soziologisierung der Rechtswissenschaft offen ausgebrochene Unbestimmtheit in der Reflexionstheorie des Rechts wurde nunmehr als „Angriff auf die Autonomie der Rechtswissenschaft“ verstanden (ebd.) Am effektivsten ließ sich dieser Angriff mit Hilfe der eben erwähnten wissenschaftstheoretischen Unterscheidungen abwehren. Die Selbstbeschreibung der Rechtswissenschaft als Normwissenschaft berief sich auf die naheliegende kategoriale Trennung von Sein und Sollen, was einigermaßen weitreichende Folgen für die Wissenschaftssoziologie haben sollte. Solange es aber zunächst um die Grenzen der Rechtswissenschaft als eigenständiger Disziplin ging, half die begriffliche Differenz dabei, die komplexe Debatte über die Rolle der Soziologie zu vereinfachen und die Aufgabe der Soziologie für die Rechtswissenschaft zu definieren. Interessanterweise führten damit die seit einem knappen Jahrhundert anlaufenden Soziologisierungsansätze in der Jurisprudenz also zu einer Normativierung der Rechtswissenschaft (ebd., 381). Sie wurde hier erst eine im strengen Sinne autonome Disziplin, indem sie intern die Herausforderungen der Soziologisierung entschärfte und in die Umwelt verlagerte. Das Erstarken eines Praxis-Diskurses innerhalb der Rechtswissenschaft führte langfristig zu einem ausgeprägten juristischen Autonomie-Diskurs, dem nun der Autonomie-Diskurs der Soziologie gegenüberstand.

Wenn damit die Konstitution zweier autonomer, sich zunächst einmal gegeneinander abschließender wissenschaftlicher Disziplinen in nuce sichtbar wird, so blieb in der Quintessenz aus der ursprünglichen in den Privatrechtslehren des frühen 19. Jahrhunderts verankerten einheitlichen Betrachtungsweise ein Rest an Unruhe, der die Reflexionstheorie von nun an zwischen beiden Beobachtungsperspektiven oszillieren ließ. Dabei entstanden vor allem in der Jurisprudenz zeitgleich mit der Verselbständigung der Soziologie Diagnosen eines gewissen Verlusts. Die Arbeitsteilung zwischen Norm- und Erfahrungswissenschaft wurde als Defizit einer Rechtstheorie empfunden, welche die mit der Positivierung des Rechts verbundenen Herausforderungen gerade erst zu bemerken begann. Die Annahme eines nach autonomen Prinzipien operierenden Rechts wurde mit unterschiedlichen Gründen innerhalb der Jurisprudenz von Teilen der Freirechtsbewegung und anderen in Zweifel gezogen. Diese rechtsinterne Beobachtung der sozialen Umwelt des Rechts rief eine lebhafte Debatte über das Verhältnis der Disziplinen hervor. Die Semantik der „Rechtssoziologie“, einer „soziologischen Jurisprudenz“ bzw. der „Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft“ zeigte erstmalig diese Problemlage an und löste einen Reflexionsprozess aus, der das Verhältnis von Autonomie und Praxis in den beiden nunmehr eigenständigen Disziplinen problematisierte und diese Diskurse in einem asymmetrischen Interdisziplinaritätsmodell aneinanderkoppelte. Vergleichbares zeichnete sich auch in den Reflexionsmodellen der frühen soziologischen Theorien ab, wie im Folgenden zu diskutieren sein wird.

3.2 Autonomie und Relevanz: Rechtssoziologie und die ungelösten Probleme der Interdisziplinarität in der frühen Soziologie

Mit der Emergenz zweier eigenständiger Disziplinen, die beide auf je spezifische Weise das Recht und seine gesellschaftliche Umwelt beschrieben, war im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert eine Konkurrenz der Beobachtungen geschaffen, die auch innerhalb der Soziologie eine reflexionstheoretische Beschreibung in der Wissenschaft erforderlich machte. Wie hatte man sich die Beziehung erstens zwischen Recht und Gesellschaft auf der Ebene des Gegenstandes und zweitens zwischen erfahrungs- und normwissenschaftlicher Perspektive im Bereich der soziologischen Reflexionstheorie zu denken? Beide Fragen waren um die vorletzte Jahrhundertwende in der Soziologie präsent, wenngleich sie zunächst nicht explizit ausformuliert wurden. Sie provozierten am Ende heterogene Deutungsangebote, die jedoch, wie zu zeigen sein wird, unter der vielgestaltigen Oberfläche eine gemeinsame Tendenz zur asymmetrischen Beschreibung erkennen ließen. Im Rückblick wird sichtbar werden, dass das Fach Soziologie damals mangels theoretischer Reife kein deutlicher konturiertes Angebot hätte machen können. Umso interessanter wird bei der Betrachtung späterer Perioden die Frage sein, welche Umstände dann trotz weiter entwickelter soziologischer Theorie der Formulierung eines entsprechenden reflexionstheoretisches Musters im Wege standen und welche Anknüpfungspunkte sich heute aus dem historischen Geschehen gewinnen lassen. Die folgenden Überlegungen widmen sich dabei nicht der Soziologie in ihrer Breite, sondern nehmen ausschließlich diejenigen soziologischen Theorien in den Blick, welche die Gründungsphase der Rechtssoziologie mitprägten. Dies hat zur Folge, dass etwa Mead, Simmel, Mannheim oder Elias trotz ihrer epochalen Bedeutung für die allgemeine Soziologie und trotz gewisser Einflüsse auf rechtssoziologische Protagonisten – Simmel etwa im Falle von Kantorowicz (Lautmann 2021, 254) – nicht diskutiert werden.

Vor dem Hintergrund der eben beschriebenen Auseinandersetzungen in der Rechtswissenschaft konstituierte sich die neue Disziplin der Soziologie als autonome Universaltheorie, als eine Wissenschaft mit umfassender Kompetenz für den Gegenstandsbereich „Gesellschaft“ und mit auf diesen Gegenstand abgestimmten Theorien und Methoden. Mit diesem Autonomisierungs- und Schließungsprozess verschob sich theorieintern der Schwerpunkt auch im Hinblick auf das Recht. Wir finden in jener Phase soziologische Theorien vor, die über das Recht bisweilen wenig Spezifisches zu sagen wissen, selbst dort, wo sie einen Blick für die normativen Strukturen von Gesellschaft haben. Deshalb entwickelten sie zum Teil keine ausgeprägten Reflexionstheorien für das interdisziplinäre Feld der Rechtssoziologie, wie an Marx, Durkheim und Tönnies zu zeigen sein wird. In anderen Fällen, speziell bei Weber und Geiger, wurde die Reflexionstheorie in einer Weise ausgearbeitet, die schon perspektivisch auf spätere Entwicklungen hinwies. Insgesamt lassen sich damit im Hinblick auf die Beschäftigung mit dem Recht im Wesentlichen zwei Interdisziplinaritätsdiskurse ausmachen, nämlich zum einen sachliche Hierarchie in unterschiedlicher Gestalt sowie zum anderen frühe Ansätze eines responsiven Modells zum anderen.

3.2.1 Autonomie der Soziologie und sachliche Hierarchie – Marx, Durkheim, Tönnies

Für die frühen, in gewisser Weise rechtsblinden soziologischen Theorien stand zunächst vor allem das Werk von Karl Marx. Er war Zeitgenosse Jherings, wie dieser 1818 geboren, und hatte zunächst juristische Vorlesungen in Bonn und Berlin besucht, bevor er sich der Philosophie und der Geschichte zuwandte. Diese biographische Abkehr vom Recht spiegelte sich später in seinem Werk wider, das vom Dissens mit der (jung-)hegelianischen Philosophie und von der Ökonomie geprägt war. Mit der Kritik des Hegelschen Idealismus (Marx 1843) und der Grundlegung einer materialistischen Theorie bereitete es den Boden für ein Verständnis des Rechts, in welchem soziale und vor allem ökonomische Strukturen eine determinierende Rolle übernahmen. Rechtliche Phänomene galten, soweit Marx sie überhaupt thematisierte, lediglich als Folgen von tiefer liegenden strukturellen Gegebenheiten des sozialen Lebens. Diese Theoriestrategie lief auf die Determination des Rechts durch seine Umwelt hinaus und verschloss sich damit einer soziologischen Analyse des Rechts selbst, welche sie ins Reich der Ideologiekritik verwies (Marx 1842; Marx und Engels 1846, dort vor allem die Polemik gegen Max Stirner, 297 ff. passim, 311 ff., oder auch, etwas substantiierter die Bemerkungen zu Auswirkungen der englischen Fabrikgesetzgebung auf den Normalarbeitstag, Marx 1867, 315 ff.). Das Recht stellte nach dieser Auffassung ein reines Überbau-Phänomen dar. Es spiegelte lediglich die Struktur der bürgerlichen Gesellschaft und blieb Ideologie, reale Klasseninteressen verschleiernd hinter formaler Begriffsarchitektur (Marx 1875, siehe auch Gephart 1993, 283 ff.). Strukturen und Operationsweisen des Rechts selbst blieben dabei weitgehend außer Betracht. Es gab für sie innerhalb dieser Theorie noch kein begriffliches Instrumentarium. Die Soziologie verfügte an dieser Stelle nicht über die theoretischen Mittel, Funktionssysteme jenseits der Ökonomie als eigene Gegenstände zu erfassen und in ihrer je eigenen Gestalt zu erklären. Sie blieb insofern blind dem Recht gegenüber, denn Marx’ Klassen-, Evolutions- und Ideologietheorie verfügten nicht über ein Sensorium für die Strukturen des Rechts, für deren autonome Reproduktion. Wir stoßen also auf einen Interdisziplinaritätsdiskurs der sachlichen Hierarchie zu Gunsten der Seite der „Gesellschaft“, welche überdies mit Ökonomie äquivok gesetzt wurde. Dieser Diskurs verhielt sich in der Sache – abgesehen von der Ökonomie – völlig abstinent gegenüber den Eigenrationalitäten von Funktionssystemen wie etwa des Rechts. Die Frage nach dessen Autonomie, seiner inneren Verfasstheit, der Struktur rechtlicher Normativität wurde aus theorieimmanenten Gründen ins Reich der Ideologiekritik eskamotiert. Daran änderten auch spätere Verfeinerungen der Theorie wenig, beispielsweise durch Georg Lukács (1923), Alfred Sohn-Rethel (1978) oder Jewgeni Pašukanis (1929). Wenn Sohn-Rethel etwa von Warenform und Denkform sprach, reproduzierte er im Kern trotz subtiler Modifikationen doch den Marxschen Determinismus. Die marxistische Wissenschaftstheorie blieb asymmetrisch und verkannte die semantische Eigenständigkeit sozialer Felder, die etwa das Fundament der Wissenssoziologie seit Mannheim bildet.

Im Unterschied zu Marx hatte Émile Durkheim in seiner Frühschrift über die Moralwissenschaft an den deutschen Universitäten (Durkheim 1887) Jherings Rechtstheorie in Gestalt eines Modells der Rechtswissenschaft als Soziologie rezipiert und Normativität als universale Struktur von Sozialität interpretiert. Durkheim war 1880er Jahren, unter anderem während seines Studienaufenthalts in Deutschland, vor allem durch Jherings Rechtstheorie beeinflusst worden, in welcher er den Keim einer neu entstehenden Moralwissenschaft zu erkennen glaubte, die mit den Methoden der noch jungen Erfahrungswissenschaften (der „positiven“ Wissenschaften) die normativen Grundstrukturen von Gesellschaft würde erforschen können. Dabei interpretierte Durkheim die Entstehung von Recht nicht als zweckorientierten legislativen Akt, sondern in Anlehnung an den „Observanz“-Gedanken der Historischen Rechtsschule als unmittelbar aus dem Kollektivbewusstsein der Gesellschaft entsprungen (Schweitzer 2021, 392 ff.). Im Gegensatz zur anfänglichen normtheoretischen Fundierung zeigte sich allerdings im Werk über die Arbeitsteilung (Durkheim 1893) die grundlegende Schwierigkeit von Durkheims Theorie. Arbeitsteilung hatte für Durkheim die Funktion, Solidarität zu erzeugen. Diese war für ihn als moralisches Phänomen der direkten Beobachtung und Messung nicht zugänglich, sondern konnte, wie er meinte, nur über gesellschaftliche Symbole erschlossen werden, zu denen insbesondere das Recht zählte (ebd., 111). Es diente für Durkheim bei der Analyse des theoretisch zentralen Topos der Arbeitsteilung als bloßer Indikator für die Grundkategorie der gesellschaftlichen Solidarität, die als solche nicht messbar, wohl aber über die symbolische Repräsentation im Recht und seinen historischen Erscheinungsformen indirekt erfassbar sei (ebd., vgl. Schluchter 2000, 11; Gephart 1993, 368 ff.). Repressives und restitutives Recht verkörperten mechanische und organische Solidarität und damit die beiden fundamentalen Modi gesellschaftlicher Arbeitsteilung. Dem Recht selbst wurde jedoch, wie Gephart gezeigt hat (Gephart 1993 383 f.), eine eigenständige Bedeutung für die Integration der arbeitsteiligen Gesellschaft abgesprochen. Schon Durkheims Klassifikation der Rechtsformen fehlte damit eine empirische Plausibilität, was auch die Entwicklungshypothese in ein zweifelhaftes Licht rückte (ebd., 385) Die Gewohnheitsrechtslehre der historischen Rechtsschule spielte dabei, wie Schweitzer nachweist, eine zweifache Rolle. Sie lieferte zum einen die Begründung für soziale Solidarität und zum anderen für die Bedeutung des Rechts als deren formalen Ausdrucks (Schweitzer 2021, 403 ff., 433 ff.). Insgesamt blieben jedoch sowohl der Repräsentationsaspekt als auch die soziologische Analyse des Rechts selbst unausgearbeitet. Im Unterschied zum rechtswissenschaftlichen Repräsentations-Dispositiv – und mit weitreichenden Folgen für die Rechtssoziologie – richtete sich Durkheims Augenmerk zwar auf den Vermittlungszusammenhang zwischen Gesellschaft und Recht, nicht aber auf die interne Struktur, Dynamik und Systematik des Rechtssystems sowie die damit auch verbundenen methodischen und reflexionstheoretischen Fragen. Letztlich beantwortete Durkheim deshalb keine der mit der Soziologie aufkommenden Fragen an das Recht (Schweitzer 2021, 437 f.) Sein profundes rechtssoziologisches Desinteresse, so Schweitzer, gründete überraschenderweise in der zentralen Rolle des Rechts im Repräsentations-Dispositiv und in dessen Funktion für die Begründung einer autonomen Soziologie. Insofern vollzog Durkheim, so könnte man vielleicht sagen, die oben dargestellten nachfolgenden Debatten in der juristischen Reflexionstheorie nicht mit.

Durkheims Gesellschaftstheorie bot deshalb trotz ihrer Aufmerksamkeit für den Wandel von segmentärer zu funktionaler Differenzierung in ihrer Konzentration auf Rechtsformen und Sanktionstypen (repressiv – restitutiv) keine Konzeption des Rechts, die den Namen „Rechtssoziologie“ verdiente (so auch Luhmann 1972, 14 ff.). Es gelang ihm vor allem nicht, die Entstehung des Rechts – und allgemeiner der Tatsache des Sollens – soziologisch auf einen Begriff zu bringen. Im Gegensatz zu einer häufig vertretenen Ansicht (vgl. statt vieler nur die Lehrbücher von Raiser 2013; Röhl 2012; Baer 2015; Deflem 2008, auch die Darstellung bei Gephart 1993) kann man deshalb Durkheim wohl nicht als einen genuin rechtssoziologischen Theoretiker behandeln. Er benutzte eine in der Rechtstheorie bereits entwickelte Unterscheidung, um seine soziologische Theorie gesellschaftlicher Solidarität auf der begrifflichen Ebene mit empirisch beobachtbarem Material zu füllen, ohne für dieses Material selbst – das Recht – ein angemessenes soziologisches Beobachtungsinstrument anbieten zu können. Das hatte Folgen für das implizite Verständnis von Interdisziplinarität. Durkheims Interdisziplinaritätsdiskurs – soweit man von einem solchen sprechen will – stützte sich in seiner Grundstruktur auf eine asymmetrischen Reflexionstheorie, eine sachliche Hierarchie zu Gunsten der Soziologie unter Ausblendung von deren Umwelt, also ohne einen soziologischen Praxis-Diskurs. Dies verhinderte nicht nur ein soziologisches Verständnis rechtlicher Phänomene, sondern blockierte gleichermaßen die Bearbeitung reflexionstheoretischer Fragen in der Soziologie.

Solche reflexionstheoretischen Fragen der Interdisziplinarität waren jedoch auch in der frühen Soziologie ein Thema, auch wenn sie zunächst nicht immer beantwortet wurden. Als Beispiel für einen solchen Ansatz kann das Werk von Ferdinand Tönnies dienen. Dort entwickelte sich ein Diskurs der soziologischen Autonomie, auf dessen Grundlage die reflexionstheoretischen Beziehungen zwischen Soziologie und Recht in einem Modell interner Differenzierung abgebildet wurden, welches trotz seiner zunächst offenen Anlage allerdings asymmetrisch blieb und im Grunde zur Schließung der Soziologie gegenüber dem Recht beitrug. Tönnies hatte sich, wie schon erwähnt, auf dem Soziologentag 1910 in scharfer Form gegen Kantorowicz gewendet und sich explizit auf die – im Übrigen auf Betreiben Webers satzungsmäßig festgeschriebene – Werturteilsfreiheit der Soziologie berufen. Umso interessanter ist deshalb die Frage, wie sich Rechtswissenschaft und Soziologie in Tönnies’ Werk reflexionstheoretisch zueinander verhielten, das sich auf der gegenstandstheoretischen Ebene doch in fundamentaler Weise auf die Form des Rechts bezog. Anders als Marx und Durkheim nahm Tönnies in „Gemeinschaft und Gesellschaft“ (Tönnies 1887) das Recht als eigenständige soziale Sphäre ernst und integrierte es in die soziologische Gesellschaftstheorie. In sachlicher Hinsicht ließ sich dies unmittelbar an der Rolle des Rechts in der Sozialtheorie erkennen. Das Recht war nicht lediglich ein Indikator für tiefer liegende Strukturen, sondern galt unmittelbarer Ausdruck gesellschaftlicher Ordnung, als deren konkrete Erscheinungsform. Tönnies vertrat im Gegensatz zu Marx und Durkheim eine soziologische Theorie des Rechts, die sich nicht in sachlicher Dominanz des „Sozialen“ gegenüber dem Recht erschöpfte, sondern letzteres gerade als Gestalt des ersteren auffasste. Man mag darin Reste des Repräsentations-Dispositivs erkennen. Gleichzeitig wurde jedoch die bei Marx und Durkheim konstitutive Hierarchie zwischen den beiden Sphären in der Gegenstandstheorie zunächst aufgelöst. Das Recht symbolisierte nicht soziale Strukturen, es war für Tönnies selbst eine solche Sozialstruktur. Darauf baute die Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft. Gemeinschaft besteht, so Tönnies, im Kern aus Gewohnheitsrecht, Gesellschaft aus Gesetzesrecht (ebd., 277 ff., 281). Durch die konkrete Gestalt dieser Gesellschaftstheorie machte er das Problem der Interdisziplinarität immerhin sichtbar und markierte damit wenigstens die Bruchstelle zwischen Konzepten sachlicher Hierarchie und stärker responsiven Modellen der Interdisziplinarität.

In reflexionstheoretischer Hinsicht beließ jedoch auch Tönnies diese grundlegende theoriekonstruktive Verbindung von allgemeiner Sozialstruktur und Recht im Unklaren. Er sprach lediglich von einer „Parallele von Leben und Recht“ (ebd., 224), in welcher sich die Evolution der beiden Grundformen der Gesellschaft abbildet (ebd., 227), ohne den Charakter dieser Parallelität näher aufzuklären. Das Recht wurde in dieser Sichtweise mittels einer Materie-Form-Unterscheidung bestimmt, die sowohl Anleihen bei Marx machte als auch Ähnlichkeiten zur Durkheimschen Korrespondenztheorie aufwies. Es war für Tönnies nämlich geistige Emanation aus der „Materie des Zusammenlebens“, zugleich verkörperte es eine aus den Willkürsphären (d. h. auf der Ebene von Gesellschaft) hinzugefügte Form. Wie sich diese beiden Aspekte zueinander verhielten, blieb offen. Auch hierin Durkheim ähnlich ordnete Tönnies die juristischen Begrifflichkeiten einer Soziologie unter, die doch für die Eigengesetzlichkeiten des Gegenstandes keinen ausgeprägten Blick hatte und deshalb nur eine Korrespondenztheorie von Recht und Gesellschaft anbieten konnte. Theodor Geiger kritisierte später diese konzeptionelle Unschärfe (Geiger 1953, 91 f., 105 f.), ebenso wie Luhmann, der darauf hinwies, dass sich die historische These angesichts der Gleichzeitigkeit und komplexen Mischung verschiedener Formen von „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ nicht halten lasse. Diese Komplexität und Eigendynamik sozialer Sphären erschwere insbesondere gesellschaftliche Planung und Steuerung, weil die Eigenrationalitäten dieser Sphären die Anerkennung des Rechts beeinflussen (Luhmann 1972, 315 ff., 317).

Trotz der Bedeutung des Rechts für die Soziologie machten sich also in Tönnies’ Werk unbestreitbare reflexionstheoretische Schwächen deutlich bemerkbar. Die Gegenstandstheorie wurde, mit anderen Worten, nicht für systematische reflexionstheoretische Innovationen in der Soziologie genutzt. Tönnies’ am Modell der Naturwissenschaften orientiertes Verständnis der Soziologie, das im Konzept der Gemeinschaft und in der Idee des gemeinschaftlichen Naturrechts zum Ausdruck kam, blieb auf Distanz zu den in der Rechtswissenschaft aufgeworfenen Methoden- und Geltungsfragen, über die sich erfahrungswissenschaftlich nach Tönnies’ Auffassung nicht sagen ließ (vgl. „Soziologie im System der Wissenschaften“, Tönnies 1926, 236–242). Soziologie, so Tönnies, war vor allem gegenüber der Biologie und der Psychologie abzugrenzen (ebd., 236) und befasste sich mit sozialen „Verhältnissen“, „Werten“ und „Verbindungen“, welche als soziale Tatsachen die Grundlage der Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft bilden (ebd., 241 f.). Der Gegensatz von Seins- und Sollens-Wissenschaft wurde interessanterweise nicht auf die unterschiedlichen Disziplinen abgebildet, sondern als internes Problem einer Rechtsphilosophie behandelt, die in einen rein normativen und einen der Soziologie angehörenden Teil zerfiel. Dort – als Aspekt der Rechtsphilosophie – gehörte sie zur reinen Soziologie und beschrieb aus soziologischer Sicht die Phänomene des Rechts: „Die Rechtsphilosophie ist daher ihrem Wesen nach ein Teil der reinen oder theoretischen Soziologie, insofern als die Rechtsphilosophie die Wirklichkeiten des Rechts begreifen will.“ (Tönnies 1911, 570) In dieser Hinsicht war Rechtsphilosophie also Erfahrungswissenschaft. Soweit sie als Normwissenschaft aufzufassen war, blieb sie allerdings der Soziologie äußerlich. „Sie liegt aber ausserhalb der Soziologie, insofern als sie Normen des richtigen oder guten oder zweckmässigen oder gerechten Rechtes aufzustellen unternimmt.“ (ebd.) Umgekehrt widmete sich die angewandte Soziologie den Phänomenen des Rechts aus einer Außenperspektive. Sie beschrieb nach Tönnies deren soziale Grundlagen: „Die angewandte oder empirische Soziologie begreift auch die Entwicklungsgeschichte des sozialen Lebens, also der sozialen Institutionen in sich; sie hat die Aufgabe, deren natürlichen, ökonomischen, rechtlichen, religiösen und sittlichen Charakter darzustellen. Die Entwicklungsgeschichte des Rechts kann wie jede besondere historische Disziplin völlig unabhängig von ihr bleiben. Sie geht aber in dem Masse in angewandte Soziologie über, als sie auch die natürlichen, ökonomischen, religiösen und moralischen Seiten und Wurzeln der Institutionen in ihre Betrachtungen hineinzieht.“ (ebd., 571) Tönnies schloss sich also – was angesichts des Disputs mit Kantorowicz wenig überraschen mag – der aus dem juristischen Methodenstreit vertrauten Auffassung zweier autonomer Sphären an. Daraus resultierte, wie wir an den diskutierten Passagen gesehen haben, die Frage nach dem Verhältnis dieser Sphären: Indifferenz oder Hierarchie. Tönnies legte sich in dieser Sache nicht fest. Umso auffälliger erscheint angesichts dessen seine beiläufige Bemerkung, „daß alle juristischen Begriffe, sofern sie allgemeine und notwendige Gültigkeit in Anspruch nehmen, in soziologischen Begriffen beruhen müssen.“ („Zur Soziologie des demokratischen Staates“, Tönnies 1926, 304–352, 349). Die Staatslehre zum Beispiel, so Tönnies, sei deshalb notwendigerweise „eine soziologische Lehre“ (ebd., 350). Es waren also marginale Stellen, an denen das reflexionstheoretische Modell autonomer Soziologie kleine Risse aufzuweisen begann. Probleme der Interdisziplinarität zwischen Rechtswissenschaft und Soziologie waren damit innerhalb der Soziologie angedeutet, aber nicht in Gestalt eines soziologischen Reflexionsdiskurses entfaltet. Tönnies löste sich inhaltlich von den oben beschriebenen rechtstheoretischen Auseinandersetzungen seiner Zeit, beharrte auf der Autonomie der sich gerade formierenden Soziologie und trug damit, wie Schweitzer bemerkt, im Ergebnis her zur wachsenden Distanz zwischen Soziologie und Rechtswissenschaft bei (Schweitzer 2021, 485 ff., 493).

Im Falle der bisher diskutierten Klassikertexte erweiterte also die im Aufbruch befindliche junge Soziologie mit Blick auf die Ebene der Reflexion ihren Wirkungsbereich und reklamierte die Zuständigkeit als Universaltheorie für ihren gesamten Gegenstand. Dass sie sich dabei, beeinflusst durch die Privatrechtstheorien des neunzehnten Jahrhunderts, bisweilen auch juristischer Konzepte bediente, bedeutete allerdings nicht, dass sie bereits eine soziologische Sprache für das Recht als Gegenstand entwickelt hätte. Marx war am Recht im Grunde nicht interessiert und behandelte es als Aspekt des Überbaus und damit als Gegenstand der Ideologiekritik. Durkheim und Tönnies arbeiteten an der Autonomie der Soziologie und benutzten dabei juristische Konzepte, integrierten diese aber lediglich in ein autonom operierendes soziologisches Begriffssystem. Die hierbei aufscheinenden Interdisziplinaritätsdiskurse lassen sich nach dem im ersten Kapitel vorgestellten Schema als sachliche Dominanz der Soziologie kennzeichnen, auch wenn diese Dominanz bei Tönnies möglicherweise nicht mehr völlig ungebrochen war. Fragen nach dem Innen-Außen-Verhältnis, nach den Praxis-Implikationen von Recht für die Soziologie blieben jedoch weithin unbeantwortet.

3.2.2 Doppelte Autonomie und Responsivität als Herausforderung – Erste Spuren bei Weber und Geiger

In den Anfangsjahrzehnten der Soziologie spielte also, wie wir gesehen haben, deren Autonomie im interdisziplinären Verhältnis aus nachvollziehbaren Gründen eine wichtige Rolle. Das Recht war, soweit es überhaupt angesprochen wurde, für die Soziologie ein Thema auf der gegenstandstheoretischen Seite. Die Wahrnehmungen changierten, wie gesehen, von der Ideologiekritik über das Recht als Solidaritätssymbol bis zur Verfassung von Gemeinschaft und Gesellschaft qua Recht, ohne dass es jedoch zu reflexionstheoretischen Bestimmungen dieses Verhältnisses gekommen wäre. Tönnies, der das am weitesten elaborierte gegenstandstheoretische Konzept vertrat, konzentrierte sich im Gegenteil ganz auf Werturteilsfreiheit und griff aus dieser Grundlage auch die vorsichtigeren unter den rechtssoziologischen Versuchen scharf an.

Ein wesentlich komplexeres Reflexionskonzept der Rechtssoziologie trat dagegen im Werk von Max Weber zu Tage. Es stand im Hinblick auf die Rolle des Rechts in deutlichem Kontrast zu den eben erwähnten Soziologien. Weber verband umfangreiche materiale Analysen des Rechts, die erstmals auch aus soziologischer Perspektive etwas zu diesem Gegenstand zu sagen hatten, mit einer nunmehr wissenschaftssoziologisch fundierten Auffassung von Interdisziplinarität. Diese konnte sich am Ende zwar nicht aus den Fängen der juristischen Dispositive und der neukantianischen Philosophie lösen, ließ die Perspektive einer symmetrischen Beziehung jedoch immerhin erahnen.

Als Jurist war Weber nicht nur mit den Debatten um die Historische Rechtsschule und deren Nachfolger vertraut. In seinen soziologischen Schriften nahm das Recht darüber hinaus in verschiedener Hinsicht eine zentrale Rolle ein (vgl. dazu vor allem Gephart 1993). Es bildete nicht nur die okzidentale Rationalisierung der Gesellschaft im Kern ab, sondern stellte insgesamt eine zentrale Kategorie in Webers Begriffsinstrumentarium dar (vgl. ausführlich Gephart, Einleitung in MWG 22/3, 1–133, Schluchter 2000, 26). Es symbolisierte nicht lediglich soziale Ordnung, wie für Durkheim, sondern war selbst ein spezifischer Aspekt dieser Ordnung. Darüber hinaus partizipierte es nicht nur an der Ausdifferenzierung sozialer Sphären (Schimank 1996), sondern differenzierte sich selbst gegenüber anderen normativen Strukturen aus (Schluchter 2000, 29). Schließlich stellte es die Grundlage für das Konzept der Idealtypen und für den Begriff des sozialen Handelns bereit (Treiber und Quensel 2002). Diese Merkmale lassen sich insbesondere in Webers wissenschaftssoziologischen Schriften identifizieren, denen wir uns im ersten Schritt zuwenden (dazu vor allem Schweitzer 2021, § 8). Sie kommen darüber hinaus aber auch in den reichhaltigen materialen Analysen des Rechts und seiner Rationalisierung zum Ausdruck, die wir im zweiten Schritt wenigstens kurz streifen werden.

Der als „Wissenschaftslehre“ bekannte Teil des Werkes, zuerst erschienen in einer posthum von Marianne Weber besorgten Ausgabe 1922 (Weber 1922 (a), im Folgenden zitiert nach der Max-Weber-Gesamtausgabe), war inhaltlich wenig einheitlich, in seinen Ursprüngen teils widersprüchlich und in seiner Bedeutung umstritten (Oakes 1990; Tenbruck 1994, 1999; Wagner und Zipprian 1985, 1994). Webers wissenschaftssoziologische Position kann als Reaktion auf eine vor allem in der Nationalökonomie geführte methodologische Debatte zwischen Naturalismus und Historismus verstanden werden. Gustav Schmoller hatte in diesem Zusammenhang die Idee einer aus der empirischen Forschung zu gewinnenden ethischen Wissenschaft entwickelt, die er im Werturteilsstreit gegen Max Webers historische Sozialwissenschaft ebenso wie gegen Carl Mengers Naturalismus zu verteidigen versuchte.

Weber reagierte auf diesen Streit im Objektivitätsaufsatz (Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, MWG I/7, 144–234) mit der Unterscheidung zwischen nomothetischen und idiographischen Wissenschaften, welchen er die empirische Kulturwissenschaften als Wirklichkeitswissenschaften zur Seite stellte. Schon in „Roscher und Knies“ (Weber 1985) hatte er sich von der Historischen Rechtsschule abgewendet, ohne deshalb sich dem Konkurrenzprogramm des Naturalismus anzuvertrauen. Als Neukantianer konnte er sich dem im Historismus verankerten Repräsentationsgedanken nicht anschließen (Weber 1922, 442). Allerdings sah er im Kontrast zum naturwissenschaftlichen Gesetzesbegriff die Sozialwissenschaft als Wirklichkeitswissenschaft vor der Aufgabe, Kulturphänomene in ihrer Beziehung zu grundlegenden Wertideen zu verstehen. Der Objektivitäts-Aufsatz erarbeitete Webers methodologischen Vermittlungsversuch zwischen den beiden Polen. Der Schmollerschen Auffassung hielt er sein Konzept des subjektiven Ursprungs normativer Urteile entgegen (MWG I/7, 146). Dieses Subjektivitätsmodell war, wie wir noch sehen werden, ein Grund für Probleme in Webers Wissenschaftssoziologie. Subjektive Wertideen spielten in der Wissenschaft zwar bei der Wahl der Forschungsgegenstände (ebd., 193) eine Rolle. In methodischer Hinsicht kam es aber für die Objektivität der Erkenntnis auf die Möglichkeit klarer Begriffsbildung an, die er für die Soziologie im Konzept des Idealtypus als eines aus Einzelerscheinungen kondensierten „Gedankenbilde[s]“ gegeben sah (ebd., 203 f.), welches die Wirklichkeit nicht abbildete, sondern gedanklich-theoretisch darstellte, eine „Utopie“, wie Weber wiederholt formulierte (ebd., 203–206). Verschiedentlich ist bemerkt worden (Treiber und Quensel 2002; Schweitzer 2021, 522 f.), dass in dieser Begriffsbestimmung zwar eine starke Ablehnung juristischer Denkweisen zum Ausdruck kam, dass Weber aber an anderer Stelle (Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik, MWG I/7, 384–480, 451 f.) sich gerade auf die juristische Theorie der „objektiven Möglichkeit“ bezog, um das Verfahren der Bildung von Idealtypen zu veranschaulichen. In der bereits erwähnten Diskussionsrede auf dem Soziologentag 1910 hatte Weber dieses Argument sehr deutlich gemacht und von einer „Überlegenheit“ juristischer Begriffsbildung gesprochen (Verhandlungen, 326). Schweitzer macht im Objektivitäts-Aufsatz insofern eine Differenz zwischen expliziter, die Rechtswissenschaft ablehnender, und impliziter, sich auf deren Begriffsbildung direkt beziehender Ebene aus (Schweitzer 2021, 523). Letztere war im bereits erwähnten Aufsatz zur kulturwissenschaftlichen Logik deutlicher zu erkennen. Dort diente im Hinblick auf Fragen historischer Kausalurteile der juristische Begriff der Zurechnung „nicht mehr als Negativfolie, sondern als Vorlage für die Bestimmung der Kausallogik der empirischen Wissenschaften.“ (Schweitzer 2021, 526).

Ein derart starker Bezug auf die Rechtswissenschaft provozierte die Frage nach der wissenschaftlichen Eigenständigkeit der Soziologie. Während im Logik-Aufsatz die soziologischen Handlungs- und Zurechnungsbegrifflichkeiten unmittelbar an juristische Kategorien angelehnt waren, beschäftigte Weber sich in der Stammler-Kritik mit der Frage, wie unter solchen Prämissen Soziologie als historisch-kausale Kulturwissenschaft, mit anderen Worten als eigenständige Erfahrungswissenschaft gedacht werden könne (R. Stammlers „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung, MWG I/7, 487–571). Dem Gegensatzpaar von nomothetischen und historiographischen Wissenschaften fügte er die Unterscheidung zwischen empirisch-kausalen Disziplinen und normativ oder dogmatisch-begriffsanalytisch argumentierenden hinzu. Hier formulierte er die neukantianische Kritik des naturalistischen Fehlschlusses, gewissermaßen als Umkehrung normativ verkürzter empirischer Schlüsse. Das bot die Grundlage für ein gegenüber dem Begriff der Regel abgegrenztes Konzept der Handlungsmaximen (ebd., 536 ff.). Diese wirkten nach Weber empirisch kausal – also objektiv –, gehörten aber der Sphäre der Handlungsorientierungen und damit des subjektiv-intentionalen Sinngeschehens an. Weber unterschied empirische Seins-Regeln von normativen Sollens-Regeln (ebd., 538 f.) und grenzte beide gegen Maximen ab. Maximen bezeichneten Handlungsorientierungen, mit der Folge, dass nicht normative Regeln, sondern allein Maximen für Kausalerklärungen des Handelns einer Person herangezogen werden konnten: „… nicht das ‚ideelle Gelten‘ einer Norm, sondern die empirische Vorstellung des Handelnden, daß die Norm für sein Verhalten ‚gelten solle‘, ist der Grund.“ (ebd., 540) Mit Blick auf das Recht bedeutete dies, dass es als empirisch beobachtbare Maxime verstanden wurde, welche das Handeln im Sinne eines wahrscheinlichen Verlaufs kausal bestimmt. Recht selbst konnte allerdings nach Webers Auffassung als Gelten-Sollendes keine Form des Seienden darstellen: „Die Rechtsregel, empirisch betrachtet, ist aber erst recht keine ‚Form‘ des sozialen Seins, …, sondern eine sachliche Komponente der empirischen Wirklichkeit, eine, in mehr oder minder großer ‚Reinheit‘, das empirisch zu beobachtende Verhalten eines in jedem einzelnen Fall unbestimmt großen Teils der Menschen kausal bestimmende, im Einzelfall mehr oder minder bewußt und mehr oder minder konsequent befolgte, Maxime.“ (ebd., 560 f.).

Das Problem, wie angesichts der offenkundigen sozialen Bedeutung des Rechts die grundlegende Frage der Soziologie nach den Bedingungen sozialer Ordnung beantwortet werden kann, wurde im Kategorien-Aufsatz mit dem Terminus der „verstehenden Soziologie“ dann weiter behandelt. Dort wurden der Sinnbegriff, die Handlungstypen sowie deren Orientierung normativen Ordnungen als Basiskonstrukte zusammengeführt (Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie, MWG I/12, 389–440). Weber führte soziale Ordnung – den Begriff der Gesellschaft vermeidend (Tyrell 1994) – auf Handeln zurück, welches, wie gesagt, auf der Grundlage subjektiv-intentionalen Sinns verstehbar war. Zur Beantwortung der Frage, wie aus solchermaßen verstandenem Handeln Ordnung hervorgehen könne, meinte Weber nun, unvermeidlich auf den Gebrauch juristischer Begriffe angewiesen zu sein: „Es ist aber allerdings das unvermeidliche Schicksal aller Soziologie: daß sie für die Betrachtung des überall stetige Übergänge zwischen den ‚typischen‘ Fällen zeigenden realen Handelns sehr oft die scharfen, weil auf syllogistischer Interpretation von Normen ruhenden, juristischen Ausdrücke verwenden muß, um ihnen dann ihren eigenen, von dem juristischen der Wurzel nach verschiedenen, Sinn unterzuschieben.“ (ebd., 405). Aus dem juristischen, eng mit Vorstellungen von Vorsatz und Fahrlässigkeit verbundenen Handlungsbegriff konnte sich über verschiedene Typen solchen Handelns ein auf subjektiven Sinn zurückzuführendes Ordnungsmodell ergeben. Die Formen des Gemeinschafts-, Gesellschafts- (ebd., 406 ff.) und Einverständnishandelns (ebd., 418) mündeten in den Verband und die Anstalt als den Formen sozialer Ordnung (433). Dass subjektiver Sinn nicht psychologisierend, sondern aus soziologischer Perspektive idealtypisch auszufassen war, verstand sich von selbst. Es ging nicht um individuell verfolgte Zwecke, sondern „um durchschnittlich eindeutig verstandenen Sinngehalt und wandelbare Durchschnittschancen der empirischen Geltung.“ (ebd.).

Für das Verständnis von Webers Position ist vor allem der Umstand entscheidend, dass alle genannten Formen des Handelns sich an unterstellbaren Erwartungen anderer im Modus eines „als ob“ orientieren (ebd., 418 ff.) und in dieser Chance des Einverständnisses (ebd., 424) die Verbindlichkeit der Ordnung ausdrücken. Die Regelmäßigkeit sozialen Handelns resultierte, wie Schweitzer sagt, „aus den Orientierungen an Regeln mit normativen Geltungsansprüchen“ (Schweitzer 2021, 544). Damit war gleichsam ein späterer, auf Erwartungsunterstellungen abhebender soziologischer Normbegriff angedeutet, der allerdings angesichts der subjektiv-intentionalen Sinnbegrifflichkeit für Weber noch nicht konkret vorstellbar war.

Im Kategorien-Aufsatz erhielt die juristische Begriffsbildung als Grundlage der Soziologie besondere Bedeutung. Da juristische Begriffe in der Anwendung auf changierende Sachlagen treffen, notwendigerweise semantisch offen und unscharf sind und deshalb fortlaufend adjustiert werden müssen, gerieten sie für Weber trotz ihrer Zugehörigkeit zur Rechtsdogmatik in eine Nähe zum „Lebenden Recht“ und konnten sich insofern sogar als soziologisch brauchbar erweisen, wenn es gelang, sie vom freirechtlichen Synkretismus des Repräsentations-Dispositivs fernzuhalten (Schweitzer 2021, 547). Während die Jurisprudenz „den logisch richtigen ‚objektiven‘ Sinngehalt von Rechtssätzen“ ermittele, konnte die Soziologie, so Weber, den subjektiven Durchschnittssinn erforschen und diesen am objektiven Sinn messen. Die Soziologie hatte es „mit Vorstellungen von Menschen über das Gelten bestimmter Rechtssätze“ zu tun. (MWG I/12, 405). Um diese in ihrer Bedeutung angemessen erfassen zu können, bedurfte sie der Kenntnis des objektiven Sinns, um Handeln als darauf bezogenes rational deuten zu können. (Der Sinn der „Wertfreiheit“ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften, MWG I/12, 445–512). In Webers Worten formuliert: „… unser Verständnis für diese Vorgänge ist deshalb so besonders evident, weil es sich eben um die Realisation von objektiv ‚Gültigem‘ handelt.“ (ebd., 501). Juristische Begriffe bildeten für ihn die Heuristiken der soziologischen Analyse, wie er am Beispiel des Tauschs erläuterte: „Der dogmatische ‚Sinn‘ des ‚Tauschs‘ ist für die empirische Betrachtung ein ‚Idealtypus‘, der, weil in der empirischen Wirklichkeit sich massenhaft Vorgänge finden, welche ihm in einer mehr oder minder großen ‚Reinheit‘ entsprechen, ‚heuristisch‘ einerseits, ‚klassifizierend‘ andrerseits, von uns verwendet wird. ‚Norm‘-Maximen, welche diesen ‚idealen‘ Sinn des Tauschs als ‚verpflichtend‘ behandeln, sind zweifellos eine der verschiedenen möglichen Determinanten des faktischen Handelns der ‚Tauschenden‘. Aber eben nur eine, deren empirisches Vorhandensein im konkreten Akt Hypothese ebenso für den Beobachter wie auch, nicht zu vergessen, für jeden der beiden Akteurs hinsichtlich des anderen ist.“ (Stammler-Kritik, MWG I/7, 545). Die herausragende Bedeutung juristischer Begriffe für das Verständnis objektiven Sinns und damit für die soziologische Analyse war somit ein zentraler theoriearchitektonischer Baustein in Webers Wissenschaftslehre.

Daraus resultierten Chancen und Herausforderungen. Denn mit dem Ziel der Sicherung soziologischer Autonomie musste es Weber trotz des Stellenwerts rechtsdogmatischer Konstrukte um eine Abwehr des juristischen Hierarchie-Modells zu tun sein, das nach wie vor die wissenschaftstheoretischen und -politischen Auseinandersetzungen prägte. Gerade auf Grund der engen konzeptionellen Verwandtschaft seiner soziologischen Grundbegriffe zur „Idealtypik“ der juristischen Begriffsbildung musste sich Webers verstehende Soziologie, wenn man Schweitzers These folgt, gegenüber der Rechtswissenschaft scharf abgrenzen, um die Autonomie der Soziologie zu sichern (Schweitzer 2021, 551 ff.). Er bediente sich dazu einer – von der Weber-Kritik immer schon bemängelten – Hypostasierung subjektiver Rationalität im Handlungsbegriff (dazu bereits Habermas 1981, Band 1, Erste Zwischenbetrachtung).

Die Argumentation setzte bei methodologischen Implikationen des Werturteils und damit des Wert-Begriffs an. Wenn das Verständnis der empirischen Wirkung von Werten sinndeutendes Verstehen voraussetzte, so musste mit Schweitzers Worten „der Zusammenhang der normativen mit den empirischen Phänomenen für die wissenschaftliche Analyse etwas anderes darstellen als die simple Reduktion von Werturteilen auf empirische Fakten“ (Schweitzer 2021, 453 f.) Mit Weber gesprochen waren es die „Wertinteressen, … welche auch der rein empirisch-wissenschaftlichen Arbeit die Pfade weisen“, nämlich in Verfahren der empirischen Interpretation (Beitrag zur Werturteildiskussion im Ausschuß des Vereins für Sozialpolitik, MWG I/12, 361). Die juristische Methode stellte der Soziologie hierzu das Instrumentarium zur Verfügung. Sie ersetzte mit ihrem auf das subjektive Erleben des Handelnden zugeschnittenen Verständnis dabei zugleich aber auch den philosophisch aufgeladenen Wert-Begriff durch den Begriff des subjektiven Handlungs-Sinns. Weber wechselte mit seinem Bezug auf die Rechtswissenschaft also „vom Wert zum Sinn“ (Schweitzer 2021, 557; Treiber und Quensel 2002, 98 f.). Das war zum einen außerordentlich folgenreich, weil es die Verwendung des subjektiv-intentionalen Sinnbegriffs rechtfertigte. Es führte Weber zum anderen, wie Schweitzer sagt, zurück in die juristischen Debatten, in denen er sich angesichts der oben geschilderten Zusammenhänge auf die Seite der Begriffsjurisprudenz schlagen musste. Denn bei der Berücksichtigung juristischer Erkenntnisse in der Soziologie konnte allein jenes „System von Gedanken und Begriffen“ Verwendung finden, „welches der wissenschaftliche Rechtsdogmatiker als Wertmaßstab benutzt“ (Stammler-Kritik, MWG I/7, 559). Das konnte nur die Begriffsjurisprudenz leisten, deren formale Herangehensweise nach Weber allein den Wissenschaftscharakter der Jurisprudenz begründete (Weber 1922, 507 ff., 512). Nur so lange Weber die Rechtswissenschaft in dieser Weise verstand, konnte „sich seine sinnverstehende Soziologie an ihr orientieren und dabei werturteilsfrei verfahren.“ (Schweitzer 2021, 571).

Webers Werk kombinierte, mit anderen Worten, das reflexionstheoretische Modell einer autonomen Schließung des Rechts und einer gleichermaßen autonomen Selbstkonstitution der Soziologie mit einer begriffsjuristischen Auffassung der Rechtswissenschaft, um so die Unterscheidung von Norm- und Erfahrungswissenschaft zu retten. Auf dieser Basis wurde die klare Ablehnung etwa der Ehrlichschen oder Jungschen Rechtssoziologie unmittelbar einsichtig. Probleme der Normativität wurden in die Rechtswissenschaft ausgelagert (Schweitzer 2021, 572).

Wenn man die Webersche Wissenschaftslehre an dieser Stelle vor der Hintergrundfolie unserer reflexionstheoretischen Begrifflichkeiten von Autonomie- und Praxis-Diskursen liest, fällt auf, wie stark Weber sich insbesondere in der Stammler-Kritik der Vorstellung annäherte, die Umwelt der Soziologie – die Rechtswissenschaft in unserem Fall – könne intern mitsprechen. In dieser Weise charakterisiert, wie man sich erinnern wird, Kaldewey (2013) den Praxis-Diskurs der Wissenschaft: Externe Gesichtspunkte werden in Gestalt von Anlehnungskontexten intern relevant. Insofern kann man mit guten Gründen davon sprechen, dass im Weberschen Nachdenken über Interdisziplinarität die Herausforderung der Responsivität doch ziemlich offen zu Tage trat. Denn angesichts der Differenz von Norm- und Erfahrungswissenschaften und der darauf beruhenden Autonomie sowohl der Rechtswissenschaft als auch der Soziologie musste eigentlich auf der Ebene von Reflexionstheorie in Webers Wissenschaftslehre ein Konzept der Interdisziplinarität offengelegt werden. Da beide Disziplinen als je autonome aufgefasst wurden, resultierte daraus entweder die Aufgabe, ein responsives Modell explizit auszuformulieren oder ein Rückfall in das Konzept sachlicher Hierarchie, verstanden als Dominanz der Soziologie.

Weber wählte eine Lösung, die trotz ihrer Unzulänglichkeiten für unsere Fragestellung instruktiv ist. Mit subjektivem Handlungssinn ließ sich ein Modell sozialer Ordnung nur denken, wenn unter Zuhilfenahme juristischer Begriffsbildung das Recht als handlungsorientierende Maxime aufgefasst wurde, aus der sich objektiver Sinn entnehmen ließ. Diese enge Kopplung rechtsdogmatischer und soziologischer Begrifflichkeiten legte in reflexionstheoretischer Hinsicht Responsivität nahe. Weber beschritt diesen Weg nicht, um die handlungstheoretisch fundierte Sphärentrennung aufrechtzuerhalten, welche der Wissenschaftslehre ihre Struktur gab. Diese bildete, trotz der Komplexität des Interdisziplinaritätsmodells, das Konzept der sachlichen Hierarchie als Dominanz der Soziologie gegenüber der Jurisprudenz ab. Handlungs- und Sinnbegriff verhinderten, dass der aus der Rechtswissenschaft geborgte Begriff des objektiven Sinns weiter entfaltet wurde und führten damit zur Schließung der Soziologie gegenüber dem Recht. Die Überwindung des engen Handlungs- und Sinnkonzepts gelang erst sehr viel später nach dem linguistic turn einigen kommunikationstheoretisch verfahrenden Soziologien.

Hinweise auf eine über subjektive Intentionalität hinausgehende Soziologie ließen allerdings sich schon Webers Gegenstandstheorie entnehmen, in welcher das Recht bekanntlich eine überaus prominente Rolle spielte. Das galt vor allem für die materialen Analysen in „Wirtschaft und Gesellschaft“. Das große Kapitel „Rechtssoziologie“ in „Wirtschaft und Gesellschaft“ (1922, 387–513) behandelte die Frage nach den Formen legitimer Herrschaft (rational, traditional, charismatisch). In gleicher Weise wie die Kapitel über Religion, Markt und Politik war es als Ausarbeitung einer allgemeinen Theorie der gesellschaftlichen Rationalisierung zu lesen. Diese These wurde in Gestalt einer übergreifenden Theorie der Rechtsevolution entfaltet und darauf bezogen in einer soziologischen Analyse der juristischen Rechtsquellenlehre ausgearbeitet. Vertrag, Jurisprudenz, Gericht, Orakel/Prophetie, ebenso wie die Vereinbarung zwischen Verbänden erwiesen sich jeweils im historischen und transkulturellen Vergleich als spezifische Ausdrucksmuster gesellschaftlicher Ordnungen. Im Ergebnis präsentierte Weber eine soziologische Theorie des Rechts, die sich einerseits in ungewöhnlich starker – und innerhalb der Soziologie wohl nur noch von Luhmann erreichter – Manier am juristischen Diskurs orientierte und dessen Terminologie ungefiltert benutzte. Man wird hier jedenfalls auf der inhaltlichen Ebene von einer besonders engen und später nur selten wieder erreichten Resonanz zwischen rechtlichen und soziologischen Fragestellungen ausgehen können. Webers Rechtssoziologie erwies sich hier unmittelbar als Soziologie aus dem Geiste der Rechtswissenschaft. Gleichzeitig blieb sie konzeptionell noch stark einschränkt durch den engen Rationalitätsbegriff und dessen Kopplung von Sinn und subjektiver Intentionalität. Die Aussagekraft der Untersuchungen zum Recht, so meint Schweitzer, sei insgesamt nur von eingeschränkter Relevanz, „… geht es darin doch um die soziologische Bestimmung des Rechts, nicht aber um die Herausforderungen des Rechts für die Soziologie“ (Schweitzer 2021, 503, Fn. 794). Sie diagnostiziert also in unserer Terminologie eine asymmetrische Sichtweise in Webers Rechtssoziologie. Dem ist im Ergebnis zuzustimmen mit der eben genannten Einschränkung, dass tatsächlich erstmalig eine Soziologie mit einem eigenständigen Begriffsinstrumentarium das Recht angemessen beschreiben konnte – eine in unserem Zusammenhang nicht gering zu veranschlagende Leistung, deren Bedeutung sich später wieder zeigen wird, wenn Luhmann im Konzert der zeitgenössischen Soziologien als einzige Stimme zu vernehmen ist, der Vergleichbares gelingt.

Die objekttheoretische Öffnung bei gleichzeitiger reflexionstheoretischer Asymmetrie ließ sich auch in „Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen“ am Beginn des zweiten Teils von „Wirtschaft und Gesellschaft“ (Weber 1922, 181–197) erkennen. Dort gelang Weber eine klare Formulierung von später für die Rechtssoziologie relevanten Einsichten, die über das enge Subjekt- und Rationalitätskonzepte hinauswiesen (ebd., 195). Recht und Wirtschaft wurden als autonom operierende gesellschaftliche Sphären beschrieben, was soziologische Differenzierungstheorien mit vorbereitete (vgl. Schimank 1996). Gleichzeitig wies Weber vor dem Hintergrund dieser Autonomie auf wechselseitige Einflüsse zwischen den gesellschaftlichen Sphären hin, eine Tatsache, die auch für spätere autopoietische Konzepte ein zentrales Thema werden sollte. Die Möglichkeiten des Rechts, Einfluss auf die Wirtschaft auszuüben, hingen schließlich, so Weber, von der inneren Operationsweise der Wirtschaft ab. Wenn man den Gesichtspunkt verallgemeinert und jenseits der Ökonomie auf andere Funktionssysteme überträgt, wird davon später auch die Steuerungsskepsis der Systemtheorie sprechen. Über die Folgenorientierungsdebatte ruft sie, wie wir sehen werden, drängende reflexionstheoretische Fragen hervor. Die gesellschaftliche Funktion des Rechts bestand zuletzt für Weber, Luhmannsche Einsichten insofern antizipierend, in der Erzeugung von Erwartungssicherheit („Kalkulierbarkeit“, wie es bei Weber heißt). Hier wurden also die Konturen einer Gegenstandtheorie skizziert, in welcher die Konzepte schon angedeutet waren, die wir später etwa bei Geiger oder Luhmann finden.

Das reflexionstheoretische System-Umwelt-Problem, lag dabei gewissermaßen schon in der Luft, wurde aber erneut nicht explizit angesprochen. In „Die Wirtschaft und die sozialen Ordnungen“ formulierte der Text die bekannte Trennung von rechtlicher Binnenperspektive und soziologischer Bobachtung (Weber 1922, 181) Gleichzeitig betonte Weber allerdings auch – wissenschaftssoziologisch über Kantorowicz hinaus gehend – die Selbständigkeit soziologischer Beobachtung gegenüber der rechtlichen Binnenperspektive. Eine „reine“ (Rechts-) Soziologie hätte sich in Webers Sicht der Dinge in ihren Erkenntnismöglichkeiten nicht der Dogmatik nachzuordnen, sondern böte eine spezifischer zu bestimmende komplementäre Sichtweise an, auch wenn diese reflexionstheoretisch hier nicht ausbuchstabiert wurde. Die wissenschaftssoziologische Bedeutung der kurzen Passage zur Rechtssoziologie besteht mit anderen Worten darin, das bei Tönnies gleichsam nur schlummernde Problem reflexionstheoretischer Responsivität offen sichtbar werden zu lassen. Weber machte, wenn man so will, Responsivität unter der Hand zum Thema. Sein Werk bot allerdings noch kein entsprechend komplexes reflexionstheoretisches Modell, sondern ließ die Frage vorerst in der Schwebe. Auch die materialen Analysen des Rechts verharrten reflexionstheoretisch gleichsam im Wartestand.

An den besprochenen Texten erkennt man also, dass Weber, auch wenn er gerade wegen der methodologischen Vermittlungsposition und des ambivalenten Pendelns zwischen Norm- und Erfahrungswissenschaft vielleicht nicht restlos dem normativen Zweck-Dispositiv zugeschlagen werden kann, doch mit dem Festhalten an der Seite der Autonomie eine wesentliche Grundlage für die Entwicklung der Soziologie zur eigenständigen Disziplin gelegt hat. Man entdeckt darin die Grundzüge eines responsiven Interdisziplinaritätsdiskurses, der sich allderings infolge der methodologischen Positionsbestimmung gewissermaßen im Gehege der durch den Werturteilsstreit umrissenen Widersprüche verfing.

Die Probleme, die sich daraus für den Außen-Bezug („Praxis“) sowohl des Rechts wie eben auch der Soziologie ergeben, hat Weber schließlich der Soziologie insgesamt und damit auch der Rechtssoziologie als Aufgabe hinterlassen. Seine „Immunisierung der Soziologie gegen das Recht“ (Schweitzer 2021, 571) gründete in der durch die Unterscheidung von Seins- und Sollenswissenschaften einerseits und subjektivem Handlungssinn andererseits provozierte Auslagerung normativer Fragen in die Rechtswissenschaft. Das stellte in unserer Terminologie trotz der dargestellten Spuren von Responsivität ein reflexionstheoretisches Modell sachlicher Hierarchie dar. Weber stand sich, wie Lautmann meinte, im Hinblick auf die Rechtssoziologie damit „selbst im Weg.“ (Lautmann 2021, 261).

Theodor Geiger, mit dem die Überlegungen zur historischen Formierung rechtssoziologischer Reflexionstheorie abgeschlossen werden sollen, war 30 Jahre jünger als Weber und Ehrlich und 15 Jahre jünger als Kantorowicz, Sinzheimer oder Radbruch. Wie die drei letztgenannten hat er aber die 1930er und 1940er Jahre erlebt. Sein Buch „Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts“ erschien 1947. Geigers wissenschaftliches Schaffen erstreckte sich auf die Jahre von 1919 bis 1952. Sein Werk reichte damit über die bislang besprochene Gründungsphase hinaus. Es bildete insofern die Brücke in die Rechtssoziologie der Nachkriegszeit.

Geiger vertrat eine reflexionstheoretische Konzeption, die in zentralen Punkten noch über Webers Lösungsansatz hinausging. Er selbst bezeichnete seine Position als „soziologischen Rechtsrealismus“ und meinte damit ein verhaltenswissenschaftliches, behavioristisches Modell, welches der Beobachtung zugängliche Gegenstände von subjektiv-intentionalen Bewusstseinsinhalten abgrenzte, wie er am Begriff des Willens diskutierte (Geiger 1947, 371). Dieser Geigersche Behaviorismus speiste sich also aus einer Abkehr von subjektphilosophischen Grundannahmen, wie sie Webers Handlungstheorie zugrunde lagen (und seinen Handlungsbegriff ebenso wie die Auffassung von sozialer Ordnung wesentlich bestimmt hatten, wie wir oben gesehen haben.) Geiger nahm mit dieser Abkehr vom subjektiv-intentionalen Handlungsbegriff und der darauf bauenden Gesellschaftstheorie eine Entwicklung in der Soziologie vorweg, die erst lange nach Erscheinen seines Buches 1947 und seinem Tod 1952 einsetzte. Damit war er für seine Zeit bemerkenswert modern und kann als ein Wegbereiter einer über Weber hinausweisenden Soziologie gelesen werden. Zwar knüpfte Geiger mit seinem „Wertnihilismus“ (praktischer Wertnihilismus im Gegensatz zum theoretischen der Uppsala-Schule) an Webers Position im Werturteilsstreit an, kappte dabei allerdings Webers hermeneutische, im Historismus wurzelnde geisteswissenschaftliche Tradition.

Geigers Buch stellte historisch den ersten Ansatz zu einer umfassenden, theoretisch anspruchsvollen soziologischen Theorie des Rechts dar. Auch wenn aus heutiger Sicht der behavioristische Charakter ein wenig überholt erscheint, kann dieser Eindruck gleichwohl die große systematische Leistung Geigers nicht schmälern. Der Formalismus in der Darstellung, der die Rezeption des Werkes für manche erschwert, kann die inhaltliche Innovation nicht überlagern, die das Buch zu einem Schlüsselwerk der Rechtssoziologie macht und insgesamt eine moderne soziologische Theorie erkennbar werden lässt. Diese Bedeutung von Geigers „Vorstudien“ manifestiert sich in folgenden Aspekten, welche den reflexionstheoretischen Diskurs einer Interdisziplinarität als Responsivität in Grundzügen erkennbar werden lassen.

Dies fällt zum einen dort ins Auge, wo Geiger über die Ursachen normativer Verbindlichkeit spricht. Diese Verbindlichkeit ist für ihn sozial erzeugt. Das heißt, die soziale Realität sorgt dafür, dass Akteure sich der Alternative von Normbefolgung einerseits und Devianz plus einer Reaktion der Gruppenöffentlichkeit überhaupt ausgesetzt sehen. Verbindlichkeit beruht nach Geigers Vorstellung nicht auf Gründen des Gehorsams oder auf Reaktionen der Gruppenöffentlichkeit (Geiger 1947, 83). Sie entsteht vielmehr aus der Handlungsalternative, die Entscheidungen nötig macht, also aus dem objektiven Sinnhorizont von Potenzialität und Aktualität, der Selektionen anregt. Die Wirkung der Verbindlichkeit liegt, so Geiger, in der Wahrscheinlichkeit, dass eine Normadressat entweder konform handelt oder sich durch abweichendes Verhalten einer Sanktion aussetzt. (ebd., 82, 214). Verbindlichkeit ist ein Ergebnis sozialer Interdependenz (ebd., 82) und nicht eines individuellen Gebarens. Denn Verbindlichkeit entsteht nach Geiger aus sozialem Erwarten. Da dieses Erwarten, wie gesagt, eine Form der sozialen Interdependenz darstellt, rührt Verbindlichkeit für Geiger nicht aus individuellen Meinungen oder Einstellungen her. „Es wäre … falsch, v [d. h. Verbindlichkeit, A.B.] als eine psychische Erscheinung aufzufassen. Die Wirklichkeit von v liegt keineswegs darin, daß AA [d. h. die Normadressaten, A.B.] sich die Norm als verbindlich vorstellen.“ (ebd., 86) Sie besteht vielmehr in der Wechselseitigkeit des erfolgreichen Unterstellens von Erwartungen und den daraus resultierenden Selektionszwängen. Einwände, nach denen nicht die Sanktion, sondern das Rechtsbewusstsein der Adressaten der Norm Geltung verliehen, wehrte Geiger mit dem Hinweis auf die Alternativ-Struktur der Verbindlichkeit und auf die soziale Interdependenz als ausschlaggebenden Mechanismus ab (ebd., 214 ff., 216).

Geiger verstand also die empirische Wirkung von Normen nicht einfach als eine Resultante von Zwang, sondern in einem viel komplexeren Zusammenhang als eine sozial folgenreiche empirische Handlungsalternative, in der sich Normen in sozialen Beziehungen gleichsam bemerkbar machen und „wirklich“ werden. Den Kern der Verbindlichkeit bildete damit das in der sozialen Interdependenz begründete wechselseitige Erwarten des Erwartens aller anderen (in Geigers Worten: der Gruppenöffentlichkeit). Damit verliert zum einen die Attribution von Geigers Normtheorie als Zwangstheorie (so jedenfalls in der Tendenz Baer 2011, 241 f.; Rehbinder 2009, 36; Raiser 2007, 176) ihre vordergründige Plausibilität, auch wenn er dem Anerkennungsbegriff gegenüber reserviert blieb. Darin, dass er den Aspekt des wechselseitigen Erwartens betonte, lag seine Stärke. Denn man erkennt in den Details des Verbindlichkeits-Begriffs eine soziologische Theorie, die ohne die Annahme psychischer Wirkmechanismen auskam, ebenso aber auch ohne Webers Konzept des subjektiven Sinns. Das war implizit schon ein Vorgriff auf spätere soziologische Theorien. Denn Geiger ließ die im Kern sozialpsychologisch gebauten Handlungstheorien der Soziologie Max Webers hinter sich und bereitete, wenngleich noch unausgesprochen, spätere Kommunikationstheorien vor. Die Erörterung der Ursachen normativer Verbindlichkeit wies weit über den Norm-Sanktions-Behaviorismus hinaus (Geiger 1947, 82 ff.) und legte die Grundlagen für eine Sichtweise, die nach dem linguistic turn als kommunikationstheoretisch fundierte Soziologie erst vorstellbar wurde und insofern das Verbindungsglied zur modernen Soziologie bildete.

Im Kapitel V der „Vorstudien“ gab Geiger darüber hinaus eine soziologische Antwort auf die Ehrlich-Kelsen-Kontroverse und auf die Frage nach einem soziologisch angemessenen Verständnis von Normgeltung. In dem mit „Kritik der juridischen Geltungsfrage“ betitelten Abschnitt (ebd., 253 ff.) reformuliert er diese Geltungsfrage aus soziologischer Sicht als „Verbindlichkeitskalkül“ (ebd., 277), insofern an Webers Vorstellungen der Durchsetzungs-Chance anknüpfend. Dieses warf als empirisches Kalkül, wie man unschwer erkennt, die juristische Folgefrage nach der Rechtssicherheit auf. Wie konnte, wenn Verbindlichkeit ein empirisches Kalkül ist, normative Stabilität in Gestalt von „Rechtssicherheit“ kommunikativ erzeugt werden? Diese normative Frage machte Geiger zu seinem soziologischen Thema und beantwortete sie wiederum empirisch: mit Hilfe von Gesetzen (Positivierung), einer „verhältnismäßig konstante(n)“ Rechtsprechung (ebd., 279 f.) und der Rechtswissenschaft als Reflexionsinstanz.

Auf diesem Wege gelangte Geiger zu einer soziologischen Beschreibung des Rechts als eines Sozialsystems, die sich in modernisierter sprachlicher Gestalt so ähnlich auch in Luhmanns „Recht der Gesellschaft“ finden lassen könnte und die deshalb ausführlich wiedergegeben werden soll: „Was als verbindliches Recht in einer modernen Gesellschaft gehandhabt wird, ist das Endergebnis einer teils vorauskalkulierenden teils nachträglich berechtigenden gegenseitigen Anpassung und Abstimmung zwischen einer Reihe von Faktoren, deren strukturiertes Zusammenspiel ‚das Rechtsleben‘ ausmacht. Nicht die einzelnen ΔΔ [d. h. die rechtsprechenden Personen, A.B.] stiften Recht durch ihre Entscheidungstätigkeit, sondern das in jedem geschichtlichen Augenblick der Rechtsgesellschaft verbindliche Recht ist Funktion eines kollektiven Systems und seiner Gesamtstruktur. Das Verbindlichkeitskalkül der Laien und das Durchsetzungs- oder Haltbarkeitskalkül der Δ-Personen hat … einen gewissen allgemeinen Hintergrund: die verhältnismäßige Gleichförmigkeit der Entscheidungen und die verhältnismäßige Stetigkeit in ihren Veränderungen. Darin liegt dann auch der den Bedürfnissen bürgerlichen Lebens im allgemeinen genügende Grad relativer Rechtssicherheit“ (ebd., 289 f.).

Dieser beinahe schon systemische Charakter des Rechts spiegelt sich auch in der öffentlichen gesellschaftsweiten Beobachtung wider, die meist unter dem Stichwort „Rechtsbewusstsein“ diskutiert worden ist. Geiger wandte sich im Kapitel VIII sehr pointiert gegen subjektiv-intentionalistische Lesarten dieses Phänomens und verstand Rechtsbewusstsein als „Kollektiv“-Phänomen, das die Gestalt einer öffentlichen (Rechts-) Meinung annimmt (ebd., 408, 410). Hierin lag eine deutliche Abkehr von Weber, welcher alle Kollektiv-Begrifflichkeiten kategorisch abgelehnt hatte (Schweitzer 2021, 550 m. w. N.). Vielleicht würde man heute anders als Geiger statt von Kollektiv-Phänomen von einem Kommunikationstyp sprechen. Dass Öffentlichkeit als soziale Tatsache im Durkheimschen Sinne sich nicht gleichsam im Voluntarismus individueller Ansichten und Präferenzen verflüchtigt, betonte Geiger, der darauf bestand, dass das Rechtsbewusstsein sich am Verbindlichkeitskalkül bewähre (Geiger 1947, 415). Diese spezifische Kombination von empirischem Kalkül und gesellschaftlicher Beobachtung machte es schließlich möglich, aus einer soziologischen Perspektive von „relativ ‚richtigem‘“ (positivem) Recht im Sinne eines systemimmanent anschlussfähigen Beobachtungsmodus zu sprechen (ebd., 416). Die Vorsicht in der Formulierung zeigt, dass Webers Einwände durchaus präsent waren. Und doch wurde hier ganz explizit mit einer reflexionstheoretischen Tradition gebrochen, indem der Soziologie eine Resonanz für Fragen normativer Richtigkeit zugetraut wurde.

Man kann im Ergebnis in Geigers „Vorstudien“ eine geradezu modellhafte Bearbeitung des Verbindlichkeitsproblems als Reflexionsproblems des Rechts aus soziologischer Perspektive erkennen. Das Werk präsentierte einen Beitrag der Soziologie zur Bearbeitung rechtlicher Fragen, also wissenschaftssoziologisch gesprochen von Fragen, die aus der Perspektive der (Rechts-)Soziologie als Praxis auftraten und die nunmehr von der Soziologie mit bearbeitet werden konnten. Auch wenn dieser Interdisziplinaritätsdiskurs kaum als solcher ausgeflaggt wurde und reflexionstheoretisch implizit blieb, ist doch sehr deutlich erkennbar, dass es im Verhältnis von (Rechts-)Soziologie und Rechtswissenschaft nicht mehr nur um Rezeption der Soziologie in der Reflexionstheorie des Rechts ging, sondern auch um die Reflexion der rechtlichen Praxis in der Soziologie, beispielsweise in Gestalt des Konzepts der empirischen Verbindlichkeit, und des „Rechtsbewusstseins“. Aus diesem Grund darf man in Geigers Werk erste, wenn auch zaghafte Schritte im Übergang zu einem Interdisziplinaritätsdiskurs der Responsivität erkennen. Wenn Geiger in der allgemeinen Soziologie weithin in Vergessenheit geriet, mag sein persönliches Schicksal als Emigrant ebenso wie die etwas sperrige Oberflächengestalt der „Vorstudien“ dazu beigetragen haben. Die rechtssoziologische Geiger-Rezeption hat darüber hinaus, wie ausführlicher zu belegen wäre, in einem verbreiteten, recht einseitigen (Sanktions-Modell) das Potenzial der Theorie eher verschüttet als bewahrt.

3.3 Frühe Rechtssoziologie als essentially contested concept

Rechtssoziologie war also seit ihrer Entstehung aus dem Geist der Privatrechtswissenschaft, wenn wir unsere Überlegungen bis hierhin zusammenfassen, ein essentially contested concept, ein auf basaler Ebene in seinen Präsuppositionen umstrittenes Konzept, in dem vielgestaltige Modelle von Interdisziplinarität zur Geltung kamen. Diese ließen sich in den wissenschaftstheoretischen Kontroversen um die Frage der Interdisziplinarität in mindestens drei Ausprägungen erkennen, in welchen sich im Wesentlichen drei Diskurse der Interdisziplinarität manifestierten.

Deren erste, die aus Konzepten der doppelten Autonomie hervorgeht, erkannte die Eigenständigkeit sowohl des erfahrungs- als auch des normwissenschaftlichen Gegenstandsbereichs an, vermochte dies allerdings nur aus einer Perspektive normwissenschaftlicher Reflexion. Dabei traten hauptsächlich zwei Varianten auf, ein Diskurse der Indifferenz bei Ehrlich und anderen frühen Theoretikern der soziologischen Jurisprudenz und ein Diskurs der Hierarchie im Sinne der juristischen Dominanz im Konzept der Hilfswissenschaft bei Kantorowicz, Nußbaum und der Rechtstatsachenforschung.

Eine spiegelbildliche Variante stellte als die zweite Form die Konfiguration der soziologischen Dominanz im Sinne einer sachlichen Hierarchie der Disziplinen dar. Sie entfaltete die ebenfalls zwei diskursive Ausprägungen, nämlich einen soziologischen Determinismus (Marx) auf der einen und eine soziologische Indikator- oder Analogietheorie des Rechts (Durkheim) beziehungsweise ein Modell der Parallelität (Tönnies) auf der anderen Seite.

Bei Max Weber wurde schließlich drittens in Ansätzen ein nichttriviales, responsives Autonomie-Praxis-Modell erkennbar, das jedoch zunächst noch – jedenfalls mit Blick auf das Recht und seine soziale Umwelt – theoretisch unterbestimmt blieb. Am weitesten ging in dieser Hinsicht Theodor Geiger, in dessen – zugestandenermaßen implizit gebliebenen – Konzept von Interdisziplinarität man eine frühe Form von Responsivität erkennen kann.

Im Ergebnis haben wir es über alle drei Konfigurationen – Indifferenz, Hierarchie, Responsivität – hinweg mit einer insgesamt noch unvollständigen Autonomisierung der (Rechts-) Soziologie zwischen Rechts- und Wirklichkeitswissenschaft zu tun. Die Entstehung der Soziologie und die Konsolidierung von Reflexionstheorien in Rechtswissenschaft und Soziologie führten zu divergenten Modellen, die quer zur Disziplingrenze lagen, sich aber über weite Strecken durch eine Asymmetrie auszeichneten, soweit sie allein oder vorrangig auf die Bedeutung der Soziologie für die Rechtswissenschaft abstellen. Die Bestimmung der wissenschaftstheoretischen Position der Rechtssoziologie erfolgte entweder aus der Perspektive von Reflexionstheorien des Rechts, ohne dass innerhalb der Soziologie eine dem mittlerweile erreichten autonomen Status angemessene Reflexionstheorie bereits erkennbar wäre. Oder sie war eingebettet in einen scharfen Dualismus von Seins- und Sollenswissenschaften, innerhalb dessen sie dann die grundsätzliche Irrelevanz erfahrungswissenschaftlicher Beobachtungen (Kelsen) oder die soziologische Unerreichbarkeit normativer Argumentationen (Weber) konstatieren musste.

Dass Asymmetrie sich als Deutungsmuster unter der Oberfläche der verschiedenen Debatten durchsetzte, war offenkundig eine Folge der Sein-Sollen-Dichotomie und deshalb eigentlich nur selbstverständlich, weil es sich zunächst um rechtswissenschaftliche Reflexion handelte, für welche dies eine vernünftige Interpretation war. Da die Rechtssoziologie als Feld sich in diesem diskursiven Milieu bildete, konnte eine andere Perspektive sich zunächst nur schwerlich entwickeln. Erst mit der wissenschaftssoziologisch reflektierten Autonomie der Disziplin – und das heißt im Grunde erst bei Weber – tauchte eine spezifisch soziologische Perspektive am Horizont des Denkmöglichen auf.

Recht als soziales Phänomen in einer für Soziologie und Jurisprudenz gleichermaßen anschlussfähigen Weise zu beschreiben, blieb in dieser konstitutiven Phase im Feld der Rechtssoziologie also eine weithin ungelöste Aufgabe, auch wenn man bei Weber und Geiger erste Ansätze eines solchen responsiven Diskurses bereits erkennen konnte. Die Semantik der Interdisziplinarität prägte insofern zwar als Gründungsmythos das Feld der Rechtssoziologie, blieb aber inhaltlich unbestimmt. Eine wissenschaftliche Theorie des Rechts als eines sozialen Phänomens prägte als Dauerprovokation rechtstheoretische wie soziologische Diskurse, blieb aber in dieser Anfangsphase der Rechtssoziologie auf der Ebene von Reflexionstheorie begrifflich und konzeptionell ein uneingelöstes Versprechen.

Damit ist als Beginn unserer reflexionstheoretischen Spurensuche in wenigen groben Zügen die Lage der Rechtssoziologie bis in die Weimarer Zeit hinein skizziert, an welche die Rechtssoziologie der Nachkriegszeit in gewisser Weise trotz der wissenschaftlichen und politischen Zäsur des Nationalsozialismus anknüpfte. Dabei entwickelte, wie zu zeigen sein wird, die Soziologie zwar vielversprechende Ansätze, um über die Diskurskonfigurationen der Anfangsjahrzehnte hinauszugelangen. Sie konnte die damit verbundenen Chancen aber zunächst nicht voll ausschöpfen und hat damit dazu beigetragen, die Rechtssoziologie langfristig zu schwächen.

Die Folgen dieser frühen Positionierungen sind also bis heute spürbar, wie wir im vierten Kapitel mit Blick auf die Situation in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg sehen werden. Unter systematischen Gesichtspunkten können dann im fünften Kapitel die Passungs-, Konkurrenz- oder Konfliktkonstellationen dieser historischen Konfigurationen rechtssoziologischer Selbstbeschreibung rekonstruiert werden, um damit im sechsten Kapitel Hinweise auf eine responsive soziologische Theorie des Rechts zu gewinnen.