Unseren Überlegungen liegt die Vermutung zugrunde, dass die Rechtssoziologie ein Muster der Selbstbeschreibung in Form einer asymmetrischen Beziehung zwischen Recht und Soziologie entwickelt hat, in welcher die Frage nach der Rezeption soziologischen Wissens in Rechtspraxis und Jurisprudenz im Vordergrund steht. Die vielfältigen Auseinandersetzungen zwischen Erfahrungs- und Normwissenschaften nahmen, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, fast durchweg diese Gestalt an. Bis heute, über ein Jahrhundert nach der Entstehung der Rechtssoziologie im deutschsprachigen Wissenschaftsraum, ist die Identität der Rechtssoziologie in dem im ersten Kapitel dargelegten Sinne unklar geblieben, nicht zuletzt als Folge dieser in historischen Zeiträumen gewachsenen Selbstbeschreibung.

Auf den ersten Blick mag diese Diagnose überraschen. Wenn man auf die immerhin recht zahlreichen rechtssoziologischen Konferenzen und Workshops der letzten Jahre sowie die daraus hervorgegangenen Publikationen blickt, scheint die Rechtssoziologie in Deutschland rege Aktivitäten zu entfalten und insgesamt fruchtbare Arbeit zu leisten. So fanden seit der 2007 von der Law and Society Association in Berlin veranstalteten, vom Research Committee on Sociology of Law (RCSL) der International Sociological Association unterstützten und von der rechtssoziologischen scientific community in Deutschland organisierten Konferenz eine ganze Reihe von Tagungen der deutschsprachigen Rechtssoziologie statt. Im Vordergrund standen die trinationalen Treffen in Luzern 2008, Bremen 2010, Wien 2011, Berlin 2015 und Basel 2018, denen 2023 eine weitere Tagung in Innsbruck folgen wird. Etliche kleinere Treffen wurden in derselben Zeit von der Sektion Rechtssoziologie in der DGS und der Vereinigung für Recht und Gesellschaft veranstaltet. Weniger klar erscheint jedoch trotz dieser in organisatorischer Hinsicht recht erfolgreichen Aktivitäten das theoretische Profil des Feldes auf der inhaltlichen Ebene, welches in der großen Menge von Themen und Ansätzen eigentümlich unscharf geblieben ist. Und schließlich gibt die institutionelle Entwicklung in den letzten Jahrzehnten wenig Anlass zur Hoffnung. Das Feld, das nie durch Größe imponierte, ist heute in vieler Hinsicht von der wissenschaftlichen Landkarte der deutschsprachigen Soziologie nahezu verschwunden. Das ist möglicherweise eine spezifisch deutsche Entwicklung, die durch gewisse Erfolge der Rechtssoziologie auf internationaler Ebene konterkariert wird (vgl. Přibaň 2017(a), der allerdings ebenfalls auf offene Theoriefragen hinweist.) Wir werden auf diese globalen Aspekte im letzten Kapitel zu sprechen kommen.

Dieser Verlauf, der in den kommenden Abschnitten etwas detaillierter nachgezeichnet wird, hat seine Ursachen nicht zuletzt auch in den reflexionstheoretischen Positionierungen der deutschen Nachkriegs-Soziologie. Es steht zu vermuten, dass eine wissenschaftssoziologische und historische Analyse dieser Prozesse helfen wird, die Optionen für mögliche Fortschritte und Neuansätze einer rechtssoziologischen Theoriebildung auszuleuchten. Im Kontrast zu gängigen Erklärungen, die häufig auf institutionelle Faktoren oder organisierte Interessen zurückgreifen, werden wir aus einer diskurstheoretischen Perspektive argumentieren, deren konzeptionelle Details sogleich darzulegen sind. Eine Analyse der historischen Diskurskonfigurationen ermöglicht einen etwas präziseren Blick auf die inneren Theorieentwicklungen der Rechtssoziologie seit deren Anfängen im neunzehnten Jahrhundert. Die Diskursgeschichte der deutschsprachigen Rechtssoziologie nach 1945 entfaltet sich dann als Prozess inkongruenter Positionierungen. Das wird deutlich, wenn man mit neueren Ansätzen in der Wissenschaftssoziologie nach dem Verhältnis von Autonomie- und Praxisdiskursen in wissenschaftlichen Feldern fragt. Diese Diskurse sind, so kann man den zentralen Befund vorab zusammenfassen, durch widerstreitende Beschreibungen von Interdisziplinarität charakterisiert, in denen sich in inhaltlicher Hinsicht jeweils nicht ineinander übersetzbare Modelle von Wissenschaft und Praxis niederschlagen, die jedoch allesamt in struktureller Hinsicht als Reflexionstheorien durch ein unidirektionales Verhältnis – ein „Resonanzgefälle“, wie es bei Kieserling (2000) heißt – zwischen Wissenschaft und Praxis bestimmt sind. Die Analyse rechtssoziologischer Diskurse seit der Entstehung des Feldes soll im Folgenden die Bezüge zwischen konkurrierenden Reflexionstheorien erläutern. Im Unterschied zu gängigen Erzählungen (Machura 2012) liegen diese Unterschiede quer zu den disziplinären Trennlinien zwischen Jurisprudenz und Soziologie.

Dabei werden wir sowohl die Sozialstrukturen als auch die Semantiken im Wissenschaftssystem in den Blick nehmen. Erstere konstituieren soziale Beziehungen und deren Modalitäten, in unserem Fall vor allem die institutionellen Gegebenheiten des Feldes. Letztere stellen Deutungsmuster zur Verfügung, also Beschreibungen und Erklärungen, welche die soziale Realität mit spezifischem Sinn ausstatten. Wir nehmen insofern eine wissenssoziologische Perspektive ein, wenn wir in dieser Weise nach den Selbstbeschreibungssemantiken der Rechtssoziologie fragen. In der Tradition Karl Mannheims, aber auch Niklas Luhmanns, die beide den Stellenwert wissenschaftlicher Konzepte und Theorien betonen („gepflegte Semantiken“ im Sinne Luhmanns), widmet sich unsere Untersuchung spezifischen Theorien und Modellen der Interdisziplinarität auf dem Feld der Rechtssoziologie. Nach einer kurzen Bestandsaufnahme der institutionellen Entwicklung der Rechtssoziologie wird die Analyse sich im Weiteren auf Reflexionstheorien der Interdisziplinarität konzentrieren. Sie werden als Reflexionstheorien im bereits skizzierten Sinne verstanden, weil sie als wissenschaftliche Semantiken, sei es in der Soziologie, sei es in der Jurisprudenz, auf ihr jeweiliges Sozialsystem, also auf Recht bzw. Gesellschaft reflektieren. Solche Deutungen tragen wesentlich zur Konstitution der betreffenden Felder bei. Mit anderen Worten, Reflexionstheorien und Sozialstrukturen beeinflussen einander. Dazu muss keine determinierende Relation gedacht werden. Vielmehr reicht es aus, sich vorzustellen, dass Reflexionstheorien die soziale Bedeutung einer gegebenen Praxis erhellen und als „Plausibilitätsbedingungen“ (dazu unten Abschn. 2.2) einen wesentlichen Beitrag zu deren soziologischem Verständnis erbringen.

Um den Zusammenhang von institutioneller Entwicklung und Reflexion zu erfassen, gibt dieses Kapitel zunächst einen Überblick über die institutionelle Geschichte der Rechtssoziologie in Deutschland (Abschn. 2.1). Dabei wird die Diagnose einer grundlegenden Schwäche des Feldes durch einige Rahmendaten über einschlägige Organisationen (Universitäten, Fachgesellschaften, Zeitschrift für Rechtssoziologie), die Lehre und die Rolle der Rechtssoziologie in der Politikberatung untermauert. Diese empirische Beschreibung legt den Grundstein für Erkundung einer responsiven soziologischen Theorie des Rechts in den späteren Kapiteln. Zuvor ist jedoch eine wissenschaftssoziologische Standortbestimmung erforderlich, mit deren Hilfe die für das Weitere ausschlaggebende Unterscheidung von Autonomie- und Praxisdiskursen in den Reflexionstheorien der Rechtssoziologie dargelegt wird (Abschn. 2.2). In verschiedenen Reflexionstheorien der Interdisziplinarität (Interdisziplinaritätssemantiken) kommt dieses für die Identität des Feldes konstitutive Selbstverständnis zum Ausdruck (Abschn. 2.3). In der Vielfalt solcher Selbstbeschreibungen lassen sich auf abstrakter Ebene Modelle von Interdisziplinarität ausmachen, die in sehr unterschiedlicher Form Antwort auf die Frage zu geben versuchen, welches das Bezugsproblem sein könnte, auf das die Semantik der Interdisziplinarität reagiert (Abschn. 2.4). Daraus ergibt sich am Ende des Kapitels eine theoretisch-begriffliche Skizze des Zusammenhangs von Reflexionstheorien und institutioneller Schwäche der Rechtssoziologie (Abschn. 2.5). Sie leitet die weitere theoriegeschichtliche Spurensuche an.

2.1 Die institutionelle Schwäche der Rechtssoziologie in Deutschland

Die Geschichte der Rechtssoziologie ist geprägt durch ein Zusammenspiel individueller Akteure, institutioneller Strukturen und globaler historischer Trends. Deshalb fällt es nicht leicht, Stufen oder Phasen im Entwicklungsprozess des Feldes zu benennen, auch wenn dies vereinzelt versucht worden ist (Lucke 1988). Die folgenden Überlegungen erinnern zunächst an die Nachkriegsgeschichte der Rechtssoziologie in Gestalt von Personen (Professoren, Lehrstühle) und Themen (akademische Lehre) an den deutschen Universitäten. Die Rolle der Rechtssoziologie im Nationalsozialismus wird zu Beginn von Kap. 4 eigens aufgegriffen. Forschungsinstitute und Förderprogramme haben in der Nachkriegszeit das Gesicht der Rechtssoziologie schließlich ebenso geprägt wie wissenschaftliche Vereinigungen, Politikberatung und Ressortforschung sowie auch die Zeitschrift für Rechtssoziologie. Ein kurzes Zwischenfazit wird die Spannung zwischen hohen Ansprüchen und einer im Vergleich dazu enttäuschend schwachen institutionellen Umsetzung zusammenfassend darstellen – eine Spannung, die nach Erklärungen verlangt.

2.1.1 Professuren

Entstanden in den ersten Dekaden des zwanzigsten Jahrhunderts erreichte die Rechtssoziologie vor 1933 in Deutschland, wie wohl in den meisten Regionen der Welt, keine nennenswerte institutionelle Verankerung. Dies hängt sicherlich zu einem guten Teil mit der damals noch unabgeschlossenen Konsolidierung des Faches Soziologie im akademischen Kontext zusammen, die sich bis in die Nachkriegszeit hinein erstreckte. Gleichwohl ist aber auch an eine Reihe von Personen zu erinnern, die erste wichtige Schritte bei der Etablierung des Feldes gingen und damit rasch weit reichende Hoffnungen auf die Leistungsfähigkeit einer erfahrungswissenschaftlichen Beobachtung des Rechts weckten. Aus unterschiedlichen Gründen und in unterschiedlicher Weise beförderten Wissenschaftler wie Ernst U. Kantorowicz, Arthur Nußbaum, Ernst Fuchs, Philipp Heck, Eugen Ehrlich, oder Max Weber die Idee einer soziologischen Jurisprudenz oder einer empirischen Untersuchung des normativen Feldes des Rechts. Dabei spielten in der Frühphase jüdische Rechtsgelehrte eine wichtige Rolle (Reifner 2002), was unter Umständen die eher distanzierte Beziehung des NS-Staates zur Rechtssoziologie mit verständlich macht (dazu mehr in Kap. 4). Der Rechtssoziologe Theodor Geiger war der erste Inhaber eines Lehrstuhls für Soziologie an der Technischen Hochschule Brauschweig, von 1929 bis zu seiner Emigration aus Deutschland 1933. Von einer institutionalisierten Rechtssoziologie kann freilich in jener Zeit nicht gesprochen werden, auch wenn das Thema in der wissenschaftlichen Diskussion etabliert war und die ständig wachsenden Fächer Rechtswissenschaft, Soziologie, Verwaltungs- und Politikwissenschaft mitprägte. Auch in der Zeit des Nationalsozialismus spielte die Rechtssoziologie trotz eines unbestreitbaren Einflusses einzelner Akteure keine ausschlaggebende Rolle.

Wenn vor diesem Hintergrund von der Entstehung einer institutionell sichtbaren Rechtssoziologie nach 1945 die Rede ist, soll der zögerliche Beginn der allgemeinen Soziologie in den ersten Nachkriegsjahren nicht verschwiegen werden, der mit Hinweisen auf die Verwicklung des Feldes in den Nationalsozialismus, die Emigration weiter Teile der deutschen Intelligenz nach 1933, die nur zaghafte Remigration, den fast schon ideologischen Kampf zwischen US-amerikanischer Theorie und Methodologie auf der einen und der geisteswissenschaftlichen Tradition der in den zwanziger Jahren sozialisierten Wissenschaftler auf der anderen Seite, sowie schließlich das Schisma der deutschen Soziologie in den späten 1950er Jahren (Weyer 1984(a, b); Weyer 1986; Lüschen 1979) nur angedeutet werden kann (dazu Bora 2016(a), 623–625). Bei der folgenden Betrachtung der Lage der Rechtssoziologie sollen diese Umstände als mögliche Einflussgrößen mit in Rechnung gestellt werden. Zur Erklärung der im Folgenden skizzierten Entwicklung reichen sie nicht aus.

Denn die deutsche Rechtssoziologie hat sich, wenn man die eben angedeutete Entwicklung der allgemeinen Soziologie bedenkt, nach dem zaghaften Beginn in der frühen Nachkriegszeit dann seit den 1960er Jahren vergleichsweise rasch etabliert, und zwar vor allem in der Jurisprudenz. Nach der Rückkehr einzelner Wissenschaftler aus der Emigration wurden in den 1950er Jahren erste Lehrstühle für Rechtssoziologie eingerichtet. Im Gegensatz zu Arthur Nußbaum, der in den USA an der Columbia University blieb, und Theodor Geiger, der bis zu seinem Tod Professor für Soziologie in Århus war, wurde etwa 1952 Ernst Eduard Hirsch nach Jahren des Exils in der Türkei auf einen Lehrstuhl für Handelsrecht und Rechtssoziologie an der Freien Universität Berlin berufen. 1964 gründete er das Institut für Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung in Berlin. Sein Schüler Manfred Rehbinder war von 1969 bis 1973 Professor an der rechtswissenschaftlichen Fakultät in Bielefeld, später in Zürich. Paul Trappe, der deutsche Herausgeber von Geigers „Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts“, hatte von 1966 bis 1969 einen Lehrstuhl für Soziologie in Kiel. Anschließend lehrte er in Basel, allerdings mit einem Schwerpunkt auf der Soziologie der Entwicklungsländer. 1970 wurde Thomas Raiser Professor für Zivilrecht, Handelsrecht und Rechtssoziologie in Gießen, später an der Humboldt Universität in Berlin. Seit 1971 war Rüdiger Lautmann Professor für allgemeine Soziologie und Rechtssoziologie an der Universität Bremen. Er hatte damit bis heute den einzigen genuin rechtssoziologischen Lehrstuhl an einer soziologischen Einrichtung in Deutschland inne. 1975 wurde Klaus F. Röhl Professor für Rechtssoziologie und Rechtsphilosophie an der juristischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Im selben Jahr erhielt Hubert Rottleuthner einen Ruf auf die Professur für Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie an der Freien Universität Berlin, ebenfalls im rechtswissenschaftlichen Fachbereich. In den 1980er Jahren wirkten die Soziologen Fritz Sack und Hubert Treiber als Lehrstuhlinhaber an der juristischen Fakultät der Universität Hannover. Insgesamt wuchs in den Nachkriegsjahrzehnten bis etwa 1975 die Zahl der einschlägigen Professuren ständig.

Man kann deshalb mit gewissem Recht das Jahrzehnt zwischen 1965 und 1975 als die erfolgreiche Phase der Rechtssoziologie in Deutschland bezeichnen. Sie war durch eine dichte Atmosphäre des Aufbruchs und durch einen weitreichenden Optimismus bezüglich der zu erwartenden Leistungen des Feldes für Wissenschaft und Praxis gekennzeichnet. In dieser Zeit entstanden erste größere Sammlungen rechtssoziologischer Aufsätze (Hirsch und Rehbinder 1967; Blankenburg 1975). Seit 1970 erschien das Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie (Lautmann 1970). Texte der internationalen Rechtssoziologie fanden in ersten Übersetzungen oder im Original ihren Weg in die deutsche Rechtssoziologie (Friedman 1981; Carbonnier 1974; Gurvitch 1960).

In dieser Zeit befasste sich die Rechtssoziologie mit einem Set wissenschaftlicher Fragen, zu denen insbesondere die juristische Profession und die Justiz (Dahrendorf 1961, 1964; Kaupen 1969; Opp und Peukert 1971; Lautmann 1972), die Beziehung zwischen Rechtssoziologie und Jurisprudenz, die Reform des juristischen Studiums, die Rolle der Rechtssoziologie als akademischer Disziplin sowie Studien zu Entstehung, Wirkung und Wandel des Rechts gehörten (Rotter 1972; vgl. Dreier 2000). Später, in den 1970er und 1980er Jahren, kamen weitere Themen hinzu wie etwa Rechtsbewusstsein und Einstellung zum Recht (Kaupen und Rasehorn 1971; Lucke und Schwenk 1992), Mobilisierung von Recht (Blankenburg 1980), Zivil- und Arbeitsrecht (Falke 1984), Gender (Lucke 1991), alternative Konfliktregelung (Vidmar 1993; Röhl 1993; Bora 1993), Rechtskultur (Gephardt 1990), Steuerung oder Governance und Regulierung (Teubner und Willke 1984), in jüngster Zeit auch die Verfassungssoziologie (Teubner 2012).

Man kann aus diesen Hinweisen erkennen, wie sich in den 1960er und 1970er Jahren eine Konsolidierung und Institutionalisierung der Rechtssoziologie in Deutschland einstellte. Dieser akademische Aufstieg wurde von einem regen politischen Interesse an der Rechtssoziologie flankiert, das sich unter anderem auch in eifrigen – heute vielleicht befremdlich anmutenden – Bemühungen um eine Soziologisierung des juristischen Studiums im Zusammenhang mit der durch eine Experimentierklausel des Deutschen Richtergesetzes ermöglichten einphasigen Juristenausbildung niederschlug (Rinken 1973, vgl. dazu unten Abschn. 5.1.2.2), die ebenfalls den bereits geschilderten Aufwuchs an rechtssoziologischen Professuren beförderte. Gleichwohl sei schon hier hervorgehoben, dass dieser zeitweilig rasant erscheinende Aufschwung sich praktisch ausschließlich an juristischen Fakultäten und Fachbereichen vollzog. In der Soziologie war auch in der scheinbar fruchtbaren Phase des Feldes das Interesse an Rechtssoziologie verschwindend gering. Wie bereits erwähnt, gab es nie mehr als die eine in Bremen angesiedelte Professur für Rechtssoziologie innerhalb der deutschen Soziologie.

Hinzu kommt, dass die geschilderte Zunahme der rechtssoziologischen Professuren an juristischen Fakultäten über die Jahre hinweg im allgemeinen Trend einer Expansion des deutschen Universitätssystems bedeutungslos blieb. Die Zahl einschlägiger Denominationen wuchs keineswegs im selben Maße wie die Zahl der Professuren insgesamt oder auch nur diejenige der soziologischen Lehrstühle. Das exponentielle Wachstum des Hochschulsystems seit den 1960er und 1970er Jahren hat – soweit man im oben erwähnten Sinne von einer Konsolidierung der Rechtssoziologie sprechen will – diese allenfalls als einen Nebeneffekt in absoluten Zahlen, nicht aber hinsichtlich ihres Anteils an der Menge aller Professuren hervorgebracht. Selbst eine mehr oder weniger gleichbleibende absolute Zahl markiert vor dem Hintergrund enorm gewachsener Zahlen von Universitäten und Professuren tatsächlich doch eine abnehmende Bedeutung des Feldes.

Viele Professoren der Rechtssoziologie aus der ersten Generation, etwa Thomas Raiser, Hubert Rottleuthner, Klaus F. Röhl, Gunther Teubner, Martin Morlok, Fritz Jost oder Hubert Treiber sind im Ruhestand, meist ohne dass ihre Stellen nach der Emeritierung wieder der Rechtssoziologie gewidmet worden wären. Heute verfügt die Rechtssoziologie nur über eine recht kleine Anzahl von Professuren an den Universitäten im deutschen Sprachraum. Dazu zählt, um nur einige Beispiele zu nennen, am Institut für interdisziplinäre Rechtsforschung der Humboldt-Universität zu Berlin der Lehrstuhl von Susanne Baer mit einem gendertheoretischen Schwerpunkt. Das Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie, IRKS, in Wien arbeitet rechtssoziologisch mit einem Schwerpunkt auf der Kriminologie. Explizit rechtssoziologische Denominationen finden sich nur noch in sehr wenigen Fällen, interessanterweise seit einigen Jahren vermehrt an rechtswissenschaftlichen Fakultäten von Schweizer Universitäten, zurzeit etwa Michelle Cottier (Genf), Vagias Karavas (Luzern) oder Christoph Beat Graber (Zürich). Tobias Eule lehrt Rechtssoziologie in Bern und leitet die Forschungsgruppe Rechtssoziologie am Hamburger Institut für Sozialforschung. Weitere Professuren an juristischen Fakultäten sind mit rechtssoziologischen Subdenominationen versehen, die allerdings in der Regel gerade nicht den Schwerpunkt der Tätigkeit ausmachen. Im Fach Soziologie gibt es nach Rüdiger Lautmanns Ausscheiden aus dem Amt keine genuin rechtssoziologische Professur mehr. Auch die von 2013 bis 2023 bestehende Professur der Arbeitsgruppe Rechtssoziologie an der Bielefelder Fakultät für Soziologie war formal mit einer anderen Denomination (Technikfolgenabschätzung) versehen. Bemühungen um eine rechtssoziologische Professur scheiterten an Fakultät und Rektorat.

In der Konsequenz ist die Rechtssoziologie mit Blick auf ihre institutionelle Verankerung in der deutschsprachigen Soziologie derzeit praktisch unsichtbar. Trotz einiger immer noch verbliebener und neu hinzu gekommener Professuren in den Rechtswissenschaften hat das Feld insgesamt kein erkennbares institutionelles Profil. Die relative Bedeutungslosigkeit der Rechtssoziologie sowohl im Bereich der Rechtswissenschaft als auch in der Soziologie hat sich über die Jahre auch in Zeiten markanten Größenwachstums des Hochschulsystems insgesamt kaum verändert. Das zeigen auch die Daten zur Lehre, die im Folgenden kurz berichtet werden.

2.1.2 Akademische Lehre

Während die Rechtssoziologie in Gestalt von Professuren an den soziologischen Instituten und Fachbereichen seit Jahrzehnten praktisch inexistent war und entsprechend auch in den Curricula der Soziologie kaum mehr als ein Schattendasein führte, war die Lehre der Rechtssoziologie von Anfang an eine Aufgabe der juristischen Fakultäten und wird dort, wenn auch in äußerst bescheidenem Umfange, bis heute einigermaßen kontinuierlich gepflegt. Alles in allem jedoch hat in der Lehre beider Fächer die Rechtssoziologie ihren marginalen Status nie überwinden können. 1979 veröffentlichte Rolf Klima eine Übersicht aller zwischen 1950 und 1975 angebotenen rechtssoziologischen Veranstaltungen (Klima 1979). Die Daten repräsentieren alle Lehrveranstaltungen, die unter der Bezeichnung „Rechtssoziologie“ an einer deutschen Universität oder Fachhochschule abgehalten wurden. (Klima 1979, 227). Obwohl die Basis der Erhebung nicht völlig klar ist, kann man auf Grund von Klimas Angaben (ebd., 228) annehmen, dass die rechtssoziologischen Lehrangebote sowohl in soziologischen als auch in juristischen Fachbereichen erfasst wurden und dann zur Lehre im Fach Soziologie insgesamt ins Verhältnis gesetzt wurden. Im Ergebnis rangierte die Rechtssoziologie 1950 im Verhältnis aller soziologischen Themenfelder auf Platz 10. In der Folgezeit rutschte sie auf den zwanzigsten Platz ab, wo sie bis in die 1970er Jahre blieb. In absoluten Zahlen beziehen sich diese Daten auf nur 4 Lehrveranstaltungen im Jahr 1950, und später 11 bzw. 48 in den Jahren 1970 und 1975 (ebd., 238). Mit anderen Worten, zwischen 1950 und 1975 umfasste die Rechtssoziologie nur einen verschwindend geringen Anteil aller soziologischen Lehrveranstaltungen.

Knapp drei Jahrzehnte später hatte sich Anfang des neuen Jahrtausends die Situation kaum verändert, wie eine von Barbara Heitzmann für das akademische Jahr 2002/03 durchgeführte Untersuchung zeigt (Heitzmann 2003). Sie basiert auf einer Datenbasis, die der Studie von Klima vergleichbar ist und zählt vor diesem Hintergrund 69 rechtssoziologische Veranstaltungen an 42 juristischen Fachbereichen sowie 54 an 52 soziologischen Einrichtungen (insgesamt 123 Veranstaltungen). Das heißt, die absolute Zahl der Veranstaltungen hat sich seit 1975 zwar mehr als verdoppelt. Im selben Zeitraum hat sich jedoch im Zuge der Expansion des Bildungswesens die Zahl der an deutschen Universitäten eingeschriebenen Studenten nach den Angaben des Statistischen Jahrbuchs etwa vervierfacht; die Zahl der Studienabschlüsse hat sich im selben Zeitraum mindestens verdoppelt (Marquardt 2011). Gewiss lassen sich aus diesen Angaben keine verlässlichen Erkenntnisse über den Anteil rechtssoziologischer Lehre oder die Bedeutung des Feldes im Verhältnis zu Soziologie und Rechtswissenschaft ableiten. Gleichwohl vermitteln sie einen Eindruck von der anhaltenden Bedeutungslosigkeit der Rechtssoziologie. 2010 haben Uebach und Leuschner ähnliche Ergebnisse aus dem akademischen Jahr 2008/09 berichtet, mit einem leichten Übergewicht der Lehre an juristischen Fakultäten (Uebach und Leuschner 2010), die allerdings der Erhebungsmethode geschuldet sein dürfte (ebd., 308).

Wiederum fünf Jahre später ergab auch die Lage im akademischen Jahr 2013/14 eine im Vergleich zu den genannten Studien unveränderte Bestandsaufnahme. In einer Auswertung aller öffentlich zugänglichen Vorlesungsverzeichnisse der Universitäten in Deutschland zu rechtssoziologischen Lehrveranstaltungen in Anlehnung an Klimas und Heitzmanns Untersuchungen fanden sich insgesamt 64 einschlägige Veranstaltungen, von denen 26 in rechtswissenschaftlichen Fakultäten und 38 in der Soziologie oder den Sozialwissenschaften angeboten wurden (Quelle: eigene Erhebung). Die meisten dieser Angebote scheinen, wenn man die betreffenden Einrichtungen als ganze betrachtet, eine isolierte Bedeutung zu haben; oft wurden sie von nicht spezifisch rechtssoziologisch qualifiziertem Personal angeboten. Allenfalls die Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld kann insofern eine Ausnahmestellung beanspruchen, da sie im fraglichen Zeitraum die Rechtssoziologie mit einer eigenen Arbeitsgruppe innerhalb ihres Arbeitsbereichs „Recht und Gesellschaft“ vertrat und entsprechende Lehrveranstaltungen in den Modulen „Recht und Regulierung“ verschiedener Bachelor- und Master-Studiengänge (vor allem Soziologie, Sozialwissenschaften, Politikwissenschaft) mit soziologisch wie juristisch qualifiziertem Personal anbot.

Diese Befunde untermauern die Einschätzung, dass die Rechtssoziologie im Hinblick auf ihre institutionelle Verankerung an den Universitäten in Deutschland niemals mehr als eine marginale Stellung erreicht hat. Innerhalb der Soziologie existiert sie in personeller Hinsicht praktisch nicht, auch wenn sie über die Jahrzehnte eine geringe Präsenz in der Lehre gehalten hat. In der Rechtswissenschaft hat sie lange Zeit zwar ein Schattendasein geführt, war aber in dieser Außenseiterrolle immerhin anerkannt. Ob sie wenigstens diese Nischenexistenz retten wird, ist jedoch angesichts der heute insgesamt geringen Zahl rechtssoziologischer (Sub-) Denominationen an juristischen Fachbereichen eine offene Frage.

2.1.3 Forschungsinstitute und Förderprogramme

Man könnte nun vermuten, dass trotz der schwachen institutionellen Präsenz in der Lehre die Rechtssoziologie sich als empirische Wissenschaft möglicherweise stärker durch ihre Forschungsleistungen auszeichnet. Die Faktenlage spricht jedoch auch hier eine andere Sprache.

Bereits in den 1960er Jahren wurde an der Sozialforschungsstelle (sfs) in Dortmund und Münster rechtssoziologische Forschung betrieben. Die sfs war das größte und einflussreichste sozialwissenschaftliche Forschungsinstitut der Nachkriegszeit. Ihr Direktor (1960 bis 1969) Helmut Schelsky versuchte das Forschungsprogramm der sfs in die neu gegründete Universität Bielefeld einzubringen. Ausgehend von der Annahme, der Demokratisierungsprozess der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft seit weitgehend gefestigt und empirische Forschung über die Verfassung der Gesellschaft sei deshalb keine unmittelbar dringliche Aufgabe mehr, hatte Schelsky in Dortmund die Grundlagenforschung vorangetrieben. In dieser Zeit wurden in der Abteilung „Wirtschafts- und verwaltungsnahe Gebiete der Soziologie“ der sfs unter anderem von Joachim Matthes und Franz Xaver Kaufmann wichtige Studien zum Arbeits- und Betriebsverfassungsrecht, aber auch zur Kriminologie durchgeführt. Der Bedeutung der empirischen Forschung als Beitrag zur gesellschaftlichen Demokratisierung im Programm der empirischen Soziologie der 1950er Jahren werden wir uns im Kap. 4 noch einmal widmen (unten Abschn. 4.1).

Als Berater der nordrhein-westfälischen Landesregierung beim Aufbau der Universität Bielefeld plante Schelsky, diese und insbesondere das in Bielefeld angesiedelte Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) zu einem der Zentren der Rechts- und Verwaltungssoziologie in Deutschland zu machen. (Schelsky 1980; Korte und Schäfers 1995; Kaufmann und Korff 1995). Der Plan scheiterte bekanntlich an den Realitäten des Universitätsbetriebs, unter anderem aber auch deswegen, weil Schelsky politisch unter Druck geriet und von Konkurrenten der Bielefelder Universitätsgründung wegen seines dem Nationalsozialismus huldigenden Pamphlets angegriffen wurde, das er als zweiundzwanzigjähriger Student verfasst hatte (Schelsky 1934). Auch die Kollegenschaft der Bielefelder Fakultät für Soziologie, insbesondere der Mittelbau, bezog in diesem Konflikt Position gegen ihn (vgl. auch Luhmann 1995). Schließlich verließ Schelsky 1973 Bielefeld in Richtung Münster, wo er an der juristischen Fakultät bis zu seiner Emeritierung 1978 Rechtssoziologie lehrte. Das eng mit der Bielefelder Universitätsgründung verbundene Projekt der Rechts- und Verwaltungssoziologie geriet rasch in Vergessenheit.

1970 veröffentlichte Wolfgang Kaupen, einer der führenden Köpfe der deutschen Rechtssoziologie und Mitbegründer der Sektion Rechtssoziologie der DGS, ein Memorandum über die Notwendigkeit verstärkter öffentlicher Förderung rechtssoziologischer Forschung und der Einrichtung eines zentralen rechtssoziologischen Forschungsinstituts (vgl. Kaupen 1983). Seine Vorstellung, Rechtssoziologie müsse als kritische Politikberatung verstanden und in „rationale Rechtspolitik“ (Raiser 2011) übersetzt werden, fiel damals auf äußerst fruchtbaren Boden. 1973 rief das Bundesministerium der Justiz (BMJ) ein Forschungsprogramm in einem eigens dafür im Ministerium eingerichteten Referat Rechtstatsachenforschung ins Leben, das von Dieter Strempel bis etwa Mitte der 1990er Jahre geleitet wurde (Strempel 1984). Seit 1985 förderte das Referat ein großangelegtes Forschungsprogramm zur Strukturanalyse der Rechtspflege in Deutschland. Wie später zu diskutieren sein wird, war die Einrichtung stark an einem Modell der Rechtssoziologie als social engineering, also einer quasi-ingenieurialen Gesellschaftsgestaltung orientiert. Trotz einer gewissen Blütezeit in den 1980er Jahren blieb sie im wissenschaftlichen – vor allem im soziologischen – Kontext randständig, nicht zuletzt wegen ihrer starken Ausrichtung an praktischen Steuerungsbedürfnissen der Tagespolitik und damit verbundenen wissenschaftlichen Schwächen.

1975 trat eine weitere zentrale Einrichtung der Rechtssoziologie ins Leben, die zunächst von großen Hoffnungen und viel Optimismus begleitet war, die rechtssoziologische Forschungsgruppe am Max-Planck-Institut für Ausländisches und Internationales Privatrecht in Hamburg. Volkmar Gessner, Erhard Blankenburg, Rüdiger Lautmann, Klaus-Dieter Opp und andere hatten die Gelegenheit eines vieldiskutierten empirischen Defizits in der deutschen Privatrechtswissenschaft genutzt, um erfolgreich für die Einrichtung einer interdisziplinären und auf empirische Forschung ausgerichteten Forschungsgruppe am Hamburger MPI einzutreten (vgl. die Beiträge in Plett und Ziegert 1984). Deren Hauptziel war die interdisziplinäre und vergleichende rechtssoziologische Forschung auf dem Gebiet des Privatrechts. Von 1977 bis 1982 wurde das Stammpersonal der Gruppe aus Mitteln der Volkswagen-Stiftung bezahlt. Wichtige Forschungsthemen großer Projekte betrafen etwa das Konkursrecht, den Kündigungsschutz und Verbraucherkredite. 1979 beschlossen allerdings die neuen Direktoren des MPI, die Gruppe nicht auf Dauer zu stellen und entzogen ihr die weitere Unterstützung. So endete dieser vielversprechende Anlauf im Jahr 1982.

Mitglieder der Hamburger Gruppe fanden eine neue Heimat im Zentrum für Europäische Rechtspolitik in Bremen (ZERP), wo rechtssoziologische Forschung sowohl mit Anwendungsbezug wie auch als Grundlagenforschung betrieben werden konnte. Unter dem Dach des ZERP konnte so das Programm der Hamburger Gruppe bis in die jüngere Vergangenheit cum grano salis überleben. Mit dem letzten Generationswechsel hat das ZERP dann stärkeres Gewicht auf Politikwissenschaft und Fragen der ökonomischen und sozialen Gerechtigkeit, der Ökologie und der Menschenrechte sowie der Friedensstudien zu legen begonnen, sodass mit dieser Phase auch die sichtbare und starke Tradition der Rechtssoziologie in Bremen in gewissem Maße in den Hintergrund getreten ist.

Eine wichtige Förderinitiative auf dem Gebiet der Rechtssoziologie ergriff die Volkswagen-Stiftung. Zwischen 1991 und 1997 förderte sie im Programm „Recht und Verhalten“, mehr als 120 Forschungsprojekte mit einem Gesamtvolumen von mehr als 31 Mio. D-Mark (Hof 1997). Wie sein Name besagte, zielte das Programm auf die Förderung von Forschungen zum Verhältnis von Recht und Verhalten, mit Schwerpunkten unter anderem auf den verhaltenswissenschaftlichen Grundlagen des Rechts, der rechtlichen Regulierung von Verhalten, der Rechtswirkungsforschung, Alternativen zum Recht und zahlreichen anderen Themen. Die damit verbundene Absicht bestand im Wesentlichen darin, die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen der Jurisprudenz und einer Reihe von empirischen Wissenschaften zu unterstützen, zu denen explizit Soziologie, Psychologie, Anthropologie, Ökonomie und Verhaltenswissenschaften gerechnet wurden. Trotz des engen und in gewisser Weise esoterischen theoretischen Hintergrunds auf der programmatischen Ebene, den man als verhaltenswissenschaftlich verpackten naturalistischen Reduktionismus charakterisieren könnte, erwies sich die Förderpraxis der Volkswagen-Stiftung in den 1990er Jahren als bedeutende und sehr großzügig angelegte Ressource für eine breite und vielfältige rechtssoziologische Forschung (ebd.). Dabei entstanden Arbeiten zur Glaubwürdigkeit von Zeugen, zu Trunkenheitsdelikten, zu bounded rationality und der Analyse von Staat und Gesellschaft, zu einer allgemeinen Theorie des Strafrechts, zu Drogen und Verkehrssicherheit, zu Vertrauen und zum Gefangenendilemma, oder zur Dunkelfeldforschung. Die Liste ließe sich ad libitum verlängern. In seiner Kombination eines in gewisser Hinsicht überambitionierten allgemeinen Ansatzes und einer Vielzahl oft nur lose mit dem programmatischen Rahmen verknüpfter Detailstudien hat das Programm „Recht und Verhalten“ nach Ansicht etlicher Beobachter zur Normalisierung rechtssoziologischer Forschung wesentlich beigetragen. Gleichzeitig ist es wegen der hohen Kontingenz von Themen, Theorien und Methoden als eklektizistisch und inkrementalistisch charakterisiert und als Ausdruck von Orientierungsverlust und Krise kritisiert worden (Röhl 2012, § 13).

Neben den genannten Institutionen sind kultursoziologische und rechtsanthropologische Strömungen zu nennen, die in Person von Werner Gephart am Käte-Hamburger-Kolleg in Bonn sowie am Max-Planck-Institut für Sozialanthropologie in Halle/Saale ihre Heimat fanden, wo Kebet und Franz von Benda-Beckmann als Rechtsethnologen seit etwa 2000 tätig waren. Sie waren stark beeinflusst vom legal pluralism, verstanden sich allerdings wohl nicht als Rechtssoziologen und blieben immer in gewisser Distanz zum rechtssoziologischen Diskurs.

Alles in allem lassen sich also durchaus einige Anläufe zur Institutionalisierung der Rechtssoziologie auf der Ebene von Forschungseinrichtungen und Förderprogrammen erkennen. Wie die knappen Fallskizzen jedoch gezeigt haben, sind alle diese Anläufe in der einen oder anderen Weise stecken geblieben oder gescheitert. In den frühen Jahren begann die Einrichtung von Forschungsinstituten mit hohen Erwartungen an die Leistungsfähigkeit der Grundlagenforschung, an die soziologische Theorie und an die interdisziplinäre Integration der verschiedenen Fachwissenschaften. Der Prozess setzte sich, wie zu diskutieren sein wird, mit dem Erstarken einer „kritischen Wissenschaft“ fort, die in der Lage sein sollte, grundlegenden gesellschaftlichen Wandel mit den Mitteln des social engineering herbeizuführen. Er endete schließlich in nicht dauerhaften Institutionen, in nicht nachhaltigen Strukturen und im Ergebnis in einer allgemeinen Ernüchterung in den 80er Jahren, auf die wir später noch zurückkommen werden (vgl. unten Abschn. 5.3). Keine der relevanten Wissenschaftsgesellschaften in Deutschland (Max-Planck-Gesellschaft, Helmholtz-Gemeinschaft, Leibniz-Gemeinschaft, Fraunhofer-Gesellschaft) hat die Hoffnungen der Rechtssoziologie durch Gründung eines einschlägigen Forschungsinstituts unterstützt. Ressortforschungsprogramme und Förderlinien der Stiftungen hatten keine anhaltenden institutionellen Effekte. Das Feld der Rechtssoziologie war und ist trotz sporadischer Ansätze zur Institutionalisierung in der Forschungslandschaft randständig und bleibt in der thematischen Ausrichtung diffus, orientierungslos und inhaltlich beliebig.

2.1.4 Wissenschaftliche Selbstorganisation

Wissenschaftliche Vereinigungen haben angesichts der weitreichenden Ineffizienz der klassischen akademischen Strukturen für die Rechtssoziologie jedenfalls zeitweilig eine wichtige Rolle gespielt (zum Folgenden auch Bora 2016(a), 626–627). Angesichts kaum erkennbarer wissenschaftlicher Identität im akademischen Betrieb hat das Feld sich über weite Strecken in Gestalt von Fachgesellschaften konstituiert und so versucht, wissenschaftlich sichtbar zu bleiben.

Seit 1970 war an der Universität Köln der Arbeitskreis Rechtssoziologie (a. r. s.) aktiv. Er bestand aus einem kleinen Kreis von Wissenschaftlern, die sich um Wolfgang Kaupen versammelt hatten. 1972 wandten sich Kaupen, Rüdiger Lautmann und Fritz Sack an die Deutsche Gesellschaft für Soziologie (DGS) mit dem Vorschlag der Gründung einer Sektion Rechtssoziologie. Nachdem die DGS ihre Zustimmung signalisiert hatte, beriefen die drei ein Treffen interessierter Kollegen an der Universität Mannheim im Oktober 1972 ein. Dieses mündete in die Gründung der Sektion Rechtssoziologie, die von der DGS im April 1973 formal anerkannt wurde (zu den Details siehe DGS-Archiv DE-SAK-B1-3822). Verantwortlich waren zunächst Lautmann, Sack and Kaupen; die Organisation der Sektion wurde bis auf Weiteres auf den a. r. s. übertragen. Im Lauf der Jahre wuchs die Sektion personell stetig und erreichte in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren Mitgliederzahlen im dreistelligen Bereich. Heute hält sich diese Zahl bei ca. 80 Personen.

Neben der Sektion Rechtssoziologie hat sich seit den 1970er Jahren die Vereinigung für Rechtssoziologie etabliert, die sich später in „Vereinigung für Recht und Gesellschaft“ umbenannte. Im Juli 1975 trafen sich eine Reihe von Interessierten, die zumeist an juristischen Fakultäten Rechtssoziologie lehrten, in Gießen, um Fragen der rechtssoziologischen Lehre in den Rechtswissenschaften zu erörtern. Unter den Teilnehmern waren Thomas Raiser, Jutta Limbach, Josef Esser, Winfried Hassemer, Wolfgang Hoffmann-Riem, Rüdiger Lautmann, und Erhard Blankenburg. Das Treffen legte den Grundstein für die Vereinigung für Rechtssoziologie, in welcher sich zunächst vor allem Juristinnen und Juristen zusammenfanden. Die Vereinigung hat sich jedoch nie als Konkurrenzorganisation zur Sektion verstanden. Vielmehr besteht zwischen beiden ein Verhältnis der Komplementarität, jenseits aller Unterschiede zwischen Rechtstatsachenforschung und soziologischer Theorie des Rechts, so jedenfalls die stilprägende Erzählung des Feldes selbst (Wrase 2006, 3). Inwiefern man dieser Erzählungen folgen kann, wird an späterer Stelle zu diskutieren sein (vgl. unten Abschn. 5.3.3). Heute operiert die Vereinigung für Rechtssoziologie unter dem Namen „Vereinigung für Recht und Gesellschaft“. Wie die Sektion Rechtssoziologie der DGS veranstaltet sie Workshops und Tagungen. Beide Organisationen haben, wie bereits erwähnt, erfolgreich große internationale Konferenzen mit veranstaltet, etwa das LSA-Treffen 2007 in Berlin und die trinationalen Konferenzen in Luzern, Bremen, Wien und Berlin und Basel sowie das kommende Treffen 2023 in Innsbruck.

Auch publizistisch haben sich die beiden Wissenschaftsvereinigungen engagiert. Der a.r.s hatte in den frühen 1970er Jahren den Informationsbrief Rechtssoziologie verantwortet, welcher in wechselnden Abständen bis 1979 erschien, bevor er in der Zeitschrift für Rechtssoziologie aufging. Die Vereinigung für Rechtssoziologie gibt eine Reihe von Monografien unter dem Titel „Schriften der Vereinigung für Rechtssoziologie“, seit 2010 „Recht und Gesellschaft – Law and Society“ heraus, die inzwischen mehr als 35 Titel versammelt.

Insgesamt verzeichnet die Rechtssoziologie also trotz ihres schwachen Erscheinungsbildes in der akademischen Wissenschaft einen gewissen, wenngleich keineswegs überwältigenden Erfolg in Gestalt wissenschaftlicher Vereinigungen. Die Bemühungen um Selbstorganisation trugen seit den 1970er Jahren bescheidene Früchte und haben insgesamt zu einer bescheidenen Präsenz der Rechtssoziologie in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit beigetragen. Trotz dieses nicht zu leugnenden Erfolges sind sie jedoch nicht zu Ankerpunkten der Rechtssoziologie in den Fachwissenschaften der Soziologie und der Jurisprudenz geworden. In beiden Disziplinen haben rechtssoziologische Fachorganisationen über die Jahrzehnte hinweg lediglich eine Statistenrolle besetzen können. Vergleichsweise unbedeutend sowohl im Hinblick auf ihre Mitgliederzahl als auch auf das Gewicht ihrer Stimme in den Fachöffentlichkeiten werden sie bis heute bestenfalls als Randerscheinungen wahrgenommen.

2.1.5 Politikberatung

Entsprechend ihrem Selbstverständnis als kritische Wissenschaft hat die Rechtssoziologie seit jeher enge Beziehungen zur Politik gepflegt. Politikberatung gehörte deshalb immer schon zum Tätigkeitsspektrum des Feldes und wurde in Einzelprojekten von der Kriminal- bis zur Familienpolitik praktiziert. Tatsächlich war das Modell der Gesellschaftsveränderung durch die Wissenschaft immer ein integraler Bestandteil rechtssoziologischen Selbstbeschreibungen (Röhl 2011). Oftmals war es mit einem technokratischen Verständnis von politischer Gestaltung assoziiert, das den Zeitgeist der Bonner Republik mitbestimmte (Seefried 2015). Das Kanzleramt unter Horst Ehmke legte eine ganze Reihe ambitionierter Programme zur Verwissenschaftlichung der Politik und zur „Rationalisierung“ politischer Steuerung auf, die vor allem mit Hilfe der damals noch völlig neuen und im Wesentlichen unbekannten Computertechnologie vorangetrieben werden sollten. Kybernetik wurde unter Ehmke als Steuerungswissenschaft für die gesamte Gesellschaft verstanden und in die politische Praxis integriert. Die Idee „rationaler Rechtspolitik“ fand auch in den Ressorts gesteigerte Aufmerksamkeit. Wie bereits erwähnt, schuf das Bundesministerium der Justiz 1973 das Referat „Rechtstatsachenforschung“ (Strempel 1988, 1998), das bis ungefähr 1996 aktiv war und danach im Zuge einer Evaluation durch die Justizverwaltung geschlossen wurde. 2002 erschien ein letzter im Auftrag des Referats von Roland Proksch verfasster Forschungsbericht unter dem Titel „Begleitforschung zur Umsetzung der Neuregelungen zur Reform des Kindschaftsrechts“ (Proksch 2002). Das Ende des Referats Rechtstatsachenforschung korrespondiert in zeitlicher Hinsicht mit dem Aufstieg der konservativen Deregulierungspolitik unter Helmut Kohl und mit einer konzeptionellen Krise der soziologischen Steuerungstheorien sowie des erwähnten sozialtechnokratischen Reformmodells, über das später noch zu sprechen sein wird (unten Abschn. 5.3). Davon abgesehen sind Rechtssoziologen immer wieder im Einzelfall politikberatend tätig. Eine vergleichbare institutionelle Struktur wie es sie seit den 1970er Jahren gab, ist jedoch nicht mehr zu erkennen.

2.1.6 Zeitschrift für Rechtssoziologie

Ausgehend von dem in den 1970er Jahren erschienenen Informationsbrief hat sich seit 1980 die Zeitschrift für Rechtssoziologie (ZfRSoz) zum zentralen Ort wissenschaftlicher Publikationen auf dem Feld der Rechtssoziologie im deutschsprachigen Raum entwickelt. Sie wurde von einer kleinen Zahl renommierter Rechtssoziologinnen und Rechtssoziologen gegründet, nämlich von Erhard Blankenburg, Brun-Otto Bryde, Volkmar Gessner, Rüdiger Lautmann, Jutta Limbach, Niklas Luhmann, Klaus F. Röhl, Hubert Rottleuthner, und Manfred Weiss. Der erste Jahrgang der Zeitschrift wurde mit Beiträgen zur Konfliktregelung im Schatten des Leviathan (Spittler), zur Mobilisierung von Recht (Blankenburg) und zur Rechtsvergleichung (Martiny) eröffnet. Heft 1 bereitete zugleich den Boden für eine kontroverse Debatte über die „critical legal theory“, die mit einer Rezension von Ekkehard Klausa und anderen begann, der eine Replik von Thomas Heller folgte. Diese Mischung anspruchsvoller Veröffentlichungen, sowohl auf dem Gebiet der Theorie als auch auf demjenigen der empirischen Forschung und methodologischer Fragen, die in offener und konstruktiver Auseinandersetzung diskutiert wurden, bestimmte von Anfang an das Bild der Zeitschrift. Auch später ist eine ganze Reihe von Aufsätzen in der Zeitschrift für Rechtssoziologie erschienen, welche die Debatten des Feldes geprägt haben und teilweise auch in die Soziologie und die Rechtswissenschaft hineinwirkten. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sei an einige Meilensteine erinnert: 1984 engagierten sich Gunther Teubner und Helmut Willke in der steuerungstheoretischen Auseinandersetzung mit ihrem Beitrag „Kontext und Autonomie: Gesellschaftliche Selbststeuerung durch reflexives Recht“. 1999 stellte Niklas Luhmann sein Konzept des Rechts als eines autopoietischen Systems vor. In einer ganzen Reihe von Aufsätzen entwickelte Gunther Teubner die Idee eines transnationalen Rechts ohne staatliche Wurzeln und präsentierte sein weltgesellschaftliches Verfassungsmodell. Er verantwortete auch zwei Schwerpunkthefte, die Jacques Derrida und dem Recht gewidmet waren. In ähnlicher Weise hatten schon früh Kaupen, Rasehorn und andere eine breite Debatte über die Rolle der Rechtsprechung angestoßen. 1982 argumentierte Hubert Rottleuthner für eine „Soziologie mit mehr Recht“ und kritisierte die abgehobene Position der Rechtssoziologie im Verhältnis zu ihrem Gegenstand. Neben den schon erwähnten Beiträgen im ersten Jahrgang mögen diese willkürlich herausgegriffenen Beispiele an die Bedeutung der Zeitschrift für die wissenschaftliche Debatte in der deutschsprachigen Rechtssoziologie erinnern. Gleichwohl hat auch die Zeitschrift immer unter der Schwäche des gesamten rechtssoziologischen Feldes zu leiden gehabt, was sich vor allem in einem stets spärlichen, bisweilen komplett zu versanden drohenden paper flow ebenso wie in der oftmals sehr problematischen Qualität einzelner Manuskriptangebote bemerkbar machte. Das zeigte sich mit besonderer Deutlichkeit bei der Einführung eines Peer-review-Systems nach der Jahrtausendwende. Auch an dieser Stelle wurde die Randständigkeit des Feldes sichtbar, das oftmals nur in einem losen Kontakt zu den theoretischen und methodologischen Entwicklungen der Soziologie stand und steht. In den letzten beiden Jahrzehnten hat die Herausgeberschaft der Zeitschrift große Anstrengungen unternommen, mehr und bessere Manuskripte einzuwerben. Obwohl diese Bemühungen nicht völlig ohne Erfolg blieben, ist die Zeitschrift von einem zufriedenstellenden Zustand noch einigermaßen weit entfernt. Zurzeit werden pro Jahr in zwei Heften auf ungefähr 320 Seiten etwa 12 bis 15 Aufsätze veröffentlicht, die meisten auf Deutsch, einige auf Englisch. Nach einem ersten Generationswechsel im Jahr 2000 und einer zweiten größeren Erneuerung seit 2020 besteht das Herausgebergremium derzeit aus Alfons Bora (Bielefeld), Christian Boulanger (Frankfurt/M.), Michelle Cottier, (Genf), Walter Fuchs (Berlin), Pierre Guibentif (Paris), Vagias Karavas (Luzern), Andrea Kretschmann (Lüneburg), Stefan Machura (Bangor) und Doris Schweitzer (Frankfurt/M.). Eingereichte Manuskripte werden in einem doppelt anonymen Begutachtungsverfahren – erforderlichenfalls in mehreren Durchläufen – zur Veröffentlichung ausgewählt. Die Zeitschrift wird von verschiedenen Abstract-Diensten erfasst und ist damit im Grunde international sichtbar, was sich jedoch mangels einer hinreichenden Zahl englischer Aufsätze im messbaren „impact“ kaum niederschlägt.

Auch wenn also die Zeitschrift in gewisser Weise das Flaggschiff der deutschsprachigen Rechtssoziologie ist, so hat sie doch auch Anteil an der allgemeinen Schwäche des Feldes, was sich an der Marginalität der Themen im Vergleich zu den Mutterdisziplinen, an der kleinen Zahl von Autorinnen und Autoren und der im internationalen Vergleich verschwindend geringen Reichweite sowie der sehr niedrigen Zahl von Abonnenten bemerkbar macht. Insofern also bietet auch die Zeitschrift ein Abbild der allgemeinen Lage des Feldes. Diese Einschätzung spiegelt sich in der Selbstwahrnehmung innerhalb der ZfRSoz wider, wie sie in verschiedenen Debatten der letzten Jahrzehnte ihren Niederschlag gefunden hat.

Alles in allem sollte dieser kurze Blick auf einige strukturelle Dimensionen der Rechtssoziologie in Deutschland nach 1945 die Auffassung unterstützen, dass die Geschichte des Feldes von einer tendenziell gescheiterten Institutionalisierung gekennzeichnet ist, jedenfalls verglichen mit den Entwicklungen in anderen interdisziplinären Fachgebieten, beispielsweise der Wissenschafts- und Technikforschung, und mit der Rechtssoziologie in anderen Regionen der Welt, etwa in den USA oder Lateinamerika. In den ersten Nachkriegsjahrzehnten profitierte die Rechtssoziologie zunächst noch vom steilen Bedeutungsaufstieg und Größenwachstum der allgemeinen Soziologie mit deren Anspruch, zentrale Deutungsinstanz der modernen Gesellschaft und Universalwissenschaft zu sein. Diese anfänglichen Erfolge wurden von sozialen Bewegungen, einem sozialreformerischen Zeitgeist, einer sozialtechnokratischen Politik der Gesellschaftssteuerung und einem dramatischen Wachstum des Bildungswesens unterstützt. Sie ließen allerdings mit dem Verblassen der großangelegten Bildungsreformideen und dem Schwinden weitreichender politischer Steuerungskonzepte am Ende der 1970er Jahre nach. Die Rechtssoziologie, die auch in diesen Jahrzehnten der allgemeinen Versozialwissenschaftlichung nie mehr als eine Randerscheinung war, verschwand als institutionalisierte Wissenschaft mit dem Ende dieses generellen Trends seit den 1980er Jahren fast völlig von der Bildfläche. Die vielen in den 1970er und 1980er Jahren publizierten Lehrbücher der Rechtssoziologie (Luhmann 1972; Ryffel 1974; Rehbinder 1977; Kißler 1984; Raiser 1987; Röhl 1987; Rottleuthner 1987) hinkten damals in gewisser Weise schon der Entwicklung des Feldes hinterher. Heute ist der Niedergang unübersehbar. An den Universitäten ist die Rechtssoziologie mit wenigen Ausnahmen nicht existent. Allenfalls die Zeitschrift für Rechtssoziologie sorgt noch für eine, wenn auch geringe, Sichtbarkeit und Präsenz des Feldes. Dessen Identität scheint trotz teilweise zu beobachtender Konsolidierung unter dem Label „Recht und Gesellschaft“ (vgl. dazu unten Abschn. 5.3.3) insgesamt eher zu verblassen.

2.2 Polyphone Diskurse: „Interdisziplinarität“ als reflexionstheoretische Semantik

Wenn man fragt, worin die geschilderten Schwierigkeiten begründet sein können, so stößt man, wie bereits mehrfach gesagt, neben allen politischen, organisatorischen und sozialstrukturellen Einflüssen auf die Ebene der wissenschaftlichen Reflexionen, in denen unterschiedliche Identitäten des interdisziplinären Feldes zum Ausdruck kommen. Sie treffen in den institutionellen Strukturen des Feldes dann gleichsam auf passende Formbildungen. Beide Seiten, so kann man vermuten, wirken zusammen und bilden die historischen Konstellationen, in denen sich das Feld theoretisch und institutionell konstituiert. Eine Herangehensweise, die versucht, Theorien und institutionelle Entwicklungslinien aufeinander zu beziehen, ist in den vorliegenden Analysen zur Entwicklung der Rechtssoziologie kaum zu erkennen. In aller Regel konzentrieren sich entsprechende Studien auf sozialstrukturelle Daten (Treves und van Loon 1968; Ferrari 1990; Arnaud und Fariñas 1998). Im Kontrast dazu hat Mauricio García-Villegas in einer international vergleichenden Untersuchung den Anspruch erhoben, auf der Grundlage von Bourdieus Feldtheorie soziale und „kulturelle“ Grundlagen unterschiedlicher Entwicklungen in verschiedenen Weltregionen zu analysieren (García-Villegas 2006). Sein Augenmerk richtet sich allerdings ausschließlich auf die Jurisprudenz und nicht auf die Soziologie: „… legal thought … constraints the range of possible actions and, thereby, limits the realm of specifically juridical solutions.“ (ebd., 345). In methodologischer Hinsicht kommt das unserem Anliegen zwar nahe, allerdings werden wir uns nicht auf die Rechtswissenschaft beschränken, sondern in der Soziologie nach möglichen semantischen Kontexten suchen, welche auf der sozialstrukturellen Ebene die zuvor skizzierten Entwicklungen des rechtssoziologischen Feldes jedenfalls mit beeinflusst haben.

Mit diesem Ansatz greifen wir – ohne Soziologiegeschichte im engeren Sinne betreiben zu wollen – einen Strang „soziologischer Soziologiegeschichtsschreibung“ jenseits hagiographischer, ideengeschichtlicher und institutioneller Einzelstudien auf, wie sie etwa von Marin Endreß (2015) skizziert wurde. Aus dieser Perspektive bildet der verfügbare Wissensvorrat einer Disziplin den „objektiven Möglichkeitshorizont“ (ebd., 497, 504 ff.) tatsächlich vollzogener ebenso wie nicht realisierter Anschlüsse in der Entwicklung des Feldes und dessen institutionellen Strukturen. Semantiken fungieren aus dieser Sicht also als Plausibilitätsbedingungen für Strukturen. Sie machen nachvollziehbar, wann und wofür „institutionelle Prämien“ gegeben werden (Lepenies 2017, 385). Mit diesem „problemgeschichtlichen“ Zugang (Endreß ebd., 508 ff.) stellt sich zugleich auch die Frage nach einem angemessenen wissenschaftssoziologischen Verständnis der relevanten Phänomene, also der soziologischen Reflexionstheorie selbst und der Rolle, welche der Wissenschaft darin mit Blick auf ihre System-Umwelt-Referenz zugewiesen wird.

2.2.1 Wissenschaftssoziologische Perspektive

Niklas Luhmann hat die Ausdifferenzierung von wissenschaftlichen Reflexionstheorien als Semantiken gesellschaftlicher Selbstbeschreibung in die Gesellschaftsanalyse und in die Architektur der Theoriebildung eingebunden. Gleichzeitig hat er aber, vor allem in den Schriften über „Gesellschaftsstruktur und Semantik“, mit der These von der Nachträglichkeit der Semantik gegenüber sozialstrukturellen Faktoren den hier vermuteten Zusammenhang vernachlässigt (Bora 2022; Srubar 2015, 465 f.). Wie Ilja Srubar zutreffend bemerkt hat, machte Luhmann in diesem Punkt entgegen seiner sonstigen Haltung keinen Gebrauch von Reinhart Kosellecks begriffsgeschichtlichem Ansatz, obwohl eine solche stärkere Konzentration auf Fragen der Semantik nahegelegen hätte (Srubar 2015, 466 ff.). Diese Zurückhaltung trifft sich in gewisser Weise mit dem Umstand, dass Luhmann und andere Systemtheoretiker zurückhaltend im Hinblick auf den Praxisbezug von Reflexionstheorie urteilen. Denn diese teilt, wie wir oben dargestellt haben, nach Auffassung der Systemtheorie ein „Motivationskontinuum“ mit ihrem jeweiligen Funktionssystem, das distanzierte Beobachtungen zweiter Ordnung verhindere (Kieserling 2000). Nicht zufällig wird die Frage nach dem reflexionstheoretischen Konzept von Umwelt als Praxis in der soziologischen Systemtheorie ausgeblendet, und zwar zu Gunsten der Frage nach der Rezeption soziologischer Theorie, etwa in der Rechtstheorie. Schwierigkeiten der Rechtssoziologie werden als Rezeptionsprobleme der Praxis – in unserem Fall der Rechtstheorie – angesichts des hohen Abstraktionsniveaus soziologischer Theorie interpretiert (Schmidt 2000, 19 ff.). Die hier vertretene These besagt das Gegenteil. Nicht die Rezeptionsschwierigkeiten der Rechtswissenschaft im Hinblick auf soziologische Theorie werden als Ursache für reflexionstheoretischen Probleme der Rechtssoziologie, für deren Identität als Feld also, vermutet. Vielmehr scheint das Unvermögen der Soziologie den Ausschlag zu geben, eine Reflexionstheorie zu formulieren, welche sich responsiv gegenüber der (rechtstheoretischen) Umwelt verhält und diese soziologie-intern als relevant beobachtbar macht.

Die Begründung für eine solche Sichtweise ergibt sich aus einem neueren wissenschaftssoziologischen Ansatz, der die allgemeinen differenzierungstheoretischen Voraussetzungen der soziologischen Systemtheorie teilt, diese aber in einem entscheidenden Detail weiterentwickelt (zum Folgenden auch Bora 2021). David Kaldewey (2013) hat in Abgrenzung gegenüber etablierten wissenschaftssoziologischen Ansätzen, die entweder auf „reine“ bzw. „autonome“ Wissenschaft oder auf deren „praktische“ bzw. „politische“ Bedeutung abstellen, eine Wissenschaftssoziologie vorgeschlagen, welche die Gesichtspunkte der Autonomie und der Praxis in symmetrischer Weise verwendet. Er kann zeigen, dass die soziologische Differenzierungstheorie zwar einen wesentlichen Schritt zur Entwicklung eines allgemeinen soziologischen Wissenschaftsbegriffs geht, letztlich aber binäre Unterscheidungen überbetont und daher die Vielfalt und Modulierungsfähigkeit von Semantiken systematisch unterschätzt, die in der Selbstbeobachtung der Wissenschaft strukturwirksame Effekte produzieren. Aus dieser Kritik heraus gewinnt er einen analytischen Zugang, der die Integration divergierender wissenschaftssoziologischer Paradigmen zumindest als nicht aussichtslos erscheinen lässt. Seine Position lässt sich in knapper Form wie folgt beschreiben:

Die Wissenschaftssoziologie ist durch zwei gegensätzliche Sichtweisen geprägt, welche sich mit den Begriffen „Wahrheit“ und „Nützlichkeit“ bezeichnen lassen. Auf begrifflich abstrakterer Ebene kann man „Autonomie“ und „Praxis“ unterscheiden. Die erste Sichtweise (Wahrheit/Autonomie) versteht Wissenschaft vornehmlich als Unternehmen zweckfreier Erkenntnisproduktion (Polanyi 1951, 6; Luhmann 1990) und stellt damit auf die gesellschaftliche Funktion der Wissenschaft ab. Im Gegensatz dazu heben andere wissenschaftssoziologische Autoren oftmals den Gesichtspunkt der Nützlichkeit hervor (Mittelstraß 1982, 1992: Jantsch 1972; Balsiger 2005; Bogner et al. 2010), betonen also die gesellschaftlichen Leistungen der Wissenschaft.

Allerdings hat die Wissenschaftssoziologie – etwa in den wissenschaftssoziologischen Schriften Max Webers – auch früher schon die Wissenschaftsreflexion als Bestimmung des Verhältnisses dieser beiden Aspekte verstanden. Ein soziologisch aussagekräftiger Wissenschaftsbegriff jenseits phänomenologischer Beschreibungen kann aus diesem Aspekt der Theoriegeschichte gewonnen werden. Handlungstheoretische Wissenschaftssoziologien bilden dafür zunächst eine Grundlage, wie etwa im Falle Webers. Differenzierungstheorien stellen darüber hinaus dann auf „Lebensordnungen“, „Wertsphären“ (ebenfalls schon Max Weber), Systeme (Parsons, Mayntz, Luhmann), Felder (Bourdieu) oder verwandte theoretische Konstrukte um, mit deren Hilfe die spezifischen Eigentümlichkeiten sozialer Makro-Phänomene jenseits der „Mikrowelten der Wissenschaftler“ (Krohn und Küppers 1989, 132) in den Blick genommen werden. Im Rahmen der verschiedenen Differenzierungstheorien, so Kaldewey, neigt die Luhmannsche Systemtheorie zur Hypostasierung binärer Unterscheidungen (Kaldewey 2013, 78 ff.). Sie unterschätzt tendenziell die Vielfalt und Modulierungsfähigkeit von Semantiken, die in der Selbstbeobachtung der Wissenschaft strukturwirksame Effekte produzieren. Die Einheit des Wissenschaftssystems, so Kaldewey, ergibt sich gerade nicht vollständig aus der Einheit einer binären Unterscheidung wahr/unwahr, sondern erst aus einem viel komplexeren Zusammenspiel von Semantiken, Diskursen und Organisationen (ebd., 152).

Vor diesem Hintergrund ist die neuere Wissenschaftssoziologie vielfach noch auf der Suche nach einem in sich schlüssigen und allgemeinen Wissenschaftsbegriff, der für eine Analyse der Selbstbeschreibung des Funktionssystems Wissenschaft das nötige Rüstzeug liefern könnte. Der soziologische Blick auf das Phänomen Wissenschaft wird nach wie vor durch eine Vielfalt von Zugangsweisen erschwert, die sich über kulturtheoretische, anthropologische, institutionalistische, handlungs- und interessentheoretische Ansätze verteilen und heute grob in zwei Paradigmen zerfallen, nämlich ein institutionalistisch-akteurzentriertes und ein wissenssoziologisch-konstruktivistisches (ebd., 43). Diese paradigmatische Differenzierung steht einer übergreifenden, kohärenten Theoriebildung im Weg.

Kaldewey wählt deshalb als allgemeinen Ansatzpunkt eine kommunikationstheoretische Zugangsweise, die zu verstehen hilft, wie das Verhältnis von Autonomie und Praxis vom Gegenstand selbst, also von der Wissenschaft konstituiert wird. Ihr Ziel ist es, „Autonomie- und Praxisdiskurse daraufhin zu analysieren, wie sie mit bestimmten Unterscheidungen die zweigleisige Zielsetzung der Wissenschaft reproduzieren und dabei zugleich zu verhindern wissen, dass die ihnen inhärente Zwiespältigkeit zur paradoxen Selbstblockade führt.“ (ebd., 30).

Eine Alternative zu den beiden oben erwähnten wissenschaftssoziologischen Paradigmen der „Wahrheit“ und der „Nützlichkeit“ bietet, so Kaldewey, auf dem Gebiet der allgemeinen soziologischen Theorien die Differenzierungstheorie und insbesondere eine Weiterentwicklung der neueren Systemtheorie Niklas Luhmanns. Dieser hatte einerseits die Aufmerksamkeit für Semantiken schon geschärft und sie als Ausdruck für „einen höherstufig generalisierten, relativ situationsabhängig verfügbaren Sinn“ (Luhmann 1980, 19) verstanden, der über Erwartungsbildung gewissermaßen „verdichtet“ wird (Luhmann 1984, 140). Andererseits hat er jedoch den Begriff der Semantik auffällig unbestimmt gehalten – er selbst spricht von „Ambiguität“ (Luhmann 1990, 214 ff.) – und der quasi harten, binären Differenzierung der funktionssystemspezifischen Codes gegenübergestellt. Dabei gerät jedoch die Tatsache aus dem Blick, dass auf der Seite der Semantiken reichhaltige und differenzierte Strukturbildungen auftreten, welche erst die Rolle dieser Semantiken für die Funktionssysteme verständlich machen. Kaldewey weist zu Recht darauf hin, dass Luhmann eine unklare Unterscheidung von Code und Semantik benutzt. Er arbeitet nämlich auf der Seite des Codes mit dem Gegensatz von Code und Programm einerseits sowie von Code und Referenz andererseits. (Kaldewey 2013, 129). Diese Gegensatzpaare kommen in Luhmanns Soziologie nicht zur Deckung, da unklar ist, ob Semantik als Programm oder als Referenz fungiert. Kaldewey plädiert vor diesem Hintergrund dafür, die Seite der Semantiken etwas genauer zu betrachten und Wissenschaft als komplexe Semantik zu verstehen: „Wissenschaft ist demnach keine durch die Sprache bezeichnete und von der Sprache isolierbare Tätigkeit; vielmehr ist wissenschaftliches Handeln und Kommunizieren nur das, was es ist, weil es mit Hilfe der Semantik der Wissenschaft in einen umfassenden Sinnzusammenhang integriert wird“ (ebd., 110). Diese Perspektive erlaubt es, nach den spezifischen semantischen Strukturen zu fragen, die sich in der Wissenschaft bilden und die verschiedene Aufgaben übernehmen können.

Die genannten Aufgaben lassen sich als Limitation und Reflexion bestimmen. Kaldewey schlägt ein Konzept der Semantik von Wissenschaft vor, das beide Funktionen umfasst. Limitation, das heißt die Transformation unbestimmter in bestimmte Komplexität, und Reflexion, also die Konstitution der Identität von Wissenschaft in Abgrenzung zu ihrer Umwelt, sind dabei nicht zwischen Programmen einerseits und Referenzen andererseits verteilt, sondern gleichzeitig in unterschiedlichen, die Semantik der Wissenschaft konstituierenden Diskursen verwirklicht. Dies erlaubt es, zu fragen, ob und in welcher Weise verschiedene Diskurse jeweils Selbst- und Fremdreferenz sowie Limitation und Reflexion ermöglichen. Kaldewey unterscheidet vor diesem Hintergrund vier Diskurse, welche die Semantik der Wissenschaft kennzeichnen, nämlich Methoden und Theorien sowie Autonomie- und Praxisdiskurse (ebd., 148 ff.).

Auf der Ebene wissenschaftlichen Operierens bearbeiten Theorien und Methoden das Problem der Limitation, also der Begrenzung von wissenschaftlichen Operationsketten (Luhmann 2017). Theorien sichern den Bezug auf die Wirklichkeit durch Externalisierung des Gegenstandes wissenschaftlichen Wissens als eines eigenständigen – eben die Erkenntnis limitierenden – Bereichs. Methoden dienen der Herstellung binärer Unterscheidungen, sichern also die „richtige“ Zuweisung der Codewerte und damit die interne Schließung von Operationsketten (siehe auch Bora 2001).

Auf der Ebene wissenschaftlicher Reflexion beschreibt das System in seinen Reflexionstheorien seine eigene System-Umwelt-Differenz und bringt sie auf einen wissenschaftlichen Begriff. Soweit es dabei auf sich selbst referiert, gewinnt es Reflexionsleistungen aus dem Begriff der Autonomie der Wissenschaft. Wo es sich – immer aber: intern, als Wissenschaftskommunikation – auf seine Umwelt bezieht, reflektiert es sich selbst im Begriff der Praxis (Kaldewey 2013, 129–139). Praxisdiskurse reflektieren das (Leistungs-) Verhältnis von Wissenschaft und ihrer sozialen Umwelt. „Praxis“ ist dabei keinesfalls ein Begriff der wissenschaftssoziologischen Theoriesprache, sondern eine Semantik der Objektsprache, der Wissenschaft selbst also. Sie umfasst die Unterscheidung von Wissenschaft und Praxis als „ein Schema …, mit dem die Wissenschaft sich als System von einer Umwelt abgrenzt.“ (ebd., 176) Die Aspekte der Limitation und der Reflexion lassen sich deshalb nicht einzelnen Diskursen zuweisen. Vielmehr ist jeder wissenschaftliche Diskurs zumindest potenziell ein Reflexions- ebenso wie ein Limitationsdiskurs (ebd., 149.) der Beitrag eines Diskurses zur Reflexion bzw. Limitation wissenschaftlicher Operationen ist jeweils empirisch zu bestimmen.

2.2.2 Diskurstheoretische Perspektive

Innerhalb der Semantik der Wissenschaft bilden sich, wenn wir Kaldeweys Wissenschaftssoziologie folgen, Diskurse als semantische Differenzierungen, das heißt als mit den auf der Strukturebene angesiedelten Operationen mitlaufende Beobachtungen (Kaldewey 2013, 143; dazu auch Stäheli 2000, 208; Göbel 2000, 157; Stichweh 1984, 21). An diesem Punkt der Argumentation gilt es, auf der eben skizzierten wissenschaftssoziologischen Grundlage den Begriff des Diskurses näher zu bestimmen, da sein Auftreten im Kontext der soziologischen Systemtheorie nach wie vor überraschen mag (Keller 2010).

Der Diskursbegriff hat in der Soziologie einigermaßen unklare Konturen und vielfältige Bedeutungen, wie man mit einigen kursorischen Hinweisen zeigen kann. Zunächst verweist er auf die Werke von Foucault und Habermas, die ihn in sehr divergenten Sinnzusammenhängen einsetzen. Dabei spielen sprachliche Unterschiede eine gewisse Rolle, da im Französischen der Begriff „Diskurs“ die Rede bezeichnet als das, was gesprochen wird. Darauf baut Foucault, der die sozialen Auswirkungen dieser Rede zu erfassen versucht. Er untersucht die ausformulierten, veröffentlichten und allgemein verfügbaren sprachlichen Fassungen von Wissen. Im Deutschen verweist der Diskursbegriff im Unterschied dazu auf eine rationale Debatte in Gestalt einer Argumentation. In dieser Form wird er cum grano salis bei Habermas verwendet. Daneben finden sich heute Strömungen der kritischen Diskursanalyse, die ursprünglich in der Linguistik beheimatet war und neben Jäger (2004) insbesondere auf van Dijk (2009), Wodak (Wodak und Chilton 2005), Fairclough (2004) und andere zurückgeht, sowie die historische Semantik der Mannheimer (Busse et al. 2005) und der Düsseldorfer Schule (Böke et al. 1996). Letztere haben sich, grob gesagt, in eine machtkritische und eine rein sprachwissenschaftliche Strömung gespalten, zwischen denen wenig Austausch herrscht. Heute ist die Keller-Schule (Keller 2008) in der Soziologie mit tonangebend. Sie grenzt sich stark gegen die Berger/Luckmann-Tradition und die sogenannte hermeneutische Wissenssoziologie ab, welche auf Goffman verweist. Die Essex School (Lalcau und Mouffe 1991) vertritt im Gegensatz dazu einen postmarxistischen Ansatz, der vor allem in der Politikwissenschaft Anklang findet, aber auch in der Soziologie mit systemtheoretischen Ansätzen verbunden ist (Stäheli 2000).

Vor diesem Hintergrund ist eine weitere Variante des soziologischen Diskursbegriffs entstanden, die in verschiedenen rechtssoziologischen Untersuchungen entwickelt empirisch verwendet wurde (Bora 1999; Bora und Epp 2000; Bora und Hausendorf 2010; Kaldewey 2013). Sie schließt einerseits an die kommunikationstheoretischen Grundlagen der soziologischen Systemtheorie an, profitiert dabei aber auch von Kommunikationswissenschaft und Linguistik und in gewisser Hinsicht auch von Foucaults Analysen. Mit Diskurs wird in diesem Zusammenhang eine Form der internen Differenzierung von Sozialsystemen auf der Ebene der Semantiken bezeichnet. Diese Differenzierung bildet sich durch kommunikative Selektionsbeschränkungen, welche in sozialer, sachlicher wie zeitlicher Hinsicht die konkrete Art und Weise des Kommunizierens steuern, sei dies mit Hilfe besonderer Themenpräferenzen, Rollenmuster und sozialer Positionierungen (Hausendorf und Bora 2006) oder auch durch Besonderheiten der zeitlichen Sequenzierung. Mit Diskursen differenzieren sich in Sozialsystemen spezifische Semantiken aus. Dabei entstehen keine autopoietischen Teilsysteme. Es handelt sich also nicht um eine Form funktionaler Differenzierung, es geht nicht um Systembildung in Systemen. Denn Diskurse produzieren und reproduzieren ihre Elemente nicht selbst. Sie sind auf die Autopoiese sozialer Systeme angewiesen und profitieren von dieser mit. Hingegen bezeichnen sie Kommunikationsereignisse als zugehörig bzw. nicht zugehörig, als Fortsetzung bzw. Nichtfortsetzung der diskursspezifischen Kommunikation. Sie bestimmen so wie alle Strukturen die im System zugelassenen Relationen zwischen Elementen. Diskurse sind deshalb nicht Systeme, sondern differenzierte semantische Strukturen von sozialen Systemen, systeminterne Selektionsbeschränkungen mit anderen Worten, die als systeminterne Differenzierungen vom Operieren des betreffenden Systems abhängig sind. Außenbezüge werden in Diskursen durch kommunikative Referenzen hergestellt, die wir im ersten Kapitel bereits unter der Bezeichnung „Anlehnungskontext“ kennengelernt hatten. Das könnte dann zum Beispiel bedeuten: ein „moralischer Diskurs“ in einem Interaktionssystem ist als Struktur dieses Systems nicht identisch mit einem „moralischen Diskurs“ im Rechtssystem. Beide benutzen als Diskurse dieselbe Unterscheidung, denselben Anlehnungskontext mit anderen Worten, stellen diesen aber für ganz verschiedene Selektionsbeschränkungen und für je spezifische Systemreproduktionen zur Verfügung. Der moralische Diskurs im Interaktionssystem ist von dessen Autopoiese, also insbesondere von den durch Anwesenheit – gleichzeitige wechselseitige Wahrnehmbarkeit – definierten Restriktionen und Optionen abhängig. Moralische Diskurse im Funktionssystem Recht werden im Unterschied dazu stets als Selektionsbeschränkungen eines Systems fungieren, das mit der Unterscheidung von Recht und Unrecht operiert. Daraus ergeben sich je eigene Reproduktionsbedingungen der Kommunikation, die in den jeweiligen Diskursen dann moralisch eingefärbt werden können.

Solche semantischen Strukturbildungen gibt es auf allen Systemebenen in vielfältiger Gestalt. Man beobachtet sie überall dort, wo sich Spezialkommunikationen entwickeln, ohne Systembildungen nach sich zu ziehen. Man denke an „Schulen“ oder Disziplinen in der Wissenschaft oder im Recht, „Strömungen“ oder „Richtungen“ in der Politik, bestimmte mitkommunizierte Rollenerwartungen in Organisationen, aber auch Cliquen, Seilschaften usw. Netzwerke werden bisweilen Semantiken ausbilden, die sich in diesem Sinne als Diskurse beschreiben lassen.

Die Beispiele zeigen: die Kommunikationen ein und desselben sozialen Systems können zwischen den Diskursen wechseln, ohne dass die Einheit des Systems betroffen ist; in welcher wissenschaftlichen Theorie oder Disziplin man sich auch bewegt, immer handelt es sich um Kommunikationen, die mit dem Wahrheitscode operieren. Das war im ersten Kapitel im Zusammenhang mit Blick auf die Autonomie des betreffenden Systems diskutiert worden. Solche Diskurse sind dann Binnenstrukturierungen von Funktionssystemen, deren Einheit durch die Leitunterscheidung eines binären Codes bestimmt ist. Alle wissenschaftlichen Theorien kommunizieren über Wahrheit, alle politischen Richtungen über die Verteilung von Macht usw. Deshalb sind zwischen den Diskursen ein und desselben Funktionssystems auch keine Kollisionen auf der Ebene gesellschaftlicher Codes zu erwarten. Sobald wir aber über Diskurse in anderen Systemtypen, nämlich Interaktionen und Organisationen sprechen, können sehr wohl Konkurrenz- und Kollisionsprobleme zwischen deren jeweiligen externen Referenzen auftreten. Diskursformationen können hier – nicht nur, aber doch in weitem Umfange – durch funktionssystemspezifische Unterscheidungen imprägniert sein und dann innerhalb einer Interaktion oder Organisation mit ihren spezifischen Systemreferenzen als Anlehnungskontexten auch in Konflikt geraten (vgl. Bora 1999). Im Ergebnis gibt es innerhalb des Diskursbegriffs keine weitere streng klassifikatorische Abgrenzung. Ist der „Diskurs des Radikalen Konstruktivismus“ eine wissenschaftliche Theorie? Stellt der „feministische Diskurs“ eine Schule innerhalb des Rechtssystems dar? Hat der „Deregulierungsdiskurs“ die Qualität einer politischen Theorie? Man kann solche Fragen offenlassen. In jedem Fall handelt es sich nämlich um konditionierte Selektionsbeschränkungen, um Formen der internen Differenzierung von Sozialsystemen, um Diskurse also. Umgekehrt zeigen die Beispiele aber auch, dass nicht nur Systemkommunikationen sich mehrerer Diskurse bedienen können, sondern dass Diskurse auch in den Kommunikationsuniversen mehrerer Systeme auftreten, also zwischen den Systemen flottieren können. Diskurse gehören gleichsam zum kommunikativen Repertoire, aus dem sich Systeme bedienen, um Limitation und Reflexion zu erzeugen und damit sowohl Identitäts- als auch Grenzsicherung, identity und boundary work zu betreiben (Kaldewey 2013, 408).

Diese Eigenschaft der Diskurse, Systemgrenzen ignorieren zu können, hat weitreichende wissenschaftssoziologische Konsequenzen. Von der Wissenschaft beobachtete Systeme können sich nämlich mit eigenen Selbstbeschreibungen gegen die in der Wissenschaft angefertigten Fremdbeschreibungen „zur Wehr setzen“ (ebd., 138). Sie sind, um an die eingangs vertretene These zu erinnern, keineswegs auf Rezeption verwiesen, sondern können gewissermaßen ein Reflexionsangebot retournieren. Das gilt, und davon wird im Folgenden systematisch Gebrauch zu machen sein, auch für die in die Wissenschaft hineinragenden Reflexionstheorien der gesellschaftlichen Funktionssysteme, Rechtstheorien, Erziehungstheorien, ökonomische oder politische Theorien zum Beispiel. Sie stellen solche gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen dar, die – noch dazu im Kommunikationsmodus der Wissenschaft selbst – mit wissenschaftlichen Fremdbeschreibungen konkurrieren.

Kaldewey formuliert die wissenschaftssoziologische Konsequenz aus dieser Permeabilität der Systemgrenzen für Diskurse in pointierter Form wie folgt: „Wenn es auf der Ebene der Semantik – die, wie gesagt, nicht geschlossen ist bzw. nicht vollständig geschlossen werden kann – zur Konfrontation von Fremd- und Selbstbeschreibungen der Wissenschaft kommt, dann bestünde zumindest prinzipiell die Möglichkeit, dass die Identität des Systems nicht allein vom System selbst konstituiert wird: die Umwelt spräche gewissermaßen mit.“ (ebd., 139, Hervorh. von mir, AB.) Er plädiert weiter dafür, mit dem Diskursbegriff die oben erörterten Reflexionskommunikationen des Wissenschaftssystems zu beschreiben und „damit die Möglichkeit offen zu halten, dass es im Medium von Diskursen zur Äquilibration von Selbst- und Fremdbeschreibungen kommen kann.“ (ebd., 139, Hervorh. i. O.).

Diese hier in der Sprache der Systemtheorie formulierte Möglichkeit wird im Zuge der folgenden Argumentationen das Scharnier zwischen der Rekonstruktion rechtssoziologischer Diskurse und deren Kollisionen einerseits sowie der Formulierung von Grundzügen einer responsiven, Fremd- und Selbstbeschreibungen äquilibrierenden Rechtssoziologie andererseits darstellen. Wir werden das semantische Feld der Rechtssoziologie analysieren, um dessen wissenschaftliche Selbstbeschreibungen darauf hin zu untersuchen, welche Position Autonomie- und Praxisdiskurse innerhalb dieser Semantiken jeweils empirisch einnehmen und auf dieser Basis eine soziologische Erklärung für die je spezifische Strukturierungsleistung von Autonomie- und Praxisdiskursen innerhalb der historisch gegebenen Semantiken zu suchen. Eine Wissenschaftssoziologie der Rechtssoziologie zu betreiben, bedeutet dann, die rechtssoziologischen Autonomie- und Praxisdiskurse zu analysieren, in welchen sich die Identitäts- und Grenzbestimmungen des Feldes vollziehen. Beide Aspekte, die Identität des Feldes und dessen System-Umwelt-Grenze werden hier wie in verwandten Fällen in prominenter Form mittels einer Semantik der Interdisziplinarität aktualisiert. Wir haben also in solchen Interdisziplinaritätsreflexionen den wissenschaftsimmanenten Praxisdiskurs der Rechtssoziologie unmittelbar vor Augen.

Mit Hilfe dieser Diskurstheorie kann das Feld der Rechtssoziologie analysiert werden. Man kann fragen, ob aus historischen Konfigurationen reflexionstheoretischer Diskurse in Rechtswissenschaft und Soziologie semantische Passungs-, Konkurrenz- oder Konfliktkonstellationen resultieren, welche die Entwicklung des Feldes in einem neuen Licht erscheinen lassen, das am Ende eine in dem von Kaldewey skizzierten Sinne symmetrische bzw. äquilibrierte Selbstbeschreibung ermöglicht.

2.3 Diskurse der Interdisziplinarität

Stagnation und Niedergang der Rechtssoziologie sind, wie wir gesehen haben, zwar einigermaßen gut dokumentiert, vielfach beschrieben und beklagt worden, wobei die Ursachenzuschreibungen im Einzelnen voneinander abweichen. Die rechtssoziologische Literatur hat sich aber, soweit ersichtlich, angesichts dieser unübersichtlichen Lage auf schlichte Kontinuität im alltäglichen Betrieb verlegt und beschäftigt sich so gewissermaßen mit fortlaufenden Reparaturarbeiten. Sie verharrt damit in der Perspektive der Beobachtung erster Ordnung und blendet wissenschaftssoziologische Fragen, die eine externe Beobachtung zweiter Ordnung anbieten, weitgehend aus. Das gilt beispielsweise auch für die neuere Strömung der „Recht-und-Gesellschaft“-Forschung, an die im deutschsprachigen Bereich derzeit die sogenannte „interdisziplinäre Rechtsforschung“ anschließt. Wrase (2006) begründet den unbezweifelbaren Erfolg dieser ebenso wie der früher einsetzenden Law-and-Society-Strömung in den USA mit dem Infragestellen überkommener Disziplingrenzen und einem fruchtbaren inter- und multidisziplinären Dialog, mit reger Konferenztätigkeit und mit Unterstützungsprogrammen für junge Wissenschaftler. Während allerdings Konferenzen und Rekrutierungspolitiken eher als Effekte denn als Ursachen einer gelungenen Institutionalisierung gelten können, bleibt in dieser Analyse gleichzeitig völlig unklar, weshalb inter- und multidisziplinäre Dialoge für einen Erfolg der genannten Strömungen verantwortlich sein sollten. Die Rechtssoziologie in den europäischen Ländern und insbesondere in Deutschland hat die beschriebene Art interdisziplinären Austauschs von Anfang an gepflegt, wie wir am Beispiel der Gründergeneration des Feldes im frühen zwanzigsten Jahrhundert im folgenden Kapitel sehen werden. Wrases Argument ist deshalb alles andere als überzeugend. Vielmehr verdeutlicht es den Preis, den man für die Semantik von „Recht und Gesellschaft“ oder „interdisziplinärer Rechtsforschung“ zu zahlen hat. Er besteht in einem weitreichenden Verlust disziplinärer Identität und der mit ihr verbundenen Qualitätsstandards (vgl. unten Abschn. 5.3.3).

Daher empfiehlt sich eine Beobachtung zweiter Ordnung, eine Perspektive also, welche die aktuellen Entwicklungen in der allgemeinen soziologischen Theorie und in der Wissenschaftssoziologie aufgreift. Aus einer solchen Perspektive stellt sich die Frage, wie die Verfassung des rechtssoziologischen Feldes allgemein und in einer angemessenen Theoriesprache soziologisch so beschrieben werden kann, dass sich daraus ein Verständnis tiefer liegender Ursachen des beschriebenen institutionellen Scheiterns ableiten lässt. Im Folgenden geht es deshalb um eine wissenschaftssoziologische Rekonstruktion der Modelle und Theorien, in denen die Soziologie des Rechts reflektiert wird. Um die Reflexionstheorien im Feld der Rechtssoziologie angemessen zu verstehen, werden insbesondere Modelle der Interdisziplinarität näher untersucht. Sie stehen im Zentrum der Selbstbeschreibung des Feldes; geben sie doch die tiefer liegende Begründung für das jeweilige reflexionstheoretische Konzept von Rechtssoziologie ab. Mit dieser analytischen Perspektive verbunden ist die Hoffnung, aus der Untersuchung von Reflexionstheorien und deren Verhältnis untereinander im zweiten Schritt in diesen Deutungsmustern mögliche „Plausibilitätsbedingungen“ für Defizite auf der sozialstrukturellen Ebene zu finden.

Die folgenden Überlegungen handeln also von wissenschaftlichen Konzepten, Diskursen und Modellen der Rechtssoziologie, die als Deutungsmuster die Selbstbeschreibungen im Feld prägen. Ein Zusammenhang solcher Deutungsmuster wird jeweils als Reflexionstheorie bezeichnet, da wir hier auf wissenschaftliche Semantiken stoßen, welche die Einheit des betreffenden sozialen Bereichs –einer Disziplin oder eines interdisziplinären Feldes – reflektieren. Diese Reflexionstheorien liefern ihrem Gegenstandsbereich Identitätsmodelle in der Sprache der Wissenschaft (vgl. Kap. 1) und bieten ihm damit eine kohärente Beschreibung seiner selbst. Solche Reflexionsangebote haben ihrerseits Auswirkungen auf ihren Gegenstand und auf dessen Strukturbildung. Reflexionstheorien in der Wissenschaft und die reflektierte Gegenstandstheorie beeinflussen einander wechselseitig. Reflexionstheorien determinieren den Gegenstand in keiner Weise, erhellen aber dessen soziale Bedeutung und können damit wesentlich zu dessen soziologischem Verständnis beitragen.

Im Falle der Rechtssoziologie wird sich vor dem Hintergrund dieser systematischen Vorüberlegungen zeigen lassen, dass sie ein Feld heterogener Perspektiven und Paradigmen ist, auf dem sich Reflexionstheorien der Wissenschaft und des Rechts begegnen. Vieles deutet darauf hin, dass auf diesem Feld Unklarheit über dessen Selbstbeschreibung herrscht. Man kann annehmen, dass auch nach über einhundert Jahren rechtssoziologischen Denkens und Forschens sich kein klares, das Feld als solches konstituierendes Selbstverständnis davon gebildet hat, was die Identität der Rechtssoziologie sei. Verborgen in dieser Vielfalt, Heterogenität und wechselseitigen Ignoranz der Reflexionstheorien wird sich, so die Vermutung, eine diskursive Konfiguration aufdecken lassen, die durch inkompatible Semantiken der „Interdisziplinarität“ und strukturell brüchige Modelle von deren Form und Funktion im semantischen Feld der Rechtssoziologie gekennzeichnet ist. Das Feld der Rechtssoziologie ist also, anders als im Bourdieuschen Feld-Begriff, nicht als Kampfplatz aufzufassen, auf dem sich unterschiedlich mächtige Akteure miteinander messen, sondern als kommunikative Konfiguration miteinander konkurrierender Selbstdeutungen. Ähnlich den Metaphern in der Wissenschaftstheorie (Maasen und Weingart 2000) erfüllt die Semantik der Interdisziplinarität dabei die Rolle einer Problemformel in der Reflexion der Wissenschaft. Allerdings fungiert die Semantik der Interdisziplinarität nicht als bloße Metapher, setzt nicht etwa eine „eigentliche“ Bedeutung hinter dem sprachlichen Ausdruck voraus. Tatsächlich symbolisiert sie ein Bezugsproblem, auf das hin Strukturen der Wissenschaft reflektiert werden. Man kann sie deshalb als Problemformel der Reflexionstheorie bezeichnen, in welcher die Relation von Autonomie und Praxis bearbeitet wird. „Interdisziplinarität“ hat die Funktion, boundary work und identity work eines wissenschaftlichen Feldes in einem Begriff zu leisten.

Die Analyse von Interdisziplinaritätssemantiken setzt einen kurzen Blick auf Disziplinen voraus (vgl. Bora 2010, 28–38). Disziplinen sichern vor dem Hintergrund einer hohen internen Komplexität des Wissenschaftssystems die Einheit der Wissenschaft, die als solche insgesamt nicht zur Verfügung steht, jedoch für das Funktionieren des Wissenschaftssystems eine wichtige Voraussetzung darstellt. Sie sind Vorkehrungen, die es ermöglichen, angesichts einer Vielzahl von Forschungsfeldern und Fächern im je konkreten Fall, bezogen auf ein abgegrenztes Themenfeld die Grenze zwischen Wissenschaft und ihrer sozialen Umwelt zu markieren. Das soll im Folgenden kurz begründet werden.

Unter Disziplin wird die Form der Binnendifferenzierung des Wissenschaftssystems verstanden, die sich durch ein materiales Feld (Gegenstandsbereich), einen spezifischen Gegenstandsaspekt (typische Fragestellungen) sowie durch integrative Theoriebildung (paradigmenförmige Theorie oder Theorien) auszeichnet (dazu Heckhausen 1987, 131). Disziplinen stellen damit in dem oben erläuterten Sinne Diskurse der Wissenschaft dar. Außerdem umfassen sie in sozialstruktureller Hinsicht all jene organisatorischen Aspekte, die sich um derartige „kulturelle Kohäsionsachsen“ herum bilden. Abbott (2001, 140) bezeichnete dieses Ensemble aus sozialstrukturellen (Organisationen, und deren Personal, Vereinigungen und Verbände) und kulturellen (Themen, Fragen, Theorien) Eigenschaften als „settlement“.

Die Fähigkeit des modernen Wissenschaftssystems, über solche internen Differenzierungen seine eigene Ordnung zu bilden, ist Resultat eines evolutionären Prozesses, in dem sich erst spät das uns heute (noch) vertraute Gefüge wissenschaftlicher Disziplinen bildete (Stichweh 1984). Im Ergebnis machte im Laufe dieses Prozesses die hierarchische Ordnung der Fakultäten einer horizontalen Differenzierung Platz, in welcher zahlreiche Disziplinen nebeneinander existieren, die alle lediglich die Orientierung an Wissenschaftlichkeit – am „Gesetz der Vernunft“ – gemeinsam haben, sich im Übrigen aber zunächst an Gegenständen und später an Problemstellungen je eigenen Zuschnitts orientieren. Auf Grund ihrer Vorgeschichte waren die Disziplinen in dieser Entstehungsphase, wie Luhmann (1990, 449) sagt, einerseits noch nach außerwissenschaftlichen Relevanzen wie beispielsweise „Verwertbarkeit am Arbeitsmarkt und in beruflichen Positionen“ bestimmt und insofern noch nicht rein wissenschaftlich legitimiert. Andererseits stellten sie aber auch schon eine frühe Form der inneren Differenzierung des Wissenschaftssystems bereit, von der dieses bei seiner weiteren Ausdifferenzierung gegenüber anderen Funktionssystemen Gebrauch machen konnte. Denn diese Ausdifferenzierung schritt umso weiter voran, je mehr die Disziplinen sich nach eigenen Problemstellungen umsehen und eigene Theorien entwickeln konnten. Disziplinen sind also, wie man sieht, historische Einheiten, die sich mit der Autonomisierung des Wissenschaftssystems bilden und die im Zuge dieses Differenzierungsprozesses ihre Einheit ebenfalls autonom konstituieren.

Die Vorstellung, der Welt wohne eine eigene Ordnung inne, an der Wissenschaft sich orientieren könne, war mit der Ausdifferenzierung der Erfahrungswissenschaften seit dem siebzehnten Jahrhundert verblasst. Die Vorstellung andererseits, dass die Philosophie eine solche Ordnung von innen heraus schaffen könne, wurde ebenfalls durch die Ausdifferenzierung des Wissenschaftssystems konterkariert, innerhalb dessen die Philosophie nur noch eine von vielen möglichen Beobachtungsweisen – eine Disziplin unter vielen – darstellte. Als solche hatte sie zunehmend Mühe, eine privilegierte Kompetenz für die Erzeugung, Erhaltung und Darstellung der Einheit des Wissenschaftssystems insgesamt zu reklamieren. Sie nahm zwar als spezialisierte Wissenschaftsphilosophie und innerhalb dieser als Erkenntnistheorie eine wichtige Rolle ein, musste diese aber im Laufe der kommenden Jahrhunderte gegen Soziologie, Psychologie und die neuen Kognitionswissenschaften verteidigen.

Was deshalb in der Folge als einheitsstiftendes Merkmal in semantischer und sozialstruktureller Hinsicht bleibt, ist eine auf die Wissenschaft als Funktionssystem bezogene Semantik der Wissenschaft, die jenseits spezifischer Disziplinbezüge liegt. Wissenschaftlichkeit in diesem Sinne bezeichnet für das gesamte Funktionssystem Wissenschaft die Anschlussfähigkeit von Kommunikationen über deren Orientierung an Wahrheitsfähigkeit. Vor diesem Hintergrund wird die konstitutive Rolle der Disziplinen sichtbar. Jede Disziplin reproduziert je für sich in der Partikularität ihres Themenfeldes und ihrer Problemstellungen die Unterscheidung von Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft anhand der in Theorie-, Methoden-, Autonomie- und Praxisdiskursen entwickelten Kriterien. Angesichts der universalen Reichweite funktionssystemischer Operationen und damit einer überkomplexen Vielzahl von Gegenstandsbereichen kann die zentrale Unterscheidung nicht mehr in toto vom Funktionssystem Wissenschaft für alle Themenfelder zugleich gehandhabt werden. Die Zuweisung von Wahrheitswerten hängt an empirischen Details. Das Funktionssystem als Ganzes kann angesichts dieser Überkomplexität jenseits des allgemeinen Kriteriums der Wahrheitsfähigkeit keine allgemein anwendbare Möglichkeit der Codierung von Beobachtungen anbieten. Es ist deshalb jeweils nur mit Blick auf einen Gegenstandsbereich in der Lage, die Unterscheidung von Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft zu generieren und damit seine System-Umwelt-Differenz zu sichern. Disziplinen übernehmen diese Aufgabe jeweils für ihren Objektbereich.

In dieser Situation interner Differenzierung lassen sich die Wahrheits- Methoden- Erkenntnis- und Nützlichkeitsansprüche der verschiedenen Disziplinen wegen deren partikularen Perspektiven auf divergierende Gegenstandsbereiche nicht zwanglos ineinander übersetzen und widersprechen sich sogar bisweilen. Das Wissenschaftssystem kann mit anderen Worten seine Identität insgesamt gar nicht anders als in der Form vielfältiger Disziplinen reflektieren. Disziplinen haben damit in ihrer Spezifität eine Bedeutung für die Identitätssicherung des Funktionssystems Wissenschaft. Nur in ihnen lässt sich die Unterscheidung zwischen der Wissenschaft und ihrer Umwelt je konkret abbilden. Die Instrumente zur Erzeugung dieser Unterscheidung sind, wie gesagt, Theorien-, Methoden-, Autonomie- und Praxisdiskurse. Diese disziplinäre Erzeugung wissenschaftlicher „Rationalitätsstandards“ liefert gewissermaßen das semantische Fundament, auf dem das Gesamtsystem wissenschaftliche von nicht-wissenschaftlichen Kommunikationen unterscheidet.

In der solchermaßen disziplinär ausdifferenzierten Wissenschaft stellen sich im zwanzigsten Jahrhundert in Gestalt von Interdisziplinaritätssemantiken wiederum neue Differenzierungsformen ein beziehungsweise werden als solche postuliert. Es sei „notwendig“, interdisziplinär zu agieren, heißt es in der wachsenden Zahl „probleminduzierter“ Forschungsfelder. Zwar sind solche Interdisziplinaritätspostulate so alt sind wie die Disziplinen selbst (Abbott 2001, 131 f.; Lübbe 1987, 29 f.). Gleichwohl wird man an der ihrer empirisch beobachtbaren Bedeutungszunahme kaum Zweifel haben können (Brint 2005). Während die Entwicklung der Disziplinen im vorhin geschilderten historischen Verlauf zunächst noch als Aufbau von „requisite variety“, von ausreichender innerer Komplexität zum erfolgreichen Operieren in einer komplexen Umwelt zu verstehen ist, findet sie angesichts gesteigerten Wachstums ihre Grenze im Bereich der „adequate complexity“, also dessen, was an innerer Komplexität noch möglich ist, ohne gewissermaßen zur Überhitzung des Systems zu führen. Eine solche, in interne Blockaden mündende Überhitzung droht insbesondere angesichts disziplinärer Überspezialisierung und der wachsenden Schwierigkeit, interne Anschlüsse zu anderen Disziplinen zu erzeugen, also auf der semantischen Ebene die Einheit des Wissenschaftssystems zu garantieren.

Interdisziplinaritätssemantiken entstehen insofern als erneute Folge der Ausdifferenzierung der Wissenschaft, die an innere Komplexitätsgrenzen heranreicht und mit neuer Strukturbildung reagiert. Sie sind demnach im Kern so etwas wie ein „Reparaturphänomen“ (Mittelstraß 1987, 152) zur Kompensation von überstarker Komplexität, die im System der Wissenschaft kommunikative Anschlussmöglichkeiten blockiert. Interdisziplinarität liegt, wenn diese Diagnose zutrifft, auf ein und derselben historischen Entwicklungslinie mit den Disziplinen und schreibt deren Entwicklung gewissermaßen fort. Da stets das gleiche Problem zugrunde liegt – nämlich der Aufbau einer viablen strukturierten Komplexität –, liegen fließende Übergänge zwischen disziplinären und interdisziplinären Strukturen nahe, etwa das Entstehen neuer Disziplinen aus interdisziplinärer Kooperation.

Wegen dieser Kontinuität zwischen beiden Formen kann allerdings die erwähnte Reparaturleistung der Interdisziplinarität nur gelingen, wenn und soweit Interdisziplinaritätssemantiken die von den Disziplinen bearbeitete Frage der Einheit der Wissenschaft mit reflektieren (Balsiger 2005; Heckhausen 1987, 138). Luhmann, der annimmt, dass sich die Wissenschaft überhaupt erst auf der Ebene der Differenzierung nach Forschungsgebieten endgültig von ihrer Umwelt abkopple und sich erst auf dieser Ebene vollständig autonomisiere, betrachtet Disziplinen deshalb als einen notwendigen Zwischenschritt, der mit der fortschreitenden Autonomisierung der Wissenschaft über neue Forschungsgebiete nicht verschwindet, sondern innerhalb dieser seine Funktion behält. Interdisziplinarität vollzieht sich, wie Luhmann sagt, „im Schutz von Disziplinen, die garantieren, dass das, was hier geschieht, als Wissenschaft anerkannt wird“ (Luhmann 1990, 450).

Interdisziplinaritätssemantiken sind deshalb Problemerzeugungs- oder jedenfalls Problembezeichnungsformeln, welche auf die mit Größenwachstum, Spezialisierung und Verlust einheitswissenschaftlicher Perspektiven verbundenen Schwierigkeiten hinweisen. Dabei ist die Semantik der Interdisziplinarität inhaltlich offen und kaum mehr als eine Sammelbezeichnung für allerlei Formen innerwissenschaftlicher Kooperation (Jantsch 1972), die als solche weder über den Anlass solcher Kooperationen noch über deren konkrete Form oder Erfolgschancen Auskunft gibt. Angesichts dieser Gemengelage aus schwach ausgeprägter Begriffsbildung einerseits und einer weiten empirischen Verbreitung von Interdisziplinaritätspostulaten und -semantiken andererseits erscheint es angebracht, mögliche empirische Erscheinungsformen von Interdisziplinaritätssemantiken kurz zu betrachten.

Die Semantik der Interdisziplinarität weist weniger auf einen faktisch klar umrissenen Gegenstand als vielmehr auf eine spezifische Orientierung des wissenschaftlichen Kommunizierens hin. Sie bezeichnet eine Eigenschaft wissenschaftlicher Kommunikation in der Form einer Differenz – nämlich einer Differenz zwischen Disziplinen – und zwar aus der Perspektive der Einheit dieser Differenz. Es geht also nicht nur um die Unterscheidung zwischen zwei oder mehr Disziplinen, sondern darum, diese Unterscheidung auf einer Ebene abzubilden, welche die Einheit dieser Differenz bezeichnet. Diese Einheit bleibt freilich im Begriff der Interdisziplinarität selbst inhaltlich unbestimmt. Die Differenz zwischen den Disziplinen geht, das insinuiert der Begriff, in der Einheit von etwas nicht näher bezeichnetem Anderem auf. Der kommunikative Gebrauch dieser Problemformel verdeckt die Frage nach dem nicht bezeichneten Anderen. Bei dem Versuch, Interdisziplinarität begrifflich zu präzisieren, sieht man sich mit der Aufgabe konfrontiert, die Einheit der Differenz je nach Verwendungskontext des Terminus „Interdisziplinarität“ zu bestimmen. Mit dem Begriff selbst ist diese Aufgabe nicht bewältigt, sondern überhaupt erst formuliert. Soziologisch instruktiv kann deshalb die Rekonstruktion der mit der Semantik der Interdisziplinarität bearbeiteten Problemlagen innerhalb empirisch gegebener Reflexionsdiskurse der Wissenschaft sein, also die Frage danach, welches Problem Semantiken der Interdisziplinarität jeweils bearbeiten.

2.4 Reflexionstheoretische Modelle

Die empirische Rekonstruktion des Bezugsproblems von Interdisziplinaritätssemantiken müsste im Grunde die Form einer Erkundung aller in wissenschaftlichen Reflexionen auftretenden Konzepte von Interdisziplinarität annehmen. Ein solcher Ansatz würde allerdings den Rahmen unserer Untersuchungen sprengen. Deshalb wird hier ein sparsamerer Zugang zur Begriffsanalyse gewählt. Mit Bezug auf empirische Einzelbeobachtungen, deren Plausibilität im allgemeinen Erfahrungshorizont wissenschaftlichen Arbeitens lediglich unterstellt werden kann, wird im Folgenden der Versuch unternommen, auf abstrakter Ebene allgemeine Möglichkeiten für die konzeptionelle Konstruktion der Einheit einer Differenz von Disziplinen darzustellen. Diese Modelle sind gleichsam der allgemeine Möglichkeitshorizont für reflexionstheoretische Konzeptionen von Interdisziplinarität. Manche von ihnen werden sich in unseren späteren Beobachtungen rechtssoziologischer Interdisziplinaritätsdiskurse tatsächlich finden lassen. Andere haben bereits auf Grund ihrer Struktur eine eher geringe Wahrscheinlichkeit empirischen Auftretens.

Die abstrakte Modellbildung setzt bei der kommunikativen Bedeutung von „Interdisziplinarität“ an. Dabei stößt man sogleich auf eine Komplikation, der sich die Kommunikation über die Einheit einer Differenz prinzipiell aussetzt, nämlich auf die Möglichkeit einer Kommunikationsblockade. Bei der Beobachtung der Einheit einer Differenz können solche Schwierigkeiten vor allem dann auftauchen, wenn eine Seite der Differenz zur Beschreibung der Einheit benutzt wird. Das kann im Einzelfall zu Paradoxien führen, insbesondere dort, wo binäre Unterscheidungen selbstreferentiell eingesetzt werden. Es stellt Kommunikationen aber auch in anderen, weniger dramatischen Fällen vor Herausforderungen. Stark vereinfacht und auf unseren Gegenstand bezogen entsteht ein Problem beispielsweise dann, wenn Interdisziplinarität einseitig als Form der Binnendifferenzierung innerhalb der Rechtswissenschaft oder der Soziologie aufgefasst wird, wie es im Feld häufig zu beobachten ist. Dadurch entstehen Anschlussprobleme in der Kommunikation mit Blick auf die jeweils andere Disziplin. Es gibt keine oder jedenfalls keine unaufwendigen Möglichkeiten der Fortsetzung. Kommunikationssysteme entwickeln daher unter solchen Umständen Mechanismen, die es ihnen erlauben, mögliche Hindernisse unsichtbar zu halten und die Kommunikation gewissermaßen an solchen Engpässen vorbei weiter zu führen.

Im Hinblick auf die Einheit der Differenz von Disziplinen lassen sich auf dieser abstrakten Ebene folgende sechs Modelle konstruieren. Die Modelle 1 bis 3 werden hier der Vollständigkeit halber genannt, um den oben genannten Möglichkeitsraum einigermaßen auszuleuchten. Sie erweisen sich konzeptionell als nicht besonders belastbar und treten empirisch praktisch nicht in Erscheinung. Modelle 4 bis 6 bilden vor diesem Hintergrund sodann die tatsächlich beobachtbaren Interdisziplinaritätsdiskurse in der Rechtssoziologie ab. Indifferenz (Modell 4) und sachliche Hierarchie (Modell 5) haben die Entwicklung des Feldes weithin geprägt. Sie werden sich in unseren historischen Betrachtungen in unterschiedlichen Erscheinungsformen wiederfinden, auf deren Grundlage sich die insgesamt problematische Entwicklung des Feldes rekonstruieren lässt. Responsivität (Modell 6) kann durch die Zeitläufte hindurch immer wieder in Ansätzen und Spuren nachgewiesen werden. Sie kann ihr Potenzial heute weiter ausschöpfen und wird deshalb der Gegenstand unserer weiteren Analysen sein.

2.4.1 Kommunikationsabbruch

Kommunikationen können beim Erreichen von Kommunikationsblockaden abgebrochen werden. Der Fall kann mit Blick auf interdisziplinäre Beziehungen beispielsweise eintreten, wenn etwa nach der Einheit der Unterscheidung von Soziologie und Rechtswissenschaft gefragt und mit ausschließlich soziologischen oder juristischen Konzepten geantwortet wird, also die interdisziplinäre Perspektive zugunsten einer der beiden Seiten der Unterscheidung asymmetrisiert wird. Hier treffen – um unsere oben entwickelte wissenschaftssoziologische Systematik anzuwenden – zwei Autonomiediskurse aufeinander, ohne jeweils über ein Konzept der Praxis zu verfügen, das es erlauben würde, die Umwelt zu beobachten und sich zu den Systemoperationen ins Verhältnis zu setzen. Kommunikationsabbrüche stellen allerdings nur unter spezifischen Rahmenbedingungen eine akzeptable Option dar, etwa im Fall lediglich ephemerer Kontakte zwischen den Disziplinen und stabiler, nicht irritierbarer Selbstbeschreibungen. Sie sind im Falle der Rechtssoziologie nicht zu erwarten, die sich als interdisziplinäres Feld beschreibt und darin ihre Identität zu bestimmen versucht. Kommunikationsabbruch wäre das performative Eingeständnis des Scheiterns dieser Identität.

2.4.2 Temporalisierung

Differenzen können auf der Zeitdimension abgebildet und dadurch aus einer Einheitsperspektive beschrieben werden. In der zeitlichen Sequenzierung können sich beispielsweise Konzepte des Lernens, der Evolution oder des sozialen Wandels bilden, innerhalb derer etwa Narrative der Ablösung eines Faches durch das andere auftreten, wie dies bisweilen im Verhältnis von Philosophie und Soziologie zu beobachten ist. Für ein umfassendes Konzept einer Interdisziplinarität, die ihre Einheit auch in der Sachdimension sucht, dürfte Temporalisierung deshalb einen äußerst unwahrscheinlichen Sonderfall darstellen. Im Bereich rechtssoziologischer Reflexionstheorien spielt sie empirisch keine Rolle.

2.4.3 Ebenenwechsel

Paradoxieverdächtige Situationen können mit Ebenenwechseln bearbeitet werden, wie man aus der formalen Logik weiß. Man kann etwa auch an die aus der Organisationsforschung stammende Unterscheidung von talk und action denken. Die Aktivitätsmuster innerhalb von Universitäten bleiben zum Beispiel weithin disziplinär, werden aber auf einer Ebene des talk von Interdisziplinaritätssemantiken begleitet, die dort als Metaphern hervorragend einsetzbar sind. Das dürfte sogar ein relativ verbreitetes Muster sein (Weingart 1997), welches wahrscheinlich viele Alltagserfahrungen auf dem Feld der Rechtssoziologie widerspiegelt. Das Problem der talk-action-Form besteht in der erforderlichen Latenzsicherung, deren Notwendigkeit aus der Unmöglichkeit oder doch Unziemlichkeit resultiert, die Unterscheidung von talk und action offen zu thematisieren. Für eine interdisziplinäre Reflexionstheorie ist das kaum zu leisten. Es ist auch empirisch nicht zu beobachten. Zwar ließe sich das institutionelle Verhältnis von universitärer Soziologie und Jurisprudenz mit diesem Modell möglicherweise gut beschreiben. Es bildet entsprechende Erfahrungen im Universitätsalltag tatsächlich ab: Beiderseitige freundliche Interessensbekundungen auf der Ebene des talk orchestrieren das unbeirrte Operieren im jeweiligen disziplinären Zusammenhang. Gelegentliche Freundschaftsbesuche (inter-fakultative Arbeitskreise oder ähnliches) sichern den Fortbestand guter diplomatischer Beziehungen zwischen den Fächern. Andererseits wären reflexionstheoretische Versuche, diesen Zustand programmatisch auszuflaggen und zum Modell gelingender Interdisziplinarität zu deklarieren, offenkundig verfehlt. So sehr man auf der Ebene des universitären Alltags talk und action beobachten kann, so wenig sind also die beiden Aspekte als Elemente reflexionstheoretischer Selbstbeschreibung geeignet, da sie ebenso wie das Modell des Kommunikationsabbruchs auf Abwertung von Interdisziplinarität und äußerstenfalls auf einen Selbstwiderspruch hinauslaufen.

Im Gegensatz zu den drei bislang genannten Modellen, die sich empirisch als unbedeutend erweisen, haben folgende Diskurse sich tatsächlich in den rechtssoziologischen Reflexionstheorien seit deren Anfängen empirisch ausgebildet. Sie bilden den Schlüssel zum Verständnis der weiteren Entwicklung des Feldes:

2.4.4 Indifferenz

Differenzen können kommunikativ in der Schwebe gehalten werden, ohne dass es zum Kommunikationsabbruch kommt. Wer in interdisziplinären Kontexten arbeitet, ist aus der alltäglichen Praxis damit vertraut, dass man dort häufig das Wechseln zwischen Perspektiven, aber auch das gleichzeitige Geltenlassen an und für sich inkompatibler Sichtweisen benutzt, um disziplinäre Differenzen kommunikativ handhabbar zu machen. Man bezeichnet diese Form der Kooperation dann gerne als „Multidisziplinarität“ und erinnert sich in unserem Zusammenhang dabei an die mehrfach bereits angesprochene „Law-and-Society“-Bewegung und den Topos der „interdisziplinären Rechtsforschung“. Dort wird das reflexionstheoretische Modell der Indifferenz explizit eingesetzt. Bereits die Namensgebung stellt – ebenso wie in der Umbenennung der Vereinigung für Rechtssoziologie in Vereinigung für Recht und Gesellschaft – eine Abkehr von disziplinären Bezügen explizit dar. In den Selbstbeschreibungen (vgl. nochmals Wrase 2006) wird entsprechend die ent-disziplinierte Koexistenz inhaltlich beliebiger „Ansätze“ zum Kernbestandteil interdisziplinärer Selbstbeschreibung. Die Differenz disziplinärer Gegenstandsbereiche, Fragestellungen, Theorien und Methoden wird in ein Modell friedlicher Koexistenz integriert. Autonomiediskurse liegen in diesem Verständnis von Interdisziplinarität auf Seiten der Rechtswissenschaft wie der unterschiedlichen Sozialwissenschaften mehr oder weniger explizit vor, beobachten sich gegenseitig, rufen aber jeweils keine Reflexion der betreffenden Umwelt als Praxis hervor. Das Problem dieser Interdisziplinaritätssemantik besteht darin, dass sie wenig leistungsfähig, weil ohne eigene Beobachtungsschemata mit Strukturaufbauwert ist. Reflexionsbemühungen im Hinblick auf die limitierende Funktion von Theorien und Methoden, die eben nicht für jeden beliebigen „interdisziplinären Ansatz“ anschlussfähig sind, gehen in der Unschärfe dieser Diskurse unter. Man lässt alles gleichermaßen gelten und verzichtet dadurch auf die argumentative Klärung von Geltungsansprüchen. Dieses Interdisziplinaritätsmodell ist insofern einerseits durch konzeptionelle Probleme charakterisiert. Andererseits hat es sich als bemerkenswert überlebensfähig erwiesen. Es hat in Gestalt doppelter Autonomie die Gründungsphase der Rechtssoziologie zunächst bestimmt, wie das folgende Kapitel zeigen wird. Darüber hinaus hat es sich bis heute als vergleichsweise unaufwendige und konzeptionell anspruchslose Modellierung rechtssoziologischer Interdisziplinarität in den Selbstbeschreibungen des Feldes etablieren können.

2.4.5 Sachliche Hierarchie

Weitaus ambitionierter waren und sind bis heute konzeptionelle Ansätze der Integration disziplinärer Differenzen in hierarchischen Modellen. Damit ist im Hinblick auf die Einheit der Differenz von Disziplinen jede Form „supradisziplinärer Kontrolle“ gemeint. Instrumentelle Beziehungen zwischen Disziplinen führen zu asymmetrischen Relationen bzw. Autoritätsgefälle. Diese Form dominierte zahlreiche rechtssoziologische Reflexionstheorien seit der Entstehung des Feldes. Sie spielt auch heute noch eine wichtige Rolle. Man kann beispielsweise in unterschiedlichen Spielarten der Rechtstatsachenforschung den Versuch einer solchen Kontrolle erkennen, wie wir später an konkreten Beispielen sehen werden. Dort tritt soziologische Erkenntnis in einer instrumentellen, auf eine dienende Funktion beschränkten Rolle auf. Sie unterstützt die Rechtswissenschaft mit empirischem Wissen, wenn und soweit diese danach verlangt. Problemidentifikation und -definition sind Aufgabe der Rechtswissenschaft. Der Soziologie fällt die Aufgabe einer Hilfswissenschaft zu. Umgekehrt haben aber auch frühe soziologische Theorien ein Dominanzmodell der Soziologie gegenüber der Rechtswissenschaft vertreten. Beide Entwicklungen resultieren aus der historischen Ausdifferenzierung der Rechtswissenschaft und der Soziologie mit jeweils starken Autonomiediskursen, die jedenfalls zeitweilig die Integration der jeweiligen Umwelt, also einen sachhaltigen Praxisbegriff verhindert haben und diesen Umstand letztlich nur durch ein Hierarchiemodell lösen konnten. Wie man unschwer erkennt, enthält das Modell interdisziplinärer Hierarchie ein hohes Konfliktpotenzial, sobald alle beteiligten Disziplinen reflexionstheoretisch auf Autonomie setzen.

2.4.6 Responsivität

Schließlich lassen sich im Verhältnis zwischen Disziplinen komplexere Wechselbeziehungen denken, die zu sensiblen Anpassungsreaktionen im Sinne koevolutionärer Kopplungen führen. Man kann sich Fälle vorstellen, in welchen Disziplinen autonom beziehungsweise mono-disziplinär (Heckhausen 1987) operieren, sich dabei aber wechselseitig beobachten und dies vor allem jeweils intern mit Reflexionsleistungen darüber verbinden, welche Effekte und Anpassungsleistungen eigene Operationen in den je anderen Disziplinen erzeugen und was daraus für den eigenen Strukturaufbau folgen könnte. Wir wollen für diese Form von System-Umwelt-Beziehungen den Begriff der Responsivität verwenden.

Responsivität bezeichnet damit ein Modell von Interdisziplinarität, welches nicht die Rezeption der Soziologie durch die Jurisprudenz in den Mittelpunkt stellt, sondern auf symmetrische interdisziplinäre Beziehungen abstellt. Auf theoretisch-abstrakter Ebene setzt der Begriff einen Beobachter voraus, der Operationen in seinem Gegenstandsbereich als Beobachtung seines eigenen Operierens auffasst und in seiner Reflexion versucht, solche externen Problemlagen und Ansprüche intern relevant werden zu lassen und darüber eigene Strukturbildungseffekte zu erzielen (Kaldewey 2015, S. 229). Responsive Rechtssoziologie beschreibt deshalb mehr als die juristische Rezeption soziologischen Wissens. Sie geht auch über das Konzept bloßer Resonanz, also des Reagierens auf Irritationen hinaus, welche rein intern determiniert sein kann (vgl. Mölders 2019), wie es die soziologische Systemtheorie bisweilen nahelegt. Sie überwindet die Vorstellung einer allein auf Systemautonomie beruhenden inneren Strukturbildung. Vielmehr beschreibt Responsivität eine ultra-zyklische Verknüpfung von Innen- und Außenreferenzen („ökologische Rekursivität“, vgl. Teubner 1998). Systemautonomie wird auch in diesem Konzept weiter vorausgesetzt, allerdings mit der Möglichkeit, dass die Umwelt intern relevant wird – und dies in zwei Richtungen, wenn man so will, da die Umwelt gleichfalls aus autonomen Systemen besteht, welche auf ihre je eigenen Beobachtungen mit Strukturbildung reagieren. Wir sprechen also von einem Interdisziplinaritätsmodell, in welchem der oben angesprochene Praxisdiskurs eine grundlegende Bedeutung hat.

Diese Art reflexiver „Ultrazyklen“ ist allerdings recht voraussetzungsreich. Die dafür erforderlichen Selbst- und Fremdbeobachtungsleistungen können nur im Hinblick auf eine relativ kleine Zahl jeweils anderer Disziplinen überhaupt erbracht werden. Autonomiediskurse müssen dazu reflexionstheoretisch durch Praxisdiskurse komplementiert werden. Eine soziologisch informierte juristische Rechtstheorie einerseits und eine für die Praxisprobleme rechtlicher Selbstbeschreibung sensible, also responsive soziologische Theorie des Rechts andererseits werden unsere Kandidaten für eine solche Konfiguration sein. Beispiele für eine soziologisch informierte Rechtstheorie lassen sich heute ohne Weiteres erkennen, wie wir im sechsten Kapitel diskutieren werden. Ganz anders verhält es sich auf Seiten der Soziologie. Hier mangelt es, um die zentrale These an dieser Stelle noch einmal zu wiederholen, über weite Strecken an einer juristisch informierten und für rechtliche Fragen sensibilisierten Soziologie, ebenso wie an einem entsprechenden Praxis-Begriff in der (rechts-) soziologischen Reflexionstheorie. Das Plädoyer für eine responsive Rechtssoziologie setzt an diesem Punkt an, wenn sie die Möglichkeiten von äquilibrierten Selbst- und Fremdbeschreibungen sichtbar zu machen versucht.

2.5 Folgerungen: Das Forschungsprogramm einer empirischen Analyse reflexionstheoretischer Diskurskonfigurationen

Vor dem Hintergrund dieser auf abstraktem Niveau entwickelten Varianten der Interdisziplinaritätssemantik besteht die Besonderheit interdisziplinärer Felder also vor allem in dem Umstand, dass in ihnen Reflexionstheorien unterschiedlicher Provenienz aufeinandertreffen, im Falle der Rechtssoziologie als Reflexionstheorien der Soziologie und der Jurisprudenz, mit Folgen für die spezifische Form, in welcher sich Interdisziplinarität manifestiert. Reflexionstheorien partizipieren nicht nur am Universalismus ihrer jeweiligen Funktionssysteme, also der Wissenschaft und des Rechts. Sie machen außerdem als Theorien Gebrauch vom Kommunikationsmodus der Wissenschaft, und dies unabhängig von ihrer Funktionssystemreferenz, also als Wissenschaftssoziologie und als Rechtstheorie. Beide beschreiben reflexionstheoretisch das Phänomen der Interdisziplinarität – als Theorien, aber mit jeweils spezifischen Referenz- und Präferenzmodi. In welcher Weise die Reflexionstheorien vor diesem Hintergrund Interdisziplinarität modellieren und ob sich überhaupt in einem interdisziplinären Feld eine genuine Reflexionstheorie bildet, ist dann eine empirische Frage.

Die folgenden Analysen rechtssoziologischer Diskurse haben diese empirische Frage zum Gegenstand. Sie untersuchen auf der Grundlage der oben erörterten wissenschaftssoziologischen Grundbegrifflichkeiten die Reflexionstheorien der Rechtssoziologie im Hinblick auf das in diesen modellierte Verhältnis von Autonomie- und Praxisdiskursen. Dabei werden angesichts des erwähnten Aufeinandertreffens von Reflexionstheorien im Modus wissenschaftlicher Kommunikation die System-Umwelt-Relationen beider Disziplinen jeweils als Autonomie- und Praxisdiskurse in Erscheinung treten. Beide sind je füreinander Umwelt und werden deshalb in der jeweiligen Selbstbeschreibung als Praxisdiskurse vorkommen, welche die betreffende Umwelt zur Sprache bringen. Zusammen mit den disziplinspezifischen Autonomiediskursen werden diese Praxisdiskurse dort, wo Interdisziplinarität die Reflexionssemantik bestimmt, das identity und boundary work der Rechtssoziologie prägen. Interdisziplinarität erbringt mit anderen Worten dieselbe Leistung wie die Disziplinen. Sie dient der Identitäts- und Grenzsicherung der Wissenschaft im jeweiligen Feld, allerdings unter erschwerten reflexionstheoretischen Bedingungen.

Die vordergründigen Dispute über die Nomenklatur des Feldes – „Rechtssoziologie“, „Rechtstatsachenforschung“, „Recht und Gesellschaft“, „interdisziplinäre Rechtsforschung“ und so weiter – werden sich, wenn man den hier entwickelten konzeptionellen Überlegungen zu folgen bereit ist, am Ende als Symptome eines tiefer liegenden Konflikts divergierender Deutungsmuster und Semantiken erweisen. Diese beruhen ihrerseits auf konkurrierenden Identitäten und Selbstbildern, auf umstrittenen sozialen Positionierungen im Feld der Rechtssoziologie, die als sinnstiftende Semantiken zur Erklärung sozialstruktureller Besonderheiten des Feldes beitragen. Wir finden solche Reflexionssemantiken in allen wissenschaftlichen Disziplinen. Als Reflexionstheorien sind sie Teil sowohl der Jurisprudenz als auch der Soziologie. Auf der Grundlage allgemeiner Reflexion von Recht und Wissenschaft umfassen sie in Gestalt rechtssoziologischer Theorien Interpretationen sowohl des disziplinären Charakters von Wissenschaft im Allgemeinen als auch von interdisziplinären Felder wie der Rechtssoziologie. Vor allem entfalten sie vor diesem Hintergrund in ihrer Positionsbestimmung, ihrem reflexiven identity und boundary work Konzepte von Autonomie und Praxis als spezifischer Aspekte wissenschaftlichen Kommunizierens. Autonomie- und Praxisdiskurse der Rechtssoziologie liegen damit quer zu den augenscheinlichen Differenzen zwischen den beiden Disziplinen und konstituieren das gesamte Feld der Rechtssoziologie. Die oben abstrakt modellierten Varianten von Interdisziplinarität als Indifferenz, sachliche Hierarchie oder Responsivität lassen sich auf der empirischen Ebene jeweils als Konfiguration von Autonomie- und Praxisdiskursen verstehen.

Wenn wir an dieser Stelle die Argumentation dieses Kapitel kurz zusammenzufassen, so kann die Rechtssoziologie im deutschsprachigen Raum als paradigmatischer Fall für das Scheitern eines Randgebietes der Soziologie gelten. Entstanden in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts wurde die Rechtssoziologie nach dem zweiten Weltkrieg mit großem Elan an den Universitäten und im außeruniversitären Forschungs- und Publikationsbetrieb installiert. Wissenschaft und Politik setzten große Hoffnungen in das interdisziplinäre Unternehmen. Diese Hoffnungen schienen sich auch bis weit in die 1960er Jahre hinein zu erfüllen. Das Feld wurde mit hohen Erwartungen an seine theoretische und praktische Bedeutung ausgestattet. Die Rechtssoziologie sollte der als Herrschaftsinstrument kritisierten und in der politisch engagierten Wissenschaft entsprechend in Verruf geratenen Jurisprudenz zu neuer gesellschaftsverändernder Bedeutung verhelfen. Sie sollte überdies den als „rationale Rechtspolitik“ verstandenen Reformbemühungen das erforderliche wissenschaftliche Steuerungswissen liefern und so praktisch relevante, kritisch engagierte Wissenschaft sein. Die Realität hielt diesen Erwartungen, wie oben beschrieben wurde, nicht stand. Weder in der akademischen Wissenschaft noch in der Politikberatung konnte die Rechtssoziologie den angestrebten Stellenwert erreichen. Im Gegenteil, ihre von Anfang an marginale Bedeutung schwand nach bescheidenen Erfolgen zwischen 1965 und 1975 spätestens seit den 1980er Jahren bis zur akademischen und gesellschaftspolitischen Bedeutungslosigkeit.

Dieser Niedergang ist, wie wir sehen werden, der rechtssoziologischen Community selbst wahrgenommen und meist als „praktisches“ Scheitern beschrieben worden (vgl. unten Abschn. 5.3). Die Jurisprudenz habe sich, so der Tenor vieler Diagnosen, den Einsichten der Soziologie gegenüber verschlossen gezeigt und keine Bereitschaft entwickelt, sich auf die erfahrungswissenschaftliche Beobachtung durch die Soziologie einzulassen (vgl. etwa Schmidt 2000; Lautmann und Meuser 1988; Lucke 1988; Rasehorn 2002; Raiser 1989; Raiser 1994; Ziegert 1994). Daran ist sicherlich Vieles richtig. Allerdings bleiben solche Diagnosen wissenschaftssoziologisch naiv, solange sie allein auf das Verhältnis zwischen den Disziplinen der Jurisprudenz und der Soziologie abstellen und dabei gewissermaßen der Soziologie ein privilegiertes Wissen zuschreiben, dessen Rezeption durch die Jurisprudenz an deren Borniertheit scheitere.

Die in diesem Kapitel vorgestellten wissenschaftssoziologischen Überlegungen dienten dem Ziel, eine solche einseitige Sichtweise auf der Ebene der grundlegenden Begrifflichkeiten und theoretischen Konzepte durch ein höheres Maß an Komplexität zu ersetzen. Der hier unterbreitete Vorschlag besteht im Kern darin, die Orientierung an Disziplinen durch die Analyse von Diskursen zu ersetzen, in welchen wissenschaftliche Felder Limitation und Reflexion in ihren Selbst- und Fremdbeschreibungen verwirklichen. Neben Theorien- und Methodendiskursen, so die konzeptuelle Grundannahme, sind dies vor allem Autonomie- und Praxisdiskurse. Sie liegen quer zu den Disziplingrenzen, aber auch zu den Grenzen zwischen der Wissenschaft und ihrer Umwelt, und ermöglichen damit die Konfrontation von Fremd- und Selbstbeschreibungen in Soziologie und Jurisprudenz. Die eingangs skizzierten strukturellen Probleme der Rechtssoziologie sollten sich mit Hilfe dieser begrifflichen Grundausstattung als durch die Semantiken des interdisziplinären Feldes jedenfalls mit verursacht rekonstruieren lassen.

Zu diesem Zweck sollen deshalb die Reflexionstheorien der Rechtssoziologie darauf hin untersucht werden, wie sich in ihnen das erwähnte komplexe Gefüge von Autonomie- und Praxisdiskursen zu historisch variierenden Konstellationen entwickelt, in denen auf der institutionellen Ebene dann bestimmte Optionen als schlüssig erscheinen. Variations- Selektions- und Stabilisierungsprozesse in sozialstruktureller Hinsicht können so in evolutionärer Perspektive als jeweils im Rahmen semantischer Deutungsmuster mögliche Entwicklungspfade verstanden werden. Besonderes Augenmerk wird bei diesen Untersuchungen – im Gegensatz zu den gängigen rechtssoziologischen Selbstbeschreibungen – auf die Frage zu legen sein, welche Rolle die Soziologie bei der Entwicklung rechtssoziologischer Selbst- und Fremdbeschreibungen gespielt hat und in welcher Weise soziologische Autonomie- und Praxisdiskurse zur Marginalisierung der Rechtssoziologie beigetragen haben könnten.

Das folgende dritte Kapitel beschäftigt sich vor diesem Hintergrund zunächst mit der reflexionstheoretischen Ausgangslage der Rechtssoziologie, ihren Gründungsmotiven, den in der Anfangsphase des Feldes angelegten Selbst- und Fremdbeschreibungen sowie den dort bereits aufscheinenden Grundproblemen in der Semantik der Interdisziplinarität. Diese werden sich als Konsequenz des Aufeinandertreffens reflexionstheoretischer Modelle von Indifferenz und sachlicher Hierarchie rekonstruieren lassen. In der Gründungsphase der Rechtssoziologie ist damit das Desiderat einer responsiven Interdisziplinarität als Perspektive bereits angelegt, die auch in der neueren Rechtssoziologie aufscheint, jedoch nicht vollständig ausgearbeitet ist. Die weiteren Überlegungen werden an diese Perspektive anschließen können.