Theorien des Rechts haben die Soziologie seit ihren Anfängen wesentlich mit geprägt. Soziologische Klassiker wie Emile Durkheim, Ferdinand Tönnies oder Max Weber haben dem Recht nicht zufällig erhöhte Aufmerksamkeit gewidmet. Sie griffen entweder auf juristische Examina wie Weber, einen philosophischen Werdegang wie Tönnies oder auf Begegnungen mit den Staatswissenschaften wie der junge Durkheim während seines Studienaufenthaltes in Deutschland zurück und waren deshalb mit den großen rechtstheoretischen Debatten ihrer Zeit vertraut. An diese raumgreifenden Denkbewegungen des neuzehnten Jahrhunderts schlossen die neu entstehenden soziologischen Theorien an. Gesellschaftstheorie fußte deshalb nicht selten in der einen oder anderen Weise auf einer soziologischen Theorie des Rechts. Neben der Philosophie und der Ökonomie stand damit auch die Jurisprudenz Pate bei der Entstehung der Soziologie. Diese zehrte gerade in ihren Anfängen in starkem Maße von der Einsicht, dass Gesellschaft durch rechtliche Strukturen geprägt und in diesem Sinne auch rechtlich verfasst ist. Diese Einsicht schlug sich in einer entsprechenden Integration des Rechts in die klassischen soziologischen Theorien nieder. Soziologische Theorie des Rechts war deshalb dort, wo sie Grundlage oder Bestandteil allgemeiner soziologischer Theorie war, in den frühen Stadien des Faches soziologisch in dem Sinne, dass sie den jeweiligen Entwicklungsstand der Disziplin berücksichtigte und unmittelbar daran anschloss. Sie war Theorie in dem Sinne, dass sie als kohärentes und umfassendes System wissenschaftlicher Aussagen ihren Gegenstandsbereich vollständig zu erfassen und in seiner Strukturiertheit angemessen zu begreifen versuchte. Sie war Rechtsoziologie in dem Sinne, dass sie das Recht als soziale Struktur untersuchte. In einer solchen sachhaltigen Erkenntnis vermochte umgekehrt der Gegenstand soziologischer Beobachtung, das Recht, sich in irgendeiner Form wiederzufinden. Die Explizitheit einer solchen soziologischen Theorie des Rechts, ihre empirische Fundierung, Erklärungsfähigkeit und Widerlegbarkeit von Aussagen, Extension sowie Anschlussfähigkeit für wissenschaftliche Kommunikation waren, mit anderen Worten, die Grundlage für einen fruchtbaren Austausch zwischen der Rechtswissenschaft und der jungen Soziologie, welche in diesem interdisziplinären Kontakt und in der Auseinandersetzung mit dem Recht ihre fachlichen Konturen ausbildete. Dieser Zusammenhang blieb auch nach der frühen Phase disziplinärer Konsolidierung in einigen späteren soziologischen Theorien jedenfalls dort spürbar, wo das Recht, seine Strukturen und gesellschaftlichen Funktionen eine Rolle spielten, etwa bei Theodor Geiger oder Niklas Luhmann.

Heute scheinen im Vergleich zu den Anfangsjahrzehnten soziologische Theorien des Rechts einen schweren Stand innerhalb des Faches Soziologie zu haben. Dies mag, wie Niklas Luhmann in seiner Rechtssoziologie (Luhmann 1972, 1 f.) diagnostizierte, damit zusammenhängen, dass sie einen komplexen, hoch professionalisierten Gegenstand behandeln, welcher den Zugang aus soziologischer Perspektive erheblich erschwert. Diese Schwierigkeiten machten schon der frühen Soziologie zu schaffen. Sie sind bis heute nicht behoben, sondern haben, wie zu zeigen sein wird, in ihren Auswirkungen auf die historische Entwicklung der Rechtssoziologie durchgeschlagen. Gleichzeitig haben soziologische Theorien auch auf diese Schwierigkeit reagiert und vor dem Hintergrund der jeweils aktuellen Gesellschaftstheorien immer wieder Möglichkeiten für eine Beobachtung des Rechts geschaffen, die den charakteristischen juristischen Problembeschreibungen überraschende und instruktive Einsichten zur Seite stellte. Vielfach haben sie dabei jedoch versäumt, die Strukturen des Rechts selbst, dessen interne Logik, wenn man so will, zu analysieren und sich statt dessen mit der gesellschaftlichen Bedingtheit und mit den gesellschaftlichen Wirkungen des Rechts befasst. Die „elementaren Prozesse der Rechtsbildung, der Sinn des Sollens, die Funktion des Rechts als Komponente der Struktur sozialer Systeme“ blieben, so Luhmann, seit den soziologischen Klassikern „ungeklärt“ (Luhmann 1972, 25). Luhmanns rechtssoziologische Schriften selbst stellen vor diesem Hintergrund eine bemerkenswerte Ausnahme dar.

Soziologische Theorien des Rechts sind insgesamt innerhalb der Soziologie weithin ohne angemessenen gesellschaftstheoretischen Rückhalt geblieben. Schon in der Entstehungszeit der Rechtssoziologie, ging es, um noch einmal Luhmann zu bemühen, „mit der Gesellschaftstheorie bergab.“ (Luhmann 1972, 25). Seither hat sich an diesem Zustand nur wenig geändert, da kaum ausgearbeitete soziologische Theorien des Rechts im Kontext der führenden Soziologien vorliegen. Eine deutliche Ausnahme bildet die soziologische Systemtheorie, die aus diesem Grund in unserem Zusammenhang besondere Aufmerksamkeit verdient. Sie erfüllt, wie zu erörtern sein wird, in der von Luhmann vorgelegten und seither von anderen Rechtssoziologen ausgearbeiteten Form die oben zitierten Forderungen nach soziologischer Beschreibung und Erklärung grundlegender Komponenten des Gegenstandes „Recht“. Von dieser Ausnahme abgesehen ist die Rechtssoziologie jedoch als soziologische Theorie des Rechts, so wird man ohne Übertreibung sagen können, trotz ihrer Bedeutung in den Werken soziologischer Klassiker heute ein Stiefkind der Soziologie, insbesondere der soziologischen Theorie. Man mag, wenn man die Soziologie insgesamt betrachtet, darin gewisse Parallelen zu anderen Teilgebieten erkennen. Die daraus sich ergebende Frage, ob in der Entwicklung der Rechtssoziologie ein Symptom allgemeinerer, struktureller Problemlagen der Soziologie zum Ausdruck kommt, wird im Folgenden nicht ausdrücklich behandelt. Sie steht jedoch als Vermutung im Raum, die mit Blick auf das Schicksal der Rechtssoziologie immerhin einige Plausibilität erhalten könnte.

Die nachfolgenden Überlegungen gehen vor diesem Hintergrund der Frage nach, welche systematischen Lücken sich in der rechtssoziologischen Theorie auftun und wie diese gegebenenfalls zu schließen wären. Diese Frage stellt sich, wie man sehen wird, auch im Hinblick auf die soziologische Systemtheorie trotz ihrer unbestreitbaren Leistungen für die Rechtssoziologie. Das mit den vorliegenden Untersuchungen verfolgte Ziel besteht darin, die Bedingungen der Möglichkeit einer soziologischen Theorie des Rechts darzulegen, welche die Sachhaltigkeit der soziologischen Erkenntnis im oben angesprochenen Sinne ermöglicht. Dies wird über die reflexionstheoretische Rekonstruktion eines in einigen Rechtssoziologien zwar enthaltenen, aber bislang nicht ausgearbeiteten Konzepts möglich sein, das im Folgenden als responsive Rechtssoziologie bezeichnet wird.

Der Impuls, sich der soziologischen Theorie des Rechts von Neuem und aus einer bislang nicht vertretenen Perspektive zu nähern, beruht auf der in der rechtssoziologischen Forschung gewonnenen Überzeugung, dass die Soziologie mehr über das Recht zu sagen hat, als sich derzeit an der disziplinären Oberfläche erkennen lässt und als sich das Fach in seinen Selbstbeschreibungen zubilligt. Dabei geht die Beschäftigung mit einer solchen Theorie im Wesentlichen aus Beobachtungen im Forschungsalltag hervor, die auf ein grundlegendes Problem der Soziologie mit dem Recht hinweisen und insofern eng miteinander verknüpft sind.

Man kann nämlich am Beispiel der Rechtssoziologie einen allgemeinen Trend der Soziologie wiedererkennen, sich von den „Kleinen Fächern“ bzw. Randgebieten abzuwenden. So genannte kleine Fächer stellen heute ein eigenständiges Forschungsgebiet der Wissenschaftssoziologie dar und sind deshalb gut dokumentiert (vgl. Deutsche Forschungsgemeinschaft 2017 und das vom BMBF betriebene „Portal Kleine Fächer“ https://www.kleinefaecher.de). Die Rechtssoziologie in Deutschland stellt vor diesem wissenschaftssoziologischen Hintergrund eher ein wissenschaftliches Teilgebiet als ein kleines Fach dar (vgl. Bora 2021), da sie weder etablierte Studiengänge noch eigenständige akademische Einrichtungen hat ausbilden können. Sie bleibt damit sogar noch unterhalb der Aufmerksamkeitsschwelle einer Wissenschaftssoziologie der Kleinen Fächer. Wir werden im Folgenden von der Rechtssoziologie als einem wissenschaftlichen Feld sprechen. Im Unterschied zu Bourdieu, dessen Feld-Begriff durch Machtstrukturen definiert ist, werden wir ein Feld als den Bereich aller Kommunikationen verstehen, die sich an einem sachlichen Zusammenhang orientieren, in unserem Fall also an dem Zusammenhang von Recht und Soziologie. Inhaltlich gibt es, wie gesagt, jenseits von Luhmanns Schriften aus den 1970er bis 1990er Jahren aktuell innerhalb der soziologischen Disziplin keine als genuin soziologisch zu bezeichnende, an die Theorie- und Methodendiskussionen der allgemeinen Soziologie anschließende Befassung mit der Rechtssoziologie. Der Abschied der Disziplin Soziologie von der Rechtssoziologie als einem ihrer Teilgebiete könnte kaum deutlicher zum Ausdruck kommen als in solchen Beobachtungen. Wir werden dazu im Folgenden einige Fakten zusammentragen.

Gleichzeitig mit dieser disziplinären Schwäche erstarken andererseits inter- oder transdisziplinäre Felder, die teils explizit den Bezug auf akademische Disziplinen ablehnen und sich statt dessen beispielsweise als „problemorientiert“ oder „empirisch forschend“ beschreiben. Die international breit vertretene Law-and-Society-Bewegung ist ein Beispiel für diese Entwicklung, auf das wir zurückkommen werden. Wir scheinen es also an den Rändern der Soziologie mit einer Ent-Disziplinierung des Faches zu Gunsten hybrider und fachlich amorpher Felder zu tun zu haben. Dieser globale Trend kommt auch in einer besonderen Entwicklung der deutschsprachigen Rechtssoziologie zum Ausdruck. Während sich die Law-and-Society-Studies international erfolgreich behaupten und auch institutionell in vielen Weltregionen durchsetzen konnten, beobachten wir in der deutschsprachigen Rechtssoziologie zunächst ein Erstarken institutioneller Strukturen nach 1945 bis in die 1960er Jahre. Seither fällt jedoch das weitgehende Verschwinden einer eigenständigen akademischen Rechtssoziologie aus den soziologischen Einrichtungen in Deutschland ins Auge. Dieser unübersehbare Schwund steht nicht nur in erklärungsbedürftigem Kontrast zum erwähnten Aufstieg der erwähnten hybriden Felder, sondern auch zu erfolgreicheren Institutionalisierungen der Rechtssoziologie in anderen Nationalstaaten und Weltregionen.

Die genannten Entwicklungen werfen mit Bezug auf die Rechtssoziologie die Frage nach deren Konstitutionsbedingungen als eines Teilgebietes der deutschsprachigen Soziologie auf. Diese Konstitutionsbedingungen der deutschsprachigen Rechtssoziologie haben, so unsere Vermutung, eine doppelte Gestalt. Sie sind zum einen sozialstruktureller Art, manifestieren sich also in Geld, Macht und professionspolitischem Einfluss, die jeweils einen institutionellen Niederschlag in den akademischen und außerakademischen Netzwerken und Organisationsmustern von Forschung, Lehre, Publikationen und Politikberatung finden. Zum anderen finden sie aber auch in der inneren Verfasstheit der Soziologie als Disziplin und des rechtssoziologischen Feldes ihren Ausdruck, in deren Selbstverständnis, ihrer Identität, mit anderen Worten.

In letztgenannter Hinsicht sind vor allem Reflexionstheorien von ausschlaggebender Bedeutung. Sie sind die wissenschaftlichen Formen der Selbstbeschreibung, in denen sich die Identität eines wissenschaftlichen Feldes wie etwa der Rechtssoziologie in der Semantik der Wissenschaft manifestiert. Die Frage nach den Umweltbedingungen der Rechtssoziologie im deutschsprachigen Raum eröffnet damit eine wissenschaftssoziologische Untersuchungsperspektive auf die Rechtssoziologie als Teilgebiet der Soziologie. Diese Perspektive soll im Folgenden nicht um ihrer selbst willen eingenommen werden, sondern deshalb, weil sie Rückwirkungen auf die Gegenstandstheorie, also die soziologische Theorie des Rechts hat. Denn um die in der soziologischen Theorie des Rechts behandelten – und vor allem: grundsätzlich behandelbaren – gegenstandstheoretischen Fragen geht es am Ende unserer Argumentation. Welche Fragen in einem gegebenen Zusammenhang wissenschaftlich behandelbar sein können, ist ein Thema der betreffenden Reflexionstheorie, in unserem Fall also einer Reflexionstheorie der Rechtssoziologie.

Soweit die mit den vorliegenden beiden Bänden vorzustellende Gegenstandstheorie in Gestalt einer responsiven Rechtssoziologie zunächst auf Reflexionstheorie, genauer auf eine Wissenschaftssoziologie der Rechtssoziologie verweist, rückt als Konsequenz in der Auseinandersetzung mit neueren Entwicklungen auf diesem Gebiet das Konzept der Responsivität ins Zentrum des Interesses, mit dem eine von der Reflexionstheorie zu thematisierenden Eigenschaft der Gegenstandstheorie bezeichnet wird. Reflexionstheorie kann, wie wir ausführlich erörtern werden, den Anstoß zu einer neu verstandenen Gegenstandstheorie geben: Responsive Rechtssoziologie kann, so lässt sich vorab ankündigen, als rechtssoziologischer Praxisdiskurs auf Grundlage wissenschaftlicher Autonomie der Soziologie formuliert werden, welche damit ein äquilibriertes Verhältnis zu ihrer Umwelt in Gestalt dieses Praxisdiskurses einnimmt.

Diese Formulierung ist offenkundig erläuterungs- und begründungsbedürftig. Beides soll in den folgenden Kapiteln geleistet werden. Bevor wir uns im Detail dieser Argumentation und den damit verbundenen Fragen zuwenden, sind zunächst einige begriffliche Klärungen angebracht, um den Zusammenhang zwischen Reflexions- und Gegenstandstheorie deutlich werden zu lassen und seine Bedeutung für das Feld der Rechtssoziologie einschätzen zu können.

Als soziologischer Begriff meint Reflexion die Selbstbeobachtung eines Systems unter dem Gesichtspunkt der Einheit der Differenz von System und Umwelt (Luhmann 1984, 373 f., 617 ff., 1990, 199). Dieser Reflexionsbegriff nimmt philosophische Traditionen zur Kenntnis, ist allerdings im Unterschied zu diesen Ansätzen spezifisch soziologisch, weil er den Bezug auf subjektphilosophische Kategorien von Geist und Bewusstsein zugunsten einer an sozialen Strukturen orientierten Betrachtung auflöst. Die Grundfigur der Rückbezüglichkeit eines Epistems auf sich selbst bleibt dabei erhalten, also die von der Selbstbeobachtung ausgehende Erkenntnis der Erkenntnis, die Rückwendung des Geistes auf sich, die Aufmerksamkeit auf das, was in uns ist, um an einige philosophische Begriffsbestimmungen zu erinnern. Aus soziologischer Sicht bezeichnet Reflexion eine von drei Formen der Selbstreferenz sozialer Systeme. Selbstreferenz kann erstens die einfache operative Beziehung zwischen Kommunikationen meinen, die aneinander anschließen und dabei ihre jeweilige Systemreferenz zum Ausdruck bringen (basale Selbstreferenz, dazu und zum Folgenden Luhmann 1984, 600 f.). Eine solche Zugehörigkeit zu einem System kann ihrerseits im System formuliert und in die Form der Selbstbeschreibung gebracht werden. In diesem Sinne sind alle Kommunikationen reflexiv (Luhmann 1997, 372). Zweitens meint Selbstreferenz im Unterschied zur basalen Reflexivität eine prozessuale Form der Unterscheidung von vorher und nachher. Drittens thematisiert sie als Reflexion die Unterscheidung von System und Umwelt mit Hilfe einer Leitdifferenz im System und macht dadurch die Identität, verstanden als die Einheit des Systems im Unterschied zu seiner Umwelt, zum Gegenstand des Bezuges auf sich selbst.

Reflexionstheorien haben sich vor diesem Hintergrund als spezielle Einrichtung für die Selbstbeschreibung gesellschaftlicher Funktionssysteme ausgebildet (Luhmann 1984, 620). Dass in den gesellschaftlichen Teilbereichen solche Reflexionen auftreten, die sich von den Strukturen der Gesellschaftsbereiche selbst unterscheiden und diese zum Gegenstand der Beobachtung machen, ist altes Thema der Wissenssoziologie seit Marx und Mannheim. So stellt beispielsweise Bourdieu (1985) in diesem Zusammenhang auf den Unterschied von internem und externem Blick ab. Die soziologische Systemtheorie arbeitet dagegen mit der Unterscheidung von Sozialstrukturen und Semantiken. Reflexionstheorien stellen auf der Ebene der Semantik Antworten auf Herausforderungen dar, die mit der funktionalen Differenzierung moderner Gesellschaft einhergehen (Kieserling 2004). Dies wird durch die Gleichzeitigkeit und das Nebeneinander funktional differenzierter Teilsysteme nahegelegt. Die Selbstbeschreibung der Funktionssysteme bezieht sich angesichts der Polykontexturalität der modernen Gesellschaft auf die Funktion und damit auf die je spezifische Kommunikationsform des Systems (ebd., 47 ff.). Sie nimmt dabei Theorie-Form an. So entwickeln die Funktionssysteme der Gesellschaft deshalb jeweils eigene Reflexionstheorien, die sich von allen anderen unterscheiden und nur auf das betreffende Funktionssystem bezogen sind. Mit Bezug auf ihre Leistung, die darin besteht, ein für sich selbst nicht in seiner Gänze beobachtbares und insofern intransparentes Sozialsystem mit einer Identität auszustatten (Priester 2019, 71 f.), stellen Reflexionstheorien „Projektionen“ dieser Leistung im System dar, mit denen die überschießende Vielfalt an Beschreibungsperspektiven gleichsam kondensiert und in strukturierte interne Komplexität umgebaut wird. Reflexionstheorien ermöglichen auf dieser Grundlage begriffliche Innovationen und eine Abgrenzung gegenüber dem basalen Operieren des Systems selbst bei gleichzeitiger Erhaltung des Kontakts zu diesem. So entwickeln sich jeweils begriffliche Konzepte, die allgemein theorieförmige, also wissenschaftliche Gestalt annehmen.

Im Unterschied zu anderen Auffassungen (Kieserling 2000, 51; Schmidt 2000, 13) gehen wir im Folgenden davon aus, dass Reflexionstheorien jeweils auch dem Funktionssystem Wissenschaft zuzurechnen sind (so im Ergebnis auch Priester 2019, 71; Kaldewey 2013). Dies gilt, obwohl sie Beschreibungen des Systems im System sind, die „wie von außen“ beobachten, aber doch durch „spezifische Loyalitäten zu ihrem Funktionsbereich gekennzeichnet sind“ (Luhmann 1997, 965). Diese „affirmative“ Perspektive eines „Motivations- und Plausibilitätskontinuums“ (Kieserling 2000, 49 ff.), das gleichsam den jeweiligen „Funktionsprimat“ des Funktionssystems hypostasiert (Kieserling 2004, 178), ändert nichts an der Tatsache, dass Reflexionstheorien auch eine Ablösung von einer unmittelbaren Orientierung am je eigenen Funktionssystem zugunsten einer wissenschaftlichen Selbstreferenz ermöglichen. Diese als „merkwürdiges Oszillieren zwischen interner und externer Beobachtung“ (Schmidt 2000, 14) bezeichnete Referenz auf mehrere Systemkontexte stellt im Zusammenhang der soziologischen Systemtheorie einen Fall von Mehrsystemereignissen (Teubner 1989, 107; Bora 1999, 62) und von Multireferentialität dar (vgl. Band 2, Kap. 10). Reflexionstheorien koppeln das betreffende Funktionssystem mit dem Wissenschaftssystem und ermöglichen so Kommunikationsanschlüsse auf beiden Seiten. Sie reproduzieren Wissenschaft ebenso wie ihr jeweiliges Funktionssystem. Im Verhältnis der Systeme untereinander stellt somit die Wissenschaft in Gestalt von Reflexionstheorien den anderen Funktionssysteme Leistungen beim je internen Aufbau strukturierter Komplexität zur Verfügung und ermöglicht durch die wissenschaftliche Beschreibung die Bildung von Identität des jeweiligen Systems. Dabei teilen Reflexionstheorien das Motivationskontinuum des Systems und bleiben doch auf Distanz. Denkbar ist das, trotz Autonomie und Geschlossenheit der Funktionssysteme, weil Ereignisse an mehrere Kommunikationsketten gleichzeitig anschließen und weil auch komplexere Diskurse in mehreren Funktionssystemen auftreten können. Das wird in Kap. 2 ausführlicher zu erörtern sein.

Mit Blick auf das Recht sind im Ergebnis alle Rechtstheorien, gleich ob juristischer oder soziologischer Provenienz, wissenschaftliche Theorien, die sich mit der Identität des Rechts befassen und diese aus wissenschaftlicher Perspektive beschreiben. Sie erfüllen als Reflexionstheorien, ebenso wie beispielsweise auch politische, ökonomische, pädagogische, psychologische und andere Theorien die eingangs erwähnten allgemeinen Kriterien der Explizitheit, der empirischen Fundierung, der Erklärungsfähigkeit und Widerlegbarkeit von Aussagen, der Extensionalität und der Anschlussfähigkeit und sind deshalb der Wissenschaft zuzurechnen.

Gleiches gilt für die Reflexionstheorien der Wissenschaft selbst. Wenn wir im Zusammenhang mit Reflexionstheorien von einer Leistung des Wissenschaftssystems für andere Sozialsysteme sprechen, liegt der Gedanke nicht fern, den umgekehrten Zusammenhang ebenfalls zu untersuchen und in unserem Kontext die Leistungen des Rechts für die Wissenschaft zu betrachten. Diese bestehen ohne Frage in den verfassungsrechtlichen Garantien des Artikels 5 Abs. 3 des Grundgesetzes (Kunst- und Wissenschaftsfreiheit), gehen aber ebenso offenkundig darüber hinaus (Bora und Kaldewey 2012). In gleicher Weise, wie die Wissenschaft die Selbstbeschreibung des Rechts beeinflusst, stehen ihre eigenen Selbstbeschreibungen – die Reflexionstheorien der Wissenschaft – unter dem Einfluss des Rechts.

Das lässt sich zunächst sehr einfach an der Universität als Organisation der Wissenschaft beobachten. Universitäten benutzten im Verlauf ihrer Geschichte Kirche und Religion, den Staat, die Wissenschaft und heute in mancher Hinsicht die Wirtschaft als Bezugspunkte für Programmierung und Reflexion ihrer Entscheidungen (Stichweh 2009, 42, siehe auch Kaldewey 2013, 252). Ähnlich wie diese Bezugspunkte spielt für die Wissenschaftsorganisation Universität auch das das Recht eine zentrale Rolle. Universitäten sind in weiten Bereichen rechtlich programmiert; das betrifft zahlreiche alltägliche Aspekte vom Baurecht bis zur Beamtenversorgung. Sie beziehen sich aber auch in ihrer Reflexion auf rechtliche Gesichtspunkte. Rechtliche Bezüge werden vor allem in der Verfasstheit der Organisation erkennbar, etwa ihrer Grundordnung oder beispielsweise in den seit einiger Zeit verbreiteten Zivilklauseln, mit denen rechtliche Präferenzen das Selbstverständnis der Universität bindend beeinflussen. In dieser Weise dient auch das Recht als Bezug für die Selbstbeschreibung der Universität, für ihre Identität mit anderen Worten.

Rudolf Stichweh (1991, 2009) hat für diese Umweltorientierung von Organisationen, also für die interne Beobachtung von äußeren Leistungserwartungen, den Begriff „Anlehnungskontext“ eingeführt. Dieser Gedanke lässt sich von Organisationen auch auf Funktionssysteme übertragen, etwa am Beispiel der Kunst (Luhmann 2008, 316 f.; Priester 2019). Er kann in analoger Weise auch für die uns interessierende Frage nach dem in einer soziologischen Reflexionstheorie zu beschreibenden Verhältnis von rechtssoziologischer Gegenstandstheorie und Recht angewendet werden. Dabei wird man sehen, dass die Wissenschaft als soziologische Theorie des Rechts dieses in noch näher zu untersuchender Weise als einen Anlehnungskontext benutzt. Wichtig ist zuvor jedoch die Einsicht, dass Systeme trotz des Bezugs auf Anlehnungskontexte ihre Autonomie keineswegs aufgeben. Im Gegenteil, Autonomie bedeutet nicht die Unabhängigkeit von Leistungserwartungen, sondern besteht gerade „in der Pluralisierung der Abhängigkeiten eines Systems, einer Pluralisierung der Abhängigkeiten, die dem System Freiräume verschafft, weil das System sich zu je gegebenen Zeitpunkten dafür entscheiden kann, sich auf diejenigen Abhängigkeiten zu stützen, die mit seiner eigenen Interessenrichtung am besten übereinstimmen, und andere Abhängigkeiten, die es als beschränkend erfährt, temporär zurückzudrängen“ (Stichweh 2009, 44). Für das Verhältnis von Recht und Politik finden sich bei Luhmann (1993, 407 ff., 416) vergleichbare Formulierungen.

In der funktional differenzierten modernen Gesellschaft richtet der Begriff des Anlehnungskontextes also die Aufmerksamkeit auf die Außen-Beziehungen von sozialen Systemen. Prinzipielle operative Schließung (Autonomie) und graduelle, mit Anlehnungskontexten variierende Freiheit stellen keinen Widerspruch dar, sondern bedingen sich dabei gegenseitig. Was bei Stichweh ursprünglich ein organisationssoziologisches Konzept darstellt, das auf Umweltrelevanzen verweist, dort aber über die Ebene der Programmierung von Entscheidungen und Reflexion organisationaler Identität in die systemtheoretische Organisationssoziologie eingebunden ist, lässt sich in vergleichbarer Weise auch mit Blick auf andere soziale Systeme und Felder verwenden. Denn zum einen ist der Aspekt der Programmierung verallgemeinerbar und überall dort von Bedeutung, wo es um die Anwendung binärer Unterscheidungen beziehungsweise Codes geht. Zum anderen ist, wie wir gesehen haben, Reflexion ein universales Merkmal von Funktionssystemen.

Den erstgenannten Aspekt der Programmierung von Entscheidungen haben auch andere soziologische Theorien angesprochen. Beispielsweise findet man bei Pierre Bourdieu einen ähnlichen Gedanken, wenn er über die Beziehungen zwischen einzelnen gesellschaftlichen Feldern spricht, die sich trotz ihrer jeweiligen Eigenständigkeit beeinflussen. Allerdings engt dabei die politische Ökonomie den Blick zu sehr ein. Denn diese betrachtet diese Intersystembeziehungen allein als Feld der Macht, das, bildlich gesprochen, hinter oder über allen anderen Feldern operiert und diese beeinflusst (Bourdieu und Wacquant 1996, 142 ff.). Seine Eliten besetzen gleichzeitig dominante Positionen in den anderen Bereichen. Die Beziehung zwischen den Feldern stellt so die Arena für einen Kampf zwischen den je spezifischen Kapitalsorten dar. (ebd., 146 f.). Dass damit der begriffliche und analytische Schwerpunkt auf Machtbeziehungen liegt, lässt sich als theoriestrategische Entscheidung begreifen, die auch anders getroffen werden kann.

Im Unterschied zu Bourdieus Konzept ist der Begriff des Anlehnungskontextes deshalb inhaltlich offen gehalten. Er setzt keine spezifischen, etwa machtförmigen oder ökonomischen Intersystembeziehungen voraus, sondern lässt einen breiten Spielraum, wie am Beispiel der Universität zu sehen war. Darüber hinaus öffnet er vor allem den Blick auf Reflexion, die sich als Selbstbeschreibung ebenfalls an unterschiedliche Umweltbeschreibungen anlehnt. Das ermöglicht es uns, die Beziehungen von Funktionssystemen und ihren Reflexionstheorien ganz allgemein nach dem Muster eines Anlehnungskontextes zu verstehen, in dem sich Funktionssysteme wechselseitig ihre Leistungen zunutze machen.

Das gilt dann entsprechend auch für die soziologische Theorie und damit für die Rechtssoziologie, wo Wissenschaft durch die Anlehnung an das Recht geprägt werden kann. Rechtskommunikationen sind dann an die Selbstbeschreibung der Wissenschaft dergestalt gekoppelt, dass die Programmierung wissenschaftlicher Kommunikation, also die Anwendung der Unterscheidung wahr/nicht wahr durch rechtliche Referenzen mit gesteuert wird. Dabei bleibt der „Funktionsprimat“ der Wissenschaft in jedem Falle erhalten – Rechtssoziologie ist als Wissenschaft in ihren Kommunikationen auf den Wahrheits-Code angewiesen. Sie erscheint jedoch im Hinblick auf die Reflexion darüber, ob und wie dieser Code im Einzelfall zugewiesen werden kann, zugleich in einem durch andere Referenzen wie zum Beispiel das Recht gefärbten Licht. Wissenschaftliche Erkenntnisse werden dann mit Blick auf ihre rechtliche Referenz hin beobachtet, also auf Fragen der normativen Richtigkeit. Eine wichtige Rolle spielt dabei, wie wir später sehen werden, der Umstand, dass auf beiden Seiten Wissenschaft als Reflexionstheorie vorkommt. Die Anlehnung der Rechtssoziologie an das Recht kann, mit anderen Worten, insbesondere den Weg über die Rechtstheorie nehmen.

Das hier kurz umrissene Zusammenspiel von Funktionsprimat und Anlehnungskontext bezeichnet, wie gesagt, einen in allen Funktionssystemen anzutreffenden Sachverhalt. Für die Wissenschaft, um die es im Folgenden gehen wird, hat David Kaldewey (2013) das Begriffspaar von Autonomie und Praxis verwendet, um zu beschreiben, wie in den Kommunikationen der Wissenschaft beides gleichzeitig geschieht, sowohl die Sicherung von Autonomie als auch die Anlehnung an Umweltkontexte. Für letztere stehen in der Wissenschaft unterschiedliche Formen von Praxisdiskursen, die beispielsweise in Semantiken der „Nützlichkeit“, der „Anwendungsorientierung“ oder der „Innovation“ zum Ausdruck kommen können. Praxis fungiert dabei als Terminus wissenschaftlicher Selbstbeschreibung, der das Verhältnis zur Umwelt intern abbildet. „Nützlichkeit“ für das Recht, um unser Thema aufzugreifen, stellt als rechtssoziologischer Praxisdiskurs dann der Wissenschaft einen Anlehnungskontext zur Verfügung, der zum internen Strukturaufbau beiträgt. Die Reflexion eines wissenschaftlichen Feldes wie der Rechtssoziologie kommt also – je nach der Betonung einer der beiden Seiten – in Diskursen der Autonomie und der Praxis zum Ausdruck, das heißt in wissenschaftsinternen Beschreibungen der Beziehungen von Innen (Autonomie) und Außen (Praxis). Reflexionstheorien der Wissenschaft enthalten typischerweise beide Aspekte. Sie arbeiten an der wissenschaftsinternen Abstimmung zwischen Autonomie und Praxis. Mit dem Praxisdiskurs der Nützlichkeit lehnt sich die Wissenschaft allgemein an ihre Umwelt an. Für die Rechtssoziologie wird es vor diesem Hintergrund darum gehen zu untersuchen, welchen Ausdruck von Nützlichkeit sie in ihrer spezifischen Umwelt, dem Recht und der Rechtstheorie als Referenz verwenden kann und wie sich dies in einer Reflexionstheorie der Rechtssoziologie angemessen darstellen lässt.

Wir werden Kaldeweys Wissenschaftssoziologie an späterer Stelle (Kap. 2) ausführlicher betrachten, da sie den begrifflichen Zugang zu den Problemlagen öffnet, mit denen sich die Rechtssoziologie seit ihrer Entstehung konfrontiert sah und für deren Bearbeitung sich das Konzept der Responsivität anbietet. Die soziologische Theorie des Rechts hat nämlich, wie zu zeigen sein wird, über lange Zeit hinweg auf der reflexionstheoretischen Ebene das Verhältnis zu ihrer Umwelt als reines Rezeptionsproblem – als Frage der angemessenen Rezeption von Soziologie durch die Jurisprudenz – behandelt. Dies geschah, weil aus Gründen, die in der Gründungskonstellation des Faches liegen, sich die wissenschaftliche Autonomie der Soziologie gleichsam in den Vordergrund schob und den Aspekt der Praxis, also der Anlehnung an Umweltkontexte verdrängte. Insbesondere gilt dies für die soziologische Systemtheorie, die ihre wissenschaftssoziologische Aufmerksamkeit über weite Strecken auf die Autonomie der Soziologie richtete. Sie vernachlässigte dabei die Reflexion in Form eines Praxisdiskurses, in welchem die wissenschaftliche Umwelt interne Resonanz erzeugt und verharrt bis heute oftmals im Paradigma der Rezeption soziologischen Wissens durch deren Umwelt, also durch das Recht und die Jurisprudenz. Rechtssoziologische Praxisdiskurse blieben vergleichsweise still und entfalteten ihr Potenzial bis heute nur zum geringen Teil.

So ist das Programm der responsiven Rechtssoziologie innerhalb der Soziologie weithin unabgeschlossen. Denn Responsivität bezeichnet im Gegensatz zu dem einseitigen und asymmetrischen Rezeptionsmodell eine Vorstellung von Interdisziplinarität, die nicht auf die bloße Aufnahme soziologischer Erkenntnisse durch die Jurisprudenz hinausläuft, sondern eine symmetrische Anlage der wechselseitigen Beziehungen ins Auge fasst. Sie setzt einen Beobachter voraus, der in Rechnung stellt, dass er von seinem Gegenstand selbst beobachtet wird und vor diesem Hintergrund fragt, wie diese Außenbeobachtung intern relevant werden und die eigene Strukturbildung beeinflussen kann (Kaldewey 2015, S. 229). Responsivität meint deshalb mehr als Rezeption, auch mehr als bloße Resonanz, welche rein intern determiniert sein könnte, wie es die soziologische Systemtheorie jedenfalls in Teilen anzunehmen scheint. Sie weist damit über eine nur auf Autonomie rekurrierende interne Bestimmtheit hinaus und beschreibt ultra-zyklisch verknüpfte Innen- und Außenreferenzen. Stichweh spricht in Bezug auf die Responsivität von Funktionssystemen sogar von einem „Trendwechsel“ und interpretiert den Einbau von Fremdreferenz als Zeichen „evolutionärer Reife“ (Stichweh 2014, 17 f.; vgl. Mölders 2015(a)). Damit dementiert der Begriff die konzeptionellen Voraussetzungen der Systemautonomie nicht, lässt aber die Möglichkeit zu, dass die Umwelt für die Systemoperationen in Gestalt von Praxisdiskursen intern relevant wird.

Für ein interdisziplinäres Feld wie die Rechtssoziologie liegt hierin ein großes Potenzial. Das war in den 1960er und 1970er Jahren zu spüren, als die Rechtssoziologie kurzfristig vor allem in Gestalt einer soziologischen Theorie des Rechts einen fulminanten Aufschwung erlebte und zeitweilig zur gesellschaftlichen Steuerungs- und Gestaltungswissenschaft par excellence reüssierte. Reflexionstheoretisch wurde allerdings, wie ausführlich zu zeigen sein wird, dieses Potenzial mehr verschüttet als ausgenutzt. Über den Umweg juristischer Rechtssoziologien und vermittelt durch einzelne Arbeiten zur „Kritischen Systemtheorie“ ist es heute deutlicher erkennbar und kann gleichsam in die Soziologie reimportiert werden. In der Jurisprudenz verfolgten einzelne Autoren ausgehend von Debatten über die Folgenorientierung rechtlichen Entscheidens und über reflexives Recht schon früh den Gedanken einer responsiven (Rechts-) Dogmatik. Auf dieser Grundlage sind rechtswissenschaftliche Studien entstanden, die heute als Anregungen für eine responsive Reflexionstheorie der Rechtssoziologie gelesen werden können.

Anlehnungskontexte gibt es also in Gestalt von Praxisdiskursen, so soll im Folgenden argumentiert werden, nicht nur für Organisationen und Funktionssysteme, sondern auch für die Binnendifferenzierungen von Funktionssystemen, im Fall der Wissenschaft mithin für Sub-Disziplinen und wissenschaftliche Felder wie die Rechtssoziologie. Mit diesen knappen Vorbemerkungen sind offenkundig sehr weitreichende Behauptungen im Kontext der autopoietischen Systemtheorie aufgestellt. Sie können hier nur einleitend skizziert werden und bedürfen in den folgenden Kapiteln ausführlicher Begründung. Im Kern basieren sie, wie hier angedeutet werden sollte, auf den Überlegungen der Systemtheorie zur Bedeutung von Reflexionstheorien. Diese werden, wie gesagt, der Wissenschaft zugerechnet und stellen den Gegenstandstheorien Leistungen für deren Selbstbeschreibung zur Verfügung. Wissenschaft als Reflexionstheorie versorgt funktionssystemische Reflexion mit strukturierter Komplexität. Diese Denkfigur bezieht sich auch auf Disziplinen und wissenschaftliche Felder, also auf Wissenschaft selbst als Funktionssystem. Damit zielt das gesamte Argument auf den Kernbereich rechtssoziologischer Interdisziplinarität, auf das Verhältnis von Erfahrungs- und Normwissenschaft. Die reflexionstheoretische Aufgabe besteht darin, deutlich werden zu lassen, dass und wie Erfahrungswissenschaft Bezug auf Normativität als Anlehnungskontext nehmen kann, wie sie mit anderen Worten intern Normativität als Praxisdiskurs „mitsprechen“ lassen kann.

Dass diese Mitsprache empirisch, im rechtssoziologischen Alltagsbetrieb, immer schon geschieht, kann und soll nicht bestritten werden. Rechtssoziologische Forschung orientiert sich seit jeher auch an rechtspolitischen Programmen und an normativen Problemen jeglicher Art. Die Frage, welche insbesondere von der soziologischen Systemtheorie aufgeworfen wird, lautet vielmehr, ob und wie ein solcher Praxisdiskurs, eine derartige Anlehnung in einer Reflexionstheorie aufgegriffen werden und gegebenenfalls in welcher Form dies geschehen kann, wenn diese Reflexionstheorie zugleich die operative Schließung und Autonomie der Wissenschaft wie auch der Sozialsysteme in ihrer Umwelt voraussetzt. Soweit reflexionstheoretisch eine zufriedenstellende Lösung derartiger Problemlagen absehbar ist, ergeben sich unmittelbare Rückwirkungen auf die rechtssoziologische Gegenstandstheorie, die sich dann auf der reflexionstheoretischen Grundlage der Responsivität in eine symmetrische Beziehung zu juristischen Rechtstheorien setzen und ihren eigenen Praxisdiskurs mit Rechtsproblemen ausstatten kann.

Die hier angesprochenen Herausforderungen sind auf dem Gebiet der Rechtssoziologie an verschiedenen Stellen gesehen worden. Auffällig ist jedoch, dass reflexionstheoretische Problemlagen zuletzt nicht in der Soziologie, sondern vor allem in der Rechtswissenschaft Aufmerksamkeit gefunden haben. So beschreibt Gunther Teubner (2014) drei Theoriekatastrophen auf Seiten der juristischen Rechtstheorie und -dogmatik. Das Recht wird, so Teubner, bei der Suche nach gesellschaftsadäquaten Rechtsbegriffen durch gleichsam kolonisierende Ansprüche partikularer Sozialtheorien bedrängt, in denen sich sachunangemessene Deutungsmuster etablieren. Sie haben in der Rechtstheorie des zwanzigsten Jahrhunderts unterschiedliche Krisen ausgelöst. Dies gilt für politische Theorien, wissenschaftlich-technokratische Modelle sowie nicht zuletzt für die – trotz grandioser Misserfolge in der Finanzkrise – totalitären Ansprüche ökonomischer Theorien. Dem Deutungspluralismus der Sozialtheorien, so Teubner, kann das Recht für sich selbst eine distanzierte Position abgewinnen, die durch Transversalität, also eine balancierte Stellung zwischen den unterschiedlichen Ansprüchen, durch Responsivität sowie schließlich durch Eigennormativität aller Sozialbereiche gekennzeichnet ist. Hier werden also dem Recht sachangemessene soziologische Anlehnungskontexte offeriert. Diese Diagnose zielt zweifellos in den Kern rechtssoziologischer Identität, sucht aber vor allem in den Reflexionstheorien des Rechts nach Antworten. Das Ziel ist, in Teubners Worten, ein normativer Mehrwert in Gestalt gesellschaftsadäquater Rechtsbegriffe. In diesem Punkt unterscheiden sich die hier vorgelegten Überlegungen von denen Teubners. Denn sie zielen umgekehrt auf einen soziologischen Mehrwert, auf rechtsadäquate soziologische Begriffe, wenn man so will. Rechtssoziologische Studien, so die hier vertretene Auffassung, werden nur dann auf Resonanz stoßen, wenn sie sowohl intern als auch extern anschlussfähig sind, wenn sie also sowohl dogmatischen Mehrwert im Recht als auch wissenschaftlich relevante Erkenntnis in der Soziologie erzeugen können.

Diese Gewissheit lässt sich aus der Wissenschaftsgeschichte der Rechtssoziologie gewinnen. Denn dort wird sich zeigen lassen, dass uns neben den drei von Teubner beschriebenen eine vierte Theoriekatastrophe ereilt hat, die komplementär zu den drei genannten aufSeiten der Soziologie zu finden ist. Im Unterschied zu Teubners Diagnose gehen die folgenden Überlegungen davon aus, dass die Soziologie durchaus Gesellschaftstheorie anbietet und damit nicht einfach den Teubnerschen Teilbereichstheorien subsumiert werden kann. Freilich bezieht sie dabei häufig – und insbesondere dort, wo sie anspruchsvolle Gesellschaftstheorie ist – die oben kritisch kommentierte Beobachterposition, die kein Vokabular für Anschlussfähigkeit im Gegenstandsbereich hat. Sie nimmt eine fundamentale Inkongruenz, ein „Resonanzgefälle“ (Kieserling 2000, 80) an, bei dem die Soziologie für die Umweltbeobachtungen der Funktionssysteme willkommene Unterstützung liefere, zur deren Selbstbeschreibung allerdings stets inkongruente Fremdbeschreibung bleibe. Aus dieser Sicht scheint es so, als ob koordinierte wechselseitige Interdependenzen beziehungsweise aufeinander eingespielte Irritationen zwischen Recht und Soziologie kaum zu erwarten seien.

Als Ausweg aus dieser soziologischen Theoriekatastrophe – und über Teubners Position hinaus – bietet sich vor diesem Hintergrund ein reflexionstheoretisches Konzept von Responsivität an, das nicht nur Neujustierungen auf Seiten des Rechts erfordert, sondern im selben Maße die Soziologie herausfordert.

Hinweise zu einer solchen soziologischen Reflexionstheorie, die rechtssoziologisch komplementär zur Responsivität des Rechts gedacht wäre, lassen sich, wie gesagt, in der neueren Wissenschaftssoziologie finden. Sie für die Rechtssoziologie fruchtbar zu machen, scheint ein gewinnbringendes Unterfangen zu sein, um der nach wie vor aktuellen Forderung nach einer soziologischen Theorie des Rechts Genüge zu tun, die sich als sachhaltig in dem eingangs erwähnten Sinne erweist. Eine solche soziologische Theorie des Rechts wird Autonomie- und Praxisdiskurse so zu kombinieren haben, dass externe Anschlussmöglichkeiten mit einbezogen werden. Damit wird ein Anhaltspunkt gewonnen, nicht nur nach den Theoriekatastrophen zu fragen, die eine Immunisierung der Rechtsdogmatik gegenüber der Sozialtheorie verursacht haben. Vielmehr geht es um eine den anspruchsvollen Stand der Theorieentwicklung nicht unterlaufende soziologische Theorie des Rechts, die komplementär zu dem in der Rechtstheorie erreichten Stand sich auf der soziologischen Seite mit juristischen Rechtstheorien auseinandersetzt.

Anders als die Rechtsgeschichte, die sich auch als (Rechts-) Wissenschaftsgeschichte versteht (Stolleis 2014, 16 ff.), hat die Rechtssoziologie einen gewissen Nachholbedarf mit Blick auf die Bedeutung von Reflexionstheorie. Eine Wissenschaftssoziologie der Rechtssoziologie ist als Reflexionstheorie jedenfalls bislang nicht geschrieben, wie überhaupt sich die Wissenschaftssoziologie bisher im Hinblick auf die Sozial- und Geisteswissenschaften als mögliche Gegenstände äußerst zurückhaltend zeigt. Die Strukturen einer solchen Reflexionstheorie lassen sich aber, wie man sehen wird, aus der rechtssoziologischen Gegenstandstheorie rekonstruieren. Insbesondere die soziologische Systemtheorie scheint zwar prima vista eine solche responsive Reflexion abzulehnen, jedenfalls wenn man ihre gegenstandstheoretische Oberfläche betrachtet. Eine Spurensuche unter dieser Oberfläche wird jedoch über den Umweg juristischer Reflexionstheorien die Möglichkeit einer responsiven soziologischen Theorie des Rechts zutage fördern und diese in ihren Umrissen beschreibbar machen.

Potenziale und Schwächen der soziologischen Theorie des Rechts empirisch aufzuschlüsseln und daraus systematischen Gewinn für die Gegenstandstheorie zu schöpfen ist als deshalb das Ziel dieser Untersuchung. Beide, Potenziale wie Schwächen, sind auf den ersten Blick nicht ohne weiteres erkennbar. Der Gang der Untersuchung beginnt deshalb nach einer Skizze der institutionellen Schwäche des Feldes mit einer Diskussion der reflexionstheoretischen Grundlagen. Dabei wird dem Begriff des Diskurses einige Aufmerksamkeit zu widmen sein, der konzeptionell und methodisch für die weiteren Analysen grundlegend ist. Danach soll eine sehr knappe historischen Rückschau auf die Gründungskonstellation der Soziologie dabei helfen, sowohl an die in der Ausdifferenzierung des Faches erkennbaren Herausforderungen als auch an die Schwierigkeiten zu erinnern, die sich der Ausbildung eines responsiven Modells von Interdisziplinarität in den Reflexionstheorien von Anfang an entgegenstellten. Die daran anschließenden Überlegungen sollen dann die Möglichkeiten rechtssoziologischer Theoriebildung an Hand einer Rekonstruktion der Geschichte der Rechtssoziologie in Deutschland sichtbar machen. Ein angemessenes Verständnis dieser Geschichte erfordert neben den vorliegenden, meist institutionen- oder interessentheoretischen Deutungen eine Rekonstruktion der inneren Verfassung rechtssoziologischer Theorie seit deren Anfängen im späten neunzehnten Jahrhundert. In Anlehnung an neuere wissenschaftssoziologische Konzepte sowie basierend auf eigenen Vorarbeiten wird die Entwicklung rechtssoziologischer Diskurse in Deutschland als Prozess inkongruenter Positionierungen verstanden. Rechtssoziologische Theoriebildung in Deutschland geschieht aus historisch rekonstruierbaren Gründen in wissenschaftlichen Autonomie- und Praxisdiskursen, die von konkurrierenden Beschreibungen des interdisziplinären Feldes geprägt sind und sich deshalb auf der Ebene wissenschaftlicher Selbstbeschreibung – als Reflexionstheorien – nicht zur Deckung bringen lassen. Dieser Zusammenhang lässt sich bereits aus der Analyse rechtssoziologischer Diskurse seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts erkennen. Sie liegen, anders als manche gängigen Interpretationen es nahelegen, quer zu den disziplinären Grenzen zwischen Soziologie und Rechtswissenschaft. Daraus ergeben sich Folgen für die rechtssoziologische Theorie. Anders als oft angenommen wird, dürfte die Spezifik der Rechtssoziologie in der deutschsprachigen Tradition in Asymmetrien zwischen Selbst- und Fremdbeschreibung auf der Ebene soziologischer Reflexionstheorie zu finden sein. Der systematische Ertrag der Studie besteht in der Grundlegung einer responsiven Rechtssoziologie, die solche Asymmetrien besser austarieren kann. Es wird mit anderen Worten darum gehen, aus der Verfassung soziologischer Theorie heraus das auffällige Desinteresse der Soziologie an den Randgebieten jedenfalls teilweise zu erklären, um vor diesem Hintergrund die Bedeutung der im zweiten Band exemplarisch zusammengestellten Studien herauszuarbeiten.

Reflexionstheorien stellen also eine der Ursachen der bis heute diffusen Identität der Rechtssoziologie dar. Denn jenseits aller institutionellen und strukturellen Einflussfaktoren sind es auch diese Reflexionstheorien, die den Spielraum anschlussfähiger, das heißt in sachlicher, zeitlicher und sozialer Hinsicht relevanter Entwicklungsoptionen in einem wissenschaftlichen Feld bestimmen. Die historische Rekonstruktion solcher Reflexionstheorien und ihrer Verwerfungen in den Diskursen der Rechtssoziologie dient vor diesem Hintergrund der Erklärung des insgesamt wohl als institutionelles Scheitern zu beschreibenden Schicksals der Rechtssoziologie innerhalb der soziologischen Disziplin. Die sich dabei unweigerlich aufdrängende Frage nach funktional äquivalenten Formen der Reflexionstheorie führt schließlich zu dem Versuch einer umfassenderen Selbstbeschreibung, mit anderen Worten einer stärker responsiven Reflexionstheorie der Rechtssoziologie.

Der Argumentationsgang ist insgesamt in sechs Schritte gegliedert. Auf diese Einleitung folgt in Kap. 2 ein Abriss zunächst der institutionellen und sodann der theoretischen Entwicklung der Rechtssoziologie in Deutschland. Er soll die Grundlage für eine Analyse legen, die in den Diskurskonstellationen der deutschsprachigen Rechtssoziologie und mit diesen verbundenen institutionellen Eigentümlichkeiten seit den ersten Nachkriegsjahrzehnten mögliche Ursachen für die augenfällige und angesichts der mit der Rechtssoziologie verbundenen Hoffnungen und ihres theoretischen Potenzials überraschende Schwäche des interdisziplinären Feldes sichtbar werden lässt. Diese entwickelte sich über mehr als ein Jahrhundert in der Geschichte des Feldes und resultierte schließlich in der randständigen Position der Rechtssoziologie in der gegenwärtigen Wissenschaft.

Womit können diese Schwierigkeiten zusammenhängen? Selbstverständlich spielen (wissenschafts-) politische Umstände eine wichtige Rolle, Konjunkturen von Themen und Präferenzen, personelle Konstellationen, auch der bisweilen beklagte Abschied der Jurisprudenz von der zeitweilig dort hoch gehandelten Rechtssoziologie. Alle diese Faktoren schaffen historisch variable Opportunitätsstrukturen, die sich auch in institutionellen Entwicklungen niederschlagen. Erklärungen, die allein auf dieser sozialstrukturellen Ebene der Interessen und Institutionen verharren, greifen jedoch zu kurz. Sie vernachlässigen die Ebene der Semantik, der Deutungen, Selbstbeschreibungen, Reflexionen. Auf dieser Ebene kann man erkennen, weshalb bestimmte Themen und Strukturen in einer historischen Situation präferiert werden und welche Diskurskonstellationen mit dem Auf- und Niedergang eines interdisziplinären Feldes einhergehen. Die Dispute über den Nutzen der Sozialwissenschaften für das Recht könnten sich vor diesem Hintergrund als Ausdruck sehr viel tiefer liegender Deutungsmuster und Semantiken erweisen, in denen sich heterogene Identitäten des interdisziplinären Feldes zeigen. Vieles deutet darauf hin, dass auf diesem Feld Unklarheit über dessen Selbstbeschreibung herrscht. Man kann vermuten, dass auch über einhundert Jahren rechtssoziologischen Denkens und Forschens sich kein klares, das Fach als solches konstituierendes Selbstverständnis davon gebildet hat, was die Identität der Rechtssoziologie sei.

Um diese Ebene der Selbstdeutungen angemessen beobachten zu können, wird das zweite Kapitel im Anschluss an die oben erwähnten Arbeiten David Kaldeweys eine wissenschaftssoziologische Position formulieren, von der aus der Begriff des Diskurses theoretische Gestalt gewinnt. Vor diesem Hintergrund werden auf zunächst abstrakter Ebene verschiedene Modelle von Interdisziplinarität skizziert, in denen das zentrale Probleme der Autonomie- und Praxisdiskurse bearbeitet werden könnte. Eines dieser Modelle kann als responsiv charakterisiert werden, da es ein symmetrisches, äquilibriertes Verhältnis beider Perspektiven formuliert. Auf dieser begrifflichen Grundlage können sodann die empirisch zu beobachtenden Interdisziplinaritätsdiskurse der Rechtssoziologie analysiert werden.

Kap. 3 wird sich zu diesem Zweck der eingangs schon erwähnten Entstehung der Rechtssoziologie aus dem Geiste der Rechtswissenschaft allgemein und der Privatrechtswissenschaft im Besonderen zuwenden. Dabei wird sich zeigen lassen, dass die Rechtssoziologie bereits in diesen Vorläufern und Anfängen durch eine asymmetrische Beschreibung von Interdisziplinarität geprägt war, die stets auf ein einseitiges Nutzenverhältnis zwischen Wissenschaft und Praxis abstellte. Diese Asymmetrie, so das Ergebnis der Rekonstruktion, ist der blinde Fleck in den Reflexionsdiskursen der Rechtssoziologie. Er beruht, und das macht gewissermaßen die Dramatik des Arguments aus, auf einer generellen Schwäche der allgemeinen soziologischen Reflexionstheorie. In der Gründungsphase der Rechtssoziologie etwa zwischen 1850 und 1930 entstehen in der deutschsprachigen Rechtssoziologie solche Selbstbeschreibungen vor allem entlang wissenschaftstheoretischer Kontroversen. Hier finden sich die Wurzeln der später dominanten Autonomie- und Praxiskonzepte in Gestalt privatrechtstheoretischer Gesellschafts-Konzepte, wie sich insbesondere Doris Schweitzers grundlegender Untersuchung juridischer Soziologien des neunzehnten Jahrhunderts (Schweitzer 2021) entnehmen lässt. Ihre Analysen reflexionstheoretischer Dispositive der Privatrechtswissenschaft und Kaldeweys wissenschaftssoziologische Studien (Kaldewey 2013) ermöglichen es, in den Reflexionstheorien der Rechtssoziologie Asymmetrien sichtbar zu machen, die nicht von den beiden Disziplinen gebildet werden, sondern auf konkurrierende Reflexions-Diskurse zurückgehen.

Damit läuft die Diagnose, wie mehrfach gesagt, der gängigen Lesart von der begrenzten Aufnahmebereitschaft des Rechts für die Soziologie („Soziologie vor den Toren der Jurisprudenz“, Lautmann 1971) diametral zuwider. Sie macht im Gegenteil eine konstitutive Schwäche soziologischer Theorie als Ursache der brüchigen Selbstkonzepte im Fach Rechtssoziologie aus. Diese Schwäche liegt in der schon früh angelegten mangelnden Aufmerksamkeit soziologischer Theorie für die Umwelt der Wissenschaft, die Praxis also. Sie beruht auf einem asymmetrischen Modell wissenschaftlicher Selbstbeschreibung, in welchem das System-Umweltverhältnis der Rechtssoziologie im Wesentlichen als Rezeption von soziologischem Wissen in Rechtspraxis und Jurisprudenz charakterisiert wird. Auf diesem Grundmuster basierten viele der seinerzeitigen Interdisziplinaritätsmodelle, ausgenommen allenfalls Weber und Geiger. Auch sie blieben jedoch reflexionstheoretisch im Ansatz stecken. Deutliche Differenzen gab es insgesamt hinsichtlich der Frage, wie die Asymmetrie reflexionstheoretisch zu behandeln sei. Die Identität der Rechtssoziologie nahm daher von Anfang an die Gestalt eines essentially contested concept (Gallie 1955) an.

Möglichen Einwänden vorbauend sei gesagt, dass die Bemerkungen des dritten Kapitels zur Gründungsgeschichte der Rechtssoziologie lediglich den Charakter von Andeutungen haben können. Sie sollen auf den Ursprung der Probleme hinweisen, welche das Feld seit Anfang an geprägt haben. Die rechtshistorisch und rechtstheoretisch informierte Leserschaft werden sie vermutlich nicht zufrieden stellen können. Denn in geschichtlicher Hinsicht schöpfen sie kaum aus der überreichen Fülle rechtshistorischer Analysen, sondern beschränken sich auf Skizzen, von denen nur zu hoffen ist, dass sie ein Minimum an Plausibilität entfalten. Was die juristische Rechtstheorie betrifft, so wird am Ende der Argumentation das sechste Kapitel auf den bereits angedeuteten schmalen Ausschnitt zurückgreifen, nämlich auf diejenigen Debatten, in denen die juristische Theorie des Rechts sich systemtheoretischer Konzepte bedient. Diese hohe Selektivität lässt sich allein mit der Hoffnung begründen, dass sie aus dem Gedankengang insgesamt sich wird rechtfertigen lassen.

Die grundlegende Problematik der Geschichte der Rechtssoziologie besteht dann, wie Kap. 4 zeigen wird, in der Tatsache, dass auf der Basis des zuvor Erreichten in einer sehr kurzen Phase der historischen Entwicklung vor allem in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg die soziologische Theorie des Rechts einen hohen Grad an Reflexivität und Responsivität erreicht hatte, sich aber in einem tendenziell theoriefeindlichen diskursiven Umfeld nicht durchsetzte, vielleicht deshalb den Rückzug in eine Reflexionstheorie reiner wissenschaftlicher Autonomie antrat und Praxisdiskursen fortan distanziert gegenüber stand. So hatte bereits Helmut Schelsky seine Rechtssoziologie auf die Vorstellung responsiver Interdisziplinarität gegründet, diesen Weg jedoch nicht weiter verfolgt. Niklas Luhmanns Werk zeichnet sich dann durch ein anhaltendes Interesse an einer soziologischen Theorie des Rechts aus. Seine rechtssoziologischen Überlegungen sind durchweg an die je aktuelle Entwicklung seiner soziologischen Systemtheorie gebunden. Der Abschied der Systemtheorie vom Recht vollzog sich vor diesem Hintergrund weniger auf der gegenstandstheoretischen Ebene, die bis heute im Kontrast zu anderen Theorieangeboten einen vollständigen, komplexen und sachhaltigen Zugang zu Strukturen, Funktion und Leistungen des Rechtssystems ermöglicht. Der Rückzug geschah vielmehr in Gestalt einer Reflexionstheorie, die sich dagegen entschied, Praxisdiskurse ernst zu nehmen. Nach anfänglich enger Bindung an juristische Rechtstheorien löste sich dieser Bezug umso mehr, je stärker Luhmann die Autonomie der (Rechts-) Soziologie betonte. Als in dieser Hinsicht entscheidende Phase kann man die 1970er Jahre verstehen, in denen sich diese Abgrenzung gegenüber Ansätzen einer responsiven Rechtssoziologie in Luhmanns Schriften durchzusetzen begannen. Aus der Binnenperspektive der Systemtheorie erschien dies zunächst wenig folgenreich, weil komplementär zur Rechtssoziologie eine soziologisch fundierte Rechtstheorie in Aussicht stand. Allerdings blieb deren Verwirklichung zu Luhmanns Lebzeiten Programm. Die reflexionstheoretische Perspektive gewann erst mit der posthumen Veröffentlichung von „Kontingenz und Recht“ (Luhmann 2013) einigermaßen an Konturen. In den rechtssoziologischen Schriften nach 1972 finden sich etliche Aussagen zur fundamentalen Inkongruenz juristischer und soziologischer Perspektiven vor dem Hintergrund eines reflexionstheoretischen Paradigmas der Rezeption soziologischen Wissens durch die Jurisprudenz. Unter dieser reflexionstheoretischen Oberfläche lassen sich jedoch, wie wir sehen werden, in den gegenstandstheoretischen Schriften Hinweise auf ein responsives Modell der Interdisziplinarität finden, die jedoch in Luhmanns Werk keine weiteren Folgen mehr nach sich zogen. Trotz erkennbarer Anhaltspunkte, etwa in „Das Recht der Gesellschaft“ (Luhmann 1993), erweist sich im Ergebnis die Entwicklung der Luhmannschen Rechtssoziologie nach 1972 als ein Abschied der soziologischen Systemtheorie von einer responsiven soziologischen Theorie des Rechts.

Die Ursachen für diesen Rückzug der Systemtheorie sind nicht ohne Weiteres identifizierbar. Entgegen anderen Erklärungsansätzen, die stärker auf sozialstrukturelle Bedingungen verweisen, wird Kap. 5 zu zeigen versuchen, dass sich die systemtheoretische Ablehnung eines rechtssoziologischen Praxisdiskurses aus funktionalistischer Perspektive als Reaktion auf ein reflexionstheoretisches Bezugsproblem begreifen lässt. Die Konfiguration der in der entscheidenden historischen Phase um 1970 vorherrschenden Reflexionsdiskurse wurde von hierarchischen, asymmetrischen Konzepten gebildet, die sich wechselseitig blockierten und jeweils untereinander keine produktiven Anschlussmöglichkeiten anboten. Die Systemtheorie sah sich, so die Vermutung, damals einem reflexionstheoretischen Trilemma gegenüber. Im Vergleich verschiedener funktional äquivalenter Lösungen kann die systemtheoretische Konzentration auf den Diskurs der Autonomie als eine möglicherweise besonders naheliegende Lösung interpretiert werden. Diese wurde allerdings mit dem Preis einer Abkehr der systemtheoretischen Soziologie von der interdisziplinären Arbeit am Recht bezahlt. Mit dieser Abwendung der systemtheoretischen Rechtssoziologie vom Modell der responsiven Interdisziplinarität vollzog sich nach den vielversprechenden Anfängen ein Abschied der soziologischen Theorie vom Recht insgesamt. Denn der systemtheoretische Rückzug hatte Folgen für die Rechtssoziologie. Es wird sich zeigen lassen, dass eine gewisse Sprachlosigkeit gegenüber dem Recht in vielen anderen soziologischen Theorien jenseits der Systemtheorie damals wie heute gang und gäbe ist. Aus diesem Grund hinterließ die Systemtheorie mit ihrer Entscheidung gegen eine responsive Reflexionstheorie eine relevante Lücke, die anderweitig nicht zu schließen war und in der Soziologie bis heute nicht geschlossen ist. Während beispielsweise Pierre Bourdieu und Michel Foucault das Recht begrifflich und systematisch vernachlässigten, schrieb Jürgen Habermas ihm zwar eine wichtige Rolle in seiner Gesellschaftstheorie zu, scheiterte aber an einem empirisch sachhaltigen Verständnis der Strukturen des Rechts. Umso gravierender wirkte sich deshalb der reflexionstheoretische Rückzug der Systemtheorie aus. Alle entsprechenden Anstrengungen wurden in der Folge mehr oder weniger eingestellt. Das Feld der Rechtssoziologie erlebte im deutschsprachigen Raum seit Mitte der 1970er Jahre einen unübersehbaren Niedergang. Dieser lässt sich, wie Kap. 2 zeigt, durch einige Daten belegen, spiegelt sich darüber hinaus aber vor allem auch in den Selbstbeschreibungen des Feldes seit den 1980er Jahren wider, vor allem im Zusammenhang mit der zeitweilig prominenten „Verwendungsforschung“. Dass im Schicksal der Rechtssoziologie ein allgemeineres Symptom zum Ausdruck kommen könnte, nämlich ein Verblassen soziologischer Theoriefähigkeit im Allgemeinen, ist in der Diskussion verschiedentlich bemerkt worden. Falls diese Lesart sich verdichten sollte, ließen sich unter Umständen daraus Schlüsse auf mögliche Ursachen für das Verschwinden soziologischer Randgebiete jenseits der Rechtssoziologie ziehen.

Wie oben bereits gesagt, sind jedoch nicht die Schwächen des Feldes, sondern die Potenziale einer responsiven Rechtssoziologie der Gegenstand unseres Interesses. Der Blick auf die Entwicklungsgeschichte des Feldes verhilft dazu, diese Potenziale deutlich hervortreten zu lassen. Denn diese als Spurensuche zu verstehende Theoriegeschichte wird reichhaltige Anhaltpunkte zu Tage fördern, mit Hilfe derer sich schließlich die Konturen einer responsiven soziologischen Theorie des Rechts zeichnen lassen. Diese Spuren finden sich, wie Kap. 6 deutlich machen wird, bis heute nicht im Mainstream der Soziologie, für welche die Rechtssoziologie nicht mehr bedeutet als eine wenig bedeutsame Marginalie. Hinweise auf reflexionstheoretische Innovationen ergeben sich vielmehr an den Rändern oder in der Umwelt der Soziologie, vor allem in der neueren soziologischen Jurisprudenz. In einigen Denkbewegungen lassen sich dort Elemente einer responsiven juristischen Theorie des Rechts und seiner Umwelt identifizieren, die eine reflexionstheoretische Neuorientierung in der systemtheoretischen Soziologie des Rechts motivieren können.

Zum Beispiel entwickelt die soziologische Jurisprudenz heute Perspektiven, die sich vor allem als wiedererstarktes Interesse an soziologischer Theorie des Rechts bemerkbar machen. Sie enthalten keine explizite Reflexionstheorie, lassen sich also nicht als Antworten auf unsere zentrale Frage nach einem viablen Konzept rechtssoziologischer Selbstbeschreibung interpretieren. Allerdings weisen sie den Weg zu soziologisch und reflexionstheoretisch fruchtbaren Ansätzen. Sie gehen aus den Debatten zur Folgenorientierung, zur responsiven Dogmatik, zum reflexiven Recht und zur kritischen Systemtheorie hervor und repräsentieren eine Form soziologischer Jurisprudenz, die heute, anders als in ihren Ursprüngen juristische Rechtstheorie und soziologische Theorie produktiv verbindet.

Die aus der Diskursanalyse resultierende Suchbewegung richtet sich damit insgesamt auf Lernmöglichkeiten in Reflexionstheorien und gegebenenfalls dann in den auf sie zugeschnittenen Fachtheorien. Soweit man diesen Weg für erfolgversprechend hält, wäre ein Anhaltspunkt gewonnen, nicht nur nach den „Theoriekatastrophen“ zu fragen, die eine Immunisierung der Rechtsdogmatik gegenüber der Sozialtheorie verursacht haben. Vielmehr könnte es gelingen, eine den anspruchsvollen Stand der Theorieentwicklung nicht unterlaufende soziologische Theorie des Rechts zu entwerfen, die komplementär zu dem in der Rechtstheorie erreichten Stand sich auf der soziologischen Seite mit juristischen Rechtstheorien, mit Wissenstransfer und der Eigennormativität der Funktionssysteme auseinandersetzt.

Die Kapitel des zweiten Bandes knüpfen an diese Argumentation an. Sie werden anhand von Einzelstudien auf verschiedenen rechtssoziologischen Forschungsgebieten die Möglichkeiten einer solchen responsiven soziologischen Theorie des Rechts exemplarisch beleuchten und ebenso danach fragen, welche allgemeinen, über die Einzelaspekte hinausreichenden Konsequenzen sich aus den empirischen Beobachtungen ziehen lassen. Die Beiträge dazu speisen sich aus den Erfahrungen von vier Jahrzehnten rechtssoziologischer Forschung. Sie werden im zweiten Band neu zusammengestellt unter anderem auch in der Absicht, mit dem verbreiteten Fehlurteil aufzuräumen, aus der soziologischen Systemtheorie heraus ließen sich keine empirischen Studien konzipieren. Dass dies jedenfalls für die Rechtssoziologie nicht zutrifft, lässt sich zeigen, überdies aber auch, dass diese nicht in beobachtender Distanz gegenüber der rechtswissenschaftlichen Praxis verharren muss. Responsive Rechtssoziologie greift rechtstheoretische Fragen auf und macht sie soziologisch relevant. Die responsive soziologische Theorie des Rechts erweist sich so als interdisziplinär gewinnbringende Integration von Autonomie und Praxis.