An den Schilderungen der Interviewten wird deutlich, dass Eingliederungsarbeit – zumindest zu einem gewissen Anteil – Rechtfertigungsarbeit bedeutet. Diese wird einerseits durch das Argumentieren und Begründen in Aushandlungssituationen geleistet, andererseits durch das Vorwegnehmen von Rechtfertigungsbedarf und die Orientierung an den dominierenden Rechtfertigungslogiken durch ein an sie angepasstes Verhalten. Den Begriff der „Arbeit“ verwende ich hier im breiten Sinn, wie ihn Thomas Luckmann (2002, S. 99) als Grundkategorie der „sozialen Konstruktion und Destruktion von Wirklichkeit“ bestimmt hat. Arbeit ist also jede Form des Handelns, die auf eine bestimmte Wirkung in der (sozialen) Umwelt ausgerichtet ist. Zudem betont der Begriff der Arbeit den Aufwand, den Akteurinnen betreiben müssen, um das Ziel – eine Eingliederung als legitim erscheinen zu lassen – zu erreichen.

Nach dem von Boltanski und Thévenot (2007[1991]) entwickelten Modell des Rechtfertigungshandelns müssen Akteurinnen sich auf Prinzipien mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit berufen, um ihre Argumente als gerecht und angemessen erscheinen zu lassen. Dazu beziehen sie sich auf kollektive Rechtfertigungsordnungen, also Konventionen. Je nach Konvention erfordert das „Bemühen um Verallgemeinerung“ eine spezifische Art von „Beweisstücken“ und „Stimmigkeit ihrer Verknüpfung“ (Boltanski und Thévenot 2007, S. 20). Der Erfolg des Rechtfertigungshandelns hängt von „Arrangements“ ab, die die Objekte (Beweisstücke) mit Allgemeinheit ausstatten.

In der Beurteilung von Beschäftigten mit psychischen Gesundheitsproblemen ziehen Akteurinnen eine Pluralität an Kriterien heran, um getroffene Maßnahmen zur Reintegration zu rechtfertigen. Explizite Rechtfertigungen werden in den Interviews insbesondere von Vorgesetzten formuliert. Manche Fallerzählungen von Vorgesetzen nehmen sich als ausgeprägte Rechtfertigungserzählungen aus, d. h. sie scheinen in ihrem Aufbau und ihrer Argumentation darauf ausgelegt, dass die schlussendlich getroffenen Wiedereingliederungsentscheidungen nachvollziehbar und angemessen erscheinen. Anhand der Fallerzählungen von Betriebsärzten argumentiert Dodier (1993, S. 44), dass in ihnen die Konventionen sichtbar werden, nach denen die Erzählenden den Fall einer erkrankten Beschäftigten beurteilen. Analog gehe ich in dieser Studie davon aus, dass sich die im Betrieb gängigen Kriterien, nach denen die Einschätzung einer Arbeitsunfähigkeit und Entscheidungen bezüglich Weiterbeschäftigung gerechtfertigt werden, anhand der retrospektiven Fallerzählungen verschiedener betrieblicher Akteurinnen rekonstruieren lassen.

Im Datenmaterial zeigt sich, dass verschiedene in einen Fall involvierte Akteure oft dieselben Rechtfertigungen vorbringen. Inhaltlich beziehen sie sich sowohl auf die Qualität von Personalmaßnahmen als auch auf die Qualitäten der betroffenen Beschäftigten. Zur Begründung für die Angemessenheit von Maßnahmen verweisen die Akteurinnen unter anderem auf die in Abschn. 5.3.3 thematisierten Erklärungen über Ursachen, wie es zu einer Erkrankung kam. Auch in den Schilderungen von Beschäftigten zeigen sich spezifische Rechtfertigungsmuster. Zum einen formulieren auch sie explizite Rechtfertigungen, warum ihre Wiedereingliederung angemessen war, zum anderen zeigt sich, dass sie sich in ihrem Verhalten und ihrer Selbstpräsentation an den Kriterien der Bewertung ausrichten, die in den Interviews mit ihren Vorgesetzten und BGM-Verantwortlichen deutlich werden (vgl. Abschn. 6.1.2). So erwähnen sie Handlungen, mit denen sie die Beurteilung ihres Falls positiv beeinflussten. Im Umkehrschluss ergeben sich aus den im Betrieb gängigen Rechtfertigungslogiken in Bezug auf die weitere Beschäftigung und Wiedereingliederung psychisch erkrankter Beschäftigter Erfordernisse an das Verhalten der Betroffenen, die sie erfüllen müssen, um sich vorteilhaft zu positionieren, sofern sie eine Wiedereingliederung im Unternehmen wünschen.

Die empirisch vorgefundenen Kriterien der Beurteilung betreffen primär das Verhalten der Betroffenen, sowie ihre guten Beziehungen zum Arbeitgeber (Abschn. 6.1) und ihre Arbeitsleistung (Abschn. 6.2). Diese Kriterien lassen sich, wie ich im Anschluss an die Präsentation des Materials und der empirisch begründeten Kategorien argumentieren werde, mit den Konventionen des Hauses, der Industrie, sowie des Marktes in Verbindung bringen.

1 Verhalten und Beziehungen

1.1 Betriebliche Krankenrolle: Genesungs- und Arbeitswille

Die Kriterien, nach denen Akteure im Betrieb die Wiedereingliederung und weitere Beschäftigung von erkrankten Mitarbeitenden rechtfertigen, treten besonders deutlich hervor, wenn Führungskräfte oder BGM-Verantwortliche Fälle als außergewöhnlich positive oder negative Verläufe schildern. Einen „mustergültigen“ Verlauf beschreibt nach eigener Formulierung der Vorgesetzte Hans Schmid. Auf die im Interview gestellte Frage, wie es zur Krankschreibung einer Mitarbeiterin kam, antwortet er zunächst mit einer Beschreibung der Betroffenen, aus der ihre Qualitäten als Arbeiterin hervorgehen:

Ja bei ihr ist es eigentlich sehr ... sehr interessant, oder respektive, ja es ist ja eigentlich, aus dem Nichts heraus ist es gekommen, ich habe sie als sehr eine ... sehr eine aufgestellte, eine junge aufgestellte Person kennengelernt, als sie hierhin gekommen ist und die hat das, ja, man hat eigentlich nie irgendetwas gemerkt, dass etwas nicht so wäre, also sie hat den Job super erledigt und ist sehr flexibel gewesen, man hat sie an allen Orten rein ... reingeben können, und so weiter und ... sie hat auch nie einmal zu mir gesagt, ja, nein, das mache, mache ich jetzt nicht oder irgend so etwas, sondern sie ist eigentlich äußerlich … hat man auch das Gefühl gehabt, es ist ihr immer wohl gewesen

Hans Schmid beschreibt den generellen Eindruck, den die Betroffene als Arbeiterin auf ihn gemacht hat. Dieser Eindruck scheint ein wichtiger Hintergrund zu sein, vor dem er sich einen Reim auf die Krankschreibung und den mehrmonatigen Arbeitsausfall macht. Dass er diese Beschreibungen der Schilderung des Fallverlaufs vorausschickt, lässt darauf schließen, dass es sich dabei um Rahmenbedingungen handelt, unter deren Blickwinkel er ihren Fall verstanden haben will. Hans Schmid erwähnt, dass die Erkrankung für ihn „aus dem Nichts“ kam – es also keine problematische Vorgeschichte gab. Zudem hebt er den positiven Gemütszustand der Betroffenen hervor: sie war „aufgestellt“ und man hatte das Gefühl, es sei ihr „immer wohl gewesen“. Nichts deutete auf eine Depression hin. Zudem lässt sich aus diesen Emotionen ableiten, dass sie grundsätzlich positiv zur Arbeit und zum Unternehmen eingestellt war. Darüber hinaus erwähnt Hans Schmid seine Zufriedenheit mit ihrer Arbeitsleistung und lobt ihre Bereitschaft, verschiedene Aufgaben zu übernehmen. Damit zeichnet er das Porträt einer fast schon idealen Arbeiterin. Dieses Bild steht in einem starken Kontrast zu einer während der Datenerhebung im Personalmanagement des Industriebetriebs laufenden Diskussion über die Problematik einer überalterten und tendenziell überforderten Belegschaft. Man habe unter den ungelernten Produktionsmitarbeitenden viele, die „psychisch labil“ seien und die man nicht genug flexibel einsetzen könne, erklärten verschiedene betriebliche Akteure, u. a. im Rahmen der BGM-Sitzung, bei der ich teilnehmend beobachten konnte (vgl. Kap. 8). Mit der zitierten Charakterisierung grenzt Hans Schmid seine Mitarbeiterin klar von dieser Problemkategorie ab. Er betont ihren vorbildlichen Charakter auch an weiteren Stellen im Interview, indem er wiederholt auf ihren ausgeprägten Arbeitswillen und damit verbunden, ihren Willen, sich möglichst rasch von der Krankheit zu erholen, verweist:

für mich schon so ein bisschen ein mustergültiger Verlauf, den sie jetzt gemacht hat. Oder, sie hat immer gewollt, von Anfang an, sie hat immer gesagt, ich will mir helfen lassen, ich will das, und hoffentlich finde ich jemand Gutes, der mir helfen kann, ... ich bin noch so jung, ich will noch arbeiten können, ich muss noch viele Jahre arbeiten und so, das hat sie IMMER gesagt, sie hat die Hilfe immer angenommen, sie hat nie ... sie hat nie die Hilfe abgelehnt

Damit grenzt Hans Schmid die Mitarbeiterin von einem weiteren Negativklischee ab: von der Unterstellung, Betroffene könnten ihre Krankheit als Vorwand nutzen, sich vor der allgemeinen Arbeitspflicht zu drücken und es stattdessen auf Sozialleistungen abgesehen haben. Seine Mitarbeiterin habe beteuert, sie wolle und müsse noch etliche Jahre arbeiten. Neben dem Arbeitswillen der Erkrankten hebt er außerdem ihren Willen, „Hilfe“ anzunehmen, als positiv hervor, was konkret heißt, eine Therapie zu machen und Medikamente einzunehmen. Damit ist die Kooperation der Betroffenen in der Wiederherstellung ihrer Arbeitsfähigkeit angesprochen. Ihr Arbeitswille ist, in anderen Worten, so ausgeprägt, dass sie sich aktiv darum bemüht, wieder gesund zu werden, um wieder arbeiten zu können. Der Vorgesetzte idealisiert also die Betroffene in dieser Darstellung als vorbildliche Arbeiterin und vorbildliche Kranke.

In dieser Konstruktion eines „mustergültigen“ Verlaufs durch den Vorgesetzten sind Erwartungen enthalten, die Talcott Parsons als Teil der Krankenrolle beschrieben hat. Parsons versteht Krankheit als eine Form von Devianz und beschreibt die Krankenrolle – ein Set institutionalisierter Erwartungen, entsprechender Gefühle und Sanktionen – als einen Mechanismus sozialer Kontrolle (Parsons 1952, S. 436 ff., 477). Die Krankenrolle gesteht den Kranken auf der einen Seite spezielle Privilegien zu, knüpft diese aber auf der anderen Seite an das Erfüllen von Verhaltenserwartungen. Kranke werden von ihren üblichen Verpflichtungen und Verantwortungen, an erster Stelle der Arbeitspflicht, befreit und ihre Krankheit wird als unverschuldet betrachtet. Im Gegenzug wird von Kranken erwartet, dass sie so rasch wie möglich gesund werden wollen und ihren Zustand nicht dazu ausnutzen, sich ihren Verpflichtungen länger als nötig zu entziehen. Zudem wird erwartet, dass sie medizinische Hilfe in Anspruch nehmen und alle Behandlungen akzeptieren, die als förderlich für ihre Genesung gelten. Die Gültigkeit einer solchen Krankenrolle wurde von vielen Seiten in Frage gestellt: so werden tabuisierte Erkrankungen, also z. B. psychische Krankheiten, nicht in jedem Fall als unverschuldet angesehen. Für chronisch Kranke trifft zudem die Befreiung von alltäglichen Verpflichtungen nur begrenzt zu (Levine und Kozloff 1978, S. 236; Freidson 1970, S. 326). Außerdem bestehen Zweifel daran, ob Kranksein in der heutigen Arbeitswelt noch mit den genannten Privilegien verbunden ist, weil im Zuge der Entgrenzung von Arbeit, durch flexibilisierte Arbeitszeiten und unter gesteigertem Leistungsdruck Schonzeiten und -räume wegfallen und weil mit dem Aufkommen von Gesundheitsprävention die Verantwortung für Gesund- bzw. Kranksein tendenziell dem Individuum zugeschrieben wird (Voswinkel 2017b, S. 98 ff.).

Obwohl diese Einwände berechtigt sind, gilt für Beschäftigte, die sich krankschreiben lassen, dass sie – zumindest zu einem gewissen Ausmaß und vorübergehend – von der Arbeitspflicht befreit werden. Dieses Privileg ist durch den rechtlichen Status, den eine ärztliche Krankschreibung verleiht, gesichert und darüber hinaus in den drei Unternehmen durch die betriebliche Sozialleistung der freiwilligen Lohnfortzahlung verankert. Bezüglich der Erwartungen, die an Kranke gerichtet werden, ist für die drei untersuchten Unternehmen festzuhalten, dass diese über die Erwartungen nach Parsons’ Konzeptualisierung sogar noch hinausgehen. Von Krankgeschriebenen wird nicht nur erwartet, dass sie im Hinblick auf ihre schnellstmögliche Genesung kooperieren, sondern auch, dass sie sich bemüht zeigen, rasch ihr früheres Arbeitspensum wieder zu bewältigen und die Unannehmlichkeiten für den Betrieb so gering wie möglich ausfallen zu lassen. Die Erwartungen, die diese betriebliche Krankenrolle umfasst, werden in den Formulierungen von Vorgesetzten und BGM-Verantwortlichen sichtbar, in denen sie das Verhalten von Erkrankten loben oder kritisieren. Zu den Erwartungen an erkrankte Beschäftigte gehört das Aufrechterhalten des Kontakts zum Betrieb während der Zeit der Krankschreibung, sowie diesen regelmäßig mit Informationen über den Gesundheitszustand zu versorgen. Eine BGM-Verantwortliche der Celestia berichtet über eine Sachbearbeiterin:

also sie ist ja dann in die Klinik gekommen und ich habe dann mit ihren Ärzten Kontakt gehabt und habe gesagt, schau, sobald du weißt, wann du wieder zurückkommst, und sie hat UNS immer informiert, also das hat sie IMMER gemacht und der Vorgesetzte ist auch immer sehr gut im Austausch gewesen mit ihr

Beschäftigte, die während ihrer Abwesenheit über den Krankheitsverlauf und die Prognosen informieren, gelten als kooperativ, weil sie ihren Vorgesetzten die Personalplanung erleichtern. Wenn sie jedoch während der Zeit der Krankschreibung den Kontakt abbrechen, kann dies als Anzeichen mangelnder Kooperation gedeutet werden. Eine Vorgesetzte der Komfortia, Gerda Rensch, erinnert sich an ihren Mitarbeiter Ugo Mantovani:

ich habe keinen Kontakt mehr aufnehmen können zu ihm, oder, er hat wie abgeblockt, zugemacht, hat keinen Kontakt mehr zugelassen und das ist also so weit gegangen, mit der Nicole WagnerFootnote 1 zusammen, dass wir ihm dann quasi nach vier Wochen, in denen wir keinen Kontakt mehr mit ihm gehabt haben, einen eingeschriebenen Brief geschickt haben und gesagt haben, also entweder meldest du dich jetzt oder du bist entlassen. Also das ist ein bisschen heftig, das weiß ich, ... aber grundsätzlich haben Leute, die krank sind, auch gewisse Pflichten und zu ihren Pflichten gehört auch, dass sie sich beim Vorgesetzten melden, sodass ich eben auch planen kann und das ist bei ihm nicht mehr passiert, und ich habe probiert mit ihm Kontakt aufzunehmen, und ... er hat mich abgeblockt. Und das hat dann einfach dazu geführt, dass wir gesagt haben, hey, also entweder meldest du dich jetzt, hast du Interesse an uns oder du meldest dich nicht mehr, aber dann ist für uns ... gerade sofort beendet, oder.

Das Nichterfüllen der Pflichten als kranker Beschäftigter wird in diesem Fall mit dem Entzug des Privilegs des informellen Kündigungsschutzes, konkret: mit der Androhung einer Entlassung, sanktioniert. Das Aufrechterhalten des Kontakts zu Vorgesetzten oder anderen betrieblichen Akteuren gilt nicht nur als Zeichen für Kooperation, sondern auch als Signal, dass die Betroffenen die Beziehung zum Unternehmen aufrechterhalten wollen. Der Leiter einer Versicherungsagentur erzählt von einer Mitarbeiterin:

es ist auch in dieser Phase drin, als sie arbeitsunfähig gewesen ist, ist sie auch trotzdem ans Jahresessen gekommen, also sie hat den Kontakt schon gepflegt, und ... ich glaube, emotional, sie ist identifiziert mit der Firma, es ist nicht der Druck, Komfortia und ich will hier nicht mehr.

Der Vorgesetzte interpretiert die Teilnahme am Firmenanlass als Indiz, dass sie sich weiterhin mit dem Unternehmen verbunden fühlt. Daraus leitet er ab, dass ihre Krankheit nichts mit einer möglichen Ablehnung ihrer Arbeitsstelle zu tun haben kann. Positiv konnotiert ist zudem, wenn erkrankte Beschäftigte bei ihrer Rückkehr offen über ihre Krankheit sprechen. BGM-Verantwortliche heben außerdem das erkennbare Bemühen, möglichst schnell wieder arbeiten zu kommen, als positiv hervor. Eine BGM-Verantwortliche lobt das Verhalten der Sachbearbeiterin Hannah Bachmann:

sie ist doch auch jemand gewesen, den ich immer mal wieder habe stoppen müssen, ich will DAS noch machen, und JENES, und ich, jetzt wirst du einfach zuerst einmal GESUND. Oder, jetzt schaust du dir einfach zuerst einmal selbst, also sie ist schon jemand gewesen, den ich immer mal habe ... BREMSEN müssen. Wo auch die Ärztin ihres geleistet hat und gesagt hat, nein, Frau Bachmann, jetzt warten wir noch ... einen Monat, wo Hannah doch immer, immer noch gewollt hat.

Das Bemühen um einen raschen Wiedereinstieg wird von der BGM-Verantwortlichen als so stark wahrgenommen, dass sie die erkrankte Mitarbeiterin darin „bremsen“ und sie an ihre primäre Pflicht, das Gesundwerden, erinnern musste. Auch wenn sie dieses Verhalten als riskant bezüglich eines möglichen Rückfalls beurteilt, wertet sie es als positives Signal, weil sich darin zeigt, wie sehr die betroffene Mitarbeiterin an ihre Stelle im Betrieb zurückkehren will. Als positives Zeichen erwähnen einige Vorgesetzte auch den emotionalen Ausdruck der Betroffenen beim Wiedereinstig oder nach der Wiedereingliederung. Hans Schmid berichtet von der gelungenen Wiedereingliederung einer Mitarbeiterin:

Sie ist eigentlich, man merkt ihr nichts an und ich habe sie einmal gefragt am Mitarbeitergespräch, ob sie ... noch Medikamente nehmen müsse ... und sie ... mir hat sie gesagt, nicht. Und es sei eigentlich alles gut, und sie sei glücklich, sie sei zufrieden, so wie es ist.

Dass die Mitarbeiterin sagt, sie sei „glücklich“, deutet darauf hin, dass sie ihre Krankheit überwunden hat und legt nahe, dass es ihr bei der Arbeit gefällt. Die Zufriedenheit der Mitarbeiterin wird im Zitat wie ein Indiz für die gelungene Wiedereingliederung ins Feld geführt. Darüber hinaus nimmt der Vorgesetzte die Aussage, dass sie keine Medikamente mehr nehmen muss, als weiteren Hinweis für ihre Genesung auf. Die Frage nach Medikamenten überhaupt zu stellen, kann als Übergriff in den privaten Bereich betrachtet werden.

Wenn Vorgesetzte den Eindruck erwähnen, Beschäftigte wirkten in ihrem Job unglücklich, kann dies umgekehrt Teil einer Begründung sein, weshalb eine Wiedereingliederung nicht gewünscht und eine weitere Beschäftigung nicht angestrebt wird. Gerda Rensch berichtet über Ugo Mantovani, dessen Arbeitsvertrag aufgelöst wurde:

Und bei Ugo Mantovani bin ich einfach nie ganz sicher gewesen, ob diese diffusen Schmer- Beschwerden nicht doch etwas mit der Arbeitsstelle zu tun haben, dass er nicht so ganz glücklich ist mit der Arbeit, die er bei uns macht, oder mit dem Umfeld, ich habe es nicht einordnen können. Und weil ich, wir es nicht mehr richtig einordnen haben können und weil wir eben auch nicht ganz sicher gewesen sind, und weil die Belastung eben auch zu groß geworden ist für das Team, haben wir gesagt, jetzt ist die Auflösung vom Arbeitsvertrag.

Die Vorgesetzte deutet die Beschwerden ihres Mitarbeiters als möglichen Ausdruck eines Widerwillens gegen seine Arbeitsstelle. Sie bemerkt, dass er „nicht so ganz glücklich“ gewirkt habe in seiner Arbeit. Die Frage, ob jemand in seiner Arbeit glücklich ist, erinnert an den Diskurs zur Selbstverwirklichung in der Arbeit (Honneth 2004). Ugo Mantovanis Job in der für die Bearbeitung von Schadenfällen zuständigen Abteilung der Versicherung hat einen hohen Anteil repetitiver Tätigkeiten ohne Gestaltungsspielräume. Vor diesem Hintergrund wäre es fast schon zynisch, ihm vorzuwerfen, dass er sich in seiner Arbeit nicht verwirkliche. Das Kriterium des Glücklichseins erscheint insofern eher als metaphorischer Ausdruck für den unterstellten fehlenden Arbeitswillen des Mitarbeiters.

Schließlich besteht eine weitere Erwartung an erkrankte Beschäftigte darin, dass sie sich gegenüber der ihnen vom Unternehmen gewährten Wiedereingliederungsangebote dankbar und bescheiden zeigen, also keine weitergehenden Ansprüche stellen. Der Personalchef und der Produktionsleiter des Industriebetriebs berichteten bei einer BGM-Sitzung vom Fall einer langjährigen Mitarbeiterin, deren Arbeitsfähigkeit nach einer psychischen Erkrankung auf 50 % festgelegt wurde. Nach der Meinung des Produktionsleiters hätte die Betroffene für die Steigerung ihrer Arbeitsfähigkeit „mehr tun“ können. Der Betrieb bot ihr zur „Entlastung“ eine Anpassung der Aufgaben an, die sie auch annahm. Der Personalchef kritisiert in seiner Falldarstellung, dass sie trotzdem ihre angestammte Funktion als stellvertretende Leiterin ihrer Gruppe behalten wollte. Hier sei ihm bewusst geworden, dass sie „auswähle“ und dass etwas „nicht stimmt“ (Aussagen gemäß Feldnotizen). Ein wählerisches Verhalten, das Privilegien als selbstverständlich annimmt und darüber hinaus weitere Ansprüche stellt, führt aus seiner Sicht zu einer unstimmigen Situation.

Die Erwartungen, an denen erkrankte Beschäftigte in den zitierten Fallschilderungen gemessen werden, lassen sich als Erkennbarkeit eines Arbeits- und Genesungswillens, sowie als kooperative, affirmative und dankbare Haltung gegenüber dem Betrieb zusammenfassen. Die Angemessenheit von Wiedereingliederungsbemühungen wird in den Zitaten aus dem Willen der Betroffenen abgeleitet: Der Produktionsleiter des Industriebetriebs hält in der erwähnten Sitzung fest, dass man gegenüber „schwachen“ Angestellten „fair“ sei, solange sie einen „Willen“ zeigen. Die Stimmigkeit der Situation hängt also davon ab, dass sich die Beschäftigten im Hinblick auf ihre soziale Position als kranke Angestellte angemessen verhalten, die damit verbundenen Pflichten erfüllen und dass sie durch ihren Willen die Verbundenheit mit dem Unternehmen bekräftigen. Auf dieser Grundlage gewähren ihnen die Arbeitgeber Privilegien, wie die Anerkennung ihrer Befreiung von der Arbeitspflicht und spezielle Anpassungen von Aufgaben. Diese Art, die Stimmigkeit einer Situation zu beurteilen, lässt sich der häuslichen Konvention nach Boltanski und Thévenot zuordnen, der zufolge sich die „Größe“ von Personen daran bemisst, dass sie entsprechend ihrer Position in der sozialen Hierarchie ihre Pflichten wahrnehmen: die „Kleinen“ sind gegenüber den „Großen“ zu Treue verpflichtet, während diese die Verantwortung für sie tragen. „Gute Manieren“ und „Takt“ haben nach der Konvention des Hauses Konsequenzen für die berufliche Position von Angestellten (Boltanski und Thévenot 2007, S. 235). Grundlage für die Beurteilung von Personen sind persönliche Beziehungen und das Vorhandensein eines Vertrauensverhältnisses zu den Vorgesetzten, was sich in den zitierten Falldarstellungen darin zeigt, dass die Offenheit der Erkrankten, sowie ihre Bemühungen, die Beziehung zur Arbeitgeberin aufrechtzuerhalten, gelobt werden. Auch die Art der Beweisführung – ein Lob oder das Erzählen eines „mustergültigen“ Verlaufs – entspricht den Formen der häuslichen Konvention, bei der sich das Urteil auf folgende Formen der Evidenz stützt: „das Beispiel, de[n] Einzelfall und insbesondere die Anekdote, in der das vorbildliche Verhalten einer allgemein geschätzten Person festgehalten und herausgestellt wird.“ (Boltanski und Thévenot 2007, S. 243, Hervorhebungen i. O.). Im Kontext dieses Typs von Rechtfertigung weisen die Akteure, wie auch im eingangs dargestellten Fallbeispiel, typischerweise auf den Arbeitswillen der Betroffenen hin.Footnote 2

Rechtfertigungen nach diesem Muster kamen in den Falldarstellungen in vier Fällen des Samples prominent vor. Eingliederungsmaßnahmen werden hier primär über das verdienstvolle Verhalten der Betroffenen begründet und nicht über betriebswirtschaftliche Kriterien, wie z. B. die effiziente Gestaltung des Produktionsprozesses. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die weitere Beschäftigung in diesen Fällen ausschließlich über die häusliche Konvention gerechtfertigt wird. Neben dem Verweis auf das angemessene Verhalten und die Beziehung zur Firma erwähnen die Akteurinnen, wie sich in den zitierten Beispielen gezeigt hat, auch manchmal die Arbeitsleistungen der Betroffenen. Die weiter zu erwartende Arbeitsleistung ist ein wichtiges Kriterium für die Planbarkeit und Effizienz des Produktionsprozesses und lässt sich mit der industriellen Konvention in Verbindung bringen (Abschn. 6.2). Es zeigt sich also, dass im selben Fall verschiedene Konventionen als Rechtfertigung herangezogen werden und dass die Akteurinnen solche Bezüge situativ handhaben und gewichten.

1.2 Zumutungen für die erkrankten Beschäftigten

Die betroffenen Beschäftigten sind nicht bloß passive Objekte der Beurteilung. Einige Interviewte tragen aktiv dazu bei, dass sie im kollektiven Urteil als positiv eingestellte, arbeits- und genesungswillige Arbeitnehmende erscheinen. Sie tun dies in erster Linie, indem sie sich an Verhaltenserwartungen orientieren, die an sie gerichtet werden. Das Ausfüllen der Rolle eines „guten“ kranken Beschäftigten bzw. einer gut Wiedereingegliederten kann die Anforderung beinhalten, positive Gefühle im Hinblick auf die Firma und die Arbeit zur Schau zu stellen, also Emotionsarbeit zu leisten. Die betriebliche Krankenrolle einzunehmen, entspricht nicht nur einer normativen Erwartung der Arbeitgeber, sie hat auch für die Betroffenen gewisse Vorteile. Die Definition als medizinisches Problem entkräftigt eine mögliche Interpretation der eingeschränkten Arbeitsfähigkeit als Ausdruck persönlichen Versagens und entlastet die Betroffenen vom potenziellen Vorwurf, für sie mitverantwortlich zu sein.Footnote 3 Einige Interviewte verwenden zur Beschreibung ihrer persönlichen Verfassung eine objektivierende medizinische Sprache und betreiben damit die Strategie einer „Normalisierung“ der Erkrankung: sie begegnen der Stigmatisierung psychischer Erkrankungen, indem sie sie wie jede andere behandeln (Voswinkel 2017b, S. 104).

Die Erwartungen der betrieblichen Krankenrolle zu erfüllen, ist jedoch auch mit Zumutungen verbunden. Durch ein bewusst kooperatives Verhalten tragen Betroffene zum Eindruck bei, dass sie arbeitswillig sind und sich um eine gute Beziehung zum Arbeitgeber bemühen. Dies kann zum Dilemma führen, auf Erwartungen einzugehen, die einen angesichts des gesundheitlichen Zustands noch überfordern. Nach Voswinkel (2017b, S. 105) fällt es besonders Depressiven schwer, die Erwartung der Krankenrolle, sich um die eigene Genesung und den Wiedereinstieg zu bemühen, zu erfüllen. Er resümiert, dass ihnen die Krankenrolle nicht dieselbe Entlastung bringt wie anderen Betroffenen. So geht es Irina Cerny, einer Mitarbeiterin des Industriebetriebs. Sie wurde von ihrem Vorgesetzten gebeten, während der Zeit ihrer Krankschreibung regelmäßig im Betrieb vorbeizukommen und ihr ärztliches Attest persönlich vorbeizubringen. Irina Cerny erzählt, dass dies für sie mühsam gewesen sei. Zum einen habe sie sich aufgrund ihrer Panikattacken kaum aus dem Haus getraut, zum anderen fühlte sie sich unwohl, weil sie davon ausging, dass man im Betrieb von ihrer Krankschreibung wusste, ihr aber körperlich nichts anzusehen war.

Also es ist mir schwer gefallen, weil erstens, ich muss ALLEINE hierhin kommen, und was ist, wenn jetzt eben auf dem WEG etwas passiert? und (1) es ist einfach das, am Anfang das HIER sein. Ich habe immer das Gefühl gehabt, die im Büro und alles WISSEN, also dass ... dass ich nicht ARBEITE und wie mein Vorarbeiter gesagt hat, wenn es psychisch ist, sieht man es einem ja nicht an ... man kann es schlecht beweisen.

Auch andere Betroffene berichten, dass sie während der Zeit ihrer Krankschreibung eigentlich als übergriffig empfundene Kontaktanfragen des Unternehmens beantworteten, um als kooperativ zu erscheinen.

Um der Anforderung eines kooperativen Verhaltens zu genügen, müssen Beschäftigte außerdem den Eindruck erwecken, alle möglichen medizinischen Mittel, die ihrer raschen Genesung dienen könnten, auszuschöpfen. Aus Angst vor Stigmatisierung, wollen einige Beschäftigte jedoch keine psychotherapeutische Behandlung oder sie lehnen eine Behandlung mit Psychopharmaka ab. Versuche von Arbeitgeberinnen, ihre diesbezügliche Haltung zu beeinflussen, nehmen sie als Eingriff in ihre autonome Entscheidungssphäre wahr. Irina Cerny erinnert sich an eine Personalverantwortliche, die ihre eine medikamentöse Behandlung nahelegte:

Sie hat mich davon überzeugen wollen, ich solle eben Tabletten nehmen, und sie kenne viele, die das machen, und ... und ich so, NEIN, ich nehme die nicht. Ich will nicht, weil ich kenne AUCH Leute, die die genommen haben und anscheinend haben sie denen ... NICHT so geholfen.

Irina Cerny beugte sich aber dann den Erwartungen der Personalverantwortlichen, zumal auch ihre Therapeutin sie zu einer medikamentösen Behandlung drängte. Sie resümiert:

Im Nachhinein habe ich mir auch gedacht, diese Personalverantwortliche hat es ja auch nur GUT gemeint. Die hat mich ja nicht auf Medikamente setzen wollen sozusagen, ist ja trotzdem meine Entscheidung, also ja.

Nach der gelungenen Wiedereingliederung beurteilt sie das Verhalten der Personalverantwortlichen milde als gut gemeinten Versuch, ihr zu helfen. Dies entspricht ihrer grundsätzlichen Haltung, die Beziehung zum Arbeitgeber nicht mit Vorwürfen und Kritik zu belasten und sich für das Angebot zur Wiedereingliederung dankbar zu zeigen:

Die haben auch viel Verständnis gehabt. Also es gibt Firmen, die hätten das glaub nicht lange mitgemacht. Gleich ersetzen.

Zumindest zu einem gewissen Anteil ist diese Haltung als strategisch einzuordnen, zumal sie auf einen Statuserhalt hinwirkt. Gewisse Verhaltensweisen von Beschäftigten sind klar als strategisch erkennbar, wie z. B. das gezielte Informationsmanagement im Hinblick auf die Beurteilung nach den gängigen Kriterien legitimer Krankheitsursachen. Einige Beschäftigte geben Informationen über ihre Erkrankung und ihre private Situation nur selektiv preis oder behalten sie für sich, wenn sie glauben, dass sie sich nachteilig auf ihre Beurteilung auswirken könnten. Eine Beschäftigte, die ihre Depression mit der gescheiterten Beziehung zu ihrem Ex-Freund in Verbindung bringt, erwähnt dies absichtlich nicht gegenüber ihrem Chef, weil sie davon ausgeht, dass dies von ihm negativ aufgefasst werden könnte.

1.3 „Lernen“ aus der Krankheit

Bei einer Mehrheit der analysierten Fallverläufe handelt es sich um gelingende Wiedereingliederungen, die zu einem Teil als abgeschlossen gelten, insofern die Beschäftigten wieder zu denselben Bedingungen in ihrer angestammten Tätigkeit arbeiten. In einigen Fällen, in denen die Rechtfertigung über das vorbildliche Verhalten der Betroffenen stark ausgeprägt ist, formulieren sowohl Vorgesetzte als auch Betroffene in den Interviews eine Interpretation der Erkrankung als Lern- und Reifeprozess. In drei Fällen verweisen betriebliche Akteurinnen auf Lernschritte der Betroffenen, die ihnen durch die Krankheit ermöglicht wurden. Diese Lernschritte werden mit biografischen Entwicklungsprozessen in Verbindung gebracht. Irina Cerny und Hannah Bachmann, zwei Frauen Mitte 20, die am Anfang ihrer Berufslaufbahn stehen, berichten davon, durch die Krankheit wichtige Entwicklungsschritte auf dem Weg zum Erwachsensein durchlaufen zu haben. Irina Cerny sagt, dass sie durch ihre Erkrankung gelernt hat, auf sich selbst zu schauen und sich nicht immer den Wünschen anderer unterzuordnen. Ähnlich erzählt ihr Vorgesetzter, sie habe durch ihre Krankheit einen Reifungsprozess durchlaufen: „Also ich glaube, sie ist auch durch den Prozess, durch den sie jetzt gelaufen ist, ist sie auch reifer geworden, und sie ist schon standhafter als vorher.“ Sie habe es „hart“ gehabt, sei aber heute „stärker“ geworden. Hannah Bachmann sagt, dass sie nun, nach der Krankheit die Grenzen ihrer Belastbarkeit besser kenne, sich besser abgrenzen könne und dass sie gelernt habe, nein zu sagen. Bei den genannten Veränderungen, die der Erfahrung der Krankheit zugeschrieben werden, handelt es sich um gesellschaftlich erwünschte Entwicklungen.

In einem anderen Fall lobt die BGM-Verantwortliche, dass eine Depressionsbetroffene aus ihrer Krankheit für sich gelernt habe, wie sie die Berufsrolle mit der Mutterrolle besser vereinbaren könne.

Das ist ein bisschen Interpretation jetzt von mir so, Finden von der Rolle von der Mutter oder eben von der berufstätigen Mutter, oder vielleicht auch noch von dieser berufstätigen Mutter, die auch noch Karriere macht, die auch noch eine Führungsposition hat, dass das irgendwie für sich irgendwie auch noch ... irgendwie in die Balance zu bringen. Das ist vielleicht, es braucht vielleicht schon gewisse Anläufe, oder bis man mal dort ist. […] Ich glaube einfach dort ist noch etwas gewesen, aber dort scheint es wirklich, scheint sie weitergekommen zu sein. Mit sich selbst.

Nach der Deutung der BGM-Verantwortlichen war die Erkrankung für die Betroffene ein hilfreicher Schritt, an der besseren Vereinbarkeit ihrer Berufsrolle mit ihrer Rolle als junge Mutter zu arbeiten. Den Sinn der Krankheit in der Bewältigung einer quasi normalbiografischen, gesellschaftlich erwünschten Herausforderung zu sehen, wirkt in gewissem Sinn entstigmatisierend, weil die psychischen Belastungen der Betroffenen für die Allgemeinheit nachvollziehbar und sozial akzeptabel erscheinen.

Die Interpretation der Erkrankung als Lernprozess kann als Versuch gedeutet werden, die Krankheit als sinnvollen Prozess zu verstehen. Dieses Deutungs- und Erzählmuster lässt sich mit dem von Frank (1995) identifizierten Krankheitsnarrativ der Suche (quest) in Verbindung bringen. „Quest stories meet suffering head on; they accept illness and seek to use it. […] the quest is defined by the ill person’s belief that something has to be gained through the experience.“ (ebd., S. 115) Wie von Frank herausgearbeitet, ist das Erzählen einer Geschichte über die Erkrankung ein zentrales Instrument für die Erkrankten selbst zur Bewältigung des Schadens, den diese in deren Leben angerichtet hat. Das Narrativ des Lernens ist insofern besonders sinnstiftend, als sich das Leiden so in gewisser Weise gelohnt hat.

Aus der Krankheit zu lernen kann aber nicht nur ein Instrument für die Betroffenen zur Bewältigung der Krankheit sein, es kann auch zu einer normativen Erwartung werden, die die Betroffene an sich richten oder die das Umfeld an die Erkrankten heranträgt. Im Datenmaterial wird dies deutlich in der Erzählung von Lars Flury, Mitarbeiter einer IT-Abteilung:

das ist schon etwas, das ich mir von ANFANG AN, als ich dort in dieses Loch gefallen bin, ich habe mir gesagt, ich muss etwas LERNEN aus dieser ganzen Geschichte, weil wenn ich NICHTS ... profitiere von dem, dann ist es einfach VERBRANNTE VERLORENE Zeit für NICHTS. Und das haben mir auch, das ist auch das Erste ... gewesen, was mich quasi die Ärzte gefragt haben, ja ... hast du irgendein ZIEL, hast du irgendwie eine Erwartung. Und ich habe dort gesagt, ja, also mein Z- eben ich MUSS etwas pro- ich MUSS etwas profitieren von dem.

Lars Flury erinnert sich, dass er „von Anfang an“, also ab dem Moment, als er seine Depression feststellte, den starken Wunsch verspürte, aus dieser Erfahrung etwas zu „lernen“ und zu „profitieren“. Der Gedanke, dass es sich dabei um „verlorene Zeit“ handeln könnte, erscheint ihm unerträglich. Im Zitat zeigt sich deutlich die Erwartung, dass aus der Erkrankung irgendein Ertrag hervorgehen solle. Selbst die Phase der Depression, so der Wunsch des Erkrankten, soll ihn in irgendeiner Weise weiterbringen und wird damit der Erwartung zur „Selbstoptimierung“ untergeordnet (Kury 2012, S. 288).

Für manche BGM-Verantwortliche macht die Bereitschaft „aus der Erkrankung zu lernen“ ein weiteres Merkmal des angemessenen Verhaltens von psychisch erkrankten Beschäftigten aus. Dazu gehört in erster Linie das Erlernen von Strategien, sich abzugrenzen, um nicht sofort wieder krank zu werden. Eine BGM-Verantwortliche äußert sich kritisch bezüglich der Lernschritte eines wiedereingegliederten Mitarbeiters:

wie viel er gelernt hat daraus, in diesen Strukturen, in denen er immer noch ist, … weiß ich nicht. Ich weiß es nicht. Und es ist halt schon immer wieder dieser Teil von, wenn ich ... ja … ich glaube ein Burnout kann jeden treffen. So. Aber ich muss als Mensch nachher lernen wollen, lernen können.

Die BGM-Verantwortliche bedauert, dass der Betroffene zu wenig aus seinem Burnout gelernt habe. Angesichts der Tatsache, dass er wieder „in diesen Strukturen“, also an seinem alten Arbeitsplatz tätig ist, hält sie einen Rückfall für nicht unwahrscheinlich. Sie reflektiert damit zum einen die Bedeutung der Arbeitsbedingungen für die Erkrankung des Betroffenen, schreibt aber die Verantwortung, die schädlichen Auswirkungen dieser „Strukturen“ zu begrenzen, dem Betroffenen zu, der daraus etwas lernen soll. Dies lässt sich als Beispiel für die „Ätiologie des individuellen Fehlverhaltens“ (Brunnett 2009, S. 305) lesen, welche psychische Erkrankungen nicht auf belastende Arbeits- und Lebensbedingungen, sondern auf eine „missglückte individuelle Anpassung“ zurückführt. Davon ausgehend lässt sich das „Lernen“ aus der Krankheit zur Vermeidung von Rückfällen als normative Erwartung einer erweiterten betrieblichen Krankenrolle deuten. Wer bereit ist zu lernen, zeigt zum einen den Willen, weiter im Betrieb tätig zu sein. Zum anderen lässt sich Lernbereitschaft als Element oder Grundlage für eine weiter bestehende Leistungsfähigkeit deuten.

2 Arbeitsleistung

Rechtfertigungen eines eingeschränkten Arbeitsvermögens und von Wiedereingliederungsbemühungen beziehen sich in vielen Fällen des Samples auf die Arbeitsleistung der betroffenen Beschäftigten. Der Verweis auf die Arbeitsleistung dient meist der Plausibilisierung, dass die Betroffenen die Anforderungen ihres Jobs weiterhin erfüllen und sich wieder als leistungsfähige Glieder in den Produktionsprozess einfügen werden können (Abschn. 6.2.1). In wenigen Fällen wird auf die besonderen Leistungen und Erfolge der betroffenen Beschäftigten hingewiesen, um zu begründen, dass in ihrem Fall der Aufwand einer Wiedereingliederung speziell lohnend ist (Abschn. 6.2.2).

2.1 Produktivität

Wenn im Voraus klar ist, dass mit einer längerfristigen oder sogar chronischen Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit zu rechnen ist, wird die Legitimierung betrieblicher Wiedereingliederungsmaßnahmen schwieriger. Das Rechtfertigungshandeln der betrieblichen Akteurinnen bezieht sich in einigen Fällen darauf, die Prognose, dass die Betroffenen zukünftig den Produktivitätsstandards ihrer Funktion wieder entsprechen werden können, glaubhaft erscheinen zu lassen. Dazu verweisen sie auf frühere Arbeitsleistungen der Betroffenen oder sie stellen außerhalb der Arbeit liegende Gründe als Hauptursachen der Erkrankung heraus (vgl. Abschn. 5.3.3).

Einige Betroffene betonen in den Interviews, dass sie die Ursachen ihrer psychischen Erkrankung nicht in der Arbeit verorten, so etwa der Kundenberater Erich Müller: „Ich wäre nie ins Burnout hineingefallen, nie vom Arbeiten her. Nie. Das habe ich immer gesagt.“ Aus der Verortung der Ursachen außerhalb der Erwerbsarbeit leiten Beschäftigte her, dass sie das Anforderungsprofil ihrer Stelle problemlos erfüllen können, sobald sie wieder genesen sind. Die Frage, ob jemand die Herausforderungen seines Jobs wieder auf sich nehmen kann, ist in den Worten einer BGM-Verantwortlichen die „Gretchenfrage“ der Wiedereingliederung. Sie berichtet über eine Mitarbeiterin, die aufgrund einer Depression teilkrankgeschrieben war und von einem neuen Vorgesetzten gefragt wurde, ob sie sich den Anforderungen ihres Jobs noch gewachsen fühle:

eben sie hat eine Spezialistenrolle gehabt, wo sie auch viel Austausch hat mit anderen internen Stellen, wo sie vielleicht auch angegriffen wird, ... wegen ihrer Arbeit, wo die Leute vielleicht auch nicht immer so zufrieden sind, so ein bisschen mit Reklamationen dann halt an sie gelangen, ... ob sie das überhaupt aushalten kann. Und dann hat sie gefunden, doch, also der Job gefalle ihr. Das, was ihr zu schaffen macht, sei alles, alles andere als dieser Job. Also es ist das Private und jetzt eben noch diese Zusatz, jetzt eben, diese andere Erkrankung mit dem Fuß, die machen ihr Mühe, aber der Job, der macht ihr wirklich sehr viel Freude. Und eben, wenn sie dann gesund ist, dann möge sie das auch sehr gut ertragen, oder, dass man sie ... ja, dass man vielleicht auch mal gegen sie schießt, das gehört einfach ein bisschen, ja, gehört zu dem Job, den sie hat. Aber das ist einfach die Frage gewesen, die er ihr, ja, als er sie übernommen hat, gestellt hat.

Nach der Rekonstruktion der BGM-Verantwortlichen verlangte der neue Vorgesetzte von der Mitarbeiterin, die zusätzlich an einer Fußverletzung leidet, eine Einschätzung, ob sie sich dazu fähig fühlt, weiterhin in ihrer Stelle zu arbeiten. Aus seiner Sicht steht also nicht mehr die Erkrankung, sondern die generelle Leistungsfähigkeit der Mitarbeiterin zur Debatte. Als Erklärung fügt die BGM-Verantwortliche an, dass es sich um eine „anspruchsvolle Spezialistenrolle“ handelt, in der man sich exponiert und Kritik aushalten muss. Die Antwort fällt gemäß Bericht der BGM-Verantwortlichen positiv aus. Zur Untermauerung erwähnt die Betroffene folgende Argumente: erstens gefalle ihr der Job. Dadurch entkräftet sie die potenzielle Unterstellung, sie könnte sich durch den Job überfordert fühlen. Zweitens verweist sie auf die privaten Ursachen für ihr psychisches Leiden und entzieht damit der Interpretation einer arbeitsbedingten Erkrankung die Grundlage. Als drittes Argument sagt sie direkt, dass sie die Anforderungen des Jobs „gut ertrage“, wenn sie wieder gesund sei. Sie stellt dem Vorgesetzten damit in Aussicht, zukünftig wieder in ihrem Jobprofil einsatzfähig zu sein und verweist darauf, dass es lediglich, die Genesung abzuwarten gilt.

Rechtfertigungen, die sich auf die nach der Genesung wieder zu erwartende Arbeitsleistung der Betroffenen stützen, werden vor allem dann geäußert, wenn es Anlass für den Verdacht gibt, dass die Arbeit die Erkrankung mitverursacht hat. Dies kann bei Beschäftigten der Fall sein, die eine neue Stelle angetreten haben. Zudem gibt es Jobprofile, die für ihre hohen psychischen Belastungen bekannt sind, weil es bereits einige Fälle psychisch erkrankter Beschäftigter gibt. Ein Beispiel für eine solche Tätigkeit sind die KundenberaterFootnote 4, deren Hauptaufgabe darin besteht, Versicherungen zu verkaufen. Sara Giger, Personalverantwortliche einer Generalagentur der Komfortia, rechtfertigt die Wiedereingliederungsmaßnahmen im Fall von Erich Müller, einem Kundenberater, der nach einem Burnout mehrere Monate ausgefallen und danach teilarbeitsfähig war, mit den folgenden Worten:

Und bei ihm muss ich auch sagen, ich glaube nicht, dass der Job ihn krank macht, weil das ist ein super, das ist, das ist einer, der geht auf neue Kunden los. Und ich habe selbst, also der, der gewinnt Kunden, weil er einfach ein super Typ ist. Der ist seit 20 Jahren in der Branche, […] Also das ist wirklich so ein super Typ, das ist nicht der Job, der ihn krank macht. Weil der Job ERFÜLLT ihn. Aber solange er das Private nicht auf die Reihe kriegt, kann er auch im Job nicht konzentriert sein.

Sara Giger grenzt sich explizit von der Vermutung ab, Erich Müller könne durch den Job krank geworden sein. Aus seiner langjährigen, erfolgreichen Arbeit leitet sie ab, dass seine Erkrankung nichts mit einer arbeitsbedingten Überforderung zu tun hat. Stattdessen verweist sie auf seine privaten Probleme. Wenn er diese „gelöst“ hat, werde er wieder „der Alte“ sein, nimmt sie an. Kundenberater, die psychisch erkranken, stehen unter dem Generalverdacht, dass ihre Krankheit durch die Arbeit verursacht ist. Für das Management ist dies allerdings kein Anlass, die Arbeitsbedingungen gesundheitsverträglicher zu gestalten. Vielmehr wird die psychische Erkrankung eines Kundenberaters als Zeichen gedeutet, dass der Betroffene die für den Job notwendige Belastbarkeit nicht mitbringt (Woods et al. 2019, S. 957). Psychisch erkrankten Kundenberatern rate man meistens davon ab, in dieser Tätigkeit weiter zu arbeiten: „wir haben ihm eigentlich quasi aufgezeigt, du musst dann einen anderen Job, weil das ist gar nichts, das“, so Sara Giger über einen anderen Betroffenen. Eine ähnliche Phrase verwendet der Leiter der Generalagentur: „es ist einfach nicht dein Job“, habe er einem psychisch erkrankten Kundenberater mitgeteilt. Psychische Erkrankungen bei Kundenberatern werden als Warnsignal dafür aufgefasst, dass sie die für diese Tätigkeit nötigen Voraussetzungen nicht mitbringen und somit den Produktivitätsstandards nicht genügen können. Sara Giger berichtet von einem weiteren Fall:

Der ist wiedergekommen, ist ein Jahr später genau zur gleichen Zeit genau nach dem gleichen Muster wieder in das Gleiche gekommen. Da hat er sich aber selbst zugestehen müssen, hmm. Jetzt will ich nicht mehr, es geht nicht mehr. Und der ist dann selbst gegangen, er hat selbst gekündet.

Wenn ein Kundenberater zum zweiten Mal erkrankt und der Eindruck besteht, dass dies durch die Arbeit bedingt ist, lässt sich der Aufwand für eine weitere Wiedereingliederung nur schwer rechtfertigen. Im erwähnten Fall entschließt sich der Betroffene selbst zu einer beruflichen Umorientierung und nimmt damit die Entscheidung des Arbeitgebers vorweg. Das Argument, dass die Erkrankung nicht arbeitsbedingt ist, spielt je nach Kontext eine zentrale Rolle für die Rechtfertigung von Wiedereingliederungsmaßnahmen. Die Einschätzung, dass die weitere Einsatzfähigkeit der betroffenen Beschäftigten in ihrer Tätigkeit zweifelhaft scheint, kann als Begründung für eine Reduktion des Pensums oder gar eine Auflösung des Arbeitsvertrags herangezogen werden.

Die Rechtfertigung der weiteren Beschäftigung beruht in diesen Fällen darauf, dass die Betroffenen die Produktivitätsstandards ihrer Funktion wieder werden erfüllen können und folgt so der industriellen Konvention. In der industriellen Welt gelten Effizienz und Produktivität als zentrale Bewertungskriterien. Entsprechend wird in den diskutierten Fällen die Effizienz von Wiedereingliederungsaktivitäten von der zukünftig zu erwartenden Arbeitsleistung abhängig gemacht. Ein eingeschränktes Arbeitsvermögen ist dann tragbar, wenn die Betroffenen grundsätzlich über ein „Aktivitätspotential“ verfügen, das nach der industriellen Konvention den Wert einer Arbeitskraft ausmacht (Boltanski und Thévenot 2007, S. 279) und wenn absehbar ist, dass sie sich auf produktive Weise in die Arbeitsorganisation wiedereingliedern lassen.

Je länger die (Teil-)Arbeitsunfähigkeit andauert, desto mehr Zweifel kommen indes daran auf, dass Betroffene in ihrer angestammten Tätigkeit – in absehbarer Zeit – wieder leistungsfähig sein werden und desto ineffizienter erscheint die Wiedereingliederung. Dies wird auch im Bericht von Sara Giger über den Kundenberater Erich Müller deutlich:

Ich weiß es nicht, wie es ausgehen wird, weil also, ich glaube eben nicht, wenn ich dann irgendwann mal das Gefühl bekomme, eben, ich bin ja nur immer beratend, schlussendlich muss dann das der Linienvorgesetzte noch sein, und wenn das BGM auch noch sagt, he nein, ich sehe es nicht mehr, dann müssen wir so reden, dann müssen wir es auf den Tisch bringen und sagen, he sorry, das geht so nicht mehr, oder. Aber HIER glauben wir wirklich alle noch fest daran, es ist nicht der Job, es ist einfach das Private. Ja und die Frage ist einfach, ja, vielleicht haut es irgendwann einmal einem Vorgesetzten auch den Nuggi raus, und sagt, so, irgendwann ist fertig. Aber wir halten daran, und es sind doch, ja, 13 Monate jetzt vergangen, ja.

Die Personalverantwortliche deutet an, dass trotz der starken Überzeugung, dass der Betroffene in seinem Job wieder einsatzfähig sein wird, je nach Dauer der Arbeitsunfähigkeit eine andere Betrachtungsweise in der Diskussion über den Fall Überhand nehmen könnte. Dies wird ihr zufolge dann eintreten, wenn es einem Linienvorgesetzten in der umgangssprachlichen Formulierung Sara Gigers den „Nuggi raushaut“, was sich sinngemäß damit übersetzen lässt, dass seine Toleranzgrenze erreicht ist. Die Phase, die Unternehmen zur Wiedereingliederung gewähren, ist zeitlich begrenzt durch die Dauer, während der der Leistungsfall finanziell gedeckt ist (Nadai et al. 2019). In diesem Fall sind das die zwei Jahre, während derer die Krankentaggeldversicherung für den Lohn des Betroffenen aufkommt. Wie Sara Giger andeutet, kann die Toleranz auch schon früher enden, wenn die Beteiligten den Glauben an die Wiedereingliederbarkeit der Betroffenen verlieren.

2.2 Erfolg

Rechtfertigungen von Maßnahmen zur Wiedereingliederung, die sich auf die Arbeitsleistungen der Betroffenen stützen, stellen in der Regel auf deren Wiedereingliederbarkeit innerhalb der gegebenen Strukturen der Arbeitsorganisation ab, d. h. auf ihre Einsatz- und Leistungsfähigkeit im Rahmen der gängigen Definition von Aufgaben und Leistungsstandards. In wenigen Fällen im Sample spielt Arbeitsleistung zudem in einem anderen Rechtfertigungsmuster eine zentrale Rolle. Besonders ausgeprägt trifft dies im Fall des in Abschn. 6.2.1 bereits erwähnten Kundenberaters Erich Müller zu. Sein Vorgesetzter Paul Conradi äußert sich in den folgenden Worten über ihn:

Für mich ist er ein Wertvoller, also, mir ist lieber, er bleibt mit mir. Ich habe mit dem Erich, wenn der auch nur 80 Prozent arbeitet, habe ich noch immer einen von den besten Mitarbeitern.

Der Vorgesetzte stellt den Kundenberater hier als besonders „wertvollen“ Mitarbeiter dar, der auch mit reduziertem Arbeitspensum einer der besten Mitarbeiter sei. Um diese Aussage zu verstehen, muss sie im Kontext der Arbeitsbedingungen der Kundenberater betrachtet werden. Die Qualität der Arbeitskraft bemisst sich hier an den effektiv verkauften Versicherungen und damit am für das Unternehmen erwirtschafteten Gewinn. Worauf es ankommt, ist also nicht die zeitliche Verfügbarkeit eines Beschäftigten, sondern sein Verkaufserfolg. Erich Müller ist für seinen Vorgesetzten wertvoll, insofern er trotz seiner krankheitsbedingt eingeschränkten Verfügbarkeit zu den Kundenberatern mit den größten Verkaufserfolgen gehört. Arbeitsleistung wird hier nicht über den geleisteten Arbeitsaufwand definiert, sondern über die erzielten Resultate (Neckel und Dröge 2003; Neckel et al. 2008). Obwohl Erich Müllers eingeschränkte Arbeitsfähigkeit bereits länger als ein Jahr andauert und die beteiligten Akteurinnen daran zweifeln, dass er das Aufgabenprofil eines Kundenberaters je wieder wird ausfüllen können, strebt der Vorgesetzte Paul Conradi keine Auflösung des Arbeitsverhältnisses an. Vielmehr bewilligt er sogar eine Anpassung der Arbeitsaufgaben des Betroffenen: Erich Müller erhält die Möglichkeit, die ihm schwer fallenden administrativen Arbeiten an einen Kollegen zu delegieren. Dies entspricht keineswegs der gängigen Praxis. Der zuständige BGM-Verantwortliche erklärt sich diese Ausnahme wie folgt:

beim Herrn Müller haben wir WIRKLICH ein MEGA besonderes Setting, das sonst irgendwo für niemanden einfach so möglich ist. Einfach weil er ein genialer Produzent ist

Auf die Nachfrage nach der Rolle des Vorgesetzten führt er weiter aus:

Ja, das hat ganz stark mit seinem Vorgesetzten zu tun, weil der weiß, wie der Herr Müller produziert, was er für eine Leistung bekommt, weil ... auch der Generalagent, das ist ja der Vorgesetzte, der Generalagent, der wird bemessen an dem, was sein Team ... liefert, produziert, oder. Und wenn er natürlich so eine Cash Cow hat in seinem Team drinnen, dann ist er schon bereit, irgendwo das Möglichste auch zu tun, um den irgendwo zu entlasten, damit er weiterhin optimal ... cashen kann.

Das Erich Müller gewährte „Setting“, die Befreiung von administrativen Aufgaben, ist innerhalb der Generalagentur und auch darüber hinaus in der Firma außergewöhnlich, da normalerweise am definierten Aufgabenprofil von Kundenberatern auch bei gesundheitlich eingeschränkten Beschäftigten festgehalten wird. Im Fall von Erich Müller wird die Abweichung von der üblichen Praxis – wie der BGM-Verantwortliche in den beiden Zitaten darlegt – vom Vorgesetzten als gerechtfertigt angesehen, weil er überdurchschnittlich erfolgreich ist, wie die Ausdrücke „genialer Produzent“ und „Cash cow“ veranschaulichen. Sein Wert als Mitarbeiter lässt sich gewissermaßen direkt quantifizieren über den erwirtschafteten Umsatz im Vergleich zu einem durchschnittlich erfolgreichen Kundenberater.

Die Rechtfertigung über den erzielten Verkaufserfolg folgt dem Muster der Konvention des Marktes, der zufolge der Erfolg bzw. die Höhe des auf dem Markt erzielten Preises das zentrale Bewertungskriterium ist (Boltanski und Thévenot 2007, S. 264 ff.; Diaz-Bone 2018, S. 162). Der Wert der Arbeitskraft von Erich Müller bemisst sich an seinen im internen Wettbewerb mit seinen Kollegen, sowie im externen Wettbewerb mit anderen Versicherungen erzielten Verkaufszahlen, die – zumindest im übertragenen Sinn – den „Preis“ seiner Arbeitskraft ausmachen. Im Unterschied zur industriellen Konvention geht es hierbei also nicht darum, ob er innerhalb des definierten Stellenprofils eines Kundenberaters wieder produktiv sein kann, sondern um den von ihm individuell erzielten Markterfolg. Der Vorgesetzte gewichtet diesen Umstand stärker als das Risiko, dass Erich Müller die Produktivitätsnormen seiner Funktion auch in Zukunft nicht mehr erfüllen wird und gibt stattdessen dem Markterfolg den Vorrang. Dies liegt am Produktionssystem der Versicherungsagentur, das stark nach marktlichen Prinzipien organisiert ist (vgl. Abschn. 7.1.2), was sich in der kennzahlenorientierten Leistungssteuerung und dem provisionsbasierten Lohnsystem äußert. Auch der Vorgesetzte und die gesamte Agentur werden kennzahlenbasiert bewertet. Es handelt sich hierbei um ein Format der Leistungssteuerung, das die Betrachtung von Beschäftigten unter Gesichtspunkten der Marktkonvention stützt. In anderen Tätigkeitsfeldern, in denen keine Quantifizierung und Zuschreibung individueller Erfolge praktiziert werden, ist die Marktkonvention in der Rechtfertigung eingeschränkten Arbeitsvermögens hingegen weniger präsent.

2.3 Auslagerung ins „Private“

Für Rechtfertigungen, die auf die weitere Produktivität psychisch erkrankter Beschäftigter abstellen, spielt der Verweis auf „private“ Ursachen der Erkrankung eine entscheidende Rolle. Auch andere empirische Studien zur Wiedereingliederung von Beschäftigten mit psychischen Erkrankungen stellen fest, dass betriebliche Akteurinnen zwischen „privaten“ und „arbeitsbedingten“ Krankheitsursachen unterscheiden. Da innerhalb eines Arbeitsteams nie alle Mitarbeitenden krank werden, kommen Führungskräfte nach Windscheid (2019b, S. 238 f.) pauschal zur Einschätzung, dass psychischen Erkrankungen Probleme „persönlicher Natur“ zugrunde liegen und dass ihnen die Eigenschaften der „Privatheit“ und „Partikularität“ zukommen. Nach der Studie von Ohlbrecht et al. (2018, S. 161) unterscheiden auch die Betroffenen zwischen „privaten“ und „beruflichen“ Krankheiten. Nach Voswinkel (2017c, S. 270) gehen Eingliederungsexpertinnen indes davon aus, dass arbeitsbedingte und private Dimensionen, die zu einer Erkrankung führen, kaum zu trennen sind. Diese Meinung vertritt auch die BGM-Leiterin der Celestia. Sie erwähnt diese Haltung sogar in einer Führungsschulung, bei der ich teilnehmend beobachtet habe:

Vorgesetzte kämen häufig zu ihr und sagten, „er hat hohe Belastungen, aber weißt du, es ist im Privaten“. Für sie ist der Mensch als „Gesamtes unterwegs“. Daher könne man das nicht wirklich trennen. (Feldnotizen)

In Bezug auf konkrete Fälle halten die interviewten betrieblichen Akteure jedoch an der Feststellung von ausschließlich „privaten“ Ursachen des eingeschränkten Leistungsvermögens fest. Hier liegt die Vermutung nahe, dass sich auf diese Weise die berufliche Wiedereingliederung leichter rechtfertigen lässt. Eine privat bedingte psychische Erkrankung stellt die Einsatzfähigkeit der Betroffenen in ihren Jobs nicht generell in Frage, sondern kann als Problem der „Vereinbarkeit“ behandelt werden, wie es Sara Giger, Personalverantwortliche einer Versicherungsagentur für den Fall eines psychisch erkrankten Kundenberaters formuliert:

ich habe Riesenprobleme, ich bringe nichts mehr auf die Reihe im Kopf und so und ich muss dann noch Kunden gewinnen, geht GAR nicht. Darum sage ich eben, das Private ist der Auslöser, ist dann einfach nicht so vereinbar, wie, sage ich, in einem anderen Job.

Psychische Probleme, die sich u. a. in Schlafproblemen äußern, sind nach ihrer Einschätzung je nach Tätigkeit besser oder schlechter mit den Leistungsanforderungen „vereinbar“. Mit der Formulierung als Vereinbarkeitsproblem ist aber klar, dass die psychischen Erkrankungen außerhalb der Sphäre des Betriebs und der Erwerbsarbeit angesiedelt sind.

Die Ursachen ausschließlich im „Privaten“ zu verorten, kommt einer einseitigen Idealisierung gleich, durch die die Ursachen der psychischen Erkrankung gleichsam aus dem Betrieb ausgelagert werden. Eine kritische Diskussion der gesundheitlichen Auswirkungen von Arbeitsbedingungen kann so erst gar nicht aufkommen. So gelangt auch Voswinkel (2017c, S. 289) in der Analyse des betrieblichen Eingliederungsmanagements zur Schlussfolgerung, dass die Erklärung über „private“ Krankheitsursachen einer stärkeren Berücksichtigung psychischer Belastungsfaktoren in der Arbeit und im Betrieb im Weg steht. Außerdem entlastet eine Erklärung über ausschließlich private Ursachen die Vorgesetzten und das Management von der Verantwortung für eine gesundheitsverträglichere Gestaltung von Arbeitsbedingungen (Windscheid 2019a, S. 269).

3 Zusammenfassung: Repertoires der Rechtfertigung

Damit die Eingliederung gelingt, leisten die betrieblichen Akteurinnen in unterschiedlicher Weise Rechtfertigungsarbeit. Diese ist in „kritischen Momenten“ erforderlich, wenn die Plausibilität der Erkrankung, aber auch die Angemessenheit von Eingliederungsmaßnahmen zur Disposition stehen. Explizite Rechtfertigungen von Maßnahmen zur Wiedereingliederung werden im Datenmaterial sehr oft von Vorgesetzten formuliert, denen in der Entscheidung über die Weiterbeschäftigung viel Gewicht zukommt. Zudem formulieren auch BGM-Verantwortliche und Betroffene Erklärungen und Fallbeschreibungen, in denen die im Betrieb gängigen Rechtfertigungs- und Beurteilungskriterien deutlich werden. Durch das Anregen von Erklärungen und Plausibilisierungen einer Erkrankung in der Begleitung von Betroffenen tragen insbesondere BGM-Verantwortliche zur Rechtfertigungsarbeit bei. In den Ausführungen der betroffenen Beschäftigten ist darüber hinaus erkennbar, dass sie sich in ihrem Verhalten und ihrer Selbstdarstellung an den dominierenden Verhaltenserwartungen und Rechtfertigungsordnungen ausrichten. Eine vorwegnehmende Rechtfertigungsarbeit wird also auch durch die Betroffenen geleistet, zum Beispiel, indem sie sich gemäß den Erwartungen an legitime Kranke verhalten.

Oft wurden Wiedereingliederungsmaßnahmen über den Arbeits- und Genesungswillen der Betroffenen gerechtfertigt, also über die Konvention des Hauses, die das Verhalten innerhalb von persönlichen Beziehungen, sowie das Einhalten von gegenseitigen Verpflichtungen als Bewertungskriterium in den Vordergrund stellt. Betriebliche Bemühungen zur Wiedereingliederung erscheinen so als ein Privileg, das sich die Betroffenen durch ihr vorbildliches Verhalten verdient haben. In anderen Fällen wurde die Wiedereingliederung über die Arbeitsleistung der Betroffenen begründet. In einer ersten und häufigeren Variante wurde argumentiert, dass es sehr wahrscheinlich sei, dass die Betroffenen nach ihrer Genesung in ihrem Job wieder voll einsatzfähig sein und die Produktivitätsstandards erfüllen würden. Bemühungen zur Wiedereingliederung erscheinen vor diesem Hintergrund nicht als ineffiziente Verschwendung von Ressourcen. Über den Hinweis auf das Aktivitätspotential der Betroffenen wurde so die industrielle Konvention mobilisiert, bzw. einem aus dieser Perspektive formulierten Einwand gegen die weitere Beschäftigung entgegengewirkt. In einem Fall des Samples wurde die Wiedereingliederung hauptsächlich dadurch begründet, dass dieser für das Unternehmen hohe Profite erwirtschaftet. In diesem Fall erfolgte die Rechtfertigung aus der Perspektive der Marktkonvention.

Oft werden in einem Fall mehrere Repertoires der Rechtfertigung beigezogen. Am häufigsten liegt eine Kombination häuslicher und industrieller Begründungslogiken vor. Wie einleitend erwähnt hängt der Erfolg des Rechtfertigungshandelns nach Boltanski und Thévenot (2014, S. 20) von „Arrangements“ ab, die Argumenten und Beweisstücken Allgemeingültigkeit verleihen. Betriebliche Strukturen sind so gestaltet, dass den Vorgesetzten hinsichtlich der weiteren Beschäftigung die zentrale Entscheidungsmacht zukommt. Diese Art der Entscheidungsstruktur räumt Argumenten viel Gewicht ein, die auf die Beziehung der Vorgesetzten zu den Beschäftigten sowie deren kooperatives Verhalten abstellen. Für die Bedeutung, die die industrielle Konvention oder die Marktkonvention in der Beurteilung erhalten, spielen die Arbeitsbedingungen sowie die Formate der Leistungssteuerung eine Rolle. In Arbeitsbereichen mit hohem Zeit- und Leistungsdruck kommt schneller der Verdacht auf, eine psychische Erkrankung könnte durch die Arbeit bedingt sein. Daraus ergibt sich eine Beweislast, zu demonstrieren, dass man nicht überfordert ist, was eine Rechtfertigung über das zukünftige Aktivitätspotential, also die industrielle Konvention in den Vordergrund rückt. In Bereichen mit ergebnisorientierter Steuerung wird hingegen der Marktkonvention Gewicht verliehen.

Die Arbeitsbedingungen haben aber nicht nur einen Einfluss darauf, welchen Repertoires der Rechtfertigung den Vorrang gegeben wird, sie wirken sich zudem darauf aus, wie sehr ein eingeschränktes Arbeitsvermögen und Maßnahmen zur Reintegration überhaupt Rechtfertigungsbedarf aufwerfen. Ob eine vorübergehende Reduktion des Pensums als erklärungsbedürftig erscheint, hängt beispielsweise davon ab, ob in einem Arbeitsbereich Teilzeitarbeit üblich ist oder nicht. Auf diesen Zusammenhang geht Kap. 7 vertieft ein.

Aus den beschriebenen Rechtfertigungslogiken ergeben sich Dynamiken und Zugzwänge, die zum Teil konträr zum Ziel einer gelingenden Wiedereingliederung stehen. Beschäftigte, die sich in Bezug auf eine wohlwollende Beurteilung nach der Konvention des Hauses vorteilhaft positionieren wollen, lassen sich unter Umständen auf Erwartungen ein, die dem Ziel der Rehabilitation zuwiderlaufen. Im Bestreben, sich als kooperativ zu präsentieren, gehen sie auf frühe Kontaktversuche während der Krankschreibung oder in der Klinik ein, obwohl sie sich davon eigentlich überfordert fühlen. Im Bemühen, sich als weiterhin einsatzfähig, motiviert und leistungsbereit zu präsentieren, nutzen sie die vom Betrieb gewährten Schonräume nicht vollständig. Ist das Rechtfertigungsmuster über die industrielle Konvention dominant, geht damit eine Auslagerung der Krankheitsursachen ins Privatleben einher. Dies führt wiederum dazu, dass Anpassungen von Arbeitsaufgaben an die gesundheitliche Situation von Beschäftigten unnötig erscheinen. Rechtfertigungen über die industrielle Konvention werden aber gerade in Arbeitsbereichen mit hohem Leistungsdruck begünstigt, in denen eine Thematisierung arbeitsbedingter gesundheitlicher Belastungen am dringendsten nötig wäre.