Im Feld der Wiedereingliederung und Weiterbeschäftigung gesundheitlich eingeschränkter Arbeitskräfte gibt es bislang keine etablierten soziologischen Theorieperspektiven (vgl. auch Hanisch und Solvang 2019). Um den Forschungsgegenstand theoretisch zu schärfen, greife ich in der vorliegenden Studie auf die Soziologie der Konventionen zurück. Wie ich im Folgenden argumentiere, stellt diese Theorie für die Fragestellung der Studie aus mehreren Gründen eine gewinnbringende theoretische Perspektive dar. Erstens bietet sie ein differenziertes begriffliches Instrumentarium für die Analyse von Deutungs- und Entscheidungsprozessen und der Koordination innerhalb von Organisationen. Als „pragmatischer Institutionalismus“ (Diaz-Bone 2018) berücksichtigt die Soziologie der Konventionen sowohl das Handeln der Akteurinnen als auch die Institutionen, die dieses mitstrukturieren. Zweitens erlaubt der Ansatz, die Einbettung der Arbeitsintegration in wirtschaftliche und institutionelle Logiken in den Blick zu nehmen. Die Soziologie der Konventionen betont den Aspekt der Kognition in Deutungs- und Koordinationsprozessen. Die Kognition siedelt sie aber nicht auf der individuellen, sondern auf einer kollektiven Ebene an, erlaubt also den individualisierenden Fokus der bisherigen Forschung zur betrieblichen Arbeitsintegration zu überwinden. Mit der Prämisse, dass soziale Kognition stets auch eine normative Dimension besitzt, erlaubt der Ansatz drittens, die normativen Aspekte von Wiedereingliederungsprozessen und Beschäftigungsentscheidungen analytisch aufzuschlüsseln. Hier erweist sich insbesondere das Modell der Rechtfertigungsordnungen nach Boltanski und Thévenot als aufschlussreich für die Studie (vgl. Abschn. 3.3).

Beschäftigung und Beschäftigungsentscheidungen sind ein traditioneller Forschungsgegenstand in der Soziologie der Konventionen und wurden vor allem im Feld der Rekrutierung untersucht. Nach der Soziologie der Konventionen beruht die Evaluation von Bewerberinnen durch Arbeitgeber nicht auf einer Messung „objektiver“ Kompetenzen. Vielmehr postuliert die Soziologie der Konventionen, dass die „Qualität“ von Kandidatinnen erst durch den Rekrutierungs- und Selektionsprozess sowie die verwendeten Instrumente und Beurteilungsverfahren hervorgebracht wird (Eymard-Duvernay und Marchal 1997; Marchal und Rieucau 2010; Larquier 2016) und durch plurale Bewertungskriterien geprägt ist (Eymard -Duvernay 2008, S. 55). Die Prämisse einer Pluralität an Bewertungs- und Entscheidungskriterien, an denen sich betriebliche Akteure orientieren, macht die Soziologie der Konventionen auch für die Erforschung betrieblicher Wiedereingliederungen und damit verbundener Entscheidungen über die weitere Beschäftigung der Betroffenen attraktiv. Es ist nämlich davon auszugehen, dass Entscheidungen über die betriebliche Wiedereingliederung und Weiterbeschäftigung auf der Grundlage unterschiedlicher Wertkriterien getroffen werden können.

Ein entscheidendes Merkmal der Soziologie der Konventionen liegt in ihrer Distanzierung von der Prämisse eines homo oeconomicus und von der Annahme, das Kalkül rationaler Akteure sei als Grundlage des Handelns zu betrachten. Demgegenüber geht sie von der Pluralität möglicher Koordinations- und Interpretationslogiken in jeder sozialen Situation aus. Die Soziologie der Konventionen vertritt damit eine „offenere Konzeption des Handelns“, sie betont seinen ungewissen Charakter und die kognitiven sowie evaluativen Fähigkeiten der Handelnden (Diaz-Bone und Thévenot 2010, Abs. 2). Als theoretische Einflüsse gelten der amerikanische Pragmatismus, die Ethnomethodologie und der Symbolische Interaktionismus (Cloutier und Langley 2013, S. 364; Jagd 2011, S. 345), die Actor-Network-Theory und die ethnographische Wissenschaftssoziologie (Social Studies of Science) (Diaz-Bone 2018).

Die Soziologie der Konventionen zeichnet sich durch eine transdisziplinäre Perspektive aus. Sie entstand in den 1980ern in Frankreich als sozialwissenschaftlicher Forschungsansatz, an dessen Entwicklung verschiedene Forschergruppen beteiligt waren (Diaz-Bone 2018, S. 8), vorwiegend aus den Wirtschaftswissenschaften, aber auch aus der politischen Philosophie und Soziologie. Sie etablierte sich zunächst unter der Bezeichnung Économie des conventions (EC). Mittlerweile ist auch die Bezeichnung Soziologie der Konventionen geläufig. Seit ihrer Entstehung wurde die EC in verschiedenen Forschungszusammenhängen weiterentwickelt und auf neue Felder angewendet. Sie stellt weder ein in sich „kohärentes Konzeptsystem“ dar (Diaz-Bone 2018, S. 7 f.), noch eine abgeschlossene Theorie (Knoll 2015, S. 9).

Im Folgenden erläutere ich zunächst das Konzept der Konvention und lege dar, inwiefern sich die EC zur Analyse von Deutungs- und Koordinationsprozessen in Unternehmen eignet. Dabei gehe ich auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede mit dem Symbolischen Interaktionismus und der Ethnomethodologie ein (Abschn. 3.1). Eine Darstellung der Grundbegriffe und des methodologischen Standpunkts der EC folgt in Abschn. 3.2. In Abschn. 3.3 stelle ich das Modell der Rechtfertigungsordnungen vor und präsentiere in Abschn. 3.4 konventionentheoretische Literatur, die sich auf das Themenfeld der beruflichen Eingliederung bezieht. In Abschn. 3.5 erfolgt eine Formulierung der Fragestellung in Begriffen der Theorie.

1 Konventionen als Ressourcen der Deutung und Koordination

Die Soziologie der Konventionen geht vom (wirtschafts-)soziologischen Grundproblem aus, dass Handeln unter der Bedingung von Unsicherheit stattfindet. Unsicherheit besteht bezüglich des Handelns und der Erwartungen anderer, wie auch bezüglich der Frage einer gelingenden Kooperation und der Bewertung der Qualitäten von Personen und Objekten sowie wirtschaftlichen Gütern und Dienstleistungen (Diaz-Bone 2009a, S. 177). Konventionen sind interpretative Rahmen, die von den Akteurinnen herangezogen werden, um mit dieser Unsicherheit umzugehen. Sie stellen „Sinnschemata“ und „Handlungslogiken“ bereit (ebenda), dienen als Orientierungshilfen und ermöglichen den Akteuren, die Koordination und Bewertung zu bewerkstelligen. „Konventionen sind damit kollektiv etablierte kulturelle Formen dessen, wie koordiniert und wie evaluiert wird.“ (Diaz-Bone und Thévenot 2010, Abs. 10) Neben ihrer Rolle als Koordinations- und Interpretationslogiken zeichnen sich Konventionen durch einen Gemeinwohlbezug aus und beziehen sich auf Rechtfertigungs- und Wertigkeitsordnungen (Diaz-Bone 2009b, S. 239 f.; vgl. Abschn. 3.3).

Als Theorie der kollektiven Kognition, deren Grundbegriff, die Konvention, sich auf interpretative Rahmen bezieht, eignet sich die Soziologie der Konventionen für die Analyse von Deutungs- und Koordinationsprozessen. Nach Nicolas Dodier (2011, S. 70) geht es um die „Formen der Abstimmung“ sozialer Akteurinnen untereinander, sowie um die zur Verfügung stehenden Ressourcen, die zur Bildung einer „Gemeinsamkeit der Perspektiven“ beitragen können und es ermöglichen, Handlungen zu koordinieren. Ähnlich wie die Ethnomethodologie und der Symbolische Interaktionismus schenkt die Soziologie der Konventionen der Handlungssituation, der Phänomenologie des Handelns und der Urteilsfähigkeit der Akteure Beachtung (Diaz-Bone und Thévenot 2010, Abs. 2). Peter Wagner fasst dies folgendermaßen zusammen:

Im Mittelpunkt stehen […] die Situation in ihrer Zeitlichkeit, die Ungewißheit des Einzelnen bezüglich der Identifikation der Situation und der interpretative Aufwand, die Situation mit anderen als eine gemeinsame zu bestimmen. (Wagner 1993, S. 466, Hervorhebungen i. O.)

Die Soziologie der Konventionen teilt Grundannahmen mit dem Symbolischen Interaktionismus, dessen erste Prämisse darin besteht, dass sich Bedeutung aus der sozialen Interaktion ergibt: „meaning arises in the process of interaction between people“ (Blumer 1969, S. 4). Auch Konventionen sind als Produkte sozialen Handelns zu verstehen und emergieren aus Interaktionen, wenn sich bestimmte Lösungen für Koordinationsprobleme in der beständigen Wiederholung bewähren und Teil von Handlungsroutinen werden. Sie werden so zu intersubjektiven Realitäten und können sich als „dauerhafte Prinzipien der Strukturierung“ verfestigen (Diaz-Bone 2009, S. 238) – jedoch ohne das Handeln zu determinieren. Gleichzeitig unterliegen sie in der praktischen Anwendung einer kontinuierlichen Neuinterpretation durch die Akteurinnen. Auch dieser Annahme entspricht eine Prämisse des Symbolischen Interaktionismus: „the use of meaning occurs through a process of interpretation“ (Blumer 1969, S. 5). Konventionen werden in Situationen durch die Akteurinnen zwar bereits als existent unterstellt, bevor die Koordination erfolgt, jedoch erst in der gelingenden Koordination performativ vollzogen (Diaz-Bone 2009a, S. 178).

Indem sie eine Konvention mobilisieren, verfolgen die Akteure die Perspektive – und erzielen meistens das Ergebnis – einen Rahmen des Wissens und Handelns zu setzen, eine Welt, von der sie in diesem Stadium der Handlung annehmen können, dass die anderen sie kennen. (Salais 2007, S. 97)

Über die Annahmen der Ethnomethodologie und des Symbolischen Interaktionismus hinaus geht die EC davon aus, dass es Konventionen unterschiedlicher Reichweite gibt, von denen einige den Rahmen lokaler Interaktionen und sozialer Gruppen überschreiten. Nach Dodier (2011, S. 70 f.) liegt die zusätzliche Erklärungskraft gegenüber der Ethnomethodologie darin, dass sie nicht nur nach den innerhalb von Interaktionen unmittelbar stattfindenden Abstimmungsprozessen der Akteure im Handlungsvollzug fragt, sondern auch nach Koordinationsmodellen mit einer größeren Reichweite. Die Ressourcen zur Abstimmung der Perspektiven, die in der EC im Fokus stehen, gehen auch über das hinaus, was im Symbolischen Interaktionismus mit dem Konzept der social worlds (Strauss 1978) bezeichnet wird, also Deutungsrahmen, die von sozialen Gruppen getragen werden.

Stärker als die Ethnomethodologie und der Symbolische Interaktionismus betont die EC darüber hinaus die Bedeutung von materiellen Objekten und kognitiven Kategorien, wie Klassifikationssystemen, Regeln und Standards für die kollektive Koordination und Interpretation (vgl. Abschn. 3.2). Durch diesen Objektbezug unterscheidet sich das Konzept der Konvention auch vom Begriff des Rahmens im Sinne Erving Goffmans, mit dem es aufgrund der Eigenschaft als Stütze für die Interpretation und das Handeln ebenfalls verglichen wird (Diaz-Bone und Thévenot 2010, Abs. 10). Im Gegensatz zu Rahmen werden Konventionen durch materielle Objekte und etablierte Kategoriensysteme gestützt und erhalten durch diese eine gewisse Stabilität, die dazu beiträgt, dass sie eine über Interaktionssituationen und soziale Gruppen hinausgehende Reichweite erlangen können.

Die konventionentheoretische Perspektive bietet also für die Analyse von kollektiven Deutungs- und Entscheidungsprozessen in Organisationen den Vorteil, dass sie den Blick auf Ressourcen unterschiedlicher Reichweite lenkt, die für die Interpretation und Koordination zur Verfügung stehen: solche, die kulturell verankert sind, wie auch solche, die lokal verfügbar oder auf den Rahmen der Interaktion beschränkt sind. Die Soziologie der Konventionen lenkt den Blick zudem auf die Bedeutung der materiellen und immateriellen Infrastruktur für die Interpretation und Koordination und erlaubt so, die Rolle der institutionellen Strukturen für das Interpretieren und Handeln gezielt zu berücksichtigen.

2 Grundbegriffe und methodologischer Standpunkt der EC

Wie aus den bisherigen Ausführungen bereits deutlich wurde, sind Konventionen nach dem Verständnis der EC von einem Begriff zu unterscheiden, der diese als Brauch, Sitte oder Gewohnheit auffasst. Konventionen sind „nicht einfach nur Regeln oder Regelmäßigkeiten“ (Diaz-Bone 2009a, S. 178). Sie enthalten zwar Regeln, aber auch Metaregeln, d. h. Regeln über die Anwendung dieser Regeln. In Anlehnung an Michael Storper und Robert Salais (1997, S. 16 f.) beschreibt Diaz-Bone (2009a, S. 178) Konventionen als Hypothesen:

[Konventionen] stellen aus der Sicht der Akteure so etwas wie Hypothesen dar für die Interpretation von weiteren Situationen sowie von Erwartungen und Handlungen Dritter. Als Hypothesen müssen sie zum einen im kollektiven Handeln erst gehandhabt, d. h. angepasst und umgesetzt werden, zum anderen müssen sie sich bewähren, d. h. sie müssen die Ziel-/Mitteldefinition und die kollektive Zielerreichung in Situationen leisten […].

Im Unterschied zum Begriff der Regel betont das Konzept der Konvention deren hypothetischen, tentativen Charakter: Konventionen können von den Akteuren überprüft und verworfen, durch andere Konventionen ersetzt oder neuinterpretiert werden.

Eine zentrale Annahme der Soziologie der Konventionen besteht darin, dass jede Situation durch eine Pluralität möglicher Handlungs- und Interpretationslogiken charakterisiert ist, zwischen denen die Akteurinnen sich entscheiden müssen. In jeder Situation steht demnach eine Mehrzahl an Konventionen zur Verfügung, nach denen die Koordination erfolgen kann (Diaz-Bone 2009b, S. 240). Diese Konventionen stehen stets in einer latenten Konkurrenz und können zu einem Konflikt zwischen den Akteuren führen, welche Konvention angemessen ist. Gerade im wirtschaftlichen Alltag treten Konventionen und die durch sie implizierten Werteordnungen nie allein auf (Thévenot 2001a; Knoll 2012, S. 70 f.).

Akteurinnen gelten in der Soziologie der Konventionen als kompetent, die Vielfalt an möglichen Handlungs- und Interpretationslogiken zu reflektieren. Als wichtiges Element des konventionentheoretischen Ansatzes ist das spezifische Akteursmodell zu benennen. Konventionen sind nicht als individuelle Dispositionen der Akteurinnen zu verstehen. Vielmehr sind sie in der Situation und dem Handeln angesiedelte Logiken (Diaz-Bone 2009b, S. 241). Den Akteuren wird die Kompetenz zuerkannt, die Handlungslogiken einer Situation reflexiv zu betrachten, die situative Angemessenheit einer Konvention zu beurteilen, zu kritisieren, oder eine andere Konvention zu mobilisieren. Zudem können sie zwischen verschiedenen Konventionen Kompromisse herstellen oder zur Änderung einer Konvention beitragen (Diaz-Bone und Thévenot 2010, Abs. 11).

Mit der Soziologie der Konventionen ist somit ein spezifisches Rationalitätsmodell verbunden (Diaz-Bone 2018, S. 369 ff.): Während die Akteurinnen zum einen als reflexiv kompetent gelten, wird zum anderen davon ausgegangen, dass ihre Rationalität unvollständig ist. Rationalität gilt nicht als universelle, sondern als eine sozio-kulturelle Ressource (Diaz-Bone 2018, S. 373 f.). Rationalität ist begrenzt, da niemand alle verfügbaren Informationen kognitiv verarbeiten kann. Sie ist interpretativ, insofern Deutungen konventionenbasiert erfolgen, und sie ist argumentativ, weil Interpretationen stets kritisiert werden können und gegenüber anderen Akteuren einer Rechtfertigung bedürfen. Zudem ist Rationalität situativ, weil die Kognition durch die in einer Situation vorhandenen Formatierungen von Informationen geprägt ist.

Mit der Formatierung von Informationen ist ein weiteres zentrales Konzept der EC angesprochen. Das von François Eymard-Duvernay und Laurent Thévenot entwickelte Konzept der Form bzw. Forminvestition besteht in der Grundidee, dass die Koordination durch eine Infrastruktur stabilisiert werden kann, wie zum Beispiel den Einsatz von Maschinen in der industriellen Produktion, oder auch die Einführung von Verhaltensregeln, Standards oder Kategorien, die auf eine bestimmte Art und Weise Informationen übermitteln. Das Konzept wurde u. a. anhand der Entstehung der französischen Berufsklassifikationen entwickelt. Thévenot (1984) verwendet das Beispiel der tayloristischen Arbeitsorganisation, um das Konzept zu veranschaulichen. In seiner wissenschaftlichen Lehre des Managements schlägt Frederick W. Taylor ein ganzes Repertoire an Strategien für die Unternehmensführung vor, darunter Techniken der Erfassung von Arbeitszeit, der Zergliederung von Arbeitsabläufen, Normierung von Zeiteinheiten, der grafischen Darstellung von Resultaten, etc. Das Wissen über die – aus Taylors Sicht – richtige Art der Koordination im Betrieb wird damit gewissermaßen in die Organisationsstrukturen eingelagert. Es wird „auf der Ebene des Unternehmens ‚formatiert‘ und zu ‚In-Formation‘, es ist damit nicht im Besitz einzelner Akteure“ (Diaz-Bone 2009a, S. 248). Indem FormateFootnote 1 bestimmte Abläufe und Zusammenhänge standardisieren, tragen sie dazu bei, dass die gewünschte Art und Weise der Koordination im Unternehmen stabilisiert werden kann. Der Begriff der Forminvestition macht deutlich, dass auch mit der Etablierung von Regeln, Standards, Kategoriensystemen, etc. Kosten und Aufwand verbunden sind und man deshalb auch hier von Investitionen sprechen kann (Diaz-Bone 2018, S. 87).

Formate unterscheiden sich bezüglich ihres räumlichen und zeitlichen Geltungsbereiches: Formate etablieren „a stable relation with a certain lifespan“ (Thévenot 1984, S. 11, Hervorhebungen i. O.). Die Dauerhaftigkeit und Verbreitung eines Formats hängt auch von seiner Verankerung in einer materiellen Infrastruktur (material equipment) ab, also davon, ob es durch technische, wissenschaftliche oder gesetzliche Instrumente objektiviert und fixiert wurde (Thévenot 1984, S. 15). In Organisationen spielen Formate eine wichtige Rolle, da sie zur Stabilisierung von Kompromissen zwischen unterschiedlichen Konventionen beitragen können. Durch ihre Eigenschaft „to resist efforts to distort, adjust or negotiate them“ verleihen sie den oftmals fragilen Kompromissen Stabilität und Dauerhaftigkeit (Thévenot 1984, S. 10). Obwohl sie bestimmte Arten der Koordination stabilisieren, determinieren Formate die Koordination nicht. Vielmehr definieren sie „forms of the probable“ (Thévenot 2001a, S. 407), also einen Raum des Erwartbaren und Wahrscheinlichen.

Im Zusammenhang mit dem Begriff des Formats ist es hilfreich, den Institutionenbegriff der Soziologie der Konventionen zu klären. Nach dem Verständnis von Diaz-Bone (2009b, S. 254) sind Institutionen als soziale Regeln zu verstehen. Als solche sind sie unvollständig, da sie keine vollumfänglichen Richtlinien enthalten, wie sie in welchen Situationen anzuwenden sind. Um eine Regel anzuwenden, also zu „vervollständigen“, müssen die Akteurinnen sie im Kontext einer Situation interpretieren und auf diesen anpassen. Dazu greifen sie auf Konventionen zurück. Konventionen helfen zur Vervollständigung von Institutionen und sind diesen vorgelagert (Knoll 2012, S. 62). Auch Formate sind in diesem Sinne als Institutionen zu begreifen, die einerseits eine konventionenbasierte Koordination stabilisieren können, aber gleichzeitig interpretationsbedürftig sind (Knoll 2015, S. 11). Formate lassen sich je nach Interpretation unterschiedlich umsetzen – sie determinieren die Koordination also nicht.

Organisationen sind aus der Perspektive der Soziologie der Konventionen als institutionelle Arrangements zu verstehen, d. h. als Komplexe bestehend aus verschiedenen Institutionen, die z. B. Status, Rollen und Objekte „fixieren“ (Knoll 2015, S. 21). Organisationen entstehen nach Thévenot (2001a, S. 410) aus der Absicht, die Komplexität verschiedener, konkurrierender Koordinationsmöglichkeiten zu bewältigen. Innerhalb von Organisationen sind stets unterschiedliche Konventionen und Wertigkeitsordnungen präsent, zwischen denen es zu Spannungen kommen kann. Organisationen lassen sich deshalb auch als „compromising devices“ (Thévenot 2001a) analysieren, weil sie durch die Kombination verschiedener Institutionen und gezielte Forminvestitionen Kompromisse zwischen unterschiedlichen Koordinationslogiken aufrechterhalten.

Charakteristisch für den methodologischen Standpunkt der Soziologie der Konventionen ist, dass sie eine analytische Unterscheidung der Makro-, Meso- und Mikroebene für soziologische Erklärungen ablehnt (Diaz-Bone 2018, S. 367–395). Dahinter steht nicht nur die Annahme, dass die verschiedenen „Ebenen“ in vielfältiger Weise ineinander hineinreichen, sondern auch der Gedanke, dass sich Phänomene der „Makroebene“ nur in den Praktiken, Dispositiven und Institutionen einer Situation verwirklichen, also unabhängig von diesen gar nicht beschreibbar sind (Diaz-Bone 2018, S. 376). Dies bedeutet jedoch nicht, sich auf den mikrosoziologischen Rahmen einzelner Interaktionssituationen zu beschränken. Vielmehr zieht die Soziologie der Konventionen das Konzept von Koordinationen unterschiedlicher Reichweiten vor, die den Rahmen einer einzelnen Interaktion zeitlich und räumlich überschreiten können. Eine Situation bedeutet nicht zwangsläufig Interaktionssituation, sondern kann auch eine länger bestehende Konstellation von Akteurinnen, Institutionen und Koordinationsproblemen bezeichnen. In einer Situation sind Elemente präsent, die man sonst den drei unterschiedlichen Analyseebenen zuordnen würde:

„Situationen sind komplexe Konstellationen von Objekten, kognitiven Formaten, Koordinationserfordernissen (Problemen), institutionellen Arrangements (wie Organisationen), Personen und Konzepten.“ (Diaz-Bone 2018, S. 375)

Die so verstandene Situation ist Analyseeinheit in der Soziologie der Konventionen. Ziel ist es, eine „Introspektion“ einer Situation zu vollziehen, mit anderen Worten, die Situation „von innen zu begreifen“ (Salais 2007, S. 96, Hervorhebung i. O.). Es geht also darum nachzuvollziehen, durch welche Logiken des Interpretierens und Handelns sie aus der Sicht der involvierten Akteure geprägt ist.

3 Das Modell der Rechtfertigungsordnungen

Als Koordinations- und Interpretationsmuster sind Konventionen immer auf eine Vorstellung des Gemeinwohls bezogen. Sie spielen deshalb eine wichtige Rolle für die Formulierung von Kritik und Rechtfertigungen. Dieser Aspekt der Konventionentheorie wurde von Luc Boltanski und Laurent Thévenot (2007[1991]) in ihrem für die Soziologie der Konventionen grundlegenden Werk Über die Rechtfertigung ausgearbeitet. Boltanski und Thévenot präsentieren ein pragmatisches Modell des Rechtfertigungshandelns, in dem sie die Herstellung von Legitimation als situatives Handlungsproblem von Akteurinnen betrachten (Knoll 2012, S. 73). Die in diesem Werk beschriebenen Rechtfertigungsordnungen können als Konventionen mit einer großen Reichweite verstanden werden. Das Modell des Rechtfertigungshandelns erwies sich im fortgeschrittenen Stadium der Datenanalyse als sinnvolles sensibilisierendes Konzept für die vorliegende Studie. Es stellte sich heraus, dass die Rechtfertigung eines eingeschränkten Arbeitsvermögens und der Aktivitäten der Wiedereingliederung für die Akteurinnen des Felds ein zentrales Handlungsproblem ist (vgl. Abschn. 4.2 und 4.6).

Boltanski und Thévenot interessieren sich für die alltäglichen Operationen, die Akteure vollziehen, um Kritik zu üben, Kritik zu begründen, sich selbst gegenüber Kritik zu rechtfertigen oder sich auf eine gemeinsame Rechtfertigung zu einigen (Boltanski und Thévenot 2000, S. 208 f.). Sie verstehen diese als eine Form von Arbeit:

The persons are working to establish a fragile agreement. We stress the work persons have to accomplish here and now in order to construct the social world, to endow it with meaning and to confer on it a minimum of firmness. (ebd., S. 212)

Das Modell des Rechtfertigungshandelns bezieht sich auf Situationen, die mit einem Rechtfertigungsimperativ ausgestattet sind. Dies trifft grundsätzlich auf Situationen zu, in denen es möglich ist, Kritik anzubringen. Kein Rechtfertigungsimperativ liegt zum Beispiel in Situationen vor, in denen Routinen unhinterfragt befolgt werden oder in denen Machtverhältnisse derart asymmetrisch sind, dass Kritik nicht angehört wird oder Probleme durch Gewalt gelöst werden (Boltanski und Thévenot 2007, S. 61).

Boltanski und Thévenot benennen in weiteren Arbeiten unterschiedliche Handlungsregimes, von denen das Regime des rechtfertigbaren Handelns nur eines ist (zu den unterschiedlichen Konzeptionen von Boltanski und Thévenot siehe auch Kozica und Kaiser 2015, S. 50). Mit dem Konzept der Regimes des Engagiertseins unterscheidet Thévenot (2001b, 2007) zwischen verschiedenen Arten, wie Handelnde sich auf ihre Umwelt einlassen bzw. von ihrer Umwelt engagiert werden. Der Begriff des Engagements betont zum einen die Abhängigkeit der Akteurinnen von ihrer Umwelt, insbesondere deren kognitiven Formaten, und zum anderen ihr Streben nach einem Gemeinwohl (Thévenot 2007, S. 415). Im Regime des Vertrauten steht das persönliche Wohlbefinden im Nahbereich der unmittelbaren Sozialbeziehungen im Vordergrund. Das Regime des planenden Handelns ist auf die Verwirklichung von Zielen ausgerichtet.

Boltanski (2010) unterscheidet demgegenüber zwischen einem praktischen Register und einem metapragmatischen Register. Letzteres bezeichnet ein gehobeneres Reflexionsniveau, auf dem es nicht mehr darum geht, wie ein Problem praktisch zu bewältigen ist, sondern die Natur des Problems zur Debatte steht (Boltanski 2010, S. 105 ff.). An anderer Stelle unterscheidet er zwischen vier unterschiedlichen Handlungsregimes (Boltanski 2012; Basaure 2008, S. 4–5). Zwei davon bezeichnet er als Regimes der Auseinandersetzung: zum einen das Regime der Gerechtigkeit, das demjenigen des rechtfertigbaren Handelns entspricht, und zum anderen das Regime der Gewalt. Im Regime der Gewalt werden im Unterschied zum Regime der Gerechtigkeit keine Tatbestände, Handlungsoptionen und Argumente abgewogen. Zwei andere Handlungsregimes bezeichnet er als Regimes des Friedens. Dazu gehört zum einen das Regime einer „konventionellen Koordination, die durch ein verpflichtendes Objekt hergestellt wird“ (Basaure 2008, S. 5). Zum anderen gehört dazu das Regime der Liebe.

Solange die Koordination der Akteure sich im Bereich des alltäglich Vertrauten, im Regime der Liebe oder Gewalt, oder in alltäglichen Routinen und Plänen bewegt, sind die Koordinationsprinzipien kein Gegenstand der Reflexion. Dies geschieht erst in kritischen Momenten, in denen die Akteurinnen aufgrund einer Unstimmigkeit in ihren Alltagsroutinen innehalten: „Menschen, die in alltäglichen Beziehungen leben, bestimmte Dinge […] gemeinsam tun und ihr Handeln koordinieren müssen, stellen fest, dass etwas falsch läuft, dass sie nicht mehr zurechtkommen, dass etwas sich ändern muss.“ (Boltanski und Thévenot 2011, S. 43). Kritische Momente zeichnen sich dadurch aus, dass Akteure eine Unzufriedenheit äußern, Kritik üben und es zu Streitigkeiten kommt. Hierbei wechseln sie ins Regime des rechtfertigbaren Handelns, das sich durch einen Rechtfertigungsimperativ auszeichnet.

In diesen kritischen Momenten tritt ein Dissens zutage: es besteht Uneinigkeit darüber, welche Beurteilung und Handlungsweisen angemessen sind. Boltanski und Thévenot interessieren sich für die Frage, wie die beteiligten Personen in solch einer Situation zu einer Einigung zurückfinden. Um zu erklären, was falsch läuft oder um sich auf eine gemeinsame Sichtweise zu einigen, müssen sie unterschiedliche Tatbestände, Menschen und Objekte zueinander in Beziehung setzen. Boltanski und Thévenot bezeichnen dies als Herstellung von Äquivalenz: „Das Zusammenbringen diverser Elemente und unterschiedlicher Tatbestände bedarf der Rechtfertigung unter Bezugnahme auf ein Äquivalenzprinzip, das klar macht, was ihnen gemeinsam ist.“ (Boltanski und Thévenot 2011, S. 45) Im Regime des rechtfertigbaren Handelns besteht zudem die Anforderung, Argumente mit Allgemeingültigkeit auszustatten, indem sie so untermauert werden, dass sie auch von außenstehenden Dritten akzeptiert werden würden: „in order to reach an agreement, one must be capable of justifying one’s self by referring to a principle that is valid for all“ (Boltanski und Thévenot 2000, S. 212). Rechtfertigungen und Kritik müssen sich also auf situationsübergreifende, universelle Prinzipien beziehen, mit denen ein Anspruch auf Allgemeingültigkeit einhergeht.

Die Uneinigkeit eines kritischen Momentes betrifft die Elemente, denen für die Beurteilung der Situation Relevanz zukommt, sowie ihr relatives Gewicht. Boltanski und Thévenot (2011, S. 49) verwenden diesbezüglich den Begriff der Größe (grandeur): damit gemeint ist die Geltung und Wertigkeit der in der Situation präsenten Wesen (Personen, Objekte). Sie vertreten die Hypothese einer begrenzten Vielfalt an Äquivalenzprinzipien, bzw. Rechtfertigungs- oder Wertigkeitsordnungen (ordres de grandeur)Footnote 2, die in der Lage sind, einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit zu begründen. Diese sind nicht mit sozialen Gruppen verknüpft, sondern mit Situationen.

Als Grundlage für die Identifizierung verschiedener Wertigkeitsordnungen dienten Boltanski und Thévenot empirische Untersuchungen des alltäglichen Verlaufs von Disputen sowie die Analyse von klassischen Werken der politischen Philosophie und von zeitgenössischer Ratgeberliteratur für angemessenes Verhalten in Unternehmen. In den drei Datengrundlagen fanden sie Elemente der gleichen Rechtfertigungsordnungen vor. Anhand der Werke der politischen Philosophie identifizierten sie ein abstraktes Modell des Gemeinwesens, das Teil einer Rechtfertigungsordnung ist. In der Ratgeberliteratur manifestierten sich Repertoires an Objekten, die mit einer jeweiligen Rechtfertigungsordnung verbunden sind. Jede Rechtfertigungsordnung ist mit einer „konkreten materialen Welt der Dinge“ (Knoll 2012, S. 75) verbunden, weshalb sie auch als „Welt“ bezeichnet wird (Boltanski und Thévenot 2007, S. 65). Die Bedeutung von Objekten für das Rechtfertigungshandeln wird von Boltanski und Thévenot wiederholt betont: um ihre Argumente in einem Disput zu untermauern müssen sich die Akteurinnen auf objektiv vorliegende „Beweisstücke“ beziehen. Eine Konvention kann dann geltend gemacht werden, wenn sie sich mit den Objekten, die in der Situation vorhanden sind, auf stimmige Weise verbinden lässt (Boltanski und Thévenot 2007, S. 20).

Eine Rechtfertigungsordnung ist zudem durch weitere Elemente charakterisiert (Boltanski und Thévenot 2007, S. 197 ff.): sie enthält ein Koordinationsprinzip (die Konvention im engeren Sinn) und ein Prinzip der „Größe“. Zu ihr gehören außerdem die Spezifikation typischer Subjekte, Objekte sowie ihrer Beziehungen untereinander, ein Modell der Prüfung von Wert, Modi der Äußerung von Urteilen und Formen der Evidenz. Im Folgenden präsentiere ich die sechs Rechtfertigungsordnungen, wie sie von Boltanski und Thévenot beschrieben werden.Footnote 3

Die Konvention der Inspiration: Nach dieser Konvention beruht Wert auf Inspiration und Originalität. Personen kommt Größe zu, insofern sie imstande sind, Erfahrungen der Inspiration zu machen (Boltanski und Thévenot 2007, S. 222 ff.). Diese zeigen sich in der Form von Gefühlen und Leidenschaften. Wer Größe erlangen will, muss aus Gewohnheiten ausbrechen, Routinen hinterfragen und offen sein für Neues. Ginge es darum, die Qualität der Arbeitskraft zu bestimmen, würde diese demnach von ihren Fähigkeiten abhängen, originelle, kreative Ideen zu entwickeln. Eine Eigenheit der Konvention der Inspiration besteht jedoch darin, dass sich Qualitäten ihr zufolge nicht messen lassen. Verbreitet ist diese Konvention in den Branchen der Kreativ- und Kulturindustrie (Diaz-Bone 2018, S. 153).

Die Konvention des Hauses: Die Frage nach Gerechtigkeit hebt nach dieser Konvention auf zwischenmenschliche Beziehungen und das Einhalten von Takt und Anstand ab (Boltanski und Thévenot 2007, S. 228 ff.). Größe kommt den Personen zu, die einen guten Ruf haben und von hierarchisch höher gestellten Personen wertgeschätzt werden. Die Wertigkeit einer Arbeitskraft richtet sich entsprechend nach ihrem Rang in der betrieblichen Vertrauenshierarchie (Boltanski und Thévenot 2011, S. 58). Die Konvention des Hauses ist am Modell der Familie ausgerichtet (Diaz-Bone 2018, S. 150) und beruht auf einer Verallgemeinerung von Verwandtschaftsbeziehungen, z. B. auf den Betrieb als familienähnliche Gemeinschaft. Das Gemeinwohl liegt in der Stärke der Gemeinschaft, die für ihre Mitglieder sorgt und sie schützt (Diaz-Bone 2018, S. 151). „In der Welt des Hauses haben die wahrhaft Großen Pflichten (‚mehr noch als Rechte‘) gegenüber ihrer Umgebung und insbesondere gegenüber jenen, die zu ihnen gehören und für die sie folglich Verantwortung tragen.“ (Boltanski und Thévenot 2007, S. 237, Hervorhebungen i. O.). Die hierarchisch Untergeordneten sind umgekehrt gegenüber Höhergestellten zur Hilfsbereitschaft, Dienstbarkeit und Ehrerbietung verpflichtet. Die häusliche Konvention stützt sich auf mündlich überlieferte Beispiele und Anekdoten als Formen der Evidenz. Eine wichtige Grundlage für Rechtfertigungen sind Tradition und Geschehnisse in der Vergangenheit. Die häusliche Konvention bezieht sich auf den Nahbereich persönlicher Beziehungen und ist nur „schwach ausgestattet mit Instrumenten, mit denen man über Entfernung hinweg handeln kann“ (Boltanski und Thévenot 2007, S. 229).

Die Konvention der Meinung: Nach dieser Konvention beruht der Wert von Personen oder Dingen auf ihrer Berühmtheit und Anerkennung. Dabei geht es nicht wie bei der häuslichen Konvention um zwischenmenschliche Beziehungen, sondern um die einseitige Anerkennung durch eine möglichst große Anzahl Menschen. Die Rangordnung von Personen und Dingen wird allein durch die Meinung hergestellt, die andere bzw. die Öffentlichkeit von ihnen haben (Boltanski und Thévenot 2007, S. 246 ff.). Eine Strategie, um diese Art der Größe zu erlangen besteht darin, Werbung zu betreiben und gegenüber einer größtmöglichen Anzahl von Menschen zu kommunizieren. Für Unternehmen kann diese Konvention beispielsweise relevant werden, wenn sie sich als „Marke“ profilieren wollen.

Die staatsbürgerliche Konvention: Nach dieser Wertigkeitsordnung ist das höchste Gut und Bewertungskriterium das Kollektivinteresse. Die staatsbürgerliche Konvention betont kollektive Wesenheiten, die den Willen der Gesamtheit repräsentieren. Zu Größe gelangt man, indem man Partikularinteressen dem kollektiven Interesse unterordnet (Boltanski und Thévenot 2007, S. 260). In Unternehmen artikuliert sich diese Konvention durch die Einforderung von Arbeitnehmerrechten oder die Ausweisung einer corporate social responsibility (Diaz-Bone 2018, S. 155). Um die Unabhängigkeit von privaten Neigungen und partikularen Interessen zu gewährleisten, stützt sich diese Konvention auf Instrumente, Regeln und Mechanismen der Repräsentation, die die immateriellen Kollektivwesen stabilisieren und es ermöglichen über Distanzen hinweg zu handeln (Boltanski und Thévenot 2007, S. 255 ff.). Evidenz muss hier immer eine offizielle und formalisierte Gestalt annehmen.

Die Konvention des Marktes: Nach dieser Rechtfertigungsordnung kommt das Gemeinwohl durch das individuelle Verfolgen von Eigeninteresse und das Streben nach Reichtum zustande. Die Koordination erfolgt nach dem Konkurrenzprinzip. Wert bzw. Größe zeigt sich darin, dass ein Objekt konkurrierende Besitzwünsche auf sich zieht und drückt sich über den Preis aus (Boltanski und Thévenot 2007, S. 268). Übertragen auf den Arbeitsmarkt drückt sich demzufolge der Wert von Arbeitskräften im Lohn aus, den Arbeitgeberinnen ihnen zu zahlen bereit sind. Ein wichtiges Beurteilungskriterium nach der Marktkonvention ist der Erfolg. Das Format der relevanten Information ist monetär. Die Marktkonvention ist auf einen kurzfristigen Zeithorizont ausgelegt.

Die Konvention der Industrie: Nach dieser Rechtfertigungsordnung definiert sich Wertigkeit über Produktivität und Effizienz. Ziel ist die Planbarkeit der Zukunft dank Berechnung und Organisation. Der Zeithorizont der Konvention der Industrie ist also ein langfristiger. Größe definiert sich über Funktionalität, Einsatzfähigkeit oder Professionalität und zeigt sich bei Arbeitskräften darin, „dass sie imstande sind, sich in die Räderwerke und Getriebe der Organisation einzufügen“. Der Wert von Arbeitskräften ist umgekehrt gering, „wenn sie nichts Nützliches produzieren, unproduktiv sind und aufgrund ihrer Abwesenheit oder ihres Turn-overs wenig Arbeit leisten, wenn sie nicht erwerbstätig, arbeitslos oder behindert sind oder Arbeitsleistung von schlechter Qualität abliefern, schließlich wenn sie ineffizient, unmotiviert, unqualifiziert und nicht anpassungsfähig sind“ (Boltanski und Thévenot 2007, S. 278 f., Hervorhebungen i. O.). Nach der industriellen Konvention liegt die „Würde“ der Personen in ihrem Aktivitätspotential. Formen der Evidenz, die zur industriellen Konvention gehören, zeichnen sich durch exakte Messbarkeit aus, z. B. als Statistiken und Kennzahlen.

Die Koordination im wirtschaftlichen Alltag beruht oft mindestens auf der marktlichen und der industriellen Konvention und ist gegebenenfalls durch weitere Konventionen geprägt (Thévenot 2001a; Knoll 2012, S. 70 f.). Besteht in einer Situation „evaluative Mehrdeutigkeit“ angesichts der Pluralität möglicher Rechtfertigungsprinzipien und Bewertungskriterien, lässt sich durch eine so genannte Realitätsprüfung Klarheit herstellen (Knoll 2015, S. 12). Dabei werden die Personen und Objekte in der Situation mit der Ordnung der möglichen Konventionen abgeglichen. Von der Prüfung wird erwartet, „dass sie die Uneinigkeit beendet, indem sie wieder eine richtige Anordnung von Personen und Objekten vornimmt“ (Boltanski und Thévenot 2007, S. 191). Der Ausgang der Prüfung ist ungewiss. In ihrem Verlauf kann es zur Kritik kommen, dass die Prüfung nicht korrekt durchgeführt wurde, etwa indem ihr Resultat durch das Beiziehen von Wesen, also Personen oder Objekten aus anderen Welten verfälscht wird. Eine radikalere Kritik stellt das Modell der Prüfung und damit die herangezogene Konvention insgesamt in Frage (Boltanski und Thévenot 2011, S. 64 f.) Vor allem Situationen, die sehr heterogen sind, weil sie Gegenstände enthalten, die in unterschiedlichen Welten – also in unterschiedlichen Rechtfertigungsordnungen – Relevanz besitzen, sind anfällig für diese radikale Form der Kritik.

Eine Möglichkeit, den Konflikt beizulegen, besteht darin, sich auf eine Konvention zu einigen. Eine andere beruht darauf, einen Kompromiss zu schließen. Ein Kompromiss erlaubt es den Akteurinnen, an unterschiedlichen Vorstellungen des Gemeinwohls festzuhalten, ohne dass explizit geklärt werden muss, auf welchem Prinzip die Koordination gründet (Boltanski und Thévenot 2007, S. 367). Bei einem Kompromiss bleiben Wesen aus unterschiedlichen Welten präsent, ohne weiter zu Meinungsverschiedenheiten zu veranlassen. Boltanski und Thévenot charakterisieren diese Situation als hybrid. Weil das gleichzeitige Vorhandensein von Wesen aus unterschiedlichen Welten aber wieder zu Kritik führen kann, sind Kompromisse fragil und können jederzeit wieder in eine Prüfung münden. Um die Dauerhaftigkeit einer kompromissbasierten Form der Koordination zu gewährleisten, müssen Kompromisse mit hohem Aufwand stabilisiert werden, zum Beispiel in Organisationen (Knoll 2012, S. 71). Grundsätzlich lassen sich Kompromisse durch Forminvestitionen (vgl. Abschn. 3.2) stabilisieren, die die heterogenen Elemente der Situation mit einander verbinden und mit einer eigenen Identität ausstatten, sodass nicht mehr erkennbar ist, dass sie unterschiedlichen Welten angehören (Boltanski und Thévenot 2007, S. 369)

Die zahlenmäßige Zunahme sich gegenseitig verstärkender hybrider Objekte und ihre Identifikation mit einer gemeinsamen Form helfen bei der Anbahnung und Stabilisierung von Kompromissen. Ist ein Kompromiss bereits angebahnt, lassen sich die Wesen, die er zusammenbringt, nur noch schwer wieder herauslösen. (Boltanski und Thévenot 2007, S. 370, Hervorhebung i. O.)

Forminvestitionen schränken damit die evaluative Mehrdeutigkeit also zu einem gewissen Grad ein. Wie Lisa Knoll anmerkt, ist hier nicht ganz klar, inwiefern die Koordination durch die in einer Situation vorhandenen Formate vorbestimmt wird oder immer noch als prinzipiell mehrdeutig verstanden wird. Laut Knoll wird das Hauptargument der prinzipiellen Mehrdeutigkeit dadurch eingeschränkt (Knoll 2012, S. 77). In Anbetracht davon, dass auch Formate der Interpretation bzw. der Vervollständigung durch Konventionen bedürfen, bleibt eine gewisse evaluative Mehrdeutigkeit jedoch trotz allem bestehen.

4 Konventionen der beruflichen Eingliederung

Arbeit und Beschäftigung waren von Anbeginn ein zentrales Thema der Soziologie der Konventionen. Die betriebliche Wiedereingliederung von Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen in die Arbeitswelt wurde bislang jedoch nur selten aus konventionentheoretischer Sicht analysiert. In diesem Kapitel gebe ich einen Überblick über die bisherigen Anwendungen dieser Theorieperspektive auf das Themenfeld. Daran soll ersichtlich werden, wie sich konkrete konventionentheoretische Konzepte für das Gebiet der Arbeitsintegration analytisch fruchtbar machen lassen.

In einer historischen Studie untersucht Alan Canonica (2020) die Konventionen der beruflichen Eingliederung in Unternehmen und dem Sozialstaat in der Schweiz zwischen 1945 und 2008 anhand von öffentlichen Diskussionen und politischen Debatten, an denen sich u. a. Behinderten- und Arbeitgeberverbände beteiligten. Für diesen Zeitraum stellt er einen Wandel der Wertigkeiten fest, die Arbeitskräfte mit Behinderungen aus der Sicht von Arbeitgebern besitzen. In den 1940ern und 1950ern dominierte ein traditioneller Unternehmenstypus, der sich als Betriebsgemeinschaft verstand und die Beziehung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmerinnen als gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis auffasste, welches den Schutz der Angestellten einschloss (Canonica 2020, S. 194). Die Weiterbeschäftigung von „Mitgliedern der Betriebsfamilie“, die eine langfristige Einschränkung ihrer Arbeitsfähigkeit erleiden, erschien vor diesem Hintergrund als „moralische Pflicht“ der Arbeitgeberinnen (ebd., S. 191). Canonica ordnet diese Begründungslogik der häuslichen Konvention zu, wie sie von Boltanski und Thévenot beschrieben wurde.

Canonica identifiziert neben der über die häusliche Konvention begründeten Weiterbeschäftigung von Arbeitskräften mit gesundheitlichen Einschränkungen noch ein zweites Beschäftigungsmuster für die 1940er und 1950er: So wurden auch Personen mit Behinderungen rekrutiert, was als solidarischer Beitrag an die Gesellschaft verstanden, also über die staatsbürgerliche Konvention begründet wurde. In der Zeit der Hochkonjunktur, als Arbeitskräftemangel herrschte, waren Menschen mit Behinderungen als Arbeitskräfte gefragt, weshalb ihr Wert auch nach der Marktkonvention stieg. Zudem wurden sie als besonders geeignet für das Segment der niedrig qualifizierten Arbeit erachtet, die es in diesem Zeitraum vor allem in der industriellen Produktion noch vermehrt gab. Insofern ihre Beschäftigung in diesen Bereichen als funktional angesehen wurde, erfolgte also auch eine Wertzuschreibung aus dem Blickwinkel der industriellen Konvention (ebd., S. 193). Wie Canonica betont, spielten marktliche und industrielle Beurteilungslogiken in der Beschäftigung von Menschen mit Behinderung jedoch eine eher untergeordnete Rolle. So war es beispielsweise üblich, Arbeitskräften, die einen bestimmten Leistungsstandard nicht erreichten, trotzdem den für die Tätigkeit üblichen Lohn zu zahlen, was man als „Soziallohn“ bezeichnete.

Mit der Wirtschaftskrise in den 1970ern verlor die staatsbürgerliche Konvention als Grundlage für die Neuanstellung von Menschen mit Behinderungen an Bedeutung. Unternehmen konzentrierten sich fortan auf die Weiterbeschäftigung von Angestellten mit gesundheitlichen Einschränkungen. Die Bedeutung der häuslichen Konvention blieb also bestehen. Der Wert von Arbeitskräften mit Behinderungen auf dem Arbeitsmarkt sank jedoch, und durch den Strukturwandel und das Wegfallen von Arbeitsplätzen mit niedrigen Qualifikationsanforderungen auch ihr Wert nach der industriellen Konvention.

Die 1990er Jahre brachten nach Canonica eine weitere Veränderung der Wertigkeiten mit sich. Durch die zunehmende Orientierung am shareholder value und die Einführung neuer Managementmethoden, die stärker auf Flexibilisierung und Kostenminimierung setzten, verloren der traditionelle Schweizer Unternehmenstypus und damit verbunden die häusliche Konvention, also die Sichtweise auf das Unternehmen als „Betriebsfamilie“ an Bedeutung (ebd., S. 194). Statt der traditionellen moralischen Pflicht der Weiterbeschäftigung von gesundheitlich eingeschränkten Mitarbeitenden wurde die Gesundheit der Beschäftigten als Kostenfaktor betrachtet, den es zu „managen“ gilt. Zunehmend wurden Arbeitskräfte mit Behinderungen entlassen, was zu einer stärkeren Belastung der sozialstaatlichen Unterstützungssysteme führte. Gleichzeitig wurden Organisationseinheiten wie das betriebliche Gesundheitsmanagement geschaffen, die sich um die Wiedereingliederung von erkrankten Beschäftigten bemühen. In gewissem Sinn erfüllten auch diese, so Canonica, den „klassischen betrieblichen Imperativ der Unterstützung der eigenen Belegschaft“, jedoch unter einem neuen, „ökonomisierten“ Vorzeichen (ebd., S. 194).

Die Studie von Canonica zeigt, wie sich die argumentativen Begründungen für (bzw. gegen) die Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen mit den von Boltanski und Thévenot herausgearbeiteten Rechtfertigungsordnungen in Verbindung bringen lassen. In ähnlicher Weise gehen Eva Nadai et al. (2019) vor, die die Praktiken der Beschäftigung gesundheitlich eingeschränkter Arbeitskräfte in Unternehmen und dem Sozialstaat der Schweiz der Gegenwart aus soziologischer Sicht untersuchen. Sie stellen eine begrenzte Bereitschaft von Unternehmen zur Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen fest. Wie Canonica gelangen Nadai et al. zum Resultat, dass die Beschäftigung von Arbeitskräften mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen von Arbeitgebern über eine Verantwortung gegenüber der eigenen Belegschaft begründet oder als solidarischer Beitrag des Unternehmens zur Gesellschaft gerahmt wird. Auch heute pflegen einige Unternehmen noch ein Selbstverständnis als Betriebsfamilie und verbinden damit gegenseitige Verpflichtungen zwischen Arbeitgeberinnen und Arbeitnehmern, die über den Tausch von Arbeitsleistung gegen Lohn hinausgehen. Die Stärke dieser über die häusliche Konvention begründeten Verantwortung hängt mit dem Dienstalter einer Person und ihrer Nähe zu den Entscheidungsträgern im Betrieb zusammen (Nadai et al. 2019, S. 161–162). Gleichzeitig besteht seitens der Arbeitgeber die Erwartung, dass sich Verantwortung mit der Generierung von Profit und der Einhaltung von Produktivitätsstandards vereinbaren lassen muss. Die Beschäftigung von gesundheitlich eingeschränkten Mitarbeitenden soll in anderen Worten finanziell keine Nachteile für das Unternehmen bringen und den Produktionsprozess nicht beeinträchtigen. Die Beschäftigung von gesundheitlich eingeschränkten Arbeitskräften stellt sich somit als Kompromiss zwischen der häuslichen und staatsbürgerlichen mit der marktlichen und industriellen Konvention dar.

Nadai et al. (2019) mobilisieren zudem das konventionentheoretische Konzept des Formats, um zu zeigen, durch welche institutionellen Arrangements dieser Kompromiss gestützt wird. Unter betrieblichen Formaten diskutieren sie Personalmanagementsysteme, die Definition von Aufgabenprofilen, sowie Formate der betrieblichen sozialen Sicherung (Nadai et al. 2019, 2021). Zu den Letzteren gehören die Formate der finanziellen Absicherung im Falle längerfristiger gesundheitlicher Beeinträchtigungen von Mitarbeitenden wie z. B. eine Krankentaggeldversicherung (Nadai et al. 2019, S. 81). Diese zahlt den Lohn der krankgeschriebenen Beschäftigten für einen definierten Zeitraum (in Unternehmen in der Schweiz i. d. R. nicht mehr als zwei Jahre), was dazu führt, dass die Betroffenen in dieser Zeit nicht nach der marktlichen Konvention beurteilt werden. Die Absicherung über eine Krankentaggeldversicherung schafft damit Raum für eine Beurteilung der Personen nach der familienweltlichen oder staatsbürgerlichen Konvention. In der Zeit, in der der Lohn der Betroffenen gedeckt ist, unternehmen die Firmen Versuche der Wiedereingliederung. Wenn die Betroffenen die erwarteten Leistungen jedoch nach Auslaufen der Zahlungen nicht wieder erreicht haben, wird das Arbeitsverhältnis aus Gründen mangelnder Produktivität aufgelöst, womit die Marktkonvention bzw. die industrielle Konvention wieder in den Vordergrund rücken (Nadai et al. 2019, S. 164–167).

Nadai et al. (2019, S. 83) benennen zudem staatliche Formate, die die Wertigkeit von gesundheitlich eingeschränkten Arbeitskräften beeinflussen. Darunter fallen der arbeitsrechtliche Kündigungsschutz, sowie direkte und indirekte Leistungen der Sozialversicherungen. (Teil-)Renten der IV oder Einarbeitungszuschüsse können die Arbeitskosten für gesundheitlich eingeschränkte Angestellter (vorübergehend) verbilligen und damit deren Bewertung nach der Marktkonvention beeinflussen. Dadurch schaffen sie Raum für Betriebe, Arbeitskräfte mit Behinderungen zu beschäftigen, ohne dass damit ein finanzieller Mehraufwand verbunden wäre (Nadai et al. 2019, S. 168–171). Zudem verfügt die IV über die Möglichkeit, Arbeitsplatzanpassungen zu finanzieren und versucht so, die Passung der gesundheitlich beeinträchtigten Arbeitskräfte in die Produktionsabläufe, und damit ihre Bewertung nach der industriellen Konvention zu beeinflussen. Formate spannen insofern einen Möglichkeitsraum für Unternehmen auf, eine aus ihrer Sicht betriebswirtschaftlich vertretbare „soziale Verantwortung“ wahrzunehmen.

Widerstreitende Konventionen gilt es auch in nicht-profitorientierten Firmen zu vereinbaren, die die berufliche Eingliederung als ihren Hauptauftrag verfolgen. Dies zeigt Philippe Semenowicz (2018) am Beispiel so genannter „structures d’insertion par l’activité économique (SIAE)“ in Frankreich, was sich frei als Sozialfirmen der Arbeitsintegration übersetzen lässt. Diese haben den Auftrag, Personen bei der Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt zu unterstützen, indem sie sie an Arbeitsplätzen in eigenen Betrieben oder in Partnerunternehmen bei der Rückkehr in den Arbeitsprozess und bei der Aneignung beruflicher Kompetenzen unterstützen. Insofern die Arbeitsmarktintegration im Namen des gesamtgesellschaftlichen Gemeinwohls erfolgt, kann die staatsbürgerliche Konvention als leitend bzw. konstitutiv für diesen Unternehmenstypus angesehen werden. Gleichzeitig haben SIAE den Auftrag, ihre Produkte auf einem Markt zu verkaufen und müssen sich daher an Konkurrenz- und Effizienzprinzipien ausrichten. Dies führt nach Semenowicz in verschiedene Dilemmata, die sich u. a. aus dem Konflikt der staatsbürgerlichen mit der marktlichen oder industriellen Konvention ergeben. So wäre es z. B. aus der Perspektive der industriellen Konvention angebracht, nur Stellensuchende mit höherer Produktivität aufzunehmen, was aber dem staatsbürgerlich begründeten Ziel zuwiderläuft, gerade diejenigen Personen zu unterstützen, die am meisten Schwierigkeiten im Arbeitsmarkt haben. Semenowicz zeigt, dass die SIAE durch die längerfristige Zusammenarbeit mit Kunden- bzw. Partnerfirmen einen Kompromiss zwischen diesen widerstreitenden Konventionen finden und aufrechterhalten können.

Widersprüchliche Wertigkeitsordnungen und darüber hinaus unterschiedliche Handlungsregimes sind zudem im sozialpädagogischen Eingliederungshandeln miteinander in Einklang zu bringen, wie Stefan Dahmen (2019) in einer Untersuchung der Begleitung von Jugendlichen im Übergang ins Berufsbildungssystem im Kontext der schweizerischen Arbeitslosenversicherung zeigt. Die sozialpädagogischen Fachpersonen haben hier den offiziellen Auftrag, die teilnehmenden Jugendlichen in den Ausbildungsmarkt zu vermitteln. Dazu müssen sie sich an den Evaluationskriterien des Arbeitsmarktes orientieren, wie zum Beispiel Leistungsfähigkeit, was dem Bewertungskriterium der industriellen Konvention entspricht. Zudem unterliegt das Verhalten der Jugendlichen einer Bewertung nach der staatsbürgerlichen Konvention: insofern sie sozialstaatliche Leistungen beziehen, sind sie verpflichtet sich an definierte Regeln zu halten, die für alle „Bürger“ gelten. Gleichzeitig erfordert das sozialpädagogische Arbeiten einen Wechsel vom Regime des Rechtfertigungshandelns in das Regime des Vertrauten. Die Fachpersonen müssen auch die individuellen persönlichen Umstände der Jugendlichen berücksichtigen, um sie angemessen begleiten und sie an die gestellten Erwartungen heranführen zu können. Sie müssen so im Eingliederungshandeln situativ Kompromisse zwischen diesen unterschiedlichen Konventionen und Handlungsregimes herstellen.

Die konventionentheoretische Literatur zur beruflichen Eingliederung zeigt, dass das Auftreten von Gesundheitsproblemen im Arbeitsprozess als „kritischer Moment“ betrachtet werden kann: die gewohnten Arbeitsroutinen werden unterbrochen und es muss ein Umgang mit der eingeschränkten Arbeitsfähigkeit gefunden werden. Für die Betroffenen stellt eine länger andauernde Arbeitsunfähigkeit zudem eine grundlegende Verunsicherung ihrer Identität und ihres „Werts“ dar (Hanisch und Solvang 2019). Im Hinblick auf die Eingliederung müssen sich verschiedene Akteurinnen koordinieren. Insofern solche Situationen nicht zu den Handlungsroutinen eines Unternehmens gehören, befindet man sich im Regime des rechtfertigbaren Handelns. Die Literatur zeigt weiter, dass aus der Perspektive von Arbeitgeberinnen verschiedene Bewertungslogiken eine Rolle spielen können, wenn es um die Frage geht, ob Mitarbeitende mit gesundheitlichen Einschränkungen (weiter) beschäftigt werden sollen. Schließlich zeigt die Literatur, dass diese Pluralität an Rechtfertigungsordnungen auch von den Akteurinnen der beruflichen Eingliederung antizipiert und berücksichtigt wird und dass diese darüber hinaus verschiedene Handlungsregimes miteinander vereinbaren müssen.

5 Theoretische Konstruktion des Forschungsgegenstands

Die EC wird in dieser Studie als theoretischer Rahmen zur Analyse der kollektiven Deutungsprozesse und der Handlungskoordination in der betrieblichen Wiedereingliederung psychisch erkrankter Beschäftigter herangezogen. Mit der EC kann davon ausgegangen werden, dass dabei sowohl „lokale“ Konventionen als auch Konventionen größerer Reichweite eine Rolle spielen. Lokale Konventionen können zum Beispiel beschränkt sein auf ein Unternehmen, eine Branche oder eine Berufsgruppe wie z. B. Ärztinnen (Dodier 2011). Es ist davon auszugehen, dass in der Deutung eines eingeschränkten Arbeitsvermögens eine Vielzahl lokaler Konventionen von Bedeutung sind, so etwa die Deutungsrahmen und Koordinationsmodelle, die sich Personalverantwortliche durch ihre Berufszugehörigkeit angeeignet haben. Ziel dieser Untersuchung ist es, Konventionen herauszuarbeiten, die sich für die Deutung und Koordination der betrieblichen Wiedereingliederung und Weiterbeschäftigung psychisch erkrankter Mitarbeiter als zentral erweisen.

Darüber hinaus geht die Soziologie der Konventionen davon aus, dass Akteure im Regime des rechtfertigbaren Handelns auf übergeordnete Rechtfertigungsordnungen zurückgreifen, mit denen sie ihre Argumente und Entscheidungen stützen. Anhand der bisherigen Forschung ist zu vermuten, dass Entscheidungen über die Wiedereingliederung und Weiterbeschäftigung in Unternehmen zumindest teilweise im Regime des rechtfertigbaren Handelns getroffen werden. Es ist also darauf zu achten, wann in Unternehmen „kritische Momente“ auftreten, in denen die Wiedereingliederung und Weiterbeschäftigung begründet werden muss oder kritisiert wird. Zudem ist herauszuarbeiten, auf welche Konventionen die Akteurinnen zur Rechtfertigung zurückgreifen. Dadurch sollen „Grammatiken“ der Beurteilung von Wiedereingliederungsmöglichkeiten und der Begründung von Entscheidungen über Weiterbeschäftigung hervortreten. Es geht mithin darum, die typischen Argumente, Einwände und Bewertungskriterien, die in solchen Entscheidungsprozessen vorgebracht werden, sichtbar zu machen. Daran anschließend soll untersucht werden, wie sich diese Deutungs- und Begründungslogiken in der Handlungskoordination, also der Umsetzung von Eingliederungsmaßnahmen und Personalentscheidungen auswirken.

Deutungs- und Begründungsmuster weisen nach der Soziologie der Konventionen einen Objektbezug auf, sie werden also durch eine Infrastruktur an materiellen Objekten sowie kognitiven Formaten gestützt. In der vorliegenden Studie soll entsprechend auf die betrieblichen (und außerbetrieblichen) Formate geachtet werden, die Deutungsrahmen, Rechtfertigungsmuster und Koordinationsmodelle unterstützen. Gemäß dem in Abschn. 2.4 formulierten Forschungsinteresse soll ein besonderes Augenmerk auf den Formaten der Arbeitsorganisation liegen. Eine Frage lautet also, inwiefern Deutungsmuster, Begründungs- und Koordinationslogiken der Wiedereingliederung psychisch erkrankter Beschäftigter durch bestimmte Formate der Arbeitsorganisation gestützt werden.

Da die EC eine Pluralität möglicher Konventionen für jede Situation voraussetzt, ist auch darauf zu achten, welche möglicherweise in einem Widerspruch stehenden Deutungsrahmen, Wertigkeiten und Koordinationslogiken in einem Wiedereingliederungsverlauf oder auch in einem Unternehmen auftreten und wie die Akteurinnen mit diesen Widersprüchen umgehen. In diesem Zusammenhang ist auf mögliche Kompromisse zwischen Konventionen zu achten, sowie auf institutionelle Arrangements, die diese Kompromisse stabilisieren.

Die Entscheidung für eine theoretische Perspektive bedeutet, auf gewisse Aspekte zu fokussieren und impliziert damit zwangsläufig, anderen Aspekten weniger analytische Aufmerksamkeit zu schenken. So eignet sich die Soziologie der Konventionen in der für diese Arbeit herangezogenen Variante vor allem dazu, Prozesse der gegenseitigen Abstimmung in der Koordination der Akteurinnen sichtbar zu machen und bietet ein weniger ausgefeiltes begriffliches Instrumentarium zur Analyse von organisationalen Machtverhältnissen und Konflikten. Ebenso führt die Konzentration auf die kollektive Kognition sowie geteilte Rationalitäten zu einer Betonung der Ebene der explizier- und verbalisierbaren Interpretationen und Begründungen. Wie ich im folgenden Kapitel zur methodischen Vorgehensweise erläutere, dienen konventionentheoretische Konzepte im Rahmen der Datenanalyse primär als sensibilisierende Konzepte und werden nicht als vorgefertigte Kategorien subsumtionslogisch ans Datenmaterial herangetragen. Damit soll die Möglichkeit für Beobachtungen offen gelassen werden, die nicht ins Analyseraster des gewählten theoretischen Ansatzes passen.