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Geschichte

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Zur Aktualität von Max Horkheimer

Zusammenfassung

Horkheimer war überzeugt, dass die gesellschaftliche Relevanz von Philosophie (und ihrer Geschichte) daher rühre, dass sich in philosophischen Begriffen stets auch die geschichtlichen Kämpfe der Menschen reflektieren. Er hat Geschichtsphilosophie im Rahmen einer kritischen Theorie des historischen Verlaufs sozialer Prozesse reflektiert. Den Sinn von Ideen begreifen, die sich in der Geschichte manifestiert haben, heiße, sie in ihrem gesellschaftlichen Zusammenhang sehen. Daher sei Erkenntnis der Geschichte nicht abstrakte Konstruktion im Sinne einer Ideengeschichte, sondern begriffliche Rekonstruktion des materiellen Lebensvollzugs als Grundlage des geistigen Horizonts und des kulturellen Rahmens von Menschen, die sich an den Naturbedingungen ihres Lebensprozesses abarbeiten. Materialistische Geschichtsphilosophie habe dabei grundsätzlich zwischen der Erklärung des bisherigen historischen Verlaufs und seiner ideologischen Rechtfertigung zu unterscheiden.

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Notes

  1. 1.

    In einem europäischen Land, dem die Konstituierung eines Nationalstaats im modernen Sinne lange nicht gelingen wollte und das, nicht zuletzt aufgrund dieses Misslingens, zum Mutterland des Faschismus werden sollte.

  2. 2.

    In diesem Verlag erschien 1947 das philosophische Hauptwerk der kritischen Theorie, die von Horkheimer gemeinsam mit Theodor W. Adornos verfasste Dialektik der Aufklärung.

  3. 3.

    Das Horkheimer-Zitat stammt aus Rein (1976, S. 155).

  4. 4.

    Gänzlich ironiefrei hat Golo Mann (1958, S. 688) jenen Sozialdemokraten charakterisiert, der über die Leichen seiner linken Gegner ging: „Noske war kein subtiler Denker, aber er war ein kräftiger, praktischer Mann und hatte das Herz auf dem rechten Fleck.“ Fürwahr. – Das war indessen nicht der Grund dafür, dass Horkheimer 1963 intervenierte, als Golo Mann an der Frankfurter Universität auf einen Lehrstuhl für Politikwissenschaft berufen werden sollte. Die Initiative zu Horkheimers erfolgreicher Intervention kam vom American Jewish Committee. Dort hatte man Grund zu der Befürchtung, dass ein Essay von Golo Mann über Antisemitismus in Deutschland Ende der 1950er Jahre „Schaden anrichten könne, weil es der alten nazistischen Propaganda über den Einfluss der Juden in Deutschland bedeutende Zugeständnisse mache“ (Albrecht 1999, S. 192). – In den 1970ern erreichte der alternde Mann noch einmal volle Betriebstemperatur, als er sich für die Wiedereinführung der Todesstrafe in der BRD stark machte, um die RAF zu vernichten.

  5. 5.

    „[U]m die Macht gegen ihre eigenen Anhänger zu behaupten, mußten sie sich von jetzt an auf seltsame Verbündete stützen“, schrieb Haffner (1969, S. 135) über die sozialdemokratischen Führer. – Zur unsicheren Beweislage für die Behauptung, dass Noske die Ermordung von Luxemburg und Liebknecht ausdrücklich in Auftrag gegeben hat, siehe Brandt 2019.

  6. 6.

    „Der Grundzug seiner materialistischen Argumentation […] bestand […] darin, das jeweilige geistige Problem auf historisch-praktische Ursprünge und Veränderungen zurückzuprojizieren“ und gleichzeitig „in der materialistischen Reduktion der scheinbar autonomen Theorie oder des metaphysischen Scheins gleichwohl an deren utopischem Gehalt festzuhalten“ (Schmid Noerr 1996, S. 864).

  7. 7.

    Horkheimer hatte sich die Entscheidung, den Ruf auf seinen alten Frankfurter Lehrstuhl anzunehmen, wahrlich nicht leicht gemacht. „Das lange Schwanken […] und die ständigen Überlegungen zur erneuten Auswanderung zeigen, daß das durch den Faschismus erzwungene Exil bloß die Steigerung einer Unbehaustheit darstellte, die durch das Ende des Nationalsozialismus nicht aufgehoben war und ihren Ausdruck in den theoretischen Grundansichten der Kritischen Theorie fand.“ (Schmid Noerr 1996, S. 843) Am Ende gab die Zuversicht den Ausschlag, dass „unsere künftige Wirksamkeit […] der Vermenschlichung der Verhältnisse dienen könnte und […] große Aussichten auf Erfolg bei den besten Teilen der Studenten hat“, wie er 1949 formulierte (Horkheimer 1949–1973, S. 71). „Die Kämpfe, die zu erwarten sind, scheue ich nicht. Wir werden Feinde, aber auch Verbündete haben.“ (S. 115) Gegen Pollocks Bedenken machte er „das bißchen Gute“ geltend, „das wir vielleicht hier tun können“ und „die, wenn auch noch so bescheidene Wirkung auf manchen Geist hier“ (S. 163). Rückblickend schrieb er 16 Jahre später: „In jeder Einzelheit war mein Lehren und Wirken durch die Solidarität mit den Verfolgten, Gefolterten, Ermordeten bestimmt. Der Entschluß, den Ruf an meine alte Universität im Jahre 1949 wieder anzunehmen, war im Gedanken an diejenigen meiner Studenten gefaßt, die, wie nicht wenige Andere in Deutschland, ihr Leben wagten, ja verloren, um die Henker zu bekämpfen. Durch Teilnahme am Wiederaufbau wollte ich, wenn auch nur bescheiden, dazu helfen, solche Menschen wieder zu erziehen.“ (S. 617) Alex Demirović (1999, S. 874 f.) hebt zurecht hervor, dass Horkheimer bis zum Ende seiner Frankfurter Lehrtätigkeit „ungebrochen an dem in den dreißiger und vierziger Jahren formulierten Ziel festhält, eine Veränderung in der institutionellen Ordnung der Zivilgesellschaft zu bewirken“.

  8. 8.

    Der von Horkheimer, wie gesagt, hoch geschätzte Manzoni (1840, S. 647) konstatierte – insbesondere mit Blick auf die Historie des 17. Jahrhunderts, als die Lombardei von Teuerung, Krisen, Volksaufständen und schließlich der Pest erschüttert wurde, aber auch im allgemeinen –, dass die Geschichtsschreiber „nun einmal mehr dazu neigen, große Ereignisse zu schildern, als ihren Ursachen und Entwicklungen nachzugehen“.

  9. 9.

    „An die Stelle eines systematisierenden Subordinationsprinzip des Geschichtlichen tritt bei Burckhardt […] eine Konstellation anthropologischer Invarianten, die das Wesen des Menschen ausmachen“ (Schnädelbach1974, S. 53 f.).

  10. 10.

    Thukydides schildert den „Krieg zwischen Athen und Sparta um die Vorherrschaft im Ägäisraum, der sich im letzten Drittel des fünften Jahrhunderts abspielt.“ (Schade o. J., S. 3).

  11. 11.

    In der Antike kam allerdings noch etwas hinzu, auf das Horkheimer nicht eingegangen ist: Bereits bei Herodot (ca. 480–430 v. u. Z.) war Geschichte nicht mehr bloß Aufzählung, sondern Erzählung in moraldidaktischer Absicht. Herodot gilt in der modernen Geschichtswissenschaft als „Schöpfer der ethisch-narrativen Geschichtsschreibung“ (Bachmaier 1995, S. 386); seine „Art der Historiographie unterscheidet sich von der pragmatisch-akribischen Geschichtsforschung eines Thukydides durch die Konzentration historischer Ereignisse in einer exemplarischen, lehrhaften Erzählung.“ (Ebd.) „Beispiele von Hybris, Frevel und Verblendung sowie die Gestalt des Warners“ (ebd.) sollten Einsicht in die Unabwendbarkeit des Schicksals fördern.

  12. 12.

    „Alle Geschichtsphilosophien der Neuzeit ruhen auf dem klassischen Werk des Augustinus, der freilich Gedanken Platons und des Origines mitverwertet hat.“ (Horkheimer 1953/54, S. 316).

  13. 13.

    Dass der allgemeine Fortschritt hin zur Menschheit stattfinden werde, begründete Schiller mit dem Verweis auf ein Gebiet, das man zu dieser Zeit als der Geschichte entgegengesetzt ansah, nämlich die Naturgesetze. Die „Gleichförmigkeit und unveränderliche Einheit der Naturgesetze und des menschlichen Gemüts“ seien die „Ursache“ dafür, „daß die Ereignisse des entferntesten Altertums, unter dem Zusammenfluß ähnlicher Umstände von außen, in den neuesten Zeitläuften wiederkehren“ (Schiller 1789, S. 717). Daher sei es richtig, wenn die Geschichtsforschung „von den neuesten Erscheinungen, die im Kreis unsrer Beobachtung liegen, auf diejenigen, welche sich in geschichtslosen Zeiten verlieren“ (ebd.) zurückschließt.

  14. 14.

    Auch die anthropologische Intention Jakob Burckhardts, so kann man ergänzend hinzufügen, ging verloren, ebenso wie die von Horkheimer sozialkritisch akzentuierte Menschenbezogenheit des Nachdenkens über den geschichtlichen Verlauf.

  15. 15.

    Georg Lukàcs (mit dem Horkheimer nicht in geistigem Austausch stand) hat 1936–37 geschrieben, dass England im 19. Jahrhundert „für die meisten kontinentalen Ideologen wieder das Musterland der Entwicklung geworden“ sei, „freilich in einem anderen Sinne als im 18. Jahrhundert. Damals wirkte die vorhandene Verwirklichung der bürgerlichen Freiheiten vorbildlich auf die kontinentalen Aufklärer. Jetzt erscheint in den Augen der historischen Ideologen des Fortschritts England als das klassische Beispiel der geschichtlichen Entwicklung in ihrem Sinne. Die Tatsache, daß England im 17. Jahrhundert seine bürgerliche Revolution ausgefochten hatte und seitdem auf der Grundlage der Errungenschaften der bürgerlichen Revolution eine Jahrhunderte andauernde friedliche, aufwärtsweisende Entwicklung durchmachte, zeigte England als das praktische Musterbeispiel für den neuen Stil der historischen Auffassung.“ (Lukács 1955, S. 420 f.; Hervorh.: G.S.).

  16. 16.

    Thomas Mann (1943, S. 1753) hatte nicht Vico und die griechisch-römische Antike im Sinn, sondern die alttestamentarische Überlieferung des Joseph-Mythos, als er in geistesverwandter Weise schrieb, dass „die früheste Nacherzählung der Geschichte“ in einem je spezifischen Verhältnis zu „ihrer ursprünglichen Selbsterzählung, das heißt: der geschehenen Wirklichkeit von einst“, stehe. Mit einer anderen, nicht weniger profunden Formulierung bezeichnete Mann dieses Verhältnis als „[i]hre Beziehung zur eigenen Urform, das ist: zu dem geschehenden Sich-Selbst-Erzählen der Geschichte“ (S. 1756). Diese spekulative Geschichtsreflexion antizipiert in mancher Hinsicht den Paradigmenwechsel vom subjektphilosophischen zum poststrukturalistischen Geschichtskonzept; freilich ohne dessen abstrakte Negation der Idee einer Menschheit, die zum Subjekt ihrer eigenen Geschichte werden könnte.

  17. 17.

    Auch hier – wie schon zuvor in der Schrift über die Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie – nannte Horkheimer die Namen der Autoren übrigens nicht.

  18. 18.

    Dagegen hatte Horkheimer einige Jahre vorher geltend gemacht: „Solang die Weltgeschichte ihren logischen Gang geht, erfüllt sie ihre menschliche Bestimmung nicht.“ (Horkheimer 1940, S. 319).

  19. 19.

    „Kant setzt den vollkommenen Staat an das Ende der Geschichte. Für Hegel ist er schon und wird wahr durch die konkreten Gestaltungen der Menschen“ (Horkheimer (1953/54, S. 294).

  20. 20.

    „Marx hat das Erbe des großen deutschen Idealismus angetreten. Der Sinn der Geschichte, damit des Menschen, liegt darin, die Geschichte nicht nur zu denken, sondern auch zu verwirklichen.“ (Horkheimer 1953/54, S. 301).

  21. 21.

    Einen Haken hat dieses Tauschverhältnis für die Lohnabhängigen aber nicht nur, solange sie als solche arbeiten, sondern auch, weil es über kurz oder lang keine Sicherheit gibt, dass man die eigene Arbeitskraft, die man als Ware verkaufen muss, auch verkaufen kann. „Der Reichtum muß sich im gleichen Maße wie die Armut erhöhen. Infolge der technischen Vervollkommnungen werden im Laufe der Zeit immer weniger Arbeiter für immer mehr Arbeit erforderlich. Es entsteht so die ‚Reservearmee‘ der virtuellen Arbeitslosen. Diese Schwierigkeit behebt der moderne Staat durch die Erzeugung von Destruktionsmitteln.“ (Horkheimer 1953/54, S. 301). Dieser Kompensationsansatz macht sich auch in der Gegenwart geltend, wenn die Mehrwertmengen aufgrund der algorithmisierten Produktions- und Distributionssphäre schrumpfen und die Profitraten sinken lassen, während der militärische Komplex gleichzeitig Hochkonjunktur hat.

  22. 22.

    „Mit dem Auftreten der Maschine bekommt der freie Tausch jenen mysteriösen Charakter, von dem Marx redet.“ (Horkheimer 1953/54, S. 303) Lukács (1923, S. 94) hatte in Geschichte und Klassenbewußtsein geschrieben: „Das Wesen der Warenstruktur […] beruht darauf, daß ein Verhältnis, eine Beziehung zwischen Personen den Charakter einer Dinghaftigkeit […] erhält, die in ihrer strengen, scheinbar völlig geschlossenen und rationellen Eigengesetzlichkeit jede Spur ihres Grundwesens, der Beziehung zwischen Menschen verdeckt.“

  23. 23.

    „Das mag befremdlich klingen angesichts der Tatsache, daß Lenin unentwegt auf die Rolle der Praxis in der materialistischen Erkenntnistheorie verweist. Horkheimer zeigt jedoch, gestützt auf die marxistische Tradition, dass Lenin es versäumt, den von Marx in den Thesen über Feuerbach und in der (Lenin unbekannt gebliebenen) Deutschen Ideologie entwickelten Begriff ‚gegenständlicher Tätigkeit‘ in die Diskussion der erkenntnistheoretischen Grundfragen wirklich einzuführen.“ (Schmidt 1987, S. 422).

  24. 24.

    Dem Einwand, diese Position sei theologisch, gab Benjamin statt: „Das ist Theologie; aber im Eingedenken machen wir eine Erfahrung, die uns verbietet, die Geschichte grundsätzlich atheologisch zu begreifen, sowenig wir sie in unmittelbar theologischen Begriffen zu schreiben versuchen dürfen.“ (Benjamin 1982, S. 589) – Zum Verhältnis der kritischen Theorie zur Religion bei Horkheimer siehe unten, Kap. 4.

  25. 25.

    „Die Freiheit der Versammlung gehörte in Europa zu den notwendigen Konzessionen der Klasse ans Individuum, solange die Individuen, aus denen sie bestand, noch nicht unmittelbar mit dem Staat koinzidierten und daher staatliche Übergriffe befürchten mussten.“ (Horkheimer 1940, S. 298) – Das fortschrittliche Moment betonte dreißig Jahre später Wilhelm Alff (1971, bes. S. 15 ff.) in seinem Aufsatz über den Begriff des Faschismus.

  26. 26.

    Marx hatte 1850 (S. 85) geschrieben: „Die Revolutionen sind die Lokomotiven der Geschichte.“ Walter Benjamin (in dessen Gedenkschrift Horkheimers Aufsatz über den autoritären Staat zuerst publiziert wurde) hat diesem Satz folgenden Gedanken gegenübergestellt: „Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zug reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.“ (Benjamin 1940a, S. 1232) Damit wollte Benjamin keineswegs die Möglichkeit revolutionärer Befreiung negieren. „Die ‚Notbremse‘ führt nicht zum Ende der Bewegung, sie erlaubt einen Zwischenstopp, um die Richtung zu erkunden, wie Benjamin betont.“ (Brangsch 2017).

  27. 27.

    Auch der englische und der französische Verfassungsstaat seien Instrumente der Herrschaft gewesen, wenngleich historisch unerlässlich, um das Konzept zu formulieren, dass eine klassenlose Gesellschaft die Individualrechte verwirklichen und versachlichen könne (Horkheimer 1940, S. 305).

  28. 28.

    „Mit dem Begriff der bestimmten Negation hat Hegel ein Element hervorgehoben, das Aufklärung von dem positivistischen Zerfall unterscheidet, dem er sie zurechnet.“ (Horkheimer und Adorno 1947, S. 64) Im Ganzen seines idealistischen Systems werde aber das „Resultat des gesamten Prozesses der Negation: die Totalität in System und Geschichte“ am Ende „zum Absoluten“ verklärt, und dadurch gleichsam selbst ein Stück „Mythologie“ (Horkheimer und Adorno 1947, S. 47). – Grundsätzlich hat Horkheimer (1949–1973, S. 25) stets betont: „Entscheidende Momente meiner eigenen Philosophie entstammen sowohl idealistischen als auch materialistischen Denkrichtungen, und die Aufklärung habe ich im Geiste der Aufklärung selbst angegriffen, nicht in dem des Obskurantismus.“

  29. 29.

    „Zu dem korrumpierten Begriff von Arbeit“, den Benjamin – auf den Spuren von Marx’ Kritik des Gothaer Programms – als eines der falschen Basisdogmen der deutschen Sozialdemokratie identifizierte, „gehört als sein Komplement die Natur, welche, wie Dietzgen sich ausgedrückt hat, ‚gratis da ist‘.“ (Benjamin 1940, S. 699) Josef Dietzgen (den Marx, nebenbei bemerkt, gerühmt hatte) habe einen „vulgärmarxistischen Begriff von dem, was die Arbeit ist“, monierte Benjamin (ebd.). „Er will nur die Fortschritte der Naturbeherrschung, nicht die Rückschritte der Gesellschaft wahr haben.“ (Ebd.) Und das weise „schon die technokratischen Züge auf, die später im Faschismus begegnen werden. […] Die Arbeit, wie sie nunmehr verstanden wird, läuft auf die Ausbeutung der Natur hinaus, welche man mit naiver Genugtuung der Ausbeutung des Proletariats gegenüber stellt.“ (Ebd.).

  30. 30.

    Seine Kritik fokussierte Benjamin ausschließlich auf die deutsche Sozialdemokratie; die Kommunistische Partei, der Sowjetmarxismus Lenins und Stalins blieben ausgeblendet.

  31. 31.

    Der 12. These, aus der ich hier zitierte habe, hatte Benjamin ein Zitat aus Nietzsches vitalistischer Historismuskritik als Motto vorangestellt: „wir brauchen die Historie, aber wir brauchen sie anders, als sie der verwöhnte Müssiggänger im Garten des Wissens braucht“ (Nietzsche 1874, S. 245).

  32. 32.

    Horkheimer spielte damit auf eine berühmte Stelle aus dem Frühwerk von Marx und Engels (1845–46, S. 34 f.) an: „Die soziale Macht, d. h. die vervielfachte Produktionskraft, die durch das in der Teilung der Arbeit bedingte Zusammenwirken der verschiedenen Individuen entsteht, erscheint diesen Individuen, weil das Zusammenwirken selbst nicht freiwillig, sondern naturwüchsig ist, nicht als ihre eigne, vereinte Macht, sondern als eine fremde, außer ihnen stehende Gewalt, […] die sie also nicht mehr beherrschen können, die im Gegenteil nun eine eigentümliche, vom Wollen und Laufen der Menschen unabhängige, ja dies Wollen und Laufen erst dirigierende Reihenfolge von Phasen und Entwicklungsstufen durchläuft. […] Damit sie eine ‚unerträgliche‘ Macht werde, d. h. eine Macht, gegen die man revolutioniert, dazu gehört, daß sie die Masse der Menschheit als durchaus ‚Eigentumslos‘ erzeugt hat und zugleich im Widerspruch zu einer vorhandnen Welt des Reichtums und der Bildung, was beides eine große Steigerung der Produktivkraft, einen hohen Grad ihrer Entwicklung voraussetzt – und andrerseits ist diese Entwicklung der Produktivkräfte […] auch deswegen eine absolut notwendige praktische Voraussetzung, weil ohne sie nur der Mangel verallgemeinert, also mit der Notdurft auch der Streit um das Notwendige wieder beginnen und die ganze alte Scheiße sich herstellen müßte, weil ferner nur mit dieser universellen Entwicklung der Produktivkräfte ein universeller Verkehr der Menschen gesetzt ist, daher einerseits das Phänomen der ‚Eigentumslosen‘ Masse in Allen Völkern gleichzeitig erzeugt (allgemeine Konkurrenz), jedes derselben von den Umwälzungen der andern abhängig macht, und endlich weltgeschichtliche, empirisch universelle Individuen an die Stelle der lokalen gesetzt hat.“

  33. 33.

    Am 27. November 1942 hatte Horkheimer an Löwenthal geschrieben: „Diese Tage sind solche der Trauer. Die Vernichtung des jüdischen Volkes hat Dimensionen wie noch nie zuvor in der Geschichte angenommen. Ich glaube, die Nacht im Gefolge dieser Ereignisse wird sehr lang sein und könnte die Menschheit verschlingen.“ (Horkheimer 1942b, S. 385).

  34. 34.

    „Eine Glosse ist das Gegenstück zur sachlichen Information; sie ist subjektiv und meinungsbildend. […] Horkheimer war voller Zweifel. In einem vertraulichen Brief an eine Freundin schrieb er, er sei sich nicht sicher, ‚ob diese Glosse in der Zeitschrift noch tragbar ist. Einerseits meine ich, wir müßten […] endlich einmal ein klares Wort über den Gegenstand bringen. Auf der anderen Seite will ich jedoch die Grenzen dessen, was in einem wissenschaftlichen Organ noch tragbar ist, nicht überschreiten. Da ich mich nicht entscheiden konnte, habe ich die Glosse schon das letzte Mal zurückgestellt. […] Der Text ist an einzelnen Stellen etwas verklausuliert. […] Die Glosse soll nicht an erster Stelle stehen.‘“ (Ziege 2019, S. 136; das Horkheimer-Zitat: Horkheimer 1939a, S. 614 f.).

  35. 35.

    „Nachdem wir einen und vielleicht den stärksten Anstoß zur Bildung des geistigen Europa gegeben haben, nachdem wir lange Jahrhunderte nur unterirdisch im Strom der europäischen Entwicklung mitgeführt wurden, nachdem wir endlich zum modernen Europäismus erwacht sind und aus ihm die Kraft zu nationaler Wiedergeburt gezogen haben: stellen wir uns nun, als letzte Konsequenz europäischer Lehren, entschlossen außerhalb Europas. Wir werden hypereuropäisch, und zum zweiten Mal im Laufe der Weltbegebenheiten geht von Judäa das Heil aus.“ (Goldstein 1913; zit. nach Ziege 2019, S. 133) Goldstein „hielt es für absurd, dass ausgerechnet die Juden in Palästina einen neuen Nationalismus in Gang setzen wollten, nachdem die klassischen Nationalstaaten sich in ein postnationalistisches Europa aufzulösen schienen […]. Der politische Zionismus Herzls […] schien ihm vor dem Hintergrund Nietzsches anachronistisch. Die Juden seien ein Volk, aber nicht irgendeines […], sondern durch ihre 2000jährige Geschichte das Volk der Idee […] des Monotheismus, des Glaubens an den einen Gott, der Idee der Gerechtigkeit. Auch säkular konnten die Juden als das auserwählte Volk gedacht werden, das Volk, das den europäischen Nihilismus überwinden konnte“ (Ziege 2019, S. 134). „Nietzsche hatte mit soziologischem Feingefühl erkannt, dass die Juden zu einer führenden Trägerschicht für den Kosmopolitismus geworden waren. Diese Einsicht kehrt als implizites und explizites Nietzsche-Zitat in Goldsteins Texten wieder; das antisemitische Stereotyp des kosmopolitischen Juden kehrt sich in sein Gegenteil um. Die Schonungslosigkeit Goldsteins war der Tabubruch, so Scholem, und eine erhellende Tat […] Die Empirie konnte niemand leugnen: Eine Minderheit – man vergleiche nur die Daten von Veblen, Scholem oder Volkov – bestimmte in wichtigen Bereichen die deutsche Kulturlandschaft.“ (S. 135 mit Bezug auf Veblen 1919; Scholem 1978; Volkov 1990).

  36. 36.

    In diesem Zusammenhang zitierte Horkheimer das Konzept des „Zuhause“. Eva-Maria Ziege (2019, S. 139) kommentiert dies, mit einem Seitenblick auf Gershom Scholem, folgendermaßen: „Mit dem ‚Zuhause‘ findet sich ein wiederkehrendes Motiv dieses jüdischen Diskurses. An den Flüchtlingen aus Europa drohte wie bei den Ostjuden im Deutschen Reich die Solidarität zu zerbrechen“. Die Rationalisierung der sozialen Unterdrückung durch die herrschende Klasse war für Horkheimer, der auf Aristoteles’ ideologische Rechtfertigung der Sklaverei anspielte, ein Faktor des Antisemitismus, aber als ideologische soziale Praxis nicht nur „gentil“, sondern eben auch „jüdisch“ (Horkheimer 1939, S. 326). „Wer in dieser Wirtschaft unterliegt, darf von denen, die zu ihr beten, in der Regel nichts anderes erwarten als die Anerkennung des ökonomischen Urteils, das ihn enteignet hat, des anonymen oder das namentlichen.“ (Ebd.) – „Letztlich“, so Ziege (2019, S. 139), „war Horkheimers Kritik eine Selbstkritik, Adressat und Sprecher waren identisch. Die jenseits des Atlantiks alteingesessenen Juden sollten ihrerseits nicht der Illusion erliegen, ‚Zuhause‘ zu sein.“

  37. 37.

    Philipp Lehnhardt schreibt in seiner Biografie von Horkheimers engsten Freund und Mitarbeiter Friedrich Pollock: „In dem Aufsatz Die Juden in Europa, der der Veröffentlichung von Pollocks State Capitalism vorausging, hatte Horkheimer unter deutlichem Einfluss der frühen Aufsätze Pollocks den Übergang von der liberalen Markt- zur faschistischen Befehlswirtschaft nachgezeichnet und den Bedeutungsverlust der Zirkulationssphäre im ‚Zeitalter der Monopole‘ herausgestellt. Da die Juden aus historischen Gründen in der Zirkulationssphäre, also in den Handelsberufen, überrepräsentiert waren, seien sie zu Opfern geworden – in ihrer Schwäche würden sie nun von den Antisemiten attackiert, die ihnen gleichwohl eine besondere Macht zuschrieben, um die Gewalt gegen das vermeintlich verschworene ‚Weltjudentum‘ zu legitimieren. Dem Aufsatz lag jedoch vor allem das Bemühen zugrunde, die Formveränderung des Kapitalismus darzustellen und dadurch zu verdeutlichen, dass eine Rückkehr zum Liberalismus, wie sie sich gerade viele jüdische Exilanten erhofften, unmöglich geworden war. […] Um den Faschismus zu begreifen, bedürfe ‚es keiner Revision der ökonomischen Theorie. Der gleiche und gerechte Tausch hat sich selbst ad Absurdum geführt, und die totalitäre Ordnung ist dies Absurdum.‘“ (Lenhard 2019, S. 203 f.; das Zitat stammt aus Horkheimer 1939, S. 309) Siehe auch Dubiel und Söllner (1981, S. 11–13).

  38. 38.

    Siehe dazu Brunkhorst (2014).

  39. 39.

    „Der Liberalismus enthielt die Elemente einer besseren Gesellschaft. Das Gesetz besaß noch eine Allgemeinheit, die auch die Herrschenden betraf. Der Staat war nicht unmittelbar ihr Instrument. Wer sich unabhängig äußerte, war nicht notwendig verloren. Freilich gab es solchen Schutz nur auf einem kleinen Teil der Erde, in den Ländern, denen die anderen ausgeliefert waren. […] Wer […] an einer beschränkten menschlichen Ordnung teilhat, darf sich nicht wundern, wenn er gelegentlich selbst unter die Beschränkungen fällt.“ (Horkheimer 1936, S. 329).

  40. 40.

    Sicher wäre es kurzschlüssig, den Antiislamismus der deutschen Gegenwart als Neuauflage des völkischen Antisemitismus aus der Nazizeit zu erklären. Doch die Frage, ob es sich um verschiedene Gestalten des autoritären Syndroms handelt, die markante Unterschiede aufweisen, aber auch Familienähnlichkeiten, ist alles andere als abwegig. Sie gehört in den aktuellen Zusammenhang empirischer Autoritarismusforschung, wie sie etwa von den Sozialwissenschaftlern der Leipziger Mitte-Studien durchgeführt werden.

  41. 41.

    Robert Kurz (1991, S. 58) hat die „gewaltsam in Gang gesetzte Akkumulation toter Arbeit“ in der Sowjetunion als den Beginn eines „gewaltsamen Modernisierungsprozesses“ bezeichnet.

  42. 42.

    „Die Juden sind einmal stolz gewesen auf den abstrakten Monotheismus, die Ablehnung des Bilderglaubens, die Weigerung, ein Endliches zum Unendlichen zu machen“, schrieb Horkheimer (1939, S. 331): „Ihre Not heute verweist sie darauf zurück. Die Respektlosigkeit vor einem Seienden, das sich zum Gott aufspreizt, ist die Religion derer, die im Europa der Eisernen Ferse nicht davon lassen, ihr Leben an die Vorbereitung des Besseren zu wenden.“ Eva-Maria Ziege hat das so kommentiert: „Diese Sätze sind mit Goldstein zu deuten: Von den Juden ist die Gerechtigkeit Gottes erfunden worden […]. Das Europa der Eisernen Ferse bezieht sich auf die geniale Dystopie The Iron Heel des […] Autors Jack London. Der Roman handelt von der Entstehung einer totalitären […] Oligarchie, die Orwells 1984 noch übertrifft […]. Gegen diese Dystopie repräsentieren die Juden, das auserwählte Volk, die utopische Hoffnung auf Glück.“ (Ziege 2019, S. 140).

  43. 43.

    „Das 1989 ausgerufene ‚Ende der Geschichte‘, das zugleich den endgültigen Sieg westlicher Demokratievorstellungen verkündete, markierte den Beginn einer Reihe von immer blutigeren und kostspieligeren Strafexpeditionen, die gegen das Völkerrecht verstießen und Uno-Beschlüsse ignorierten“, referiert Jürgen Pelzer (2022, S. 41) die Darstellung des Philosophen Domenico Losurdo in einer Besprechung von dessen Buch Eine Welt ohne Krieg, das im Original 2016 erschienen ist. „Die seit 1990 herrschende Pax Americana“ ist „Ausdruck eines kurzlebigen (militärischen) Erfolgs“; unter ihr „kommt es zu endlosen Kriegen gegen missliebige Quertreiber oder Konkurrenten“ (ebd.).

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Schweppenhäuser, G. (2023). Geschichte. In: Zur Aktualität von Max Horkheimer. Aktuelle und klassische Sozial- und KulturwissenschaftlerInnen. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-40774-2_2

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