Gesundheit als individueller Wert scheint unumstritten. Noch immer gibt es aber keine einheitliche beziehungsweise in allen Forschungsgebieten übereinstimmende wissenschaftliche Definition von Gesundheit und Wohlbefinden . Das mag den vielfältigen Sichtweisen und Erwartungen der verschiedenen Fächer geschuldet sein, die sich mit den einschlägigen Forschungs- und Handlungsgebieten befassen. Es mag auch am prozesshaften Charakter des Gegenstands Gesundheit selbst liegen; Gesundheit muss „immer wieder neu erreicht, wiederhergestellt und aufrechterhalten werden“ (Vögele 2013 , 232). Also gilt es, Gesundheit stets zu entwickeln und auszuhandeln – und das bedeutet zugleich, Gesundheit immer zum Thema zu machen.

Derzeit verständigt man sich in Wissenschaft und Gesellschaft weitgehend darauf, das Gesundheitsfeld als vielschichtig und breit gefächert zu betrachten. Gesundheit ist mehr als die Abwesenheit medizinisch definierter Krankheit (s. Abschn.  1.1 ). Stattdessen richtet sich der Blick auf mögliche Lebensqualität , förderliche Lebenssituationen und selbstbestimmte Lebensführung. Auch von Lebenszufriedenheit (subjektive generelle Einschätzung), Wohlergehen (objektive Bedingungen) und Wohlbefinden (subjektives Empfinden) ist die Rede. So werden subjektive und objektive Umstände verbunden, die folgende vier Bestandteile enthalten (Mayring 1991 ; Mayring und Rath 2013 ):

  • frei sein von subjektiven Belastungen, Krankheitssymptomen und negativen Gefühlen,

  • sich freuen im Alltag, also froh sein können, Freude haben, sich in bestimmten Augenblicken richtig gut fühlen,

  • mit den verschiedenen Seiten des Lebens insgesamt zufrieden sein, eine ausgewogene Gesamtrechnung machen, und

  • Glück empfinden über Augenblicke, ein insgesamt gutes Lebensgefühl haben.

Da Gesundheit immer in Zusammenhängen steht, genügen diese Definitionen alleine nicht, sondern es müssen mit unterschiedlichen Fragestellungen Bezüge hergestellt werden. Gesundheit wird so zu einer Querschnittsaufgabe („ Health in All Policies “; HiAP Footnote 1 ), die nicht nur das Empfinden und Verhalten von Personen einbezieht, sondern vor allem gesundheitsförderliche Verhältnisse schaffen soll (s. Abschn.  4.3 ). Dies schließt Prävention ein. Die notwendige dauerhafte Aufmerksamkeit für Chancen auf ein gesundes Leben umfasst die gesamte Lebensspanne und die direkte Lebenssituation – vom Nahraum (kommunal) über die Organisationen zur Gesundheitssorge im Umkreis (regional) und Land (national) bis zur Weltsicht (global).

1.1 Für bessere Gesundheit weltweit

In der Präambel ihrer Verfassung definiert die Weltgesundheitsorganisation Gesundheit beziehungsweise umschreibt sie (Kickbusch 1999 , 275) ehrgeizig (WHO 2002 | 1946):

„Health is a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity“

(WHO 1998 | 1948, 2).

Gesundheit ist ein Zustand des vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur die Abwesenheit von Krankheit oder Gebrechen

(Übersetzung der Verfasserinnen)

Damit sollten hohe Ziele gesetzt und zugleich sollte weltweit zur Verbesserung von Lebensumständen aufgerufen werden. Das Vorhaben, Gesundheit als einen Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens zu erreichen, wurde und wird vielfach als unrealistisches Ideal oder Traum kritisiert. Betrachtet man Gesundheit allerdings nicht als einen gewünschten Zustand, sondern wie oben eingeführt als Prozess, wird diese Zielsetzung nachvollziehbar und für sich selbst und andere Menschen fo(e)rderbar.

Die Wissenschaft versucht auf vielfältige Weise, Gesundheit objektiv zu messen (durch Erfragen, Beobachten oder Testen verschiedener physischer und psychischer Indikatoren) oder subjektiv zu erkunden (beispielsweise über die Selbsteinschätzung von Personen, z. B. Brandt et al. 20162018 ). Diese Ver-Messungen dienen keinem Selbstzweck, sondern der Verbesserung der (Gesundheits-)Bedingungen für alle:

„We should never forget that behind every piece of statistical data are human beings who were born free and equal in dignity and rights. We must strive to make their human rights stories, especially those of the powerless, visible through robust indicators and to use them in constantly improving our human rights policies and implementation systems to bring positive change to people’s lives.“

High Commissioner for Human Rights (Pillay 2012 ; United Nations 2012 )

Wir sollten nie vergessen, dass hinter jedem statistischen Datenmaterial Menschen stehen, die frei und gleich an Würde und Rechten geboren wurden. Wir müssen uns bemühen, ihre Menschenrechtsgeschichten, insbesondere die der Machtlosen, durch robuste Indikatoren sichtbar zu machen und sie zur ständigen Verbesserung unserer Menschenrechtspolitik und deren Implementierung zu nutzen, um das Leben der Menschen positiv zu verändern.

(Übersetzung der Verfasserinnen)

Als nützlich erweist sich dabei auch, nach dem Wohlbefinden ( well-being ) zu fragen, einer Mischung aus wahrgenommener und geäußerter Zufriedenheit . Nach Diener et al. ( 1999 ) lässt sich „subjective well-being“ mit den Bausteinen gesundheitsbezogener Lebensqualität, Zufriedenheit mit Lebensbereichen, genereller Lebenszufriedenheit sowie Angaben zu unangenehmen und angenehmen körperlichen und psychischen Empfindungen beschreiben. Physische, psychische, emotionale und soziale Dimensionen werden so verbunden, um gesundheitsbezogene Lebensqualität (health related Quality of Life ) zu charakterisieren.

Gesundheit zeigt sich also als ein komplexer Prozess mit Verflechtungen und Wechselwirkungen (Hornberg 2016 ), der auch bestehende Anforderungen und persönliche Vorlieben beziehungsweise Möglichkeiten einbezieht (Lippke et al. 2020a ). Weitere Grundbedingungen für Gesundheit sind Chancen, ein Leben in Freiheit und im Sinne der menschenrechtlichen Übereinkommen (Konventionen) führen zu können. Diese Lebensumstände sind für alle Gesellschaftsmitglieder auf den Prüfstand zu stellen, auch aus der Sicht der WHO. Denn Wohlbefinden für alle zu erreichen ist eine gesellschaftliche Aufgabe für alle (Gesundheit als Gemeingut ) und kann nicht nur der Selbstsorge Einzelner überlassen bleiben.

1.2 Gesundheitsförderung im Alltag aller

Dieser Gesundheitsansatz hat sich in den vergangenen Jahrzehnten aus dem Schatten von reinem Krankheits-, Therapie- sowie Versorgungsdenken gelöst und emanzipiert sich weiter. Die Weltgesundheitsorganisation drängt darauf, bezogen auf Gesundheit Chancengleichheit und Gerechtigkeit herzustellen (WHO 19861997 ). Alle Menschen sollen einen Gesundheitszustand erlangen (können), der ihnen ein sozial und wirtschaftlich produktives Leben erlaubt. Dazu benötigen sie den Zugang zu medizinischer Versorgung, die Garantie angemessener Hygienebedingungen, gesunder Ernährung und Trinkwasserversorgung, aber auch den Schutz vor ansteckenden Krankheiten. Zur Umsetzung sind die nationalen Gesundheitspolitiken und Gesundheitssysteme aufgerufen. Die Ottawa-Charta der WHO sieht drei Strategien und fünf Handlungsfelder vor (s. Abb.  1.1 ). Es sollen in allen gesellschaftlichen Handlungsfeldern Interessen vertreten werden zugunsten der Gesundheit (advocacy), Kompetenzen für ein gesundes Leben wachsen (enable) und relevante Akteure vernetzt werden (mediation).

Abb. 1.1
Die Abbildung zeigt Zusammenhänge der Strategien und Handlungsfelder der Ottawa-Charta. Im Hintergrund sind fünf Handlungsfelder kreisförmig ineinandergefügt dargestellt, mit steigender Größe bei wachsendem Ausmaß des Handlungsfeldes und mit immer helleren Grautönen ausgefüllt. Der kleinste Kreis in der Mitte bezeichnet das Handlungsfeld „Individuen“, der nächstgrößere Kreis das Handlungsfeld „Gruppen“. Dieses wird umfasst vom Handlungsfeld „Institutionen“, welches vom Handlungsfeld „Gemeinwesen“ umschlossen wird. Der äußerste Kreis und somit das umfassendste Handlungsfeld bildet die „Gesamtpolitik“. Im Vordergrund sind querliegend insgesamt drei Strategien jeweils in Boxen beschrieben, die sich mit allen Handlungsfeldern überschneiden. Die erste Strategie ist „Advocacy“, welche in einer grün gerahmten Box näher erläutert wird mit den Stichpunkten: „Interessen vertreten, Anwaltschaft“ und „Parteinehmen für Gesundheit“. Die zweite Strategie, in einer gelb gerahmten Box dargestellt, ist „Enable“ und wird folgendermaßen näher beschrieben: „Befähigen und Ermöglichen“, „Kompetenz fördern“ und „Empowerment“. Die dritte Strategie, dargestellt in einer orange gerahmten Box, ist „Mediation“ und wird näher beschrieben durch den Stichpunkt „Vermitteln und Vernetzen der Akteure“.

(Quelle: Eigene Darstellung nach Ottawa-Charta (WHO 1986 ))

Strategien und Handlungsfelder der Ottawa-Charta

Mit dem bis zur Jahrtausendwende gesteckten Ziel der WHO Gesundheit für alle bis zum Jahr 2000 (WHO 1981 ) waren Richtung und zeitlicher Rahmen vorgegeben. In die Umsetzung dieses Ziels wurden alle Menschen – mit und ohne Beeinträchtigungen – einbezogen. Dies erweiterte den von der WHO bereits zu Anfang erklärten Willen, Gesundheit weltweit zu denken, um die umfassende Aufgabe, die Teilhabe aller an der Gesundheit, zum Programm zu erheben. Gesundheit sollte nun auch durch mehr Selbstbestimmung gefördert werden ( empowerment ), denn

„Health is created and lived by people within the settings of their everyday life; where they learn, work, play and love. Health is created by caring for oneself and others, by being able to take decisions and have control over one’s life circumstances, and by ensuring that the society one lives in creates conditions that allow the attainment of health by all its members.“

(WHO 1986 : Ottawa-Charta)

„Gesundheit wird von Menschen in ihrer alltäglichen Umwelt geschaffen und gelebt: dort, wo sie spielen, lernen, arbeiten und lieben. Gesundheit entsteht dadurch, dass man sich um sich selbst und für andere sorgt, dass man in die Lage versetzt ist, selbst Entscheidungen zu fällen und eine Kontrolle über die eigenen Lebensumstände auszuüben sowie dadurch, dass die Gesellschaft, in der man lebt, Bedingungen herstellt, die allen ihren Bürgern Gesundheit ermöglichen.“

(WHO 1986 , 5; WHO-autorisierte Übersetzung: Hildebrandt/Kickbusch auf der Basis von Entwürfen aus der DDR und von Badura sowie Milz)

Es geht um die Anliegen einzelner und ebenso um die Aufmerksamkeit für verschiedene Bevölkerungsgruppen, deren Bedürfnisse befriedigt, deren Wünsche und Hoffnungen wahrgenommen werden sollen. Gesundheit wird zum anerkannten wesentlichen Bestandteil des alltäglichen Lebens. Einbezogen sind körperliche Verfassung und vorhandene Fähigkeiten, aber auch eine Umwelt, die sich mit Hilfe individueller, sozialer und materieller Ressourcen meistern lässt (Schwarzer et al. 2011 ). Dieser ganzheitliche Zugang nimmt auch alle Politikbereiche in die Pflicht, nicht nur jeweils spezifische Gesundheitsdienste oder -ressorts.

1.3 Gesundheit für alle Menschen jeden Alters

Das Gesundheitsziel bezieht also Umgebungsfaktoren ein sowie alles, was eine gesunde Lebensführung ermöglicht. Das sind etwa Bildung, Einkommen, Ernährung, Natur, Umwelt, soziale Einbindung, Chancengleichheit und Gerechtigkeit. Diese Bestandteile lassen sich zum Beispiel in Wohn- oder Arbeitsbedingungen abbilden und sind ein Qualitätsmerkmal , das jeweils eingebettet ist in kulturelle Kontexte und in den Alltagsbezug.

Die WHO entwickelte im Jahr 1993 hierzu eine entsprechende Definition für Lebensqualität.

„Quality of life is defined as an individual’s perception of their position in life in the context of the culture and value systems in which they live and in relation to their goals, expectations, standards, and concerns. It is a broad ranging concept affected in a complex way by the person’s physical health, psychological state, level of independence, social relationships, and their relationship to salient features of their environment“

(The WHOQoL Group 1994 )

Lebensqualität ergibt sich daraus, wie Einzelne ihre Position im Leben wahrnehmen im Kontext der Kultur und der Wertesysteme, in denen sie leben, und in Bezug auf die eigenen Ziele, Erwartungen, Normen und Anliegen. Es handelt sich um ein breit gefächertes Konzept, das in komplexer Weise von der körperlichen Gesundheit, der psychischen Verfassung, dem Grad der Unabhängigkeit, den sozialen Beziehungen und der Beziehung zur relevanten Umwelt beeinflusst wird

(Übersetzung der Verfasserinnen)

Diese generelle Lebensqualität ist keine leicht messbare Größe, denn sie besteht aus einem Geflecht miteinander verbundener unterschiedlicher Aspekte menschlicher Existenz, die in Wechselwirkungen stehen (Radoschewski 2000 ). Zentrale Bestandteile sind neben der körperlichen Verfassung und dem psychischen Befinden auch Chancen auf Unabhängigkeit , gelebte soziale Beziehungen und relevante Umgebungs- und Umweltaspekte (Lippke et al. 2020a ). Zugleich spielen medizinische Bedingungen und die körperliche und psychische Verfassung eine Rolle, ebenso wie die aus Sicht der jeweiligen Personen erlebte soziale und kulturelle Einbettung, auch in die regionale Infrastruktur und nationale Sozial- und Gesundheitssysteme.

Gerade in alternden Gesellschaften gewinnt hier beispielsweise das Zusammenspiel zwischen formeller (professionell organisierter) und informeller (privater) Unterstützung und Pflege an Bedeutung: Zwei Drittel der Pflegebedürftigen in Deutschland werden lange Zeiten zuhause gepflegt und die Entlastung der pflegenden Angehörigen wie der Erhalt der Pflegequalität ist eine rasant wachsende gesellschaftliche Aufgabe (Brandt et al. 2016 ) – mit bedeutsamen Auswirkungen auf individuelle Gesundheit und Wohlbefinden aller Beteiligten (Kaschowitz und Brandt 2017 ; Wagner und Brandt 2018 ). Und schließlich geht es um das gesellschaftliche Wohlbefinden (societal wellbeing: Allin 2007 ), das in Institutionen und Organisationen verankert ist und sich entfaltet, wenn beispielsweise politische Entscheidungen getragen sein sollen von einer Haltung zu

„Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft“ (Deutscher Bundestag 2013 ).

Mit diesen wenigen Worten lässt sich beschreiben, was Gesundheit ermöglicht oder einschränkt. Welche förderlichen und hinderlichen Bedingungen dabei eine Rolle spielen wird in den folgenden Abschnitten an Beispielen analysiert. Dabei steht auch die Bedeutung der Gemeinschaft mit anderen für Gesundheit auf dem Prüfstand, ausgeformt etwa an Fragen von Anerkennung und sozialer Unterstützung, aber auch der Diskriminierungsfreiheit (Lippke et al.  2020a ).

Dieser ganzheitliche Zugang zum Konstrukt Gesundheit leitet in den Sozialwissenschaften und in den vergangenen Jahrzehnten auch in medizinisch ausgerichteter Forschung mehr und mehr das Erkenntnisinteresse (Bullinger 1996 ). In gewünschte Gesundheitslandschaften sind strukturelle Aspekte und Potenziale eingebettet, nach der Formel: Je mehr eine Person oder Personengruppe Einfluss auf ihr Leben hat, umso mehr dient dies ihrer Gesundheit (Wacker 2013 ). Auch in gesamtgesellschaftlichem Bezug kann die Zufriedenheit mit sich entwickelnden Lebensbedingungen der Bevölkerung insgesamt und von Bevölkerungsgruppen erfragt werden. So lassen sich Entwicklungserfordernisse aufdecken und beobachten. Alle Menschen, unabhängig davon, ob (schon) Beeinträchtigungen und eine Behinderung vorliegen oder (noch) nicht, sollen Möglichkeiten zur Erhaltung oder Wiederherstellung ihrer Gesundheit erhalten (Schwarzer et al. 2011 ). Also sind ihre Erfahrungen und ihre Wünsche und Wahlmöglichkeiten notwendigerweise ebenso Teil der entsprechenden Erfassungen und Bewertungen. Denn

„until people with disabilities are routinely included in research, we cannot know if differences may emerge for those with disabilities in general or with particular disabilities, just as differences have emerged for factors such as gender, race, and co-morbidities.“

(Williams und Moore 2011 , 2)

solange Menschen mit Beeinträchtigungen nicht routinemäßig in die Forschung einbezogen werden, können wir nicht wissen, ob sich Unterschiede für Menschen mit Beeinträchtigungen generell oder mit bestimmten Beeinträchtigungen ergeben, so wie sich Unterschiede zurückführen lassen auf Faktoren wie Geschlecht, ethnische Herkunft und Komorbiditäten

(Übersetzung der Verfasserinnen)

Dieser Mangel an Erkenntnissen und Evidenzen gilt als eine Ursache für die fehlenden strukturellen Gesundheitsangebote für Menschen mit Beeinträchtigungen. Entsprechend ist Forschung erforderlich, die die Standards und Regeln des Konzeptes des universellen Forschungsdesigns ( Universal Design of Research , UDR) beachtet und realisiert (s. Abschn. 3.2.6 und 4.2.4 ).

1.4 Gute Gesundheit, Wohlbefinden und Wohlergehen

Gesundheit und Wohlbefinden für alle sind weltweit Zukunftsziele. Dies haben im Jahr 2016 die Vereinten Nationen mit den vereinbarten 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDGs) bekräftigt. Mit einer Laufzeit von 15 Jahren (das heißt bis zum Jahr 2030) wurde für alle beteiligten Staaten unter der Überschrift Gesundheit und Wohlergehen („good health and well-being“) beschlossen und als politischer Wille erklärt, ein gesundes Leben für alle Menschen jeden Alters zu gewährleisten und ihr „Wohlergehen“ zu fördern (Bundesregierung 2022 ).

Nun geht es darum, „good health and well-being“ zu konkretisieren. Aus individueller Perspektive streben Menschen nach ihrem allgemeinen Wohlbefinden, wollen ein erfülltes Leben führen und ihre Lebenspläne selbst bestimmen (Hirsch 2021 , 72). Sie gehen dabei auch Gesundheitsrisiken ein, z. B. mit riskanten Sportarten und wenig gesunden Nahrungs- und Genussmitteln (z. B. Zucker, Alkohol oder toxischen Stoffen wie Nikotin). Diese Form des Wohlbefindens erfordert allerdings eine „robuste Grundkonstitution“ und kann langfristig gesundheitsschädlich sein.

Eine gute Gesundheitsversorgung für alle Bürgerinnen und Bürger, die auch den Schutz vor Infektionsrisiken, den Zugang zu Prävention (Krankheitsvermeidung, Krankheitsfolgenverhinderung, Rehabilitation) sowie den Schutz vor und die Behandlung von lebensbedrohlichen, nicht ansteckenden Krankheiten wie Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes Mellitus oder Demenz umfasst, ist von hoher Bedeutung. Dazu sollen Maßnahmen wie eine allgemeine Krankenversicherung, ärztliche und therapeutische Versorgung sowie Einrichtungen (etwa besondere Wohnformen oder Pflegeeinrichtungen ) beitragen (Bundesregierung 2022 ).

Zur dauerhaften Beobachtung der Gesundheitslage durch die WHO (Monitoring) werden Fragen gestellt und Wechselwirkungen bewertet. Darunter beispielsweise:

  • Steht Gesundheit in direkter Verbindung zur Ernährung (z. B. Hunger (SDG 2) oder dem Zugang zu sauberem Wasser (SDG 6))?

  • Wird Gesundheitsversorgung verbunden mit dem Einsatz für Prävention und gegen Drogenmissbrauch, übermäßigen Alkohol- oder Nikotinkonsum, Missbrauch von Medikamenten; Zugang zu Impfstoffen, Management von Gesundheitsrisiken bis zu Erkrankungen und Umweltbelastungen?

  • Gibt es im Versorgungssystem Vorkehrungen für besondere Bedarfe, etwa bezogen auf Menschen mit Beeinträchtigungen oder andere vulnerable Bevölkerungsgruppen, wie beispielsweise Ältere oder Pflegebedürftige?

  • Gibt es Lücken in der flächendeckenden angemessenen Versorgung? Fehlen etwa medizinisch-therapeutisch-diagnostische, pflegerische, psychosoziale Angebote oder fall- beziehungsweise feldspezifische Hilfen?

  • Welche Ziele werden dauerhaft verfolgt, von wem beziehungsweise wo?

  • (Wann) Steigen Gesundheit und Wohlbefinden von Menschen mit Beeinträchtigungen?

  • Im Zusammenhang mit welchen (behördlichen/politischen) Maßnahmen sinkt oder steigt die vorzeitige Sterblichkeit besonders verletzlicher Gruppen (gegebenenfalls unterschieden nach Merkmalen)?

  • Sinkt die Raucherquote, z. B. bei Jugendlichen, Erwachsenen und anderen spezifischen Personengruppen im Zusammenhang mit bestimmten Veränderungen?

  • Sinkt die Über- beziehungsweise Untergewichtigkeit, z. B. bei Jugendlichen, Erwachsenen, bei Personengruppen mit besonderen Gesundheitsrisiken wie Bewegungsmangel, Stress/Mangel an Ruhe und anderen?

Der Fokus richtet sich also auf die Beseitigung von Krankheiten, auf Lebenserhaltung und damit Wohlergehen im Sinne von körperlicher Funktionalität und Syptomfreiheit (medical well-being) (Hirsch 2021 , 73). Verbunden mit auskömmlichen materiellen Ressourcen schließen diese Ziele Wohlbefinden ein.

Auch in der Lebensqualitätsformel „ Quality of Life “ (QoL) (s. Abschn.  1.1 ) wird Wert auf das individuell Gewünschte und Gewollte gelegt; emotionale und soziale Aspekte werden berücksichtigt. Zur Debatte steht, was das Leben gut für Menschen (sowie gut für eine bestimmte Person) macht. Diese individuellen Aspekte gilt es zu kennen und wahrzunehmen, ohne Generelles außer Acht zu lassen. Dennoch können Personen bezogen auf die Dinge, die gut für sie sind, also zu ihrem Wohlergehen beitragen, sich auch täuschen oder kurz- und langfristige Folgen unter Umständen wenig abwägen. Lebenszeitverlängerung, Gesundheitsförderung und Leidensminderung sind daher bedenkenswert, ebenso wie der Ermöglichungscharakter von „ good health “ für „well-being“. Wohlergehenschancen zu steigern kann als Ziel gesteckt werden, dem entsprechende Aushandlungsprozesse und Unterstützungsmaßnahmen folgen.

Hierbei treffen sich gesundheitswissenschaftliche mit menschenrechtlichen Denkstrukturen und weisen auf weitere mögliche Entwicklungen im Verständnis für menschliches Wohlergehen und Wohlbefinden hin. Der direkte Anschluss an die UN-BRK liegt nahe, denn die Ausrichtung an den Menschenrechten passt zu den Ausrichtungen der Teilhabepolitik insgesamt. Die WHO will mit der Programmatik des well-being for all auch nicht mehr nur spezifisch Länder des Globalen Südens erreichen, sondern sieht alle Staaten innen- und außenpolitisch in der Pflicht. Dabei wird zugleich der Präventionsgedanke als Kernelement von Gesundheitspolitik hervorgehoben, der nun in Deutschland mit dem Präventionsgesetz ausdrücklich Eingang in die Lebenswelten aller Bürgerinnen und Bürger finden soll (Bundesgesetzblatt 2015 ).

1.5 Gesundheit, Ability und Beeinträchtigung

Wie lassen sich diese aktuellen Anliegen im Hinblick auf Gesundheit für alle und die Anforderungen der Gesundheitssorge für Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung zusammenbringen? Das deutsche Gesundheitssystem achtet seit längerem auf diese Bevölkerungsgruppe. Diese Beachtung teilt aber zunächst Menschen auf und in Gruppen ein. Sie gelten dann als nichtbehindert oder behindert, ihr Verhalten oder ihre Erscheinung als „normal“ oder „abweichend“ (Köbsell 2015 ).

Diese Zuordnung fragt nach Fähigkeiten (cap-abilities), Kapazität (capacity) oder Können ( ability ) durch Veranlagung, und rekurriert auf Differenz (Abweichung), statt sich vorrangig auf die gegebene Power, Ability oder Begabung zu beziehen, bestehende Aufgaben oder Probleme körperlich, psychisch, rechtlich, moralisch, finanziell, technisch handelnd anzupacken, durchzuhalten und zu bewältigen.

Glossar 1: Beeinträchtigungen – Behinderung – behinderte Menschen

Beeinträchtigungen

Konkrete Fähigkeiten von Menschen sind eingeschränkt; dauerhafte Beeinträchtigungen geistiger/kognitiver, seelischer/psychischer, körperlicher/physischer Art

Behinderung

Beeinträchtigungen führen in Wechselwirkung mit Barrieren in der Umwelt (sozialen und externen Faktoren) zur Behinderung der Teilhabe; Behinderung wird fortlaufend im Alltag (Stigmatisierung, Vorurteile, doing disability), sowie durch strukturelle und institutionelle Ausgrenzungen hergestellt

Behinderte Menschen/Menschen mit Behinderung

Menschen mit Beeinträchtigungen, die deswegen in ihrer Lebensführung und Lebenslage benachteiligt werden; Menschen mit Beeinträchtigungen, die besonderen Abwertungsrisiken ausgesetzt sind, als Person und über Gruppenzuschreibungen (Diskriminierung)

Alle Teilhabeberichte der jeweiligen Bundesregierungen (BMAS 201320162021 ) zeigen mit ihrem statistischen Material sehr deutlich, wie die Benachteiligung und Diskriminierung von Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung in allen Lebensbereichen erfolgt. Man könnte von Behindertenfeindlichkeit sprechen, aber dies greift zu kurz. Es geht nicht allein um eine „Feindlichkeit“ gegenüber Menschen mit Behinderung, sondern vielmehr um eine systematische Benachteiligung, die unter dem Begriff ableism ( Ableismus ), der aus den internationalen Disability Studies stammt, diskutiert wird. Ableism, mit Bezug zu Sexismus und Rassismus gebildet, beschreibt wie diese ein Verhältnis, das Gesellschaften strukturiert und in allen Bereichen durchzieht. Es geht dabei um die unterschiedliche Bewertung und Zuordnung von Menschen anhand angenommener, zugeschriebener oder tatsächlicher Fähigkeiten.

Wie Rassismus ist ableism laut Rommelspacher ( 2009 , 29)

„ein System von Diskursen und Praxen, die historisch entwickelte und aktuelle Machtverhältnisse legitimieren und reproduzieren. […] Dabei werden soziale und kulturelle Differenzen naturalisiert und somit soziale Beziehungen zwischen Menschen als unveränderliche und vererbbare verstanden (Naturalisierung). Die Menschen werden dafür in jeweils homogenen Gruppen zusammengefasst und vereinheitlicht (Homogenisierung) und den anderen als grundsätzlich verschieden und unvereinbar gegenübergestellt (Polarisierung) und damit zugleich in eine Rangordnung gebracht (Hierarchisierung)“.

Es geht bei ableism im Kern um die (Nicht-)Erfüllung von Normalitätsanforderungen im Hinblick auf bestimmte geistige, seelische und körperliche Fähigkeiten, die als „typisch menschlich“ und damit als

„natürlich gegeben und für das Menschsein zentral gesetzt (werden)“ (Maskos 2010 , o. S.).

Die Zuordnung zu entsprechenden Gruppen entscheidet über gesellschaftliche Positionierungen. Unterschiede werden naturalisiert, Menschen homogenisiert, in der Zuordnung „behindert“/„nicht behindert“ polarisiert und der Erfüllung erwarteter Fähigkeiten entsprechend in eine hierarchische Ordnung gebracht. Somit geht es nicht um Fragen der Freund- oder Feindlichkeit, sondern um gesellschaftliche (Macht-)Verhältnisse, die „Behinderung“ thematisieren und Gesellschaften strukturieren.

Ableism ist kulturell tief verankert. Er bildet die Grundlage sowohl des individuellen, als auch des gesellschaftlichen Umgangs mit Menschen mit Behinderung, beeinflusst Einstellungen und Haltungen, ist weithin akzeptiert und wird kaum infrage gestellt. Alle Gesellschaftsmitglieder verinnerlichen dies beim Aufwachsen – auch Menschen mit Behinderung selbst. Dabei zeigt sich ableism nicht immer als offen negativ:

„Eher haben wir es mit einer ambivalenten Mischung zu tun: Kompetenzen werden uns abgesprochen, wir werden bemitleidet, bevormundet und infantilisiert, auf unsere Behinderung reduziert und dabei gleichzeitig wohlwollend gelobt oder bewundert, oft für alltägliche Dinge“ (Maskos 2020 , o. S.).

Glossar 2: Ableism|us

Gebildet in Analogie zu (Hetero-)Sexismus und Rassismus, bezeichnet Ableism|us die Bewertung und ggf. Benachteiligung von Menschen aufgrund ihrer (angenommenen) Fähigkeiten (engl. abilities) und ist wie diese Ausdruck eines gesellschaftlichen Machtverhältnisses. Dabei werden bestimmte Arten von Selbst und Körper als perfekt, arttypisch, für das Menschsein zentral gesetzt und abweichende Arten von Selbst und Körper entsprechend als weniger wertes Menschsein gewertet. Diese Annahme wird zur Grundlage und Begründung der ungleichen Behandlung von Menschen aufgrund offensichtlicher oder angenommener Unterschiede. Da ableism, meist unbewusst, Einstellungen und Umgangsweisen sowohl auf gesellschaftlicher wie (intra-)individueller Ebene beeinflusst, ist er maßgeblich an der Konstruktion von (Nicht-)Behinderung beteiligt. Die (Nicht-)Erfüllung von Fähigkeits-/Normalitätsanforderungen entscheidet über die Bewertung und gesellschaftliche Positionierung aller Menschen; damit ist ableism weit umfassender als Behindertenfeindlichkeit, die jedoch ein Bestandteil von ableism ist.

Auch mehr als zehn Jahre nach Ratifizierung der UN-BRK durch Deutschland hat sich hier wenig geändert: Menschen mit Behinderung wird weniger zugetraut, was sich zum Beispiel in Arbeitslosenzahlen niederschlägt, die deutlich höher als in anderen Bevölkerungsgruppen sind und damit das Armutsrisiko, verstärkt noch bei Frauen mit Behinderung, erhöhen (BMAS 2021 , 305). Äußerungen gegenüber den Eltern von Kindern mit Behinderung, dass „das“ doch heute nicht mehr sein müsse, sind Ausdruck von ableism (Köbsell 2016 , 96), wie auch der Blick auf Kinder mit Beeinträchtigungen, der diese „ver-andert“, also zu „Anderen“ macht und ihnen das Etikett „behindert“ zuschreibt (Köbsell 2016 , 99). Ableism zeigt sich nicht zuletzt in der Sprache, in der Behinderung nach wie vor mit Leiden und Mitleid verbunden wird, Menschen mit Behinderung Dinge nicht „mit“, sondern „trotz“ ihrer Beeinträchtigung tun. Wer jedoch als Gruppe sprachlich ständig und völlig selbstverständlich abgewertet beziehungsweise mit abwertenden Metaphern verbunden wird, wird kaum als gleichwertiges Gesellschaftsmitglied angesehen, das das gleiche Recht auf gesellschaftliche Teilhabe , Bildung, Arbeit und medizinische Versorgung hat wie die Mehrheitsgesellschaft (Cohen-Rottenberg 2013 , o. S.).

Ableism ist ein zentraler Bestandteil der fortwährenden Konstruktion von Behinderung in allen Lebensphasen von Menschen mit Beeinträchtigungen im Sinne eines „doing disability“ (Köbsell 2016 ; Waldschmidt 2008 ). Ableism bewirkt, dass trotz eines von der menschenrechtlichen Perspektive geprägten öffentlichen Diskurses und neuer Definitionen von Behinderung, auf zwischenmenschlicher und institutioneller Ebene immer noch die eigentlich überholten, von ableism geprägten Modelle von Behinderung wirken. So beeinflussen sie nach wie vor das Leben von Menschen mit Behinderung in allen Lebensphasen und -bereichen entscheidend, was auch signifikante Auswirkungen auf Gesundheit und Wohlbefinden hat.

Vor diesem Hintergrund sollten Angebote im Kontext von Gesundheit Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderung als Akteurinnen und Akteuere so einbeziehen, dass sie selbst entscheiden, sich einbringen und darüber Selbstwirksamkeit erfahren können. Statt etwas „für sie“ anzubieten, sollten Angebote und Dienstleistungen von und mit ihnen gestaltet werden (partizipatorisch), ihre Perspektiven und Wahrnehmungen (Zufriedenheit etc.) sollten im Mittelpunkt stehen. Die Aktivitäten sollten prüfen und sicherstellen, dass Leistungen Teilhabechancen bewirken und die Diskriminierungen der Menschen mit Beeinträchtigungen überwunden werden.

Glossar 3: Selbstwirksamkeit

Der Begriff der Selbstwirksamkeit wurde in den 1960er Jahren von Albert Bandura ( 1997 ) geprägt. Bezeichnet wird damit die Überzeugung, Handlungen erfolgreich selbst ausführen zu können, Erfolge als selbst bewirkt und nicht durch äußere Umstände verursacht anzusehen. Selbstwirksamkeit spielt eine zentrale Rolle bei der Entwicklung von Resilienz. Es ist die Erwartung, ein Ziel erreichen zu können, auch wenn es schwer ist oder etwas dazwischen kommt.

Gerade im Bereich der Gesundheit finden sich – je nach maßgebenden Erwartungen an Leistung oder Erscheinungsbild – entsprechende Zuordnungen, deren Grenzen im Prinzip verschiebbar sind. So können beispielsweise Bewertungen von Gesundheit oder Abweichungen von einer alters-, kultur- und/oder geschlechterspezifischen Norm bestimmt sein (z. B. Lazarevic und Brandt 2020 ). Oder wenn im medizinischen System eine Person als psychisch krank gilt, weil sie von der kulturspezifischen Verhaltensnorm abweicht, ist sie als „anders“ markiert: Sie erhält ein Etikett , das zu negativen sozialen Bewertungen der Person durch sich selbst und durch andere führt. Entsprechendes gilt für Menschen, die sozialrechtlich als beeinträchtigt beziehungsweise schwerbehindert eingestuft sind. Ob Personen demnach als körperlich, geistig und psychisch beeinträchtigt erfasst sind, ob sie als Einzelschicksale behandelt werden, ob ihre Gesundheitschancen als Person oder als Teil einer Personengruppen Beachtung finden ( awareness ) oder gerade nicht, um Diskriminierung zu vermeiden, ist eine Richtungsentscheidung. Für Einzelne, aber auch für deren Umfeld und die Angebote beziehungsweise Unterstützungsmaßnahmen ist dies relevant. Ob die als „behindert“ bezeichneten (also entsprechend zugeordneten, kategorisierten oder klassifizierten) Personen dann zur sozialen Last oder Aufgabe erklärt werden, ist zunächst ebenso eine Frage der Sichtweise. Scheinbar neutral lassen sich dazu sensorische, motorische, kognitive, emotionale, internistische, chirurgische und auch wirtschaftliche und soziale Möglichkeiten und Einschränkungen darstellen. Gleichzeitig leben aber auch Menschen, die nicht als (schwer-)behindert klassifiziert sind, mit Ängsten, Niedergeschlagenheiten, Abhängigkeiten ebenso wie mit Schmerzen und funktionalen Einschränkungen. Dies alles lässt sich vor dem Hintergrund behindernder gesellschaftlicher Barrieren und (flexibel) normalistischer Vorstellungen (Link 2006 | 1999, Wacker 2019 , 719 ff., 727–733; Waldschmidt 1998 ) beobachten. Dabei genutzte Erwartungshorizonte spiegeln ein jeweilig gegebenes gesellschaftliches Gefüge. Allerdings besteht immer ein Diskriminierungsrisiko, auch wenn die verschiedenen Akteure Benachteiligung eigentlich verhindern oder reduzieren wollen (s. Abschn.  2.1 ).

Gesundheitserwartungen setzen also Maßstäbe: Gewünscht sind präventive, kurative und rehabilitative Erfolge, die zu verbesserter Gesundheit und Wohlbefinden oder auch Leistungsfähigkeit beziehungsweise Minimierung von Belastung für sich selbst und andere führen. Verhältnisse ( Lebenslagen ) und gesundheitskompetentes Verhalten von Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen, wie auch Einflüsse aus ihrer sozialen und physischen Umgebung, greifen dabei ineinander (Schwarzer et al. 2011 ).

1.6 Von der Ursachen- zur Wirkungsorientierung

Eine angemessene Gesundheitsversorgung und -förderung von Menschen mit Beeinträchtigungen setzt das Bewusstsein voraus, dass Behinderung ein soziales Konstrukt ist. Dann bedeutet Behinderung nämlich nicht nur ein individuelles Schicksal aufgrund einer Abweichung beziehungsweise Einschränkung, sondern wird durch die Zusammenhänge von Beeinträchtigungen und Erschwernissen, Barrieren und Einschränkungen erklärt, die von den jeweiligen gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Gegebenheiten abhängen. Damit verbunden sind der jeweils erforderliche Schutz und die Wahrung der Menschenrechte. Denn Chancengerechtigkeit und Menschenwürde sind für Menschen mit Beeinträchtigungen ebenso zu gewährleisten wie die Rechte auf Selbstbestimmung , Gleichbehandlung und Teilhabe. Vor diesem Hintergrund wird das seit langem andauernde Ringen um passende Maßstäbe für Gesundheit intensiver und gemeinschaftlicher; allgemeine Lebensqualität (QoL) beziehungsweise gesundheitsbezogene Lebensqualität (health related QoL) gewinnen an Bedeutung (Glatzer und Zapf 1984 ).

Wird Beeinträchtigung beziehungsweise die Nichterfüllung von (körperlichen, sensorischen, psychischen, kognitiven) Normalitätserwartungen – wie in der UN-BRK – erst im Zusammenspiel mit Barrieren als Behinderung angesehen, bieten sich Chancen, Abhilfe zu suchen und zu finden (Weisser 2005 ). Die Ausgestaltungen von Gesundheits- und Sozialleistungen fokussieren nicht mehr nur Gesundheitsmängel und Abweichungen (Differenzen), sondern beseitigen oder mindern auch systematisch benachteiligende Lebensumstände. Ob erfasste Differenzen mit Nachteilsausgleichen oder mit Diskriminierung verbunden werden, ist jeweils eine Frage der Gesamtausrichtung von Gesundheitssorge und Sozialversicherungssystemen (Lippke et al. 2020b ).

Mit Lebensqualität sind Ziele und Aufgaben umrissen, die mit bestehenden Gesellschaftsformen, gesellschaftlichen Erwartungen sowie kulturellen Werten unterlegt sind. Die Zeit sollte reif dafür sein, nun zielführende Anstrengungen zu unternehmen, also zu prüfen und sicherzustellen, dass Leistungen zu Teilhabechancen führen und der Diskriminierung von Menschen mit Beeinträchtigungen entgegenwirken.