1 Ein eingeschränktes Verständnis der Digitalisierung

So vage der Begriff der Digitalisierung im allgemeinen Sprachgebrauch Verwendung findet, so eingeschränkt ist sein Verständnis. Meist geht es um nichts anderes als die Entwicklung und den Einsatz von Hardware und Software im Alltag, Beruf und in der Freizeit. Tastaturen, Bildschirme, Touchscreens und Sprachbefehle sind Beleg genug, dass man es mit digitalen Medien zu tun hat, die in der Lage sind, Nachrichten zu verbreiten, Algorithmen aufzurufen und Maschinen zu steuern.

Will man den Begriff der Digitalisierung näher einkreisen, spricht man überdies von einer Umwandlung analoger Sachverhalte in digitale Datenformate, die berechnet, gespeichert und untereinander zugunsten weiterer Berechnungen verknüpft werden können. Digitalisierung heißt, dass beliebige Sachverhalte digital codiert und ineinander übersetzt werden können. Bilder und Töne, Sprache und Musik ebenso wie Dokumente und Signale beliebiger Herkunft liegen dann im selben Datenformat vor.

Unter Umständen macht man sich überdies klar, dass es nur dann Sinn macht, Sachverhalte in ein digitales Format zu übersetzen, also im 0/1-Format aufzuschreiben, wenn die daraus errechneten Daten ihrerseits wieder lesbar gemacht werden können, sei es in weiteren digitalen oder in analogen Formaten. Digital devices, so Haugeland (1981), sind Bestandteil eines write-read-cycle.

Hieran schließt die gesellschaftliche Diskussion über Digitalisierung an. Die digital berechneten Daten verändern das Wissen über die Verhältnisse, in denen sie gewonnen worden sind, erschließen neue Handlungsmöglichkeiten und verändern auf diese Art und Weise auch das Erleben der Gesellschaft (siehe Bunz 2012; Kucklick 2014; Baecker 2018; Nassehi 2019). Allerorten muss man jetzt damit rechnen, dass der Lauf der Dinge Daten produziert, die man berechnen kann, um aus ihnen Konsequenzen zu ziehen, die den Lauf der Dinge verändern.

2 Ein erweitertes Verständnis der Digitalisierung

Erweitern kann man dieses Verständnis von Digitalisierung nur dann, wenn man sich deutlich macht, dass digitale Medien den Körper, das Gehirn, das Bewusstsein und die Kommunikation ihrer Nutzer unterschiedlich in Anspruch nehmen, herausfordern, unterstützen und verändern. Wir haben es nicht nur mit Mensch, Maschine und Gesellschaft zu tun, sondern mit organischen, psychischen und sozialen Systemen, die ihre je eigene Operationsweise haben (siehe zur Theorie selbstreferentiell geschlossener Systeme Maturana und Varela 1980; von Foerster 1993; Luhmann 1984). Diese Systeme operieren sowohl analog als auch digital, das heißt mit kontinuierlichen ebenso wie mit diskreten Werten, die komplex, das heißt in Anerkennung ihrer wechselseitigen Abhängigkeit und Unabhängigkeit miteinander verrechnet werden (von Neumann 1958). Jedes dieser Systeme setzt sich mit einer äußeren Umwelt auseinander, indem innere Umwelten innerhalb bestimmter Werte stabil gehalten werden (siehe Ashby 1960 zum Begriff des Homöostats).

Niklas Luhmann hat einen erweiterten Begriff der Digitalisierung vorgeschlagen, der darauf beruht, immer dann von Digitalisierung zu sprechen, wenn selbstreferentiell geschlossene Systeme über strukturelle Kopplung ihre analogen Umwelten in diskret beobachtende Unterscheidungen übersetzen (Luhmann 1997, S. 101). Ein Standardbeispiel dafür ist die Sprache, die nicht nur zwischen Kommunikation und Bewusstsein, sondern auch zwischen diesen beiden Systemen und ihren Umwelten eine kontinuierlich vorliegende Welt in ein Spektrum von Unterscheidungen – angefangen mit der Unterscheidung von Ja und Nein, wenn nicht sogar von Reden und Schweigen – übersetzt, deren Sinn und Wirklichkeit im Kontext ihrer Weiterverwendung und/oder einer mitlaufenden Wahrnehmung durch das organische und neuronale System überprüft wird. Wahrheit kann man nicht sagen, sie muss sich zeigen, sagt (und zeigt?) Wittgenstein (1963, Satz 4.022). Die strukturelle Kopplung (Maturana 1982, S. 150 f. u. ö.; Luhmann 1995) läuft über Mechanismen, die es einem System erlauben, auf die Komplexität seiner Umwelt oder auch eines anderen Systems in dieser Umwelt zuzugreifen, ohne die eigenen Operationen durch diesen Zugriff festzulegen. Deswegen heißt diese Art von Kopplung „strukturell“ im Gegensatz zu „operational“: Strukturen sind in der Ausdifferenzierung und Reproduktion eines selbstreferentiellen Systems kontingent und somit austauschbar, während Operationen unbedingt notwendig, weil identisch mit der Existenz des Systems sind.

Im Anschluss an diesen erweiterten Begriff der Digitalisierung können wir digitale Medien als einen weiteren Mechanismus der strukturellen Kopplung zwischen Körper, Bewusstsein und Kommunikation beschreiben, der mit anderen Mechanismen wie etwa Sprache, aber auch Musik, Bild, Mathematik oder Architektur verglichen werden kann. Digitale Medien gehören zu jenen Mechanismen struktureller Kopplung, die man unter dem Titel „Technik“ zusammenfasst und als Formen des Zugriffs auf Kausalität beschreibt. Sie schaffen ein Interface zwischen Körper, Bewusstsein und Kommunikation (je unterschiedlich) auf der einen Seite und Rechnern (Hardware, Software, Algorithmen, Netze) auf der anderen Seite, das mithilfe der von Frieder Nake (2008) vorgeschlagenen Begriffe des „Subface“ und des „Surface“ weiter analysiert werden kann. Subface ist die technische Seite der digitalen Medien, gekennzeichnet durch die Vernetzung und Verschaltung kausal kontrollierter und determinierter Prozesse in Hardware und Software (Wenn/Dann/Sonst-Schleifen). Surface ist die ebenfalls technisch gestaltete, aber gegenüber Zugriffen des Körpers (Wahrnehmung), des Bewusstseins (Intentionalität) und der Kommunikation (Information, Mitteilung und Verstehen) grundsätzlich offene, das heißt interpretierbare Seite (Tastaturen, Bildschirme, Schalttafeln, Mikrophone und Lautsprecher). Das Interface digitaler Medien vernetzt demnach Kausalität mit Kontingenz.

Diese Begriffswahl legt zugleich fest, dass wir nicht davon ausgehen, digitale Medien als technische Systeme beschreiben zu können, die bereits mit einer eigenen Selbstreferenz und operationalen Schließung ausgestattet wären. Fantasien zur Weiterentwicklung von digitalen Medien in Apparate künstlicher Intelligenz laufen in diese Richtung, doch wesentliche technologische Fragen vor allem im Bereich des Einbaus hermeneutischer Formen des Umgangs mit unvermeidbarem Nichtwissen sind bislang ungelöst (Smith 2019).

3 Digitalisierung im Kalkül

Prozesse der Digitalisierung sind dann als „Kalküle“ zu verstehen, wenn sie im mathematischen Sinne dieses Begriffs als Transformation von Formen in Formen verstanden werden können. Dazu ist es erforderlich, jedes der beteiligten selbstreferentiellen Systeme (Organismus, Bewusstsein, Gesellschaft, Organisation) als einen Operator zu verstehen, der Unterscheidungen vollzieht, die aus einer analog vorliegenden Welt eine diskret bearbeitbare Wirklichkeit gewinnen. Die Unterscheidungen müssen so gewählt sein, dass es dem Organismus gelingt, Proteine zu produzieren, dem Bewusstsein Gedanken, der Gesellschaft Kommunikation und der Organisation Entscheidungen. Diese Unterscheidungen sind Beobachtungen, die nur unter Zugrundelegung der jeweiligen Systemreferenz verstanden und rekonstruiert werden können. Die Schließung der Systeme ergibt sich daraus, dass jede dieser Beobachtungen zugleich Operation und Operand ist, die Systeme also nur als Funktion ihrer selbst im Umgang mit einer unbekannt bleibenden Umwelt (der inneren und der äußeren) verstanden werden können. Mechanismen struktureller Kopplung erlauben, die eigenen Operationen an Strukturen zu orientieren, die als Sachverhalte der Umwelt oder Strukturen anderer Systeme konstruiert werden, selbst wenn ihr Anschlusswert für weitere Operationen in jedem System ein anderer ist.

Ein Kalkül der Digitalisierung besteht darin, die verschiedenen Beiträge untereinander zu verrechnen, die jedes der beteiligten Systeme und die Technologie der digitalen Medien jeweils bereitstellen. Jedes der beteiligten Systeme gewinnt daraus Anschlüsse für die Ausdifferenzierung und Reproduktion der eigenen Operationen im Modus der jeweils eigenen Formen, die diese Operationen generieren.

Für ein konkretes Verständnis der beteiligten Systeme beschränken wir uns hier auf das Allernötigste, zumal es keinen einheitlichen Wissensstand der beteiligten Fachdisziplinen Neurophysiologie, Psychologie und Soziologie gibt, auf den man sich ohne umfangreiche weitere Diskussion und Forschung berufen könnte.

Unter einem Organismus verstehen wir einen Körper inklusive seines Gehirns, die als lebendes System beschrieben werden und sich bezogen auf ihr Nervensystem im Modus der Irritabilität und Plastizität ausdifferenzieren und reproduzieren (Boschung 2005; Plessner 1965). Das Gehirn operiert im Modus des „predictive coding“, das heißt, es trifft laufend Vorhersagen und baut aus entsprechenden Erfahrungen und Enttäuschungen ein Lernsystem auf, das sinnlich, das heißt akustisch, optisch, olfaktorisch, taktil und emotional arbeitet und die Welt definiert, in der der Organismus sich bewegt (Frith 2007; Baecker 2014). Auch bei diesem Lernen und dem Aufbau eines Gedächtnisses geht es, wie wir von Freud (1999) wissen, primär um eine Reizabfuhr, die Irritabilität voraussetzt.

Von Körper und Gehirn ist das Bewusstsein zu unterscheiden, das beim Menschen vermutlich in der Auseinandersetzung mit der sozialen Umwelt entstanden ist und im Modus der Intentionalität, aber auch des Imaginären Register für seine Gegenstandsbezüge herstellt (Husserl 1929; Lacan 1978; Smith 1996).

Und soziale Systeme operieren im Modus der doppelten Kontingenz (Luhmann 1984, S. 148 ff.). Kommunikation ist jener eigentümliche Typ einer Beziehung, in der auf beiden Seiten eine minimale Unabhängigkeit hergestellt werden muss, damit die Beteiligten sich auf immer wieder neu zu bewertende Abhängigkeiten einlassen. Daraus ergibt sich das Problem der doppelten Kontingenz, demgemäß A darauf wartet, dass B sich festlegt, und B seinerseits darauf wartet, dass A einen ersten Schritt macht. Das Handeln und Erleben beider Seiten ist kontingent, das heißt so, aber auch anders möglich. In dieser Situation bewähren sich nur Strukturen, die das Problem einerseits lösen und andererseits als Struktur der Freiheit, wenn man so sagen darf, bestehen lassen.

Für unseren Kalkül der Digitalisierung ist nun entscheidend, dass jedes der beteiligten Systeme die Form seiner Operationen zur Verfügung stellt, um die digitalen Medien zu bedienen, zugleich jedoch diese Form seiner Operationen seinerseits medial variiert, um die Anforderungen zu bewältigen, die ein digitales Medium stellt. Wir verallgemeinern und erweitern damit nicht nur den Begriff der Digitalisierung, sondern auch den Begriff des Mediums (Heider 1926). Als ein „Medium“ wird jede lose Kopplung von Elementen verstanden, die im Modus fester Kopplung als „Dinge“ oder „Formen“ verstanden werden können. So ist die Sprache ein Medium für Wörter, Worte und Sätze, das Geld ein Medium für Zahlungen oder ein technischer Apparat ein Medium für eine alternative Lösung seiner technischen Aufgaben. Der Medienbegriff ist keine Kategorie zur Beschreibung bestimmter Phänomene, sondern eine bestimmte Perspektive der Beobachtung, die Dinge oder Formen in ihre Bestandteile auflöst, um nach Varianten zu suchen oder auch das Medium zu wechseln.

Wird zusätzlich Spencer-Browns Formbegriff zu Rate gezogen, so kann man berücksichtigen, dass jede Form, verstanden als Unterscheidung, einschließt, was sie ausschließt. Die Form eines Wortes macht andere Worte vorstellbar. Wer für ein bestimmtes Produkt eine bestimmte Summe Geldes bezahlt, bezahlt vielleicht auch mehr. Wenn ein technischer Apparat ausgeschlossen hat, ein bestimmtes Problem auf eine bestimmte Art und Weise zu lösen, findet man vielleicht doch noch einen Weg, die zunächst ausgeschlossene Lösung oder eine ähnliche zu realisieren. Der Formbegriff formuliert mit der Unterscheidung zugleich eine Kontingenz, die auf ein Medium verweist, in dem alternative Formen möglich sind. Kommunikation, so hat Luhmann (1997, S. 195) vorgeschlagen, ist nichts anderes als das Prozessieren der Differenz von Medium und Form. Es werden Unterscheidungen getroffen, die andere Möglichkeiten ausschließen, die wiederum und zusammen mit der eingeschlossenen Möglichkeit (denn Kommunikation kann auch bestätigen) das Medium konstituieren, in dem nach den nächsten Formen gesucht wird.

Diese umständliche Begrifflichkeit ist nötig, um auf den doppelten Zusammenhang aufmerksam zu machen, in dem nicht nur digitale Medien so und anders gestaltet werden können, sondern digitale Medien ihrerseits auf eine Wahrnehmung, ein Bewusstsein und eine Kommunikation stoßen, die so und anders operieren können. Wir haben es in spezifischen Grenzen mit einer wechselseitigen Plastizität der Medien und Systeme zu tun. Die Wahrnehmung kann durch digitale Medien trainiert werden, das Bewusstsein kann anhand digitaler Medien neue Sachverhalte registrieren und die Kommunikation kommt anhand digitaler Medien auf neue Ideen der Gestaltung und Verankerung von Hierarchien, Teams und Projekten.

Der Kalkül der Digitalisierung, nach dem wir suchen, soll diesen wechselseitigen Abhängigkeiten Rechnung tragen. Er soll es ermöglichen, in der Praxis bereits gefundene Lösungen zu würdigen und zu rekonstruieren. Er soll es ermöglichen, Fehler zu identifizieren oder Misserfolge zu erklären. Und er soll eine Handhabe liefern, das Design von digitalen Medien intelligenter auf die verschiedenen Systeme zu beziehen, die an einer Schnittstelle beteiligt sind.

4 Die Spencer-Brown-Transformation

Unser Ausgangspunkt ist die (soziologische und systemtheoretische) Beobachtung eines beliebigen betrieblichen Digitalisierungsprojekts, DPB. Wir sehen nichts anderes als einen Bildschirm und eine Tastatur (oder einen Touchscreen), die einer Black Box vorgeschaltet sind, die Hardware und Software zur Maschinensteuerung, zur Ressourcen-, Auftrags- und Terminplanung (ERP) oder auch zu Dokumenten des Wissensmanagements in sogenannten Sozialen Medien enthält. Bildschirm und Tastatur, ein Touchscreen oder auch sensorische und motorische Punkte der Berührung im Verhältnis zu einem Roboter bilden ein Interface. Die Ingenieurin schaut sich das Subface des Interface (Nake 2008) an und fragt, welche Programme innerhalb der Black Box welche Effekte zu erzielen, zu steuern und zu kontrollieren erlauben. Und sie fragt in einem zweiten Schritt, wie sich die Dokumentation dieser Effekte auf dem Bildschirm gestalten lässt, damit der Nutzer und seine nächsten Entscheidungen treffen kann. Das Interface ermöglicht ein Schreiben und ein Lesen von Daten, die von der Black Box aufgenommen, verarbeitet und wieder ausgegeben werden. Letztlich geht es nur darum, diese Daten sichtbar (für die Wahrnehmung), verständlich (für das Bewusstsein) und kommunikativ entscheidungsfähig (für die Organisation) zu machen. Dazu zieht die Black Box die Eingabe und Ausgabe von Daten auseinander und nutzt die gewonnene Zeit für eigene Operationen.

Der Soziologe versteht nichts von der Black Box. Er schaut sich das Interface aus der Perspektive des Surface an und entdeckt dort Nutzer, die ihre Wahrnehmung und ihren Verstand einsetzen, um das Interface und seine Möglichkeiten zu verstehen, und sich an Kommunikation beteiligen, um das Interface für Entscheidungen in der Hierarchie, im Team und im Projekt verfügbar zu machen. Die Fragestellung einer Digitalisierung im Kalkül ergibt sich, weil diese Nutzer nicht nur trivialerweise tun, was die Black Box ermöglicht, sondern sich nicht-trivialerweise erst einmal einen Reim darauf machen müssen, was die Black Box ermöglicht und was nicht und wie sie auch zu denjenigen Zwecken eingesetzt werden kann, die der Nutzer möglicherweise für sinnvoller hält als die Entwicklerin. Der Nutzer operiert seinerseits nicht-trivial, das heißt es ist von den Zuständen seines Körpers, seines Gehirns, seines Bewusstseins und seiner Beteiligung an Kommunikation abhängig, was er sieht oder nicht sieht, versteht oder nicht versteht, tut oder nicht tut. Denn nicht-triviale Systeme, so von Foerster (1993, S. 247 f.), verfügen nicht nur über eine Transformationsfunktion, die einen Input synthetisch bestimmt, analytisch bestimmbar und historisch unabhängig in einen Output übersetzt, sondern zusätzlich über eine Zustandsfunktion, die von der Transformationsfunktion abgerufen wird und das System nach wie vor synthetisch bestimmt, aber analytisch unbestimmbar und historisch (von ihren vorherigen Zuständen) abhängig macht.

Im Rahmen agiler Managementphilosophien lernen Entwicklerinnen, die nicht-trivialen Operationen von Nutzern ernst zu nehmen. Iterative und rekursive Entwicklungsschritte führen die Nutzerperspektiven in die Entwicklerperspektiven mit ein. Es entsteht eine neue Kultur der Abstimmung zwischen Körper, Bewusstsein, Kommunikation und Technik, die in Teams und zwischen Teams, in Projekten und für Projekte unterschiedlich bespielt werden (Laloux 2014; Robertson 2015; Kim et al. 2016). Die digitalen Medien erhalten in dieser neuen Kultur der Abstimmung eine Form, die es ermöglicht, ihre Einschlüsse als Ausschlüsse zu beobachten und sie medial im strengen Sinne des Wortes zu variieren.

Der Kalkül der Digitalisierung soll diese Kultur nicht nur beobachtbar, sondern auch gestaltbar machen. Worauf kommt es an, um ein betriebliches Digitalisierungsprojekt erfolgreich durchführen zu können? Um diese Frage beantworten zu können, stellen wir uns einmal ganz dumm. Wir betrachten nicht nur die digitalen Medien, das heißt die technischen Möglichkeiten, als Black Box, sondern auch die beteiligten organischen, neuronalen, psychischen und sozialen Systeme. Wir wissen nicht, was im Subface, und wir wissen nicht, was an der Surface vor sich geht, wollen aber beides wissen. Vor uns haben wir nichts anderes als ein Interface, das wir mit Herbert A. Simon (1981, S. 131) auch als „thin interface“ betrachten können, das eine innere Umwelt und deren „Gesetze“ von einer äußeren Umwelt und deren „Gesetzen“ unterscheidet, trennt und im Medium dieser variierbaren Trennung verknüpft.

Welches Vorabwissen wir auch immer von dem Digitalisierungsprojekt, DPB, haben mögen, wir negieren es und setzen eine unbekannte Sequenz von Unterscheidungen an deren Stelle:

figure a

Wir nutzen dabei die von George Spencer-Brown (1969, S. 3; vgl. Kauffman 1987) in seinem Indikationenkalkül eingeführte Notation des cross, , zur Markierung einer Unterscheidung. Das cross wird als eine Operation verstanden, die von der leeren Innenseite einer Unterscheidung auf die markierte Außenseite wechselt und dadurch die Unterscheidung – sowie die damit einhergehende Bezeichnung des markierten Zustands – trifft. Die Operation der Unterscheidung ist die Operation eines Beobachters beziehungsweise einer Beobachtung, der oder die somit dafür verantwortlich ist, dass etwas markiert wird und was markiert wird. Daraus erklärt sich die kybernetische Aufforderung, den Beobachter beziehungsweise die Beobachtung zu beobachten. Beobachter und Beobachtung können in verschiedenen Formen der Materialisierung auftreten, so zum Beispiel als Organismus, Gehirn, Bewusstsein oder Kommunikation. Auch ein technisches System trifft Unterscheidungen und damit Beobachtungen, doch dies nur in den Augen eines Beobachters zweiter Ordnung. Denn Beobachtungen im hier gemeinten Sinne des Wortes sind Operationen eines Systems, das sich mit ihrer Hilfe beziehungsweise in ihrem Medium ausdifferenziert und reproduziert. Wir haben es mit selbstreferentiellen Operationen beziehungsweise Beobachtungen zu tun, die sich rekursiv aufeinander beziehen.

In der oben aufgeschriebenen Form von DPB verwenden wir das cross als Zeichen für Negation. Es formuliert damit die Beobachtung, dass das beobachtete Digitalisierungsprojekt möglicherweise nichts ist, das heißt leer auf nichts hinausläuft, und ruft damit die Frage auf, welche Sequenz von Beobachtungen es für welche Beobachter als etwas zu bestätigen vermögen.

Konträr zur Fülle der Welt gehen wir mit diesem Ausgangspunkt auf einen Nullpunkt zurück, auf dem wir nichts anderes wissen, als dass es dieses Digitalisierungsprojekt geben soll. Aber was leistet es? Und für wen leistet es etwas? Das Interface wird so dünn, dass es fast, aber nicht ganz, verschwindet. Denn wir haben ja immer noch den Bildschirm, die Tastatur, den Touchscreen oder Ähnliches vor Augen.

Für eine unendlich wiederholbare Unterscheidung wie

figure c

können wir auch das re-entry schreiben:

figure d

Mit dieser Wiedereinführung der Unterscheidung in die Form der Unterscheidung können wir im Folgenden arbeiten.

Wir setzen unser zunächst leeres betriebliches Digitalisierungsprojekt und fragen, welche Markierungen in den uns bekannten Systemreferenzen es vornimmt:

figure e

Den Wechsel von DPB zur Form von DPB nennen wir die Spencer-Brown-Transformation (Baecker 2021). Sie negiert das Projekt zugunsten des Aufrufs der Systemreferenzen Organismus (Irritation), Bewusstsein (Intention) und Betrieb (Kommunikation), die ihrerseits negiert markiert werden, weil sie „leer“ auf ihre jeweilige Außenseite der Unterscheidung verweisen. Dieser wechselseitige Verweisungszusammenhang schließt sich über der Markierung der Technik, die als Mechanismus der strukturellen Kopplung von allen beteiligten Systemen referenziert wird, sich jedoch ihrerseits „leer“ von einer hier unmarkierten Außenseite der Form, n, unterscheiden lässt.

Die Technik ist damit nicht die Antwort auf alle Fragen, sondern ihrerseits die Frage, die vom Organismus, vom Bewusstsein und von der Kommunikation beantwortet werden muss. Ist das digitale Medium, das technisch in einem bestimmten Digitalisierungsprojekt implementiert werden soll, anschaulich zugänglich, intentional verständlich und kommunikativ sinnvoll? Und wie müssen Anschauung, Verständlichkeit und kommunikativer Sinn ihrerseits weiter differenziert werden, um diese Frage beantworten zu können? Genügt der optische oder benötigt man auch akustische, taktile, vielleicht sogar affektive Zugänge zum digitalen Medium? In welchem kognitiv und/oder normativ erreichbaren Register des Bewusstseins macht sich dieses das digitale Medium verständlich? Und welche Rolle spielt das digitale Medium im Team und im Projekt, in der Hierarchie und im Netzwerk des Betriebs?

Der Kalkül der Digitalisierung kann jede einzelne dieser Fragen nur beantworten, wenn alle Fragen zugleich beantwortet werden. Ein Kalkül ist es deswegen, weil jede Antwort jede andere Antwort variiert. Die Form wird laufend in eine andere Form ihrer selbst transformiert. Wir haben es nicht mit einer Kumulation, sondern mit einer Interdependenz von Antworten zu tun. Diese Interdependenz beruht darauf, dass jede Markierung unter ihrem cross zwischen ihrer Negation und dem Aufruf einer markierten und dementsprechend kontextualisierenden Außenseite ihrer Unterscheidung oszilliert.

Jede der beteiligten Systemreferenzen konfrontiert jede andere mit dem Problem der Übersetzung eines kontinuierlich analogen Sachverhalts in ein digitales Datenformat, das Körper und Gehirn, Bewusstsein und Kommunikation gemäß ihren Unterscheidungen und in der Auseinandersetzung mit ihrer inneren Umwelt lesen und bedienen können. Die Form des Digitalisierungsprojekts ist das Ergebnis einer wechselseitigen Transformation aller Formen der beteiligten Systeme. Digitalisierung im engeren und technischen Sinne ist das Ergebnis einer Digitalisierung im weiteren und vielfachen Sinn. Der Kalkül schafft eine Übersicht über die wenigen, aber in sich komplexen Systeme, deren Zusammenspiel oder auch Verweigerung für die Komplexität des schließlich durchgeführten Digitalisierungsprojekts verantwortlich ist.

5 Die Rolle von Leerstellen

Es mag paradox erscheinen, aber es sind die Leerstellen in den Operationen sowohl der beteiligten Systeme als auch der digitalen Medien, die brauchbare konkrete Hinweise auf ihre Verknüpfung liefern. Wenn ein Organismus, ein Gehirn, ein Bewusstsein, eine Kommunikation, eine Entscheidung nicht weiterkommen und daher sogenannte Fremdreferenzen aufrufen müssen, um den selbstreferentiellen Anschluss eigener Operationen an eigene Operationen sicherzustellen, kommen Mechanismen struktureller Kopplung ins Spiel. Und wenn digitale Medien ihre Algorithmen unterbrechen und auf Eingaben warten, muss etwas passieren, was die digitalen Medien weder zeitlich (wann?) noch sachlich (was?) oder sozial (von wem?) vorwegnehmen können.

Leerstellen können daher als Einheit der Differenz von Selbstreferenz und Fremdreferenz verstanden werden, wobei die Selbstreferenz der Systeme auf die eigenen, „digitalisierten“ Unterscheidungen Bezug nimmt und die Fremdreferenz grundsätzlich widerständige, auf die zu beobachtende Wirklichkeit verweisende „Analogwerte“ (Günther 1960) aufruft. In der Leerstelle wird ein operational geschlossenes System zugleich auf sich und auf den Bedarf des Anschlusses an eine Umwelt aufmerksam gemacht. Daher sind Leerstellen die privilegierten Momente einer Erkenntnis und Selbsterkenntnis eines solchen Systems. Ähnliches gilt in den Augen eines Beobachters für digitale Medien. Dort, wo Eingaben erforderlich sind, erschließen sich sowohl die Funktionalität eines digitalen Prozesses als auch die Frage, wer oder was von diesem Prozess adressiert wird, sei es eine körperliche Reaktion, ein bewusstes Verstehen oder ein kommunikativer Anschluss.

Man kann die innere Struktur einer Leerstelle als die Struktur einer reflexiven und generalisierenden Negation beschreiben. Die Leerstelle steht nicht im Widerspruch oder gar in einer Opposition zu vorherigen und nachfolgenden Operationen oder zu Fremdwerten in der analogen (inneren und äußeren) Umwelt. Sie bricht nichts ab. Sondern sie öffnet zugunsten eines noch unbekannten, möglicherweise erwarteten, aber nicht vorweggenommenen Anschluss. Die Negation „impliziert“ die andere Seite einer Unterscheidung, die sie trifft, indem sie sich bezeichnet (Spencer-Brown 1969, S. 91; vgl. zur Idee einer nicht binären, sondern generalisierenden Negation auch Spencer-Brown 1961; Luhmann 1981). Leerstellen rechnen daher grundsätzlich mit Beobachtern, inklusive Selbstbeobachtung, die dort Anschlüsse finden, wo der unterbrochene oder vielleicht sogar „zusammengebrochene“ (Winograd und Flores 1989) Prozess keine mehr findet. Deswegen sind sie die in strukturellen Kopplungen privilegierten Momente.

Nicht zuletzt lässt sich hier auch der Medienbegriff anschließen. Leerstellen rufen keine konkreten Formen auf, sondern Medien für Formen. Sie lassen sich alternativ füllen. Eben das ist Teil ihrer generalisierenden Negativität. Sie rufen keine bestimmten Bewegungen, Intentionen oder Entscheidungen auf, sondern den Körper, das Bewusstsein oder die Kommunikation mit ihren kontingenten Möglichkeiten, hier und jetzt einzugreifen. Ihre Adresse ist der Körper, das Bewusstsein, die Kommunikation oder die Organisation als Spektrum, in dem erst von den adressierten Systemen eine konkrete Wahl für diese und keine andere Operation getroffen wird. Leerstellen konfrontieren sich einer Menge lose gekoppelter Elemente, in der erst die adressierten Systeme eine Entscheidung zugunsten einer bestimmten Form, das heißt einer bestimmten Operation als Integral von Bezeichnung und Unterscheidung (mit neuen Anschlussmöglichkeiten) getroffen wird.

6 Diskussion

Abschließend ist die Frage zu beantworten, womit ein nicht unerheblicher theoretischer Aufwand, wie hier, zum Einstieg in eine soziologische und systemtheoretische Untersuchung von betrieblichen Digitalisierungsprojekten und ihrer Konstruktion von Schnittstellen gerechtfertigt werden kann. Die Frage ist umso berechtigter, als mit diesem Ausgangspunkt kein einziges Ergebnis vorweggenommen werden kann, sondern im Gegenteil eine möglicherweise unnötige Komplexität geschaffen wird, die empirisch unter Umständen nicht einzulösen ist.

Die Antwort auf diese Frage ist jedoch relativ einfach. Die Einführung digitaler Medien medialisiert und reformatiert einen Betrieb so umfassend, dass keine der Selbstverständlichkeiten eines bewährten betrieblichen Wissens ins Feld geführt werden kann, um digitale Medien auf den Status bloßer Instrumente einer effizienteren, effektiveren und innovativen Gestaltung der Produktion zu reduzieren. Es ändert sich das Kompetenzprofil der beteiligten Mitarbeiter von deren Geschicklichkeit über ihr Nervenkostüm und ihr nicht nur fachliches, sondern systemisches Wissen bis hin zu ihrer laufend herausgeforderten Lernfähigkeit. Es ändern sich die Gegenstände, mit denen Mitarbeiter und Management es zu tun haben, von zuvor meist greifbaren Objekten in zunehmend ungreifbare Prozesse, Relationen und Netzwerke. Es verändert sich die Organisation, in der man arbeitet, aus einer hierarchisch mehr oder minder geordneten Organisation mit wenig Kundenkontakt in eine vertikal und horizontal differenzierte und integrierte Netzwerkorganisation, die es laufend mit der Problemstellung zu tun bekommt, eigene Entscheidungsprozesse mit offenen kommunikativen Beiträgen von Lieferanten, Kunden und weiteren Partnern möglichst intelligent zu vernetzen. Und nicht zuletzt hat man es mit neuen Technologien zu tun, die immer intelligentere und zunehmend autonome Formen der Überwachung aller Prozesse leisten und kurz vor der Schwelle zu einer eigenständig künstlichen Intelligenz stehen könnten.

Betriebe, die sich diesen neuen technologischen Herausforderungen stellen, stellen fest, dass jede ihrer bewährten Strukturen zu einer Variablen geworden ist. Und sie stellen fest, dass diese Variablen nicht etwa durch mehr oder minder übersichtliche Funktionen bestimmt werden können, sondern als Operationen zu verstehen sind, für die es keine Gleichungen, sondern nur Voraussetzungen und Ergebnisse gibt. Die komplexe Wirklichkeit des Betriebs ist das Ergebnis organischer, neuronaler, psychischer, sozialer und technischer Operationen. Diesen Zusammenhang hält ein Kalkül fest.