1 Digitalisierung

Digitalisierung im umgangssprachlichen Sinne bezieht sich auf die Verwendung elektronischer Medien zur Datenverarbeitung. Diese Daten werden analog erfasst, digital verarbeitet und analog wieder ausgegeben. Maschinen werden verwendet, um die Dateneingabe, die Datenverarbeitung und die Datenausgabe zu unterstützen. Softwareprogramme registrieren, protokollieren, vernetzen und steuern materielle ebenso wie soziale Vorgänge.

Interfaces verschalten die Oberfläche (surface) analoger Dateneingabe und -ausgabe mit der Unterfläche (subface) elektronischer Datenverarbeitung (Nake 2008). Oberfläche und Unterfläche unterscheiden sich in der Schnelligkeit, Genauigkeit und Zuverlässigkeit des Zugriffs auf die Daten und der Verarbeitung der Daten. Informatiker und Ingenieure beschäftigen sich mit den Unterflächen (Hardware, Software, Netzwerke, Programme, Algorithmen).

Aber wer beschäftigt sich mit den Oberflächen? Man scheint sich darauf zu verlassen, dass die Technik überzeugt, wenn sie funktioniert. Man arbeitet mit einigen kritischen Variablen wie Datenschutz, Zugriffsrechte, fallweise Kooperation zwischen Entwicklern und Werkern (DevOps). Und man verlässt sich im Zweifel darauf, dass die Zulieferer für Hardware und Software ihren Job gemacht haben und man sich so oder so, schon weil die Konkurrenz es auch tut und mit den gleichen „Systemen“ arbeitet, den Gegebenheiten am besten anpasst. Zulieferer definieren den Stand der Technik, wenn man es nicht selbst tut.

2 Technische Unterflächen und soziale Oberflächen

Das Projekt KILPaD beschäftigte sich in seinen Schnittstellenanalysen mit der wechselseitigen Einschränkung und den wechselseitigen Anforderungen von Unter- und Oberflächen. Weder sind die Oberflächen restlos technologisch determiniert, noch ist in jedem einzelnen Fall deutlich, welcher Bedarf und welche Möglichkeiten an den Oberflächen bedient werden können.

Wir unterscheiden der Einfachheit halber technische Unterflächen und soziale Oberflächen. Streng genommen müssten wir die Unterscheidung für jedes der beteiligten Systeme wiederholen. Auch organische, psychische und soziale Systeme haben ihre Unterflächen (Selbstreferenz, Funktion, Codierung, Medium) auf der einen Seite und ihre Oberfläche (Umwelt) auf der anderen Seite. Die Unterflächen sind auch hier digitalisiert im Sinne einer Operation anhand von Unterscheidungen, die Oberflächen analog im Sinne der Auseinandersetzung mit einer kontinuierlichen Welt. Wir beschränken uns jedoch auf die technische Seite und ihr körperliches, mentales und soziales Gegenüber. Und wir gehen davon aus, dass es auf der Seite der elektronischen Medien mindestens so viele Möglichkeitsüberschüsse und Leerstellen beziehungsweise Freiheitsgrade gibt, die man so oder anders bestimmen kann, wie auf der Seite ihrer Wahrnehmung, ihres Verständnisses, und ihrer Kommunikation in der Produktion, im Betrieb und in der Organisation überbetrieblicher Netzwerke. Deswegen macht die Kooperation zwischen Entwicklung und Produktion einen Unterschied. Sie stimmt die Möglichkeitsüberschüsse aufeinander ab.

Für die technische Unterfläche der Schnittstellen unterscheiden wir:

  • Codes,

  • Register,

  • Protokolle,

  • Programme (loops),

Auf der sozialen Oberfläche unterscheiden wir:

  • die sinnliche (optische, akustische, taktile) Wahrnehmung durch die beteiligten Mitarbeiter,

  • das bewusste Verstehen durch Entwickler, Werker, Produktionsleiter und Geschäftsführung,

  • die Einbindung der Daten in den Workflow der Produktion,

  • die Kontrolle der Daten durch den Betrieb (Hierarchie) und

  • die Verwertung der Daten in überbetrieblichen Projektzusammenhängen.

3 Synchronisation

Jede dieser fünf Perspektiven hat ihren eigenen zeitlichen Rhythmus, jede von ihnen um Größenordnungen langsamer als die Geschwindigkeit der elektronischen Rechenvorgänge (fast in Lichtgeschwindigkeit, 300.000 m/s, quantenmechanisch steigerbar):

  • Die Nervenleitgeschwindigkeit im Organismus eines Wirbeltiers inkl. Mensch beträgt ca. 60 m/s, nicht gerechnet die Verzögerungen beim Hinschauen, Hinhören, Ertasten, die diese Geschwindigkeit auf ca. 5 m/s reduzieren.

  • Das Bewusstsein ist noch einmal wesentlich langsamer (Wundt 1862). Eine ungefähre Vorstellung, wie schnell oder langsam es ist, vermittelt die sowohl philosophische als auch neurophysiologisch diskutierte Vorstellung der Länge eines im Bewusstsein präsent zu haltenden Moments von 2 bis 3 s („specious present“) (Dainton 2017).

  • Kommunikation ist wiederum langsamer als das Bewusstsein. Man kann sie durch die Verwendung umgangssprachlicher Floskeln beschleunigen und durch die Einführung von Formalitäten verlangsamen. Ihr horizontaler Fluss ist schneller und dichter als ihre vertikale Abstimmung.

  • Die Abstimmung im Team, in der Hierarchie und im Netzwerk (zusammengefasst: „Organisation“) folgen jeweils unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Die Zeitstrukturen einer Organisation sind heterogen; und die Organisation ist im Umgang mit inneren und äußeren Störungen umso robuster, je vielfältiger ihre Zeitstrukturen sind (Clark 1990).

  • Nicht zuletzt gibt es die unterschiedlichen Zeiten unterschiedlicher Märkte (Arbeits-, Produkt-, Finanz-, Zukunftsmärkte) und der technologischen Entwicklung.

Man darf annehmen, dass auffällige Entwicklungen der jüngeren Zeit im Bereich von Managementphilosophien nicht zuletzt auf das Problem reagieren, die unterschiedlichen Systeme mit einem neuen Zeitrepertoire auszustatten. Das gilt vor allem für die Mindfulness-Philosophie der High-Reliability Organizations, die auf das Training einer vom Bewusstsein entlasteten Wahrnehmungsfähigkeit (und damit Beschleunigung der Wahrnehmung) hinauslaufen (Weick und Sutcliffe 2016; Gebauer 2017), und für die Philosophien agilen Managements, die mit einer strengen Taktung von Projektentwicklungsschritten Beschleunigung und Verlangsamung in ein neues Verhältnis zu bringen versuchen (Brandes et. al. 2014).

4 Leithypothesen

Wir ziehen aus diesem Befund einer unterschiedlichen Zeitlichkeit der an den Unter- und Oberflächen einer Schnittstelle beteiligten Systeme (Technik, Organismus, Bewusstsein, Kommunikation, Organisation) vier Schlussfolgerungen:

  • Erstens ist das Designproblem einer jeden Schnittstelle ein Synchronisationsproblem der beteiligten Systeme (Luhmann 1990; Gugerli 2018, S. 88 ff.). Dabei können unterschiedliche Aspekte der beteiligten Systeme unterschiedlich priorisiert werden, aber vermutlich darf keins der Systeme außer Acht gelassen werden – bei Strafe brach liegender Systeme und der Entwicklung von „Schatten-ITs“.

  • Zweitens werden diese Systeme jeweils immer nur für einen Moment synchronisiert. Es gibt keine Gleichschaltung von Organismus, Bewusstsein, Kommunikation und Organisation; und nur dank dieser mangelnden Gleichschaltung, das heißt dank ihrer prinzipiell gewahrten Autonomie und Eigendynamik lassen sie sich von Moment zu Moment integrieren.

  • Drittens lohnt es sich, mit einem Minimalset an Annahmen zu arbeiten, um die Eigendynamik der beteiligten Systeme besser einschätzen zu können. Unsere Ausgangsannahmen lauten, dass der Organismus prädiktive Irritabilität, das Bewusstsein Register des Verstehens, die Kommunikation Strukturen doppelter Kontingenz und die Organisation Entscheidungsprämissen (Programme, Personal, Wege, Kultur) (Luhmann 2000) bereitstellen, die von digitalen Oberflächen je unterschiedlich adressiert und in Anspruch genommen werden (Baecker 2021).

  • Und viertes sind die verschiedenen Systeme zwar operational geschlossen, aber strukturell gekoppelt. Sie stellen sich wechselseitig ihre Komplexität zur Verfügung, ohne sich in ihren Abläufen determinieren zu können. Zwischen ihnen gibt es nur unzuverlässige Kausalität. Jedes der Systeme produziert Möglichkeitsüberschüsse, die selektiv genutzt werden. Und jedes der Systeme weist Leerstellen auf, die es motivieren, auf ihre Umwelt zuzugreifen.

Man kann den Zusammenhang grafisch wie folgt veranschaulichen (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Synchronisation und Differenz

Alle Funktionalität liegt im Datum. Entwicklung heißt, Leerstellen auszunutzen und Möglichkeitsüberschüsse aufeinander abzustimmen.

Alle Systeme mit Ausnahme, einstweilen, der technischen Systeme arbeiten situativ-kontextuell, das heißt im Modus vorübergehender Reaktion auf vorübergehende Lagen. Anders wäre ihre Synchronisation im Moment und für den Moment nicht möglich. Es ist die mangelnde Flexibilität der verwendeten Hardware und Software, die sich als Form struktureller Kopplung im Medium aller anderen Systeme durchsetzt. Entsprechend begrenzt, aber nicht zu vernachlässigen, sind die Spielräume für ein innovatives Design.

5 Drei Blickwinkel

Wir untersuchten jede Schnittstelle in einem Digitalisierungsvorhaben in den Partnerbetrieben des KILPaD-Projekts daher aus drei Blickwinkeln:

  • Erstens geht es um die kreative und innovative Verbesserung von Schnittstellen zugunsten ihrer zuverlässigeren Funktionalität, besseren Bedienbarkeit, größeren Verständlichkeit, verlässlicheren Vernetzung innerhalb und, bei Bedarf, auch außerhalb des Betriebs im Dienst einer größeren Wettbewerbs- und Zukunftsfähigkeit des Betriebs (höhere Effektivität, höhere Effizienz, höhere Produktivität).

  • Zweitens untersuchten wir, welche Lerneffekte im Umgang zunächst mit der Entwicklung und dann mit dem Betrieb auf der Wahrnehmungsebene (unwillkürliche Sozialisation) und auf der Ebene von Kommunikation und Bewusstsein (reflektiertes Lernen) verbunden sind (Kompetenzerwerb). Daraus können Konsequenzen für eine Weiterentwicklung der Theorie betrieblichen Lernens unter Bedingungen agiler Digitalisierung gezogen werden.

  • Und drittens untersuchten wir, welche Probleme an welchen Schnittstellen aufgetreten und im Hinblick auf welche beteiligten Systemreferenzen gelöst worden sind. Daraus können Ansätze zu einer soziologischen Theorie der Digitalisierung im Betrieb entwickelt werden, die unter Umständen zu einer allgemeinen Theorie der Digitalisierung ausgebaut werden kann. Nicht zuletzt geht es in dieser soziologischen Theorie der Digitalisierung auch darum, eine Mathematik bereitzustellen, die in der Lage ist, die rekursive Funktionalität momenthaft synchronisierter Systeme zu modellieren.