Das nun folgende Kapitel befasst sich explizit mit den einzelnen Protestpraktiken, dem Handlungsrepertoire und der Intensität des Engagements der Interview-Partner*innen. Dazu wird zuerst der Praktiken-Begriff definiert, anschließend auf das Verständnis von Medien als Praktiken eingegangen und dann die Rolle von Medienpraktiken in Sozialen Bewegungen thematisiert. Danach folgt eine Beschreibung der Intensität des Engagements der Interview-Partner*innen. Anschließend werden die einzelnen Praktiken des Handlungsrepertoires der Aktivist*innen dargestellt, wobei eine Unterscheidung in (vorwiegend) Offline- und (vorwiegend) Online-Praktiken vorgenommen wird. Den Abschluss bildet eine Analyse des konkreten Einflusses von Campact und dem BUND auf das Handlungsrepertoire und die Intensität des Engagements der Interview-Partner*innen. Dieses Kapitel verfolgt das Ziel, gemeinsam mit den Ergebnissen des vorherigen und des folgenden Kapitels, eine Typisierung von Protest-Aktivist*innen vorzubereiten. Dafür sind individuelle Protestpraktiken und Engagement-Intensitäten von großer Bedeutung.

6.1 Protestpraktiken und Praxistheorie – eine theoretische Annäherung

Diese Arbeit verwendet einen Praktiken-Begriff, der stark von Schatzki (1996, 2002), Reckwitz (2006, 2008) und Couldry (2012) geprägt ist. Praktiken werden als kleinste Einheit des Sozialen verstanden, in einem „temporally unfolding and spatially dispersed nexus of doings and sayings“ (Schatzki 1996: 89). Sie sind folglich eine Verknüpfung von Getanem und Gesagtem, wobei inhaltliche Äußerungen immer auch körperlich vermittelt werden. Deshalb sind auch Körperpraktiken relevant. Aufbauend auf Schatzki definiert Reckwitz (2008: 151) eine Praktik als „Ensemble miteinander verknüpfter, regelmäßiger Aktivitäten der Körper, die durch implizite und geteilte Formen des Verstehens und Wissens zusammengehalten werden.“

Schatzki (2002) unterscheidet zwischen „praktischem Verstehen“ und „praktischem Verständnis“. Beim praktischen Verstehen ist die Grundlage das Erkennen von Praktiken sowie das Wissen, dass etwas getan wird. Es ist immer ein subjektives Wissen, spezifische Praktiken durchzuführen, ihren Vollzug zu interpretieren und darauf angemessen zu reagieren. Das praktische Verständnis bedeutet, dass über die Praktiken Sinn hergestellt wird. Hierbei spiegeln sich individuelle Motive, Ziele, Wissensformen und affektive Eigenschaften des Subjekts wieder. In den persönlichen Motiven und Zielen erhalten Praktiken einen akteursspezifischen Sinn, welcher wiederum das Verstehen der Praktiken ermöglicht. Akteure sind autonom, insofern als sie über jeweils individuelles praktisches Verständnis verfügen, das ihre Handlungen steuert, indem es Sinn erzeugt. Praktisches Verständnis wird folglich durch individuelle Eigenschaften wie Ziele, Aufgaben und auch Affektivität bestimmt. Damit spielen Emotionen eine wichtige Rolle. Entsprechend befinden sich praktisches Verstehen und praktisches Verständnis in einer Wechselwirkung zueinander.

Es kann zwischen integrativen und dispersen Praktiken unterschieden werden. Integrative Praktiken sind komplexe Entitäten, in denen Gesagtes und Getanes in unterschiedlichen Kombinationen und Verhältnissen verbunden sind. Sie sind die komplexeren Praktiken, die im sozialen Leben gefunden werden können und dieses ausmachen (z. B. kochen, arbeiten, gärtnern). Disperse Praktiken sind wiederum Gepflogenheiten, die in unterschiedlichen sozialen Bereichen vorkommen und dabei oft ähnlich zum Ausdruck kommen (z. B. beschreiben, erklären, untersuchen).

Reckwitz (2006, 2008) Modell von Praktiken baut auf Arbeiten von Schatzki (1996, 2002) und Shove/Pantzar (2005) auf, enthält aber auch einige Unterschiede dazu. Gemeinsam sind ihnen das Verständnis von sozialen Praktiken als Verknüpfung von Gesagtem und Getanem und als Ort des Sozialen, sowie eine Betonung der Materialität von Sozialität in Form der Körperlichkeit des Handelns und der Relevanz nichtmenschlicher Akteure. Anders als bei Schatzki, spielen bei Reckwitz aber auch strukturalistische und poststrukturalistische Konzepte eine Rolle (vgl. Jonas 2009: 15 ff.). Die Entstehung und der Wandel von Sozialität werden bei Reckwitz durch die Wirkungslogik kultureller Kodes begründet, welche Subjektformen und -kulturen konstituieren. Schatzki hingegen sieht Stabilität und Wandel von Sozialität begründet durch eine ‚agency‘ der Komponenten, die in Arrangements konfiguriert sind und über ihre Aktivitäten in Zusammenhang menschlicher Koexistenz integriert sind. Reckwitz poststrukturalistischer Ansatz der Praktiken-Theorie versteht Subjektkulturen immer auch als tief agonal und konfliktiv. Dabei bezieht er sich auf Laclau/Mouffe (1985) und beschreibt einen immerwährenden Kampf für kulturelle Hegemonie.

Couldry (2012: 33 ff.) hingegen legt einen Fokus auf das Verständnis von Medien als Praktiken. Für diesen Ansatz nennt er vier Vorteile: 1) Die Regelmäßigkeit der Handlungen: Wir agieren in einer Welt basierend auf Regelmäßigkeiten, Ordnungen, Routinen, Lebensstilen und anderen Kombinationen von Praktiken. 2) Die Sozialität von Praktiken: Sprache sei die Handlung der Welt und als offenes Set von Praktiken in Konventionen eingebettet. 3) Praktiken weisen auf Bedürfnisse hin: Medienrelevante Praktiken seien von grundlegenden Bedürfnissen nach Koordination, Interaktion, Gemeinschaft, Vertrauen und Freiheit geprägt. 4) Normatives Denken: Es würde die Frage aufgeworfen werden, wie wir mit Medien leben wollen. Couldry (ebd.: 35) unterscheidet grundsätzlich zwischen drei Formen von Praktiken, wobei sein Fokus insb. auf der zweiten und dritten Form liegt: „[…] actions that are directly oriented to media, actions that involve media without necessarily having media as their aim or object; and actions whose possibility is conditioned by the prior existence, presence or functioning of media.“ Diese Formen von Praktiken können wiederum zu der leitenden Frage gebündelt werden, „what are people doing that is related to media?“ (ebd.).

Couldry (ebd.: 36) spricht sich gegen einen Fokus auf Medientexte aus. Er argumentiert, dass die Medienproduktion nicht Ausgangspunkt für eine soziale Medien-Theorie sein könne, da Medienproduktion letztendlich nichts über die tatsächliche Nutzung eines Mediums aussagen würde. Er verfolgt einen praxisorientierten Ansatz, der nicht Medientexte oder -institutionen fokussiert, sondern medienbezogene Praktiken: „[…] what are people (individuals, groups, institutions) doing in relation to media across a whole range of situations and contexts?“ (ebd.: 37) Es geht also bspw. nicht um einen Text an sich, sondern darum, wie dieser Text gelesen wird. Insbesondere in Zeiten der Digitalisierung sei eine solche Offenheit des Praktiken-Ansatzes besonders wichtig (vgl. ebd.: 43). „To sum up, ‚media‘ are best understood as a vast domain of practice that, like all practices (in Schatzki’s view), are social as a basic level through the very acts that stabilize them as practices and distinguish specific practices from each other.“ (ebd.: 44) Jedoch gebe es heutzutage einige medienverbundene Praktiken, die in älteren Ansätzen nicht berücksichtig worden seien, z. B. das Sich-Virtuell-Zeigen und -Präsentieren, eine öffentliche Präsenz aufbauen, digital archivieren oder suchen, die Nachrichten online verfolgen, online kommentieren oder verschiedene Kanäle zu öffnen und schließen. Mit der Zeit hätten sich tiefliegende Dynamiken von Praktiken entwickelt, wie bspw. das Bedürfnis, immer mit Menschen in Kontakt zu bleiben, sich Informationen anzueignen, selektieren zu müssen oder öffentlich präsent zu sein (vgl. Couldry 2012: 57).

Auch Mattoni/Treré (2014) untersuchen Medienpraktiken und setzen sich zum Ziel, ein Konzept zu entwerfen, das der Untersuchung Sozialer Bewegungen nützlich ist. Während durch die Verbreitung von Protesten in den letzten Jahren die Rolle digitaler Medien insb. mit Bezug auf Mobilisierung untersucht wurde, fehlt laut Mattoni/Treré (ebd.: 252) ein Konzept, das die Komplexität der Interaktion zwischen Medien und Sozialen Bewegungen beschreibt und untersucht, wie Medien über die Zeit hinweg mit Sozialen Bewegungen interagieren. Die Beziehung dieser beiden Akteure solle durch die Linse von drei medienwissenschaftlichen Konzepten betrachtet werden: Medienpraktiken, Mediation und Mediatisierung („media practices“, „mediation“ und „mediatization“).

Mattoni/Treré (2014), deren Praktiken-Begriff ebenfalls auf Arbeiten von Bräuchler/Postill (2010), Reckwitz (2002) und Schatzki (2001) basiert, untersuchen Praktiken vor, während und nach einer Protestaktion. Dabei stehen Praktiken des Mikrolevels im Vordergrund. Bei diesen Protestaktionen sind Praktiken keine einzelnen Interaktionen, sondern aufbauend auf Reckwitz (2002) „a set of bodily performances, mental frameworks, uses of objects, some degree of self-reflection and also emotions and motivations that sustain interactions among activists, and between activists and other social actors external to the social movement milieu in the accomplishment of different tasks related to mobilization“ (Mattoni/Treré 2014: 258). Die Autor*innen unterscheiden zwischen vier Kategorien von Praktiken (ebd.: 259). 1) Partizipationspraktiken: Jene soziale Praktiken, durch die Soziale Bewegungen in der Lage sind, Individuen in die täglichen Projekte von Aktivist*innen zu involvieren, ihre Anliegen zu kommunizieren, um andere Akteure der Sozialen Bewegung zu mobilisieren und Protest-Teilnehmer*innen für Demonstrationen, Streiks, Petitionen und andere Formen anzuziehen. 2) Organisationspraktiken: Praktiken, durch die Aktivist*innen Treffen planen, Protest organisieren und Aktionen koordinieren. 3) Protestpraktiken: Die explizite Performanz eines öffentlichen Protests und die Sichtbarmachung der Anliegen für die Öffentlichkeit. 4) Symbolische Praktiken: Soziale Praktiken, die zur Entwicklung eines Diskurses, von Bedeutungen oder Interpretationen über das entsprechende Problem und den Protest beitragen.

Laut Mattoni/Treré (ebd.) erlaubt der Fokus auf Medienpraktiken – oder „Activist Media Practices“ (Mattoni 2012) – zu untersuchen, wie diese mit anderen sozialen Praktiken interagieren. Diese Praktiken definieren Mattoni/Treré (ebd.) als „routinized and creative social practices in which activists engage and which include, first, interactions with media objects – such as mobile phones, laptops, pieces of paper – through which activists can generate and/or appropriate media messages, therefore acting either as media producers or media consumers; and, second, interactions with media subjects – such as journalists, public relations managers, but also activist media practitioners – who are connected to the media realm.“ Hier sind folglich einerseits Objekte wie Laptops und andererseits Subjekte wie Medienschaffende involviert. An dieser Stelle wird darüber hinaus deutlich, dass Aktivist*innen insb. in interaktiven, webbasierten Praktiken oft mehrere soziale Rollen gleichzeitig einnehmen: Bspw. als Unterstützer*in eines Protestanliegens, als Zeitzeug*in, als Fotograf*in und/oder als Journalist*in.

In Übereinstimmung mit Postill (2010), der kritisiert, dass der Ansatz von Medienpraktiken zwar für die Untersuchung von Medien im Alltagsleben, Medien und Körper oder der Medienproduktion diene, für politische Prozesse jedoch weniger hilfreich sei, schlagen Mattoni/Treré (2014) vor, das Konzept der Medienpraktiken noch um Konzepte der Mediation und Mediatisierung zu ergänzen. „Mediation“ definieren Mattoni/Treré (ebd.: 260) mit Bezug auf Couldry (2004, 2008) als „a social process in which media supports the flow of discourses, meanings, and interpretations in societies (Couldry 2008) […]. Mediation is an encompassing concept that brings together a number of activist media practices, paying attention to the flow of media productions, media circulation, media interpretation and media recirculation (Couldry 2004, 2008) that supports and surrounds social movements.“ Medien sind folglich sozial, kulturell, politisch und ökonomisch in einer Infrastruktur situiert, die mit den Konstitutionen der politischen Subjekte verflochten ist. Mediationsprozesse sind zirkulär, sie hören nicht bei der Mediennutzung auf, sondern implizieren immer auch Neukonfigurationen von Medientechnologien durch andere Bedeutungen und Lernprozesse. Während der Begriff der Mediation einen konkreten Kommunikationsakt beschreibt, meint Mediatisierung einen länger anhaltenden Prozess, in dem sich soziale und kulturelle Institutionen und Interaktionsmodi als Konsequenz des gewachsenen Medieneinflusses verändern. Im Konzept der Mediatisierung können zwei Traditionen unterschieden werden: „[…] a concept used to analyze critically the interrelation between changes in media and communications on the one hand, and changes in culture and society on the other“ (Couldry/Hepp 2013: 197). Zusammenfassend bezeichnen Mattoni/Treré (2014: 265) die Interaktionen zwischen Aktivist*innen und Medien als Tanz zwischen sozialen Akteuren.

6.2 Intensität des Engagements und Handlungsrepertoires der Aktiven

Obwohl diese Arbeit einer qualitativen Methode folgt, sollen an dieser Stelle unter dem Aspekt der Intensität des Engagements einige quantitative Tendenzen der 18 Interviews analysiert werden.Footnote 1 Um ein genaueres Bild der Intensität des Engagements der Aktivist*innen zeichnen zu können, wurden basierend auf dem Interviewmaterial Kategorien gebildet, die Auskunft über die Anzahl der Mitgliedschaften, die Teilnahme an verschiedenen Engagementformen, die Vielfalt der Protestpraktiken und die persönliche Einschätzung der Intensität geben. Abschließend liegt der Schwerpunkt dann noch einmal konkreter auf der Mitgliedschaft beim BUND und der Unterstützung von Campact.

6.2.1 [...] 30 Stunden in der Apotheke und 30 Stunden Biologie für den BUND ehrenamtlich.“ – Zur Intensität des Engagements

Im Sample befindet sich eine Person (Sarah), die für ihren Aktivismus bezahlt wird, denn für Sarah ist das Engagement beim BUND ein bezahlter Teilzeitjob. Doch auch sie hat sich bewusst für diese Teilzeitstelle entschieden, um daneben Zeit für weiteres Engagement zu haben, z. B. in Form von eigenem Obstanbau und einer Imkerei. Fünf der 18 Gesprächspartner*innen befanden sich zum Interview-Zeitpunkt in Rente und verfügen dadurch über hohe Zeitressourcen, die sie für zivilgesellschaftliches Engagement nutzen.

Drei Interview-Partner*innen verstehen ihren Aktivismus explizit als „Arbeit“ oder „Stelle“ – in Teilzeit neben einem anderen Job oder als Vollzeitstelle. Sarah pflegt neben ihrem bezahlten Job beim BUND eine Streuobstwiese und ihre Bienenkästen. Für sie war es eine bewusste Entscheidung für eine Teilzeitstelle und parallel dazu eine „zweite halbe Stelle“, in der sie sich um ihre Pflanzen und Bienen kümmert.Footnote 2 Helena teilt sich ihre Woche nach eigener Aussage in 30 Stunden Apotheke und 30 Stunden BUND Ehrenamt auf. „Und jetzt habe ich praktisch 30 Stunden in der Apotheke und 30 Stunden Biologie für den BUND ehrenamtlich. So ungefähr teile ich mir meine Woche auf.“ (Helena, Z. 9 ff.) Daniela wiederum arbeitet Vollzeit (und unbezahlt) von zuhause aus am PC für ihr Engagement für Frauen und Kinder.

Insgesamt sechs der 18 Gesprächspartner*innen haben angegeben, für das Engagement bewusst weniger zu studieren oder in der Vergangenheit weniger studiert zu haben oder arbeiten dafür nicht in Vollzeit. Dieser Aspekt wurde in Abschnitt 5.1 „Ressourcen“ bereits behandelt und durch Zitate ausführlich veranschaulicht.

Weitere Aspekte bzgl. der Intensität und Extensivität von Engagement werden in den folgenden drei Tabellen veranschaulicht (Abbildungen 6.1 - 6.3):

Abbildung 6.1
figure 1

Intensität von Engagement I

Drei der Interview-Partner*innen sind durchschnittlich maximal drei Stunden pro Woche aktiv, sechs Personen erzählten wöchentlich im Schnitt bis zu sieben Stunden mit Engagement zu verbringen und neun Bürger*innen gaben an, mindestens acht Stunden die Woche für ihr Ehrenamt zu investieren. Diese neun Bürger*innen sind alle entweder bereits in Rente oder arbeiten in Teilzeit oder freiberuflich. Die jüngeren Interview-Partner*innen haben alle angegeben, maximal sieben Stunden die Woche mit ihrem Ehrenamt zu verbringen (Abbildung 6.1).

Abbildung 6.2
figure 2

Intensität von Engagement II

Neben diesem Unterschied bzgl. des Alters fällt auch auf, dass ein Großteil der über acht Stunden pro Woche engagierten Bürger*innen beim BUND aktiv ist. Keine der maximal drei Stunden pro Woche aktiven Personen ist Unterstützer*in beim BUND. Dies zeigt, dass Engagement beim BUND grundsätzlich zeitintensiver ist als bei Campact. Von den 18 Interview-Teilnehmer*innen gaben insgesamt elf an, Campact zu unterstützen und neun sind beim BUND aktiv. Fünf Personen erzählten, sowohl den BUND als auch Campact zu unterstützen (Abbildung 6.2).

Abbildung 6.3
figure 3

Extensivität von Engagement

Bezüglich der Engagementformen und Handlungsrepertoires wurden in der Analyse folgende Kategorien gebildet: An Straßendemos teilnehmen (hier gaben elf an, an dieser Form mitzuwirken), sich an Straßenblockaden beteiligen (nur eine Person), Online-Petitionen unterzeichnen (elf Unterstützer*innen), (auch) Geld spenden (sieben von 18), regelmäßig an offline Treffen/Aktionen, wie Monatstreffen einer Gruppe oder Campact-Straßenaktionen teilnehmen (neun der 18 Befragten), ein eigenes Institut gründen (zwei Aktive) und eine Beraterrolle auf Landesebene innehaben bzw. lokalpolitisch aktiv zu sein (ebenso zwei aus 18) (Abbildung 6.3). Insbesondere die letzten beiden Engagementformen zeichnen sich durch hohe Zeitintensivität aus – alle vier hier genannten Personen gaben an, mindestens acht Stunden pro Woche für ihr Engagement zu investieren. Alle genannten Engagementformen werden nun im weiteren Verlauf dieses Kapitels mit Blick auf ihre Intensität untersucht und anschließend in ein Handlungsrepertoire von Protestpraktiken eingeordnet.

„[…] zwei Stündchen tagsüber am Computer und nachts nochmal zwei Stündchen […].“ (Markus) – Täglich mit Engagement beschäftigt sein

Mehr als die Hälfte der Interview-Partner*innen (zehn von 18) sind in der Regel täglich mit ihrem Engagement beschäftigt. Die Arbeit am Computer, E-Mails, Informationen lesen oder zusammentragen und sich mit anderen zu vernetzen macht dabei einen Großteil der Zeit aus. Das tägliche Engagement variiert jedoch stark von einer Stunde am Tag bis zu zwölf Stunden am Tag an sieben Tagen der Woche. Dabei kann es eine Rolle spielen, dass man sowieso gerade am PC arbeitet, per „Blinken“ oder akustische Benachrichtigung über den Eingang einer neuen Nachricht informiert wird und dann direkt nachschauen möchte. So ist es bspw. bei Sven der Fall: „Also, es gibt Zeiten, wo ich manchmal den halben Tag mich investiere, an einem normalen Werktag. Aber ich sage mal, eine Stunde pro Tag mindestens. […] Ja, am Wochenende mehr, ja. […] ich hab die Webseiten, die Mail-Konten und den Kram und wenn da was blinkt, zum Fluglärm, gucke ich dann natürlich.“ (Sven, Z. 327 ff.) Auch Markus ist täglich mit seinem Engagement beim BUND beschäftigt und gibt an, neben Terminen außer Haus, am Tag ca. vier Stunden am Computer zu investieren.Footnote 3 Ähnlich beschreibt es Sybille, die viel Zeit für Transition Town investiert und dabei vor allem den Vernetzungscharakter betont.Footnote 4 Die Fälle von Daniela und Günter unterscheiden sich hinsichtlich der Intensität von den anderen Fällen, da die beiden jeweils für die eigene Organisation engagiert sind. Günter (Z. 461 ff.) würde seine Aktivitäten dort mit einer Dreiviertelstelle vergleichen, Daniela wiederum gibt an zwölf Stunden und nahezu sieben Tage die Woche am Computer zu verbringen.

„[…] das ist alles noch recht überschaubar.“ (Sarah) – Aufwendiges Engagement herunterspielen

Insbesondere die sehr Engagierten schätzen ihren Aktivismus teilweise als überschaubar, nicht aufwendig oder gar nebensächlich ein. Sarah bspw. zählt zuerst alle Posten auf, die sie innehat, merkt nach jedem Posten an, dass das nicht sehr aufwendig sei und fasst am Ende zusammen, dass das insgesamt also noch überschaubar sei: „Ich bin halt hier noch im Kreisverband vom BUND Gießen im Sprecherteam – und ich finde, das hält sich noch relativ in Grenzen – und ich bin dann noch bei den Imkern als Beisitzer im Vorstand – finde ich jetzt auch gerade nicht so aufwendig – und halt im Obst- und Gartenbauverein. Für die mache ich so ein bisschen Ferienspiel-Aktionen. Also, das ist alles noch recht überschaubar.“ (Sarah, Z. 19 ff.) Valeria wiederum versteht sich nur als „Trittbrettfahrerin“ und sieht eine Hauptaufgabe darin, „Masse zu machen“. Damit versteht sie sich jedoch nicht zwangsläufig als „aktiv“ – ein Aspekt, der mit Blick auf Mitgliedschaft unter 5.3.2 bereits genauer untersucht wurde: „Also, ich bin nicht aktiv bei Campact. Da schelte ich auch mich manchmal und denke, meine Zeit, du bist einfach nur ein Trittbrettfahrer. Denn ich mache nicht mit, ich hab mich da nicht eingebracht. […] z. B. auch auf Avaaz, und da war Regenwald, Umweltinstitut München z. B. und da sage ich: ‚Mensch, die sprechen die Dinge an, die mich sehr bewegen.‘ […] Ich muss da sein, ich muss mit Masse machen.“ (Valeria, Z. 243 ff.) Aus Valerias Beschreibungen lässt sich ein Widerspruch herauslesen, insofern als sie sich einerseits als Trittbrettfahrerin versteht und meint, nicht „aktiv“ zu sein, andererseits aber doch verstanden zu haben scheint, dass sie als Einzelne durchaus wichtig ist und alle Einzelnen zusammen die Masse einer Demo ausmachen.

„Dass es Campact gibt, hat bestimmt dazu geführt, dass ich wesentlich häufiger unterwegs bin.“ (Franz) – Intensivierung des Engagements durch Campact

Obwohl insb. in den frühen Jahren ihrer Arbeit ein Vorwurf an Campact und derartige Kampagnen-Organisationen häufig lautete, sie würden politische Partizipation zu sehr vereinfachen und auf den weniger ernstzunehmenden Online-Bereich umlagern und obwohl auch die Clicktivism-Debatte auf solchen und ähnlichen Annahmen basiert, haben ganz im Gegenteil dazu ein Viertel der Interview-Partner*innen angegeben, dass sich ihr gesamtes Engagement durch Campact sogar intensiviert habe. Kilian ist der Meinung, dass ein großer Vorteil von Campact das breite Beteiligungsspektrum sei und dass so jeder selbst entscheiden könne, wie viel oder wenig er/sie machen wolle: „Die bieten ja auch so ein Spektrum, sage ich mal, mit Beteiligungsintensität. Man kann einfach nur zu den Online-Petitionen kaum lesen, einfach auf unterschreiben drücken und dann ist man schon raus. Dann hat man nur eine Minute investiert und hat sich schon beteiligt. Natürlich kann man sich auch alles durchlesen, Hintergrundtexte und so, und dann halt unterschreiben. Man kann aber auch zu Aktionen gehen, man kann aber auch wahrscheinlich wirklich da mitarbeiten, da bei Demos helfen usw. […] wie viel ich machen will, kann ich da rein geben. Das fängt glaube ich viele Leute auf. Also, die sich viel engagieren wollen, die wenig Zeit haben und andere auch. Das finde ich super.“ (Kilian, Z. 504 ff.) Für Franz, Kilian, Felix, Helena und Valeria hat sich das persönliche Engagement durch Campact insgesamt intensiviert. Bei Felix hat sich dies durch das Absolvieren eines Praktikums bei Campact ergeben und für Kilian waren die Straßenaktionen und Online-Petitionen von Campact ausschlaggebend dafür, dass er sich überhaupt irgendwie einbringen konnte: „Also, wo ich sie kennengelernt habe und wo ich dann auch bei den Aktionen war – also nur weil Campact diese Aktionen angeboten hat, die Petition angeboten hat, konnte ich mich erst engagieren. Also, dass sich mein Engagement eben definitiv gesteigert hat. Auch mein Bewusstsein, was gerade so passiert, einfach durch den Input, der da kommt.“ (Kilian, Z. 524 ff.) Die Aktionen von Campact haben ihm eine gute Einstiegsmöglichkeit geboten und der Informationsfluss durch die Organisation hat ihn auf dem Laufenden gehalten. Franz wiederum war schon vor Campact aktiv, hat durch die Organisation laut eigenen Angaben sein Engagement jedoch nochmal deutlich gesteigert und sei nun „wesentlich häufiger unterwegs“. Ihn motivieren die Straßenaktionen vom Sofa aufzustehen und auf die Straße zu gehen – auch, weil er dann nicht alleine, sondern zwischen Gleichgesinnten steht. „Ja, sagen wir mal so: Ich mache bei mehr Sachen mit. […] Dass es Campact gibt, hat bestimmt dazu geführt, dass ich wesentlich häufiger unterwegs bin. Weil die einen auf Trapp halten, wenn man so will. Wenn man den Trapp dann mitmacht, dann ist das gut. Also wenn nur einmal im Jahr eine Demo ist und sonst nichts, dann wäre ich wahrscheinlich wieder auf dem Sofa eingeschlafen. […] Und alleine stell ich mich nicht mit dem Schild irgendwo hin. Oder joa, Unterschriften-Aktion: Kann man mitmachen, kann man nicht mitmachen, merkt nach außen keiner. Das ist so … Man hat auch nicht das Gefühl, als hätte man richtig was gemacht. Und deswegen freut mich, dass Campact so viel macht.“ (Franz, Z. 54 ff.) Im gleichen Zug kritisiert Franz jedoch pure Unterschriften-Aktionen: Keiner würde merken, ob man dabei mitgemacht habe oder nicht und es würde sich auch nicht anfühlen, als hätte man richtig etwas gemacht. Diese Aspekte werden in Kapitel 7 „Einstellungen zu Straßenprotest und Netzaktivismus“ ausführlich untersucht. An dieser Stelle lässt sich jedoch festhalten, dass Campact – zumindest bei den Interview-Partner*innen des vorliegenden Samples – eher motivierenden als demotivierenden Charakter in Bezug auf verschiedene Protestformen und -intensitäten hat.

Auch Felix und Helena beschreiben, wie sie durch ihr Engagement bei Campact aktiver geworden sind und vergleichsweise mehr an Straßenprotest-Aktionen teilnehmen. Helena fühlt sich durch Campact sogar mehr zur Teilnahme an Straßendemonstrationen animiert als durch den BUND. Während sie bei Campact aktiv und direkt gefragt wird, ob sie aushelfen kann, empfindet sie die BUND-Aufrufe eher als Information zur Kenntnisnahme. „Ich gehe deutlich mehr auf die Straße. Ich bin früher, gut wenn der BUND dazu aufgerufen hat, aber der BUND ist nicht so der Demo-Verband, sage ich jetzt mal. Die hängen sich zwar immer mit dran, bei „Wir-habe-es-satt“ und da kommen aber dann relativ kurzfristig dann erst die Aufrufe und dann heißt es so eher ‚zur Kenntnisnahme‘. Und bei Campact war es dann halt wirklich so, dass die angerufen haben und gesagt: ‚Ey, kannst du helfen?‘“ (Helena, Z. 543 ff.) Felix gesteigertes Engagement hat wiederum den Hintergrund, dass er als ehemaliger Praktikant von Campact auf einer Liste von Ex-Praktikant*innen steht, über die er kontaktiert wird, sobald eine Aktion in seiner Umgebung stattfindet. Dadurch partizipiert er heute an Demonstrationen, wohingegen er früher nie auf Straßendemos war. Auch wurde er durch seine Mitarbeit bei der Organisation für Themen wie TTIP sensibilisiert und achtet bei der Medienberichterstattung über Demos fortan darauf, welche Bündnis-Partner*innen involviert sind und ob Campact etwas zu dem entsprechenden Thema macht. Trotz dieser Veränderungen seiner Verhaltensweisen betont Felix jedoch, dass sich für ihn durch das Praktikum bei Campact keine grundlegenden Veränderungen ergeben hätten. Obwohl sich für Felix das Handlungsrepertoire um den Bereich der Straßendemonstration erweitert hat, nimmt er selbst keine Steigerung seines Aktivismus wahr.Footnote 5 Dies könnte daran liegen, dass er sich selbst „als Organisator“ der Demo versteht und nicht als Teilnehmer. Darüber hinaus könnte seine persönliche Verbindung zu Campact als ehemaliger Praktikant dazu führen, dass er sich ein Stück weit verpflichtet fühlt, der direkten Bitte um Unterstützung nachzukommen – ganz unabhängig davon, ob er privat auf die entsprechende Demo gegangen wäre oder nicht. In Konsequenz hat Felix durch Campact zwar das Format der Straßendemonstration für sich hinzugewonnen, er versteht sich jedoch nicht als ein Teilnehmer unter vielen, sondern vielmehr als aktiver Unterstützer der Organisation selbst.

6.2.2 Und ansonsten gibt’s die großen Demos natürlich ein paar Mal im Jahr.“ – Handlungsrepertoire der Interview-Partner*innen

Im Folgenden wird nun das Handlungsrepertoire der Interview-Partner*innen vorgestellt, welches sowohl Online- also auch Offline-Aktivitäten umfasst.

„Das ist immer ne Muss-Demo.“ (Gerd) – Teilnahme an Straßendemonstrationen

Für viele Interview-Partner*innen ist eine Demoteilnahme ein Muss und wichtig, insb. mit Fokus auf große und traditionelle Demos wie „Wir-haben-es-satt“ oder die jährliche Energiewende-Demo. Für kleinere Demonstrationen reicht nach eigenen Angaben die Zeit häufig nicht, denn eine Demoteilnahme ist meist (je nach Wohn- und Veranstaltungsort) mit einem hohen Zeitaufwand verbunden. Gerd bspw. fährt (fast) jedes Jahr von der Nordsee nach Berlin: „Die Ernährungsdemo z. B. in Berlin im Januar. […] Weil das auch immer zur Grünen Woche ist. Das ist immer ne Muss-Demo.“ (Gerd, Z. 370 ff.) Begründet wird die Wichtigkeit der „Wir-haben-es-satt“-Demo häufig mit ihrer Größe und damit, dass sie im Bereich Umweltschutz eine der wichtigsten Demos sei. Auch Helena, die dann aus Hessen anreist, hat diese Demo nach Möglichkeit jährlich zum Ziel und verbindet die Gelegenheit gern mit einem Kurzurlaub bei Freunden.Footnote 6 Markus wiederum sagt explizit aus, nur für die ganz großen Demos Zeit zu haben, weil ihm neben den vielen Verantwortungen beim BUND auf Landesebene ansonsten keine Zeit mehr übrig bleibe.Footnote 7 Neben Berlin zählen für Markus auch die Anti-Atom-Demos in Biblis zu den großen und wichtigen Demonstrationen des Jahres.

Die oben beschriebene Protestform der Teilnahme an einer Straßendemonstration kann in der Kategorisierung von Mattoni/Treré (2014: 259) dem dritten Typen zugeordnet werden, der Protest-Praktik: Eine Straßendemonstration ist die konkrete Durchführung einer Protestaktion und Sichtbarmachung eines öffentlichen Anliegens.

„Aber es muss dann möglicherweise wirklich zu konkreten Widerstandsaktionen vor Ort kommen […].“ (Sonja) – Hausbesetzung, Feldbefreiung, Blockaden & Co.: Der Nutzen weiterer Offline-Protestformen

Mareike geht bei Straßendemonstrationen bzgl. ihrer Protest-Praktiken noch einen Schritt weiter und hat sich in der Vergangenheit auch an Blockaden beteiligt. Sie erzählt von einer Situation, in der sie Teil einer Blockade war und die aufgelöst und erkennungsdienstlich erfasst worden ist. Sie ist damit eine von zwei der insgesamt 18 Interview-Partner*innen, die bzgl. der Handlungsrepertoires auch die Blockade nennt. „Ja und da gab’s dann diese Aktion. Da haben sie uns dann einfach weggekettet und da weggefahren und dann die ganzen Personalien und Fingerabdrücke und was nicht alles.“ (Mareike, Z. 443 ff.) Auch Sarah hat sich zu Studienzeiten mit einer Form des zivilen Ungehorsams eingebracht und gemeinsam mit ihren Mitbewohnerinnen bei einer Hausbesetzung mitgewirkt. Diese Erfahrung beschreibt sie auch als Politisierung, da sie sich bis dato nach eigenen Angaben nicht besonders für Politik interessiert hatte.Footnote 8

Sarah und Sonja nennen in den Interviews noch weitere Offline-Aktionen, die dem Bereich des zivilen Ungehorsams zuzuordnen oder sogar strafbar sind: Straßenblockade, Sitzblockade oder Feldbefreiung. Am Beispiel eines Versuchsfeldes für genmanipulierte Gerste erläutert Sarah, wie sowohl die Feldbefreiung als auch Hintergrundarbeit durch Lobbygespräche dazu geführt haben, dass die Versuche eines Konzerns abgebrochen wurden. Der BUND, dem Sarah auch angehört, hat sich von den Feldbefreiungsaktionen jedoch distanziert und auf Wege des Lobbyismus verwiesen. In diesem Fall schreibt Sarah den Erfolg des Abbruchs nicht alleine den Verbänden zu. „[…] ein Versuchsfeld, da ging es um Gerste, gentechnisch veränderte Gerste und die ist auch befreit worden, sozusagen. Sprich, das Feld ist zerstört worden. Und da haben wir uns halt als BUND auch distanziert, dass wir gesagt haben: Gut, das ist halt nicht legal. Wir müssen da halt mehr auf diesem Lobby-Weg versuchen, da Druck zu machen. […] Da denke ich immer, klar man braucht die Demos, man braucht auch diese Hintergrundarbeit, diese Lobbyarbeit, aber vielleicht hat die Feldbefreiungsaktion dann auch wirklich nochmal den Schub gegeben, dass die Konzerne einfach total genervt waren.“ (Sarah, Z. 570 ff.)

Sitzblockaden wie bspw. im Rahmen von Castor-Transporten hält Sarah jedoch für richtig, beteiligt sich auch selbst daran und formuliert das Ziel, den Einsatz für die Politik bzw. Polizei so teuer wie möglich zu machen, sodass irgendwann die Einsicht erfolgen würde, dass sich Atomenergie und das System rund um den zu entsorgenden Nuklearmüll nicht mehr lohnen.Footnote 9

Auch Sonja hält es im Rahmen der Anti-Fracking Kampagnen für möglich, dass konkrete Widerstandsaktionen vor Ort nötig werden, sollten seismische Untersuchungen oder Probebohrungen gemacht werden. „Aber es muss dann möglicherweise wirklich zu konkreten Widerstandsaktionen vor Ort kommen, wenn irgendwo dann ne Probebohrung oder seismische Untersuchungen gemacht werden.“ (Sonja, Z. 925 ff.) Darin sieht sie den letzten Weg, Probebohrungen vor Ort zu verhindern.

Auch die Praktik der Besetzung oder Blockade kann in der Typisierung von Mattoni/Treré (2014: 259) dem dritten Typ „Protest-Praktik“ zugeordnet werden. Diese Protestformen veranschaulichen insb. auch die Körperlichkeit von Praktiken (Reckwitz 2006, 2008) und Betonen die Materialität von Sozialität in Form von Körperlichkeit des Handelns. Bei Protestpraktiken wie der Besetzung eines Hauses oder der Blockade eines Castor-Transports, kommt dem Körper der Aktivist*innen über die bloße Anwesenheit hinweg (z. B. bei einer friedlichen Straßendemonstration) eine noch wichtigere Rolle hinzu. Der Körper blockiert oder besetzt einen Raum, der durch die Körperlichkeit zu einem Protestraum – zu einem Raum des zivilen Ungehorsams – wird.

„[…] die haben ja fast jede Woche irgendeine Aktion.“ (Franz) – Campact Straßenaktionen und BUND Arbeitstreffen

Franz ist im Vergleich zu den anderen Engagierten bei Campact-Straßenaktionen der Involvierteste. Er wohnt in Berlin, wird von Campact per E-Mail über Unterschriften-Übergabe-Aktionen und andere Offline-Protest-Aktionen informiert und kann dank seines Rentner-Daseins oft an den Aktionen teilnehmen. „Bei Campact ist es so: Na ja, die haben ja fast jede Woche irgendeine Aktion. […] Da schließe ich mich dann einfach spontan an, wenn ich kann und dann ist das okay. Und ansonsten gibt’s die großen Demos natürlich ein paar Mal im Jahr.“ (Franz, Z. 166 ff.) Neben den häufigen sogenannten ‚Media-Stunts‘ von Campact, nimmt Franz „natürlich“ auch an den großen Demos in Berlin teil.

Viele der BUND-Unterstützer*innen sind wiederum besonders mit regelmäßig stattfindenden Monatstreffen oder AG-Treffen ausgelastet. Dabei muss zwischen Landes- und Bundesebene unterschieden werden und ob jemand im Vorstand ist oder nicht. Markus ist auf Landes- und Bundesebene aktiv und hat somit häufig Treffen mit verschiedenen Arbeitsgruppen, zwischen denen wiederum immer vor- und nachbereitende E-Mail- und Telefon-Korrespondenzen erfolgen.Footnote 10 In seiner Ortsgruppe ist Markus nach eigenen Aussagen weniger aktiv, als auf Landes- oder Bundesebene. Rechnet man alle diese Treffen hoch und berücksichtigt auch die dazwischen anfallenden Arbeiten, wird deutlich, dass Markus täglich mit BUND-Angelegenheiten zu tun hat.

Auch Julia, die in der BUNDjugend aktiv ist, beschreibt eine ähnliche Situation: Regelmäßige Landesvorstandstreffen und Telefonkonferenzen, sowie drei Wochenendsitzungen für die Bundesebene: „Also, in Hessen treffen wir uns für den Landesvorstand alle vier bis sechs Wochen, eher sechs Wochen […]. Und zusätzlich haben wir immer dazwischen so alle zwei bis drei Wochen nochmal eine Telefonkonferenz. Und für die Bundesebene, das sind drei Wochenendsitzungen im Jahr, an denen ich teilnehme für das Gremium, also Verbandsrat, plus davor und danach immer eine Telefonkonferenz, wo ich mit dem Bundesvorstand der BUNDjugend telefoniere.“ (Julia, Z. 36 ff.) Diese Aufzählung verdeutlicht, dass Markus und Julia einem sehr Arbeitstreffen-intensiven Engagement beim BUND nachgehen, welches von Telefon- und E-Mail-Korrespondenzen ergänzt wird.

Während die Campact-Straßenaktionen dem dritten Typ der „Protest-Praktiken“ (Mattoni/Treré 2014: 259) zuzuordnen sind, können BUND Arbeitstreffen, E-Mail-Korrespondenzen und Telefonkonferenzen als „Organisationspraktiken“ beschrieben werden. Diese Praktiken beinhalten die Planung von Treffen und Aktionen und die vorbereitende Organisation von Protest. Oft finden diese Organisationspraktiken, wie oben beschrieben, in regelmäßigen Abständen und festen Gruppen statt. Dabei basiert eine Vielzahl der Praktiken auf einer aktiven Mediennutzung, denn es sind Objekte wie Laptops, Handys, Telefone oder auch Papier und Stift involviert. Couldry (2012: 35) nennt diese Form der Praktiken „[…] actions whose possibility is conditioned by the prior existence, presence or functioning of media.“ Ohne E-Mail und Telefon würden die Absprachen innerhalb der BUND Arbeitsgruppen nicht ohne Präsenztreffen funktionieren.

„[…] bei den ReUse-Tagen am Prinzessinnengarten habe ich Upcycling-Workshops gegeben.“ (Stefanie) – Aufwendige und selbst-organisierte Straßenaktionen

Aufwändiger als die Teilnahme bspw. an durch Campact vorbereiteten Straßenaktionen ist das Organisieren und Durchführen von eigenen Straßenaktionen. So hat es Stefanie gemacht, die im Rahmen der ReUse-Tage im Prinzessinnengarten sogenannte ‚Upcycling-Workshops‘ angeboten hat. „[…] bei den ReUse-Tagen am Prinzessinnengarten habe ich Upcycling-Workshops gegeben. Das ist so ein großes Hobby von mir, ich habe da auch einen Blog dazu.“ (Stefanie, Z. 81 ff.) Diese Engagementpraktik wird später genauer unter dem Aspekt der Rekursivität von Online- und Offline-Praktiken analysiert. Gemeinsam mit der DUH hat Stefanie als Straßenaktion sogenannte ‚Tüten-tausch-Tage‘ organisiert, welche als Vorbereitung für die Online-Petition verstanden werden können, da hier die Idee dazu entstand. Solche Straßenstände bedeuten ein recht intensives Engagement, da sie neben dem Vor-Ort-Stehen meist auch viel Vorbereitungszeit erfordern.

Ähnlich aktiv auf lokalen Straßenaktionen ist auch Sven, der mit dem BUND einen Stand für die Anti-TTIP-Unterschriftenliste organisiert und dabei Material von Campact verwendet hat.Footnote 11 Auch Sven ist häufiger bei arbeits- und zeitintensiven Straßenaktionen involviert, jedoch angebunden an den BUND oder eine andere Bürgerinitiative. Auch die Straßenaktionen und –stände von Sven und Stefanie können als „Protest-Praktiken“ (Mattoni/Treré 2014: 259) bezeichnet werden. Sie sind eine direkte Sichtbarmachung der Protestanliegen und finden in der Öffentlichkeit statt.

„Und habe jetzt nach meiner Pensionierung dieses Institut hier geschaffen […].“ (Günter) – Eine eigene Organisation gründen

Wie erwähnt haben zwei Personen (Günter und Daniela) ihr eigenes Institut bzw. ihre eigene Organisation gegründet.Footnote 12 Diese aufwendige und sehr intensive Engagementform setzt jedoch einige wichtige Ressourcen wie bspw. das nötige Netzwerk, ausreichende Fachkenntnisse und auch finanzielle und zeitliche Ressourcen voraus. In diesem Element des Handlungsrepertoires lassen sich sowohl „Partizipationspraktiken“ als auch „Organisationspraktiken“ (Mattoni/Treré 2014: 259) wiederfinden. Eine eigene Organisation zu gründen und sich für diese zu engagieren, beinhaltet sowohl Praktiken, durch die Soziale Bewegungen Individuen für ihre Anliegen gewinnen und für Aktionen mobilisieren können (Partizipationspraktiken), als auch solche Aktionen, die für die Koordination der Organisation nötig sind (Organisationspraktiken).

„[…] da hat man schon Einfluss.“ (Markus) – Eine Beraterrolle auf Landesebene innehaben

Ein weiteres Element des Handlungsrepertoires stellt die Beraterrolle auf Landesebene dar, welche Markus und Gerd innehaben. Beide haben durch verschiedene Positionen auf der Landesebene einen nicht unbedeutenden Einfluss und sind hier intensiv involviert. Markus ist sowohl Sprecher eines BUND Arbeitskreises (AK) auf Landesebene, als auch Mitglied eines AK auf Bundesebene. Als BUND-Mitglied durfte er deshalb im hessischen Landtag die kritische Position der Organisation bzgl. des Netzausbaus vortragen.Footnote 13 Markus selbst beschreibt die Arbeit in den zahlreichen AK und Unter-AK als erheblichen Zeitaufwand, er ist seinen Erzählungen nach aber zufrieden damit, in einflussreichen Positionen innerhalb des BUND und darüber hinaus zu sein und meinungsbildende wirken zu können. „Ja, vor allem, ich kann sie mitbestimmen. Darum geht’s! Ich bin da schon mit meinem Spezialgebiet erneuerbare Energien speziell Windenergie – da bin ich schon meinungsbildend. Nicht nur auf Landes- sondern auch auf Bundesebene. Also natürlich nicht alleine, sondern mit anderen, aber die Diskussion, da hat man schon Einfluss.“ (Markus, Z. 231 ff)

Auch Gerd nimmt auf Landesebene eine Beraterrolle ein, denn er ist als stellvertretender Landrat häufig in einem repräsentativen und offiziellen Auftrag unterwegs. Darüber hinaus sitzt er für die Grünen im Kreistag und ist im Vorstand eines Wasserverbands.Footnote 14 In Stunden und Terminen gerechnet, geht Gerd folglich sehr intensiven und zeitaufwendigen Engagementformen nach. Ähnlich wie Markus weiß aber auch er um die Vorteile seiner Position und beschreibt, seine Aufgaben mit großer Freude zu erfüllen.

„Wer Geld hat, sollte diese Sachen unterstützen […].“ (Sven) – Geld an Organisationen spenden

Sieben der 18 Interview-Partner*innen haben angegeben, verschiedenen Organisationen Geld zu spenden, entweder zusätzlich zu aktiver Unterstützung in anderen Bereichen und bei Aktionen – als gefühlter „Ersatz“ fürs Nicht-aktiv-beteiligen-Können oder aus anderen Gründen wie bspw. der Wertschätzung für die jeweilige Arbeit. „Und was ich auch noch unterstütze, ist dieses Umweltinstitut in München. Die sind auch extrem aktiv und haben auch Material. […] Der BUND hat Material, Campact, das Umweltinstitut hat richtig gutes Material. […] Es ist auch schön, wenn man aus dem Stand etwas präsentieren kann. Und jetzt nicht nur selbst gemalte Sachen. […] Wer Geld hat, sollte diese Sachen unterstützen, anstatt jetzt einer Partei was zu geben, sage ich ganz frech.“ (Sven, Z. 477 ff.) Mareike (Z. 150 ff.) unterstützt lokale Initiativen in ihrem Wohnort. Helena finanziert dagegen überwiegend Projekte, die weiter weg sind und wo sie nicht in Person mithelfen kann.Footnote 15

„[…] das sind ein, zwei Klicks.“ (Mareike) – Unterzeichnen von Online-Petitionen

Neben der oben ausgeführten Vielzahl von Offline-Protestpraktiken in Verbindung mit Organisationen oder auf Individualebene, haben die Interview-Partner*innen jedoch auch viele Praktiken genannt, die sie online ausüben. Elf der 18 Interview-Partner*innen haben ausgesagt, Online-Petitionen zu unterschreiben. Dies reicht von einem gezielten Unterschreiben von nur sorgfältig ausgesuchten Petitionen zu einem Unterzeichnen von nahezu allen Campact-Petitionen, sowie auf anderen Webseiten. Sybille bspw. unterzeichnet sehr häufig: „Ja, Change.org da kommt auch einiges, immer mehr. Also Campact mach ich fast alles. Rettet den Regenwald mache ich eigentlich auch alles. Avaaz mache ich manches.“ (Sybille, Z. 981 ff.) Der Aspekt der Online-Petition wird im anschließenden Kapitel ausführlicher analysiert und in den Handlungs- und Wirkungszusammenhang von Straßen- und Netzprotest eingebettet. Dort werden auch Unterschiede zwischen verschiedenen Petitionsplattformen diskutiert. An dieser Stelle wird die Protestpraktik an sich schon als Möglichkeit im Handlungsrepertoire von Engagement beschrieben.

Ähnlich wie Sybille beschreiben es auch Kilian, Mareike und Sven, die (nahezu) täglich Online-Petitionen unterzeichnen und/oder sich beim Unterzeichnen blind auf die Ersteller*innen der Petition verlassen. Mareike beschreibt, dass sie täglich ihre E-Mails liest und dabei das Unterzeichnen direkt mit erledigt. „Du, das kann täglich sein, weil ich ja auch täglich im Internet bin. Meine E-Mails checke ich täglich und das sind ein, zwei Klicks. […] Ich mache das lieber gleich. Weil, ich habe ja so viel um die Ohren. Was ich nicht sofort mache, ist weg.“ (Mareike, Z. 718 ff.) Auch Kilian erzählt, fast täglich Online-Petitionen zu unterzeichnen. Darunter befinden sich häufig auch lokale Anliegen, sodass Kilian das Gefühl hat, dass die Petitionen an verschiedene Adressat*innen gehen und nicht einige wenige Politiker*innen zu viele Petitionen erhalten. „Also bei Change.org sind es ja auch so viele lokale, kleine Sachen, wo ich auch nicht das Gefühl habe: Okay, das sind jetzt dieselben lokalen Politiker oder wo die Politiker dann zu viel kriegen. Es sind dann die lokalen, die was kriegen. Deswegen, wo dann auch dieses Ausgewogenheits-Ding noch da ist, deswegen unterschreibe ich da oft.“ (Kilian, Z. 605 ff.) Für Sven ist ein Faktor für das häufige Unterzeichnen schon bestehendes Vorwissen. Bei Themen, mit denen er sich gut auskennt, unterzeichnet er blind.Footnote 16

Ähnlich wie die Durchführung von Telefonkonferenzen oder die Mitarbeit in BUND AKs über E-Mail-Korrespondenzen, ist auch das Unterzeichnen von Online-Petitionen nur möglich, wenn eine Infrastruktur von Medien bereitsteht (vgl. Couldry 2012: 35). Ob Online-Petitionen dem Bereich der „Protest-Praktiken“ oder doch nur den „symbolischen Praktiken“ (Mattoni/Treré 2014: 259) zuzuordnen sind, lässt sich nicht eindeutig festlegen, insofern als die Meinungen der Engagierten dazu auseinandergehen. Für einige Personen und in einigen Fällen tragen sie nur zur Entwicklung eines Diskurses bei, für andere stellt das Unterzeichnen der Online-Petitionen wiederum einen eigenen Protestakt dar. Dieses Thema wird im anschließenden Kapitel ausführlich analysiert. In jedem Fall lässt sich jedoch von einer Mediatisierung (ebd.: 260 ff.) sprechen, denn Online-Petitionen sind ein Aspekt eines länger andauernden Prozesses, in dem sich soziale und kulturelle Akteure aufgrund eines gewachsenen Medieneinflusses verändern. So haben Online-Petitionen Papier-Unterschriftenlisten in vielen Fällen abgelöst und digitalisiert, bzw. mediatisiert.

„Wir machen E-Mail-Aktionen.“ (Daniela) – E-Mail-Aktionen statt Online-Petitionen

Daniela bezeichnet sich selbst nicht so sehr als „Fürsprecherin“ für Online-Petitionen, sondern hält E-Mail-Aktionen für weitaus effektiver. Durch das zahlreiche direkte Anschreiben eines Politikers, werde viel mehr Druck ausgeübt als durch eine Sammlung von (digitalen) Unterschriften: „Und ich bin der Meinung, eine E-Mail-Aktion – heutzutage – ist eine bessere Aktion, weil ich dann selbst etwas einschreibe. Ja, ich kriege auch selbst eine Antwort. […] Weil wenn ich eine Petition mit Millionen Unterschriften haben, dann ist das Gesamtpolitikum. Wenn ich aber einen Abgeordneten mit allen anschreibe, der hat Angst um seine Stelle. […] Wir machen E-Mail-Aktionen. Wir schreiben die Bundesregierung direkt an.“ (Daniela, Z. 611 ff.) Auch in diesem Fall lässt sich eine Mediatisierung beschreiben, denn wo früher Brief-Aktionen organisiert wurden, greifen heute viele Organisationen auf E-Mail-Aktionen zurück, um ihre Anliegen zu verbalisieren.

„[…] ich bin in unglaublich vielen Dingen angemeldet […].“ (Stefanie) – Aktive Social-Media-Nutzung

Mareike ist im Sample die Aktivste, was die Nutzung von Social Media angeht. Das ist nicht verwunderlich, denn sie arbeitet als Social-Media-Beraterin für Unternehmen, deren Online-Präsenz sie aufbaut und pflegt. Sie nutzt privat Facebook, Twitter, YouTube, Pinterest und Instagram.

Auch Stefanie ist in ihrer Medien-Nutzung recht breit aufgestellt und auf verschiedensten Plattformen angemeldet: Facebook, Xing, LinkedIn, Twitter und ein eigener Blog. Sie sieht diese Nutzung jedoch – ähnlich wie Mareike – auch vor dem Hintergrund ihres Studiums und der Beschäftigung mit digitalen Medien. Stefanie selbst beschreibt ihre Social-Media-Nutzung als eher breit, statt tief und betont, das Internet insb. auch für Recherchearbeit zu nutzen.Footnote 17

Felix, der jüngste Gesprächspartner des Samples, hat nach eigenen Angaben Nutzerkonten bei Facebook, Tumblr und Twitter. Er hatte ursprünglich den Plan, auf der Blogging-Plattform gemeinsam mit anderen Autor*innen eine Zeitung namens „Gute Zeitung, schlechte Zeitung“ zu gründen und kontroverse Punkte aus zwei entgegengesetzten Perspektiven zu erklären. Darüber hinaus nutzt er Social-Media-Kanäle auch für politische Beiträge.

Gerd ist – trotz seines vergleichsweise höheren Alters von 67 Jahren – recht aktiv bei Facebook und besitzt darüber hinaus einen aktiven E-Mail-Verteiler. Er würde sich gerne bei Twitter anmelden, benötigt dafür aber eine Einweisung in die Funktionen und die Risiken. Ähnliches hatte er für sich und andere bei den Grünen für die Nutzung von Facebook organisiert. „Also, ich bin ja bei Facebook so ein bisschen unterwegs. Und ich habe einen sehr regen E-Mail-Verteiler, die mir dann immer Links zuschicken und sagen: ‚Ich habe mich da mal näher mit vertraut gemacht und ich würde den Protest mit unterstützen.‘ […] Also ich weiß, dass ich da [Twitter] noch ran müsste. Aber ich denke dann immer, wann? […] Also wir haben bei den Grünen irgendwann mal mit Facebook so eine Einführungseinheit gemacht, wo wir gesagt haben: Was kann man da machen, sollte man das machen, womit sollte man vorsichtig sein und so?“ (Gerd, Z. 602 ff.)

Die Social-Media-Nutzungen von Mareike, Stefanie, Felix und Gerd veranschaulichen das von Couldry (2012: 33 ff.) beschriebene Bedürfnis nach Koordination, Interaktion, Gemeinschaft und Freiheit. Medienrelevante Praktiken könnten diese Bedürfnisse stillen. Entsprechend können diese Praktiken nur ausgeführt werden, wenn eine gewisse Struktur von Medien bereits besteht, auf denen diese digitalen Praktiken basieren. Weiter beschreibt Couldry (ebd.: 44) medienverbundene Praktiken wie das Sich-Zeigen und -Präsentieren in einer virtuellen Welt und das Aufbauen einer öffentlichen Präsenz über Social-Media-Kanäle. Auch das Bedürfnis, ständig mit anderen Menschen in Kontakt zu sein, sich Informationen anzueignen oder zu selektieren, sei durch die Existenz digitaler Medienpraktiken entstanden. Dabei zeigen sich Tendenzen eine Mediatisierung (Mattoni/Treré 2014).

„[…] ich stelle schon mal ne App vor, die mir gefällt.“ (Mareike) – Einen eigenen Blog betreiben

Mareike und Stefanie haben beide einen eigenen Blog, auf dem sie regelmäßig Beiträge teilen. Inhaltlich befasst sich Mareike dabei größtenteils mit digitalen Medien, während Stefanie über Upcycling-Praktiken und Nachhaltigkeit bloggt. Für Mareike steht beim Bloggen insb. das Netzwerken im Mittelpunkt. Sie hat alle Plattformen, auf denen sie angemeldet ist, miteinander vernetzt, sodass ein Beitrag überall gleichzeitig veröffentlicht wird, sobald sie ihn auf einem ihrer Kanäle freischaltet. Die Praktiken von Mareike und Stefanie veranschaulichen besonders deutlich, was Mattoni (2012) unter „Activist Media Practices“ versteht. Neben der Nutzung verschiedener Objekte wie Laptop oder Smartphone, kommt dabei auch den Subjekten selbst eine tragende Rolle zu: Sie generieren selbst Inhalte und nehmen oft mehrere soziale Rollen gleichzeitig an.

„Ich teile nur immer die Kampagnen.“ (Sonja) – Auf Social-Media-Kanälen politische Inhalte teilen

Doch die Nutzung von Social Media bedeutet nicht automatisch auch die Nutzung für politische Inhalte. Einige der Interview-Partner*innen halten Facebook & Co. dafür für das passende Medium, andere wiederum nicht. Sonja bspw. nutzt Facebook ausschließlich „aus politischen Gründen“. Sie schaut sich nicht an, was andere auf der Plattform posten, sondern nutzt sie einzig und alleine dafür, selbst Kampagnen zu teilen, sodass andere Leute diese sehen. „Ja, ich bin so eigentlich dann nur aktiv, aus politischen Gründen, also bei Facebook. Ich habe da zwar schon Verwandte, die da immer was reinstellen, aber das schaue ich mir eigentlich nicht an. Ich teile nur immer die Kampagnen. Das ist sehr einseitig bei mir.“ (Sonja, Z. 709 ff.) Dass sich Sonja die Beiträge ihrer Verwandten nicht ansieht, liegt vermutlich daran, dass diese keine politischen Inhalte posten, Sonja Facebook aber explizit nur für politische Zwecke nutzt. Auch Mareike teilt Inhalte auf Social Media – und hält dies grundsätzlich für den Sinn solcher Netzwerke. „Doch, ich teile definitiv. Das ist ja Grund und Sinn von den sozialen Medien. Nur so kommt man ja auch weiter.“ (Mareike, Z. 850 ff.) Dabei leitet sie auch Online-Petitionen weiter, die sie unterstützenswert findet.

Felix teilt gerne politische Inhalte auf seiner Facebook-Seite, erfährt aber in der Regel wenig Rückmeldung und hat das Gefühl, dass sich seine Freund*innen nur bedingt für die Inhalte interessieren. Denn bspw. das Teilen von Veranstaltungen hat noch nie dazu geführt, dass er seine Freund*innen bei entsprechenden Aktionen angetroffen hat.Footnote 18 Darüber hinaus teilt er Artikel von Spiegel Online, Süddeutsche Zeitung und anderen, oder Aufrufe und Kampagnen von Campact. Um einen Beitrag bei Facebook zu verfassen und/oder zu teilen, muss ein Thema Felix sehr stark ansprechen. „Aber bis ich bei Facebook was mache, muss es mir schon stark gegen den Strich gehen. Zum Verbreiten nutze ich gerne von großen Sachen wie Spiegel Online und Süddeutsche die Artikel und teile die. Twitter mache ich auch. […] Das sind meistens Artikel, ganz selten schreibe ich auch mal, wie man das bei Facebook so macht, einen Statusbeitrag dazu. Ich kommentiere auch ganz gerne die Artikel. […] Nur halt die Aufmerksamkeit, die ich bekomme, ist klein. Wenn ich was zu Fußball schreibe, bekomme ich wesentlich mehr Rückmeldung, als wenn ich über irgendwas Politisches schreibe.“ (Felix, Z. 1132 ff.)

Auch im Falle des Teilens politischer Inhalte, nehmen die Akteure oft mehrere soziale Rollen gleichzeitig an. Sie sind Unterstützer*innen eines Protestanliegens, gleichzeitig Autor*in oder Freund*in von ausgewählten Adressat*innen. Mit dem Teilen politischer Beiträge auf Social Media gehen die Individuen „symbolischen Praktiken“ (Mattoni/Treré 2014: 259) nach, die dazu führen, dass ein Diskurs entwickelt und Bedeutungen und Interpretationen eines entsprechenden Problems geformt werden (können).

6.2.3 Was mich bei Campact und auch BUND überzeugt hat, waren auch die Offline-Auftritte.“ – Meinungen zum Handlungsrepertoire bei Campact und dem BUND

An dieser Stelle folgen nun einige Meinungen zum Handlungsrepertoire von Campact und dem BUND und Einschätzungen zum Verhältnis von Online- und Offline-Aktionen.

„[…] die machen ja im Prinzip beides.“ (Franz) – Unterstützung für Campact wegen ausgewogenem Verhältnis von Online- und Offline-Aktionen

Franz und Sybille halten Campacts Zusammensetzung von Online- und Straßenaktionen für angemessen, beteiligen sich bei beiden Formen und wägen die Vor- und Nachteile der verschiedenen Elemente ab. Franz unterschreibt Online-Petitionen mit der Begründung, dass es ihn ja nur einen Klick koste, beteiligt sich darüber hinaus aber auch gern bei Offline-Aktionen wie einer Unterschriften-Übergaben. „Ja, die machen ja im Prinzip beides. Die machen ja Unterschriften-Listen, die übergeben sie dann mit Aktionen und die machen nicht nur Unterschriften-Aktionen. […] die [Online-Petitionen] mache ich natürlich sowieso mit. Das kostet mich ja nur ein Klick. Das andere kostet halt, ja: Da muss man hingehen und das ist schon mehr. Nein, ich mache beides und ich finde gut, dass sie beides machen. Weiß nicht, wenn die nur Unterschriften machen würden, dann weiß ich gar nicht, ob ich bei denen auf dem Verteiler wäre. Vielleicht schon, ja. Aber da würde mir schon was fehlen.“ (Franz, Z. 382 ff.) Franz beteiligt sich also explizit an den Online-Petitionen, weil Campact darüber hinaus auch Offline-Aktionen organisiert.

Auch Sybille hält das Verhältnis von Netz und Straße bei Campact für angemessen und lobt insb., dass sich über die Unterschriften hinaus einige Aktive auch bei den Offline-Aktionen engagieren. Netzaktivismus bezeichnet sie bei Campact trotzdem als wichtiges Standbein. „Das finde ich für mich persönlich angemessen, weil das im Netz, das geht so leicht und schnell, das ist schon mal so ein ganz wichtiges Standbein. Und wenn dann einige wenige Aktive reichen, um das dann weiter zu vermitteln, dann ist das ja schon super. Und dann gibt’s ja immer wieder diese Vorort-Aktionen, also viel mehr könnte ich gar nicht schaffen.“ (Sybille, Z. 419 ff.)

Helena hat wiederum ein sehr persönliches Verhältnis zu Campact und dessen Straßenaktionen, da sie drei Campact-Campaignerinnen während einer Aktion in Frankfurt schon Übernachtungsgelegenheiten geboten und sich aktiv an der Aktion beteiligt hat. Deswegen spricht sie von „persönlichen Kontakten“ zu Campact und lobt die Straßenaktionen, die dafür notwendige Organisation des Events und die Möglichkeit, über Unterschriftenlisten hinaus seine Meinung kundzutun. „Ich hab eigentlich inzwischen auch persönliche Kontakte, weil wir mal hier so eine Aktion hatten: ‚Wir bauen einen Damm‘. […] Und da hatte ich die drei Campaignerinnen hier zum Übernachten, hatte ich eben angeboten. Und darüber hatte ich auch so einen Einblick in die Strukturen […]. Die machen das richtig toll, die machen das absolut gut. Da stehe ich also wirklich voll dahinter. […] Du hast doch schöne Aktionen, wo du mitmachen kannst! Und wo du auch wirklich nach außen der Welt zeigen kannst, da sind Leute, die was machen! Da sind nicht nur Unterschriften, sondern da sind wirklich 10.000 Leute, die da eine Kette über weiß der Geier wie viele Kilometer machen.“ (Helena, Z. 496 ff.) Im Gespräch wird Helena klar, dass es für Straßenaktionen einerseits die Organisator*innen benötigt und andererseits genug Leute, die sich beteiligen. Neben den Online-Petitionen dienen die Straßenaktionen laut Helena dazu, die Menschen hinter den Unterschriften sichtbar zu machen.

„Was mir auch besonders gefällt ist, wie die dann übergeben werden […].“ (Sybille) – Lob für kreative Unterschriftenübergaben bei Campact

Sybille gefallen die Unterschriften-Übergaben vor dem Berliner Reichstagsgebäude besonders wegen der kreativen Ideen der Campact-Mitarbeiter*innen. Sie erinnert sich genau an eine Aktion mit vielen Ballons und darauf geschriebenen Sprüchen. Deshalb verfolgt Sybille immer die derzeit bearbeiteten Themen und nimmt nach Möglichkeit an den entsprechenden Übergabe-Aktionen teil. „Auf jeden Fall bin ich da immer auf dem Stand, welche Themen gerade angepackt werden und dazu kann ich gleich sagen: Was mir auch besonders gefällt ist, wie die dann übergeben werden, also die Aktionen, die dann damit verbunden sind. […] wie da so vor dem Reichstagsgebäude dann Campact-Aktive mit Fahrrädern herumgefahren sind und mit so ganz langen Luftballons und auf den Luftballons waren dann so ganz spezielle Sprüche, die mir auch gut gefallen haben.“ (Sybille, Z. 222 ff.)

„Einfach Dialog auf der Straße, dass sie mich angesprochen haben […].“ (Kilian) – Überzeugende Offline-Auftritte als Motivator für Mitarbeit bei BUND und Campact

Kilian merkt für sein Engagement an, dass er schlussendlich wegen überzeugenden Offline-Auftritten sowohl Campact als auch den BUND unterstützt. Dialog auf der Straße und die direkte Ansprache hätten dazu geführt, dass er bei beiden Organisationen aktiv geworden sei – in welcher Form (online, offline, finanziell) auch immer. „Was mich bei Campact und auch BUND überzeugt hat, waren auch die Offline-Auftritte. Einfach Dialog auf der Straße, dass sie mich angesprochen haben, und so bin ich auch bei beiden reingerutscht. Nicht reingerutscht, aber habe mich dann dazu entschlossen zu spenden.“ (Kilian, Z. 805 ff.) Hier zeigt sich, wie wichtig eine direkte und persönliche Ansprache auf der Straße weiterhin ist. Kann eine Organisation mit ihrem Auftreten hier überzeugen, ist die Wahrscheinlichkeit für Unterstützung – in welcher Form auch immer – deutlich höher.

Zusammenfassung

Dieses Kapitel hatte das Ziel, einen Überblick über die Intensität des Engagements und Breite des Handlungsrepertoires der Engagierten zu geben und dabei auch Campact- bzw. BUND-spezifische Aspekte zu beachten.

Im Sample dieser Untersuchung befindet sich eine Person, die für ihren Aktivismus bezahlt wird, doch sie hat sich bewusst für eine Teilzeitstelle entschieden, um ausreichend Zeit für weiteres Engagement zu haben. Fünf der 18 Interview-Partner*innen sind in Rente und verfügen über hohe Zeitressourcen, die sie für zivilgesellschaftliches Engagement nutzen. Drei Engagierte verstehen ihren Aktivismus wiederum explizit als „Arbeit“ – in Teilzeit neben einem anderen Job oder als Vollzeitstelle. Als „Arbeit“ wird von ihnen dabei die Investition von Zeit und Wissen für eine Organisation verstanden, bei einem zeitlichen Umfang, der über die meisten ehrenamtlichen Tätigkeiten hinausgeht. Eine der drei Personen investiert nach eigenen Angaben rund 30 Stunden pro Woche für den BUND, eine andere Person betreut in Vollzeit die Webseite einer Organisation für Frauenrechte und Umweltschutz.

Rund ein Drittel der Interview-Partner*innen ist in drei oder mehr Organisationen aktiv, von den 18 Bürger*innen gaben zwölf an, Campact zu unterstützen und acht engagieren sich (auch) beim BUND. Jeweils elf Personen gaben an, an Straßendemos teilzunehmen und Online-Petitionen zu unterzeichnen. Nur eine Person beteiligt sich an Sitzblockaden, zwei haben jedoch in der Vergangenheit an Aktionen zivilen Ungehorsams teilgenommen. Knapp die Hälfte spendet Geld an Organisationen, genau neun von 18 geben an, regelmäßig an BUND-Monatstreffen und/oder Campact-Straßenaktionen teilzunehmen. Jeweils zwei Personen haben ein eigenes Institut gegründet oder sind auf lokalpolitischer Ebene in einer Position aktiv. Insgesamt ist das Verhältnis von Online- und Offline-Protestpraktiken ausgeglichen, wobei dies nicht bedeutet, dass sich die eine Hälfte online und die andere offline engagiert, sondern dass viele Personen sowohl online als auch offline verschiedene Protestformen praktizieren.

Mehr als die Hälfte der Gesprächspartner*innen ist täglich mit ihrem Aktivismus beschäftigt, worunter insb. Arbeit am Computer verstanden wird: E-Mails lesen und schreiben, Informationen lesen oder zusammentragen und sich mit anderen vernetzen. Das tägliche Engagement variiert stark von einer Stunde bis zu zwölf Stunden täglich. Obwohl ein Vorwurf an Campact und ähnliche Kampagnen-Organisationen häufig lautet, sie würden politische Partizipation durch Online-Aktivitäten zu sehr vereinfachen, haben gegenteilig dazu ein Viertel der Interview-Partner*innen erzählt, dass sich ihr Engagement durch Campact intensiviert habe. Dabei gibt es insb. die Meinung, dass ein großer Vorteil von Campact das vergleichsweise breite Beteiligungsspektrum sei und dass dadurch jeder selbst entscheiden könne, wie viel oder wenig er/sie machen wolle.

Für viele Interview-Partner*innen ist eine Demoteilnahme insb. auf den großen Straßendemos wie bei der „Wir-haben-es-satt“-Demo ein Muss. Für kleinere Demos reiche hingegen die Zeit häufig nicht, denn oft sei eine Teilnahme mit hohem Zeitaufwand u. a. für die Anreise verbunden. Viele der BUND-Mitglieder sind wiederum schon mit regelmäßig stattfindenden Monats- oder AG-Treffen ausgelastet.

Sieben der 18 Interview-Partner*innen geben an, Organisationen Geld zu spenden – entweder zusätzlich zu aktiver Unterstützung, als ‚Ersatz‘ für ausbleibende Aktivität oder aus Gründen wie der Wertschätzung für die Arbeit der Organisation. Elf Bürger*innen haben ausgesagt, Online-Petitionen zu unterschreiben. Dies kann das gezielte Unterschreiben sorgfältig ausgesuchter Petitionen, aber auch nahezu alle Campact-Petitionen und Petitionen von anderen Webseiten meinen. Bei der Social-Media-Nutzung unterscheiden sich die Praktiken der Interview-Partner*innen recht stark. Eine Person geht einer sehr intensiven Social-Media-Nutzung nach und ist auch in diesem Bereich beruflich tätig. Zwei Gesprächspartner*innen betreiben einen eigenen Blog. Während sich einer mit digitalen Medien beschäftigt, bloggt die andere über Upcycling-Praktiken und Nachhaltigkeit. Social Media zu nutzen, bedeutet jedoch nicht immer, auch politische Inhalte zu teilen. Einige Interview-Partner*innen halten Facebook & Co. dafür für passend, andere wiederum nicht. Dies hängt insb. von der persönlichen Einschätzung ab, ob man auf diesem Weg die passenden Leser*innen des Freundes- und Bekanntenkreises erreichen kann oder ob das jeweilige Facebook-Netzwerk kein Interesse am entsprechenden Thema hat.

Die meisten halten die Zusammensetzung von Online- und Straßenaktionen bei Campact für angemessen, partizipieren an beiden Formen und wägen deren Vor- und Nachteile ab. Franz bspw. unterschreibt Online-Petitionen von Campact mit der Begründung, dass sie ihn nur einen Klick kosten und beteiligt sich zusätzlich auch bei Offline-Aktionen wie den Unterschriften-Übergaben. Sybille lobt diese Übergabeaktionen in Berlin insb. für ihre kreativen Inszenierungsideen und nimmt u. a. deshalb daran teil. Auch bei Kilian, sind es letztendlich die überzeugenden Offline-Auftritte von Campact und dem BUND, die dazu führen, dass er beide Organisationen unterstützt. Hier zeigt sich deutlich, dass auch auf Seiten der aktiven Unterstützer*innen eine Ausgewogenheit von Online- und Offline-Protestpraktiken geschätzt wird. Dieser Aspekt wird im folgenden Kapitel 7 „Einstellungen zu Straßenprotest und Netzaktivismus“ nun ausführlicher untersucht.