Bei der Betrachtung der Motive für Partizipation in der Umweltschutz-Bewegung auf der Individualebene einzelner Bürger*innen spielt eine Vielzahl von Komponenten eine wichtige Rolle. Warum engagieren sich einige in Verbänden und Organisationen wie dem BUND, bei Straßenaktionen und lokalen kleineren Projekten? Warum engagieren sich andere Bürger*innen zusätzlich oder stattdessen durch Online-Formate politischer Partizipation wie bspw. bei Online-Petitionen? Um zu verstehen, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, dass sich Individuen zivilgesellschaftlich engagieren, müssen insb. die Ressourcen dieser Personen berücksichtig werden. Zeit, Geld, Bildung, Netzwerke und auch Fähigkeiten zu kommunizieren und organisieren, zählen zu diesen Ressourcen. Darüber hinaus spielt aber auch ihr Bürgerschaftsverständnis eine wichtige Rolle. Ist es die Pflicht eines jeden, sich über Wahlen auf Bundes-, Landes- und Lokalebene hinaus zivilgesellschaftlich zu engagieren? Bedeutet Demokratie ‚von unten‘ mitzugestalten? Auch Emotionen und Affekte beeinflussen die Wahrscheinlichkeit für Partizipation. Wie Bürger*innen aufgewachsen sind und von ihrem Umfeld geprägt wurden, ist ein ebenso wichtiger Faktor wie konkrete Schlüsselmomente und Erfahrungen, die in der Vergangenheit gemacht wurden und das zivilgesellschaftliche Engagement bis heute motivieren. In dieser Arbeit wird dabei zwischen dem Ursprung von Engagementbereitschaft als in der Vergangenheit liegendes Ereignis einerseits und der gegenwärtigen Motivation für das Engagement andererseits unterschieden. Emotionen spielen insb. bei dem partizipationsbegünstigenden Faktor der kollektiven Identität eine Rolle. In einer Gemeinschaft aktiv zu sein und sich als Mitglied einer Organisation oder Gruppe zu fühlen, bestärkt Bürger*innen in ihrem zivilgesellschaftlichen Engagement.

Diese Aspekte werden in den nächsten drei Unterkapiteln untersucht. Dabei besteht jeder Abschnitt aus einer Einführung in relevante Theorien aus der Forschung zu politischer Partizipation und einer daran anschließenden Diskussion der Ergebnisse aus der Empirie. Hierbei bilden die aus dem Interviewmaterial herausgearbeiteten Kategorien die Grundlage.Footnote 1 Nach jeder Kategorie – bspw. Ursprung oder Kollektive Identität – erfolgt eine kurze Zusammenfassung der Erkenntnisse, bevor in Abschnitt 5.4 ein Zwischenfazit gezogen wird. Basierend auf den herausgearbeiteten Kategorien (Kapitel 5), einer Analyse der Protestpraktiken (Kapitel 6) und der Einstellungen zu Straßen- und Netzprotest (Kapitel 7), wird in Kapitel 8 eine eigene neue Typisierung von Protest-Aktivist*innen vorgeschlagen.

Der Aufbau des nun folgenden Kapitels stimmt mit den von Weber (1922) genannten vier Typen sozialen Handelns überein: Das zweckrationale Handeln, das wertrationale Handeln, das affektuelle Handeln und das traditionale Handeln. Ersteres bezeichnet das Abwägen von Zweck, Mitteln und Folgen für die Entscheidung über das eigene Handeln. Dieser Handlungstyp kommt dem Ansatz von Rational-Choice-Theorien am nähesten und wird in Abschnitt 5.1 mit Blick auf Ressourcen Einsatz finden. Der zweite Typ, wertrationales Handeln, bezeichnet Handlungen, die auf persönlichen Überzeugungen und Glaubensentwürfen basieren. Hier handelt das Individuum nach selbst aufgestellten Vorsätzen und nicht zweckrational (vgl. Abschnitt 5.2). Affektuelles und traditionales Handeln spielen wiederum in Abschnitt 5.3 unter dem Aspekt des Ursprungs, der Motive, der Mitgliedschaft und der kollektiven Identität eine Rolle. Dieses Handeln wird durch Emotionen, Gewohnheiten oder Erziehung erklärt.

5.1 Ressourcen: Kompetenzen und Voraussetzungen für Protestpartizipation

5.1.1 Ressourcen-Theorien zur Erklärung von Protestpartizipation

Der folgende Abschnitt gibt einen Überblick über Konzepte und Theorien der Partizipationsforschung, die sich mit den Ressourcen der Individuen auseinandersetzen. Der Begriff der politischen Partizipation bezeichnet hierbei „alle freiwilligen Aktivitäten, mittels derer Bürger – nicht die Inhaber politischer oder administrativer Positionen – versuchen, Personal- oder Sachentscheidungen auf verschiedenen Handlungsebenen des politischen Systems zu beeinflussen oder unmittelbar an diesen mitzuwirken.“ (Gabriel 2013: 383; Verweis auf Kaase 1997:167)

Dass sich diese Aktivitäten in den letzten Jahrzehnten stark verändert haben und vielfältiger geworden sind, wurde in Kapitel 2 „Wandel von Protestpartizipation im Zuge der Digitalisierung“ aufgezeigt. Während einerseits ein Anstieg neuer, kreativer Partizipationsformen beobachtet werden kann, hat andererseits die Mitgliedschaft in politischen Parteien in den letzten Jahrzehnten stark abgenommen. Doch wie lässt sich im Einzelnen erklären, warum ein Individuum verschiedene Partizipationsformen nutzt oder warum nicht? Bei der Frage nach den Ursachen und Motiven für politische Partizipation lassen sich verschiedene Erklärungsansätze nennen. Gabriel (2012: 11) unterscheidet zwischen der Mikro- und Makroebene und dabei wiederum jeweils zwischen institutionenbezogenen, sozio-ökonomischen und psycho-kulturellen Erklärungsansätzen. Modelle zur Erklärung politischer Partizipation berücksichtigen einerseits Kontextfaktoren, die sich aus der sozialen und ökonomischen Situation eines Individuums heraus ergeben, müssen aber auch individuelle Wahrnehmungen und Einschätzungen beinhalten. Denn nur „wenn Menschen ihre Umweltbedingungen erkennen, sie zu ihrer Handlungssituation in Beziehung setzen und Folgerungen aus ihnen ziehen, können soziale und politische Kontextfaktoren überhaupt eine Rolle für das Handeln und Verhalten spielen.“ (Gabriel 2013: 393)

Die mikroanalytische Partizipationsforschung setzt dabei auf zwei Arten von Erklärungsfaktoren: Die politische Einstellung und die demografischen Charakteristika von Individuen. Die Arbeiten der Political Action Group um Barnes und Kaase (1979) und der Forschergruppe um Verba (1972, 1978, 1995) haben die Auswahl von Erklärungsvariablen theoretisch begründet. Die Political Action Group führte u. a. „die politischen Werteorientierungen und die kognitive Kompetenz von Individuen als wichtigste Bestimmungsfaktoren konventioneller und unkonventioneller Formen politischer Partizipation ein“ (Gabriel 2013: 393f.), während Verba et al. (1972, 1978, 1995) den Fokus auf die Analyse der Beziehung zwischen Ressourcenausstattung und Partizipation legten. Den vorläufigen Schlusspunkt dieser Debatte bildet das Civic Voluntarism Model (CVM) von Verba/Schlozman/Brady (1995), welches sich in der empirischen Partizipationsforschung als Standardmodell durchgesetzt hat und auch in dieser Arbeit eine wichtige Rolle spielen wird.

Zuvor sollen der Vollständigkeit halber jedoch auch sozio-ökonomische Theorien vorgestellt werden. Der Fokus liegt dabei auf der Mikroebene, da die vorliegende Arbeit individuelle Ursachen und Motive von verschiedenen Partizipationsformen untersucht.Footnote 2

Sozio-ökonomische Ansätze

Bourdieu (1983) plädiert für eine Wiedereinführung des Kapitalbegriffs und das Konzept der Kapitalakkumulation. Kapital ist dabei „akkumulierte Arbeit, entweder in Form von Materie oder in verinnerlichter, ‚inkorporierter‘ Form“ (ebd.: 183). Diese Akkumulation braucht wiederum Zeit. Während die Wirtschaftswissenschaften nicht die Gesamtheit der gesellschaftlichen Austauschprozesse sehen, sondern sich nur auf den Warenaustausch fokussieren und hierbei Profitmaximierung und ökonomischen Eigennutzen in den Vordergrund stellen, erklären sie damit implizit alle anderen Formen des sozialen Austausches als uneigennützig (vgl. ebd.: 184). Nach Bourdieu können drei Formen des Kapitals unterschieden werden: Erstens das ökonomische Kapital, welches direkt in Geld umwandelbar ist, zweitens das kulturelle Kapital, welches sich bspw. in Form von Titeln und Abschlüssen zeigt und unter bestimmten Voraussetzungen in ökonomisches Kapital umwandelbar ist und drittens das soziale Kapital in Form von sozialen Verpflichtungen und Beziehungen, welches sich ebenfalls unter bestimmten Voraussetzungen in ökonomisches Kapital umwandeln lässt.

Das kulturelle Kapital kann wiederum in drei Unterformen auftreten: Inkorporiert, objektiviert und institutionalisiert. Inkorporiertes Kulturkapital ist grundsätzlich körpergebunden und setzt eine Verinnerlichung voraus. Dieser Verinnerlichungsprozess kostet Zeit und da diese Zeit vom Investor selbst investiert werden muss, lässt sich Bildungskapital nicht durch eine fremde Person aneignen. „Inkorporiertes Kapital ist ein Besitztum, das zu einem festen Bestandteil der ‚Person‘, zum Habitus geworden ist; aus ‚Haben‘ ist ‚Sein‘ geworden. Inkorporiertes und damit verinnerlichtes Kapital kann deshalb […] nicht durch Schenkung, Vererbung, Kauf oder Tausch kurzfristig weitergegeben werden“ (ebd.: 187). Diese Inkorporierung von kulturellem Kapital vollzieht sich jedoch häufig unbewusst und oft auch unsichtbar. Anders als das ökonomische, wird das kulturelle Kapital deswegen leicht auch als nur symbolisches Kapital aufgefasst. Die zweite Form kulturellen Kapitals ist das objektivierte Kulturkapital, bspw. Denkmäler, Schriften, Gemälde oder auch Instrumente oder Maschinen. Diese lassen sich zwar ebenso gut übertragen wie ökonomisches Kapital, jedoch muss der Besitzer auch über die kulturellen Fähigkeiten verfügen, die z. B. das Verstehen einer Schrift oder das Bedienen einer Maschine erlauben. Diese Fähigkeiten sind wiederum inkorporiertes Kulturkapital, was der Besitzer entweder selbst besitzen oder sich in Form von den Diensten eines solchen Inhabers verfügbar machen muss. „Kulturelle Güter können somit entweder zum Gegenstand materieller Aneignung werden; dies setzt ökonomisches Kapital voraus. Oder sie können symbolisch angeeignet werden, was inkorporiertes Kulturkapital voraussetzt“ (Bourdieu 1983: 188 f.). Die dritte Form ist das institutionalisierte Kulturkapital, bspw. in Form von schulischen Titeln. Diese Form von kulturellem Kapital ist relativ unabhängig von der Person des Trägers und auch vom kulturellen Kapital, das diese Person zu einem bestimmten Moment tatsächlich besitzt. Durch einen (schulischen oder akademischen) Titel wird dem Kulturkapital einer bestimmten Person institutionelle Anerkennung verliehen.

Das soziale Kapital bei Bourdieu bezeichnet „die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind oder, anders ausgedrückt, es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen“ (ebd.: 190 f.). Das Gesamtkapital einer Gruppe gibt dieser wiederum Sicherheit und verleiht ihr Kreditwürdigkeit. Der Umfang des Sozialkapitals jedes Einzelnen ist davon abhängig, welches Netz an Beziehungen er oder sie mobilisieren kann und über welchen Umfang ökonomischen, kulturellen und symbolischen Kapitals seine/ihre Beziehungen jeweils verfügen. Das Bestehen eines solchen Beziehungsnetzes ist wiederum das Ergebnis fortlaufender Institutionalisierungsarbeit. Diese ist notwendig „für die Produktion und Reproduktion von dauerhaften und nützlichen Verbindungen, die Zugang zu materiellen und symbolischen Profiten verschaffen. […] Das Beziehungsnetz ist das Produkt individueller oder kollektiver Investitionsstrategien, die bewußt oder unbewußt auf die Schaffung und Erhaltung von Sozialbeziehungen gerichtet sind, die früher oder später einen unmittelbaren Nutzen versprechen“ (ebd.: 192). Bei dieser Beziehungsarbeit wird Zeit und Geld und damit direkt oder indirekt auch wieder ökonomisches Kapital ausgegeben.

Unter ökonomischem Kapital versteht Bourdieu den Besitz jeder Art von Ware, bspw. Produktionsmittel, Unternehmen, Grund und Boden oder anderes Vermögen wie Kunstwerke, Geld, Aktien oder Schmuck. „Das ökonomische Kapital ist unmittelbar und direkt in Geld konvertierbar und eignet sich besonders zur Institutionalisierung in der Form des Eigentumsrechts“ (Bourdieu 1983: 185). Der Umfang eines solchen Kapitals ist abhängig von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Klasse.

Die drei Kapitalarten lassen sich nicht immer streng voneinander trennen, so gehören bspw. der Besitz und die Wertschätzung eines wertvollen Bildes gleichzeitig zum kulturellen und ökonomischen Kapital. Wie schon beschrieben, lassen sich die Kapitalarten jeweils ineinander umwandeln. Einerseits gibt es bestimmte Güter oder Dienstleistungen, die mithilfe von ökonomischem Kapital erworben werden können, andererseits gibt es aber auch solche, die sich nur mithilfe eines „sozialen Beziehungs- oder Verpflichtungskapitals“ (ebd.: 195) erwerben lassen. An dieser Stelle ist Beziehungsarbeit nötig. Bourdieu geht von einer doppelten Annahme aus: Einerseits liegt das ökonomische Kapital allen anderen Kapitalarten zugrunde, andererseits können die transformierten Erscheinungsformen des ökonomischen Kapitals aber niemals ganz auf dieses zurückgeführt werden. Die Umwandlung von ökonomischem in soziales Kapital setzt allerdings Arbeit – Zeit, Aufmerksamkeit, Mühe und Sorgen – voraus und deswegen ist das beste Maß für soziales Kapital die für den Erwerb aufgebrachte Zeit. Die Möglichkeiten, eine solche Zeit aufzubringen, hängen wiederum von der Verfügung über ökonomisches Kapital ab. Wie viel nutzbare Zeit die Familie (oder das Beziehungsnetzwerk) zur Verfügung stellt, um die Weitergabe des kulturellen Kapitals zu ermöglichen und erst später in den Arbeitsmarkt einzutreten, ist abhängig davon, über wie viel ökonomisches Kapital die Familie verfügt (vgl. ebd.: 197). Diese Aspekte werden im Verlauf der Arbeit durch das Interview-Material veranschaulicht und spielen eine wichtige Rolle bei der Entscheidung für oder gegen zivilgesellschaftliches Engagement einzelner Bürger*innen.

Aufbauend auf die Annahmen von Bourdieu (1983), welche die Wichtigkeit von sozialen Verbindungen und geteilten Normen betonen, entwickelt Putnam in den beiden Werken „Making Democracy Work“ (1993) und „Bowling Alone“ (2000) eine Theorie des sozialen Kapitals, die heute als Klassiker der Sozialkapital-Forschung gilt. Putnam setzt die Theorie des sozialen Kapitals in Beziehung zur wichtigen Bedeutung von zivilgesellschaftlichen Organisationen und anderen Organisationen für politische Partizipation, Demokratie und Good Governance. Seine Theorie des sozialen Kapitals basiert auf zwei Hauptkomponenten: Sozialen Netzwerken und sozialem Vertrauen. Er definiert soziales Kapital als „connection among individuals – social networks, and the norms of reciprocity and trustworthiness that arises from them“ (Putnam 2000: 19). Soziale Beziehungen und Vertrauen als Basis für einen Konsens über Normen und Werte erzeugen demnach Möglichkeiten für bessere Koordination und Kommunikation zwischen den Akteuren, was wiederum zu besserer Kooperation führt. Damit handelt es sich um ein strukturelles Phänomen bei sozialen Netzwerken und ein kulturelles Phänomen bei sozialen Normen. Putnam beschreibt soziales Kapital weiter als „features of social life – networks, norms, and trust – that enable participants to act together more effectively to pursue shared objectives. […] Social capital, in short, refers to social connection and the attendant norms and trust.“ (Putnam 1995: 664 f.)

Laut Norris (2002: 138 ff.) bilden drei Hauptaussagen den Kern von Putnams Theorie: Erstens spielen soziale Netzwerke und soziale Normen für gesellschaftliche Kooperation, Koordination und Kollaboration eine wesentliche Rolle. Besonders Netzwerke von Freund*innen, Kolleg*innen und Nachbar*innen mit gemeinsamen Pflichten und Verantwortungen festigen dieses gesellschaftliche Zusammenspiel. Zweitens hat soziales Kapital Konsequenzen für die Demokratie insofern, als einerseits eine aktive Zivilgesellschaft soziales Kapital fördert, und andererseits soziales Kapital mit seinen Netzwerken und Normen – die aus der Zivilgesellschaft heraus entstehen – politische Partizipation und Good Governance begünstigt (vgl. ebd.: 139). In Demokratien, die reich an sozialem Kapital sind, machen wachsame Bürger*innen ihre gewählten politischen Vertreter*innen häufiger für ihre Handlungen verantwortlich und diese wiederum fühlen öfter, dass sie selbst für ihre Handlungen verantwortlich gemacht werden. Zivilgesellschaft und zivile Normen stärken so die Verbindung zwischen Bürger*innen und dem Staat, z. B. in Form von höherer Wahlbeteiligung oder dem Ermutigen zu politischen Diskussionen. Good Governance soll die Verbindung zwischen Bürger*innen und dem Staat stärken, welche wiederum die Konditionen für zivilgesellschaftliches Engagement und partizipative Demokratie fördern (vgl. Putnam 1993). Hauptaussage ist nicht, dass die Verbindung zwischen sozialem und politischem Vertrauen auf der individuellen Basis operiert, sodass soziales Vertrauen eines Individuums zu besonders hohem Vertrauen in die Regierung führt, sondern dass die Verbindung von sozialem und politischem Vertrauen auf dem gesellschaftlichen Level sichtbar wird, da Sozialkapital ein Phänomen ist, das sich in Gruppeneigenschaften, lokalen Communities und Nationen zeigt, aber nicht auf individuellem Level. Drittens ist laut Putnam (1993) ein Rückgang des sozialen Kapitals im Nachkriegs-Amerika zu beobachten, welchen er u. a. auf Entwicklungen im Bereich Technologie zurückführt, insb. im Aufstieg des Fernsehens und der Unterhaltungsindustrie als Zeitvertreib Nummer Eins in den USA. Putnam beobachtet eine Entwicklung weg von kollektiven Freizeitaktivitäten wie Kinobesuchen, Essen gehen oder ein Town Hall Meeting zu besuchen, hin zu Fernsehabenden alleine zuhause – „Bowling Alone“ (2000), eben.

Neue digitale Kommunikationsmöglichkeiten erweitern die Möglichkeiten der Kontaktaufnahme und –erhaltung mit Freund*innen und Familie, auch über große Distanzen hinweg. Many-to-many-Kommunikationsformen können dabei auch größere Netzwerke koordinieren. Folglich gibt es „gute Gründe zur Annahme, das Internet könnte zur Bildung und Aufrechterhaltung von Sozialkapital beitragen“ (Meißelbach 2009: 42).

In der Rational-Choice-Theorie bilden Downs und Olson mit „Ökonomische Theorie der Demokratie“ (1968) und „The Logic of Collective Action“ (1965) eine wichtige Grundlage für ökonomische Theorien der Politik. Downs (1968) betrachtet in seiner Theorie Akteure der Politik – Wähler*innen und Parteien – unter ökonomischen Gesichtspunkten als wären sie Anbietende und Nachfragende auf einem Markt der politischen Möglichkeiten. Olson (1965) wiederum untersucht Vereine, Verbände und andere zivilgesellschaftliche Akteure und geht der Frage nach, warum Menschen sich hier als Mitglieder einbringen, insb. wenn es um Kollektivgüter geht, von denen im Endeffekt alle Bürger*innen profitieren können. Das Menschenbild, welches solchen Ansätzen zugrunde liegt, ist das des Homo Oeconomicus, der sich bei anstehenden Entscheidungen rational verhält und abwägt, welche Handlungsoption unter dem Aspekt der Nützlichkeit für ihn die beste ist.

Ausgangspunkt der ökonomischen Theorie der Demokratie bei Downs (1968) ist die Idee der Unterscheidung zwischen privaten Motiven einer Handlung einerseits und ihrer sozialen Funktion andererseits. Dies bedeutet, „dass man die individuellen Gründe, die eine Person zu ihrem Handeln motivieren, nicht gleichsetzen darf und soll mit den daraus entstehenden gesellschaftlichen Folgen“ (Dehling/Schubert 2011: 49). Ein Beispiel: Ein Bäcker backt Brot und dieses Backen erfüllt die gesellschaftliche Funktion, etwas zur Ernährung der Gesellschaft beizutragen. Jedoch ist die individuelle Motivation des Bäckers weniger die Ernährung der Gesellschaft, als vielmehr das Verdienen eines Lebensunterhalts. Aus ökonomischer Sicht ist diese Unterscheidung nachvollziehbar, sie verlässt sich auf das Prinzip der privaten Motivation, wenn es darum geht, gesellschaftliche Funktionen zu erfüllen.

In der Politikwissenschaft ist diese Theorie jedoch umstritten. Downs (1968), der auf Ideen von Schumpeter (1942) aufbautFootnote 3, betritt hier neues Terrain. Zuvor ging man davon aus, dass politische Akteure sich mit ihren Tätigkeiten an einem Allgemeinwohl orientieren. Schumpeter (1942) und Downs (1968) sprechen sich gegen eine solche normative Aufladung aus und setzen den bisherigen Theorien eine sogenannte ‚positive Theorie der Demokratie‘ entgegen. ‚Positiv‘ meint hier jedoch nicht, wie eine Demokratie besser funktionieren würde, sondern wie sie in den Augen Schumpeters und Downs faktisch in der Realität funktioniert. Die Trennung zwischen privater Motivation und sozialer Funktion sowie der Verzicht auf normative Aussagen lassen damit einen neuen Blick auf Demokratie zu.

Es folgt ein genauerer Blick auf rationale Wähler*innen und das Paradox des Wählens. Um Wähler*innen besser zu verstehen, die laut Downs (1968) immer die Partei wählen, von der sie sich im Falle einer Regierungsübernahme den größten Nutzen erhoffen, argumentiert Downs mit dem sogenannten ‚erwarteten Parteiendifferenzial‘. Dieses setzt sich zusammen aus dem erwarteten Nutzeinkommen und künftigen Leistungen. Dabei spielt eine ausschlagende Rolle, ob und wenn ja, in welcher Höhe, Wähler*innen Kosten entstehen, wenn sie sich über Inhalte und Ziele der politischen Parteien informieren. Da das Lesen von Informationen immer mit Kosten verbunden ist, kann folglich der Fall eintreten, dass diese Kosten den Nutzenzuwachs der Wähler*innen übertreffen und sie daraufhin der Wahl fernbleiben. Es gibt jedoch auch optimistische Argumente, die der Theorie der rationalen Ignoranz widersprechen: Durch moderne ICTs sind die Informationskosten stark gesunken, verschiedenste Medien bieten nahezu kostenfrei und (vereinfacht) aufbereitet eine Vielzahl von wichtigen und aktuellen Informationen. Dass diese Aspekte für Bürger*innen bei der Entscheidung für Partizipation eine Rolle spielen, wird im weiteren Verlauf der Arbeit noch empirisch belegt.

Downs ökonomische Theorie der Demokratie (1968) formuliert ein Paradox des Wählens, welches an dieser Stelle noch einmal erläutert werden soll: Rationale Wähler*innen treffen ihre Wahlentscheidung nutzenorientiert und überlegen, welchen Nutzen sie persönlich durch den Gewinn der bevorzugten Partei erzielen können. Diese Logik gilt auch für die Entscheidung, überhaupt zur Wahl zu gehen – was Bürger*innen nach diesem Modell nur tun, wenn der Nutzen die aufzubringenden Kosten übersteigen würde. Paradox ist daran nun, dass bei der Vielzahl von Wähler*innen eine einzelne Stimme nur sehr unwahrscheinlich den entscheidenden Ausschlag für das Wahlergebnis gibt (vgl. Dehling/Schubert 2011: 63 ff.). Neben einer Vielzahl von Lösungsansätzen für dieses Paradox, scheint an dieser Stelle der Ansatz der „D-Lösungen“ (ebd.: 70 ff.) erwähnenswert. Hierbei handelt es sich um einen zusätzlichen Nutzen, der Bürger*innen durch die Teilnahme an einer Wahl entsteht – bspw. ein intrinsischer Wert – oder wie Downs (1968: 265) es ausführt: „Demokratie [ist] in gewissem Sinne eine Belohnung für die Wahlbeteiligung. Wir nennen den Teil dieser Belohnung, den der Bürger bei der Wahl erhält, seinen langfristigen Partizipationswert.“ Unabhängig davon, was Bürger*innen zu einer Wahlbeteiligung motiviert – Loyalität gegenüber des politischen Systems, langfristig gedachte Unterstützung der Demokratie oder der Spaß am Abstimmen – zeigt dieses Paradox bzw. seine Lösungsansätze, wo die Grenzen von rein ökonomischen Theorien liegen. Deswegen benötigt es Modelle, die soziologische und psychologische Faktoren mit einberechnen.

Vereine, Verbände und andere zivilgesellschaftliche Organisationen spielen in demokratischen Gesellschaften eine tragende Rolle. Politik und Politikmachende stehen unter ständigem Einwirken verschieden gebündelter Interessen, mal kleiner Gruppen, mal größerer und einflussreicherer Gruppen. Den Mitgliedern einer Organisation unterstellt man dabei häufig, dass sie gemeinsame Interessen haben und sich aus diesem Grund zusammengeschlossen haben, um gemeinsam stärker agieren zu können. Olson stellt diese scheinbare Selbstverständlichkeit in „Die Logik des kollektiven Handelns“ (1965) in Frage und untersucht Organisationsdynamiken und –zusammenschlüsse unter Hinzunahme von ökonomischen Theorien.

Ausgangspunkt seiner Theorie ist die Überlegung, dass Organisationen kollektive bzw. öffentliche Güter bereitstellen. So setzt sich Amnesty International bspw. weltweit für Menschenrechte ein, der BUND kämpft für Umwelt- und Naturschutz und der ADFC für bessere Bedingungen für Fahrradfahrer*innen. Jede dieser und andere Organisationen sind davon abhängig, dass sich Menschen mit einem Interesse an dem jeweiligen öffentlichen Gut auch für dessen Bereitstellung einsetzen. Doch profitieren können von diesen Gütern letztendlich alle, unabhängig davon, ob Mitglied der Organisation oder nicht. Aus ökonomischer Sicht ergeben sich bei solchen kollektiven Gütern Probleme, da sie zwei Eigenschaften (von marktwirtschaftlichen Gütern) nicht erfüllen: Das Ausschlussprinzip und die Rivalität im Konsum. Ersteres bedeutet, dass andere Menschen nicht daran gehindert werden können, ein bestimmtes Kollektivgut zu nutzen. Das Zweite bedeutet, dass im gleichen Moment mehrere Individuen das entsprechende Gut benutzen können und die Anzahl der Nutzer*innen somit unbeschränkt ist.

Olson (1965) unterscheidet bei der Beteiligung an der Bereitstellung von Kollektivgütern verschiedene Engagement-Stufen: Von keinem Einsatz, zu passivem oder inaktivem Mitglied, über aktiv engagiertes Mitglied bis zu sehr hohem persönlichem Einsatz. Unterscheidet man aber grundsätzlich zwischen Engagement und Nicht-Engagement, lässt sich aus Sicht des Individuums sagen, dass die Option, sich für die Bereitstellung eines Kollektivguts einzusetzen und dazu beizutragen, dass dieses Gut tatsächlich bereitgestellt wird, nicht die beste seiner Möglichkeiten ist. Am vorteilhaftesten für das rational denkende Individuum wäre es, wenn das Kollektivgut bereitgestellt werden würde, ohne dass es dafür etwas tun muss – nämlich, weil sich andere dafür engagieren. Individuen, die einer solchen Logik folgen, nennt Olson (1965) Trittbrettfahrer bzw. „free rider“. Oslon hat als Erster das Trittbrettfahrerproblem systematisch auf gesellschaftliche Organisationen übertragen.

Ein Problem von Organisationen liegt also darin, dass sich nicht alle, die theoretisch Interesse an bzw. Nutzen von einem Kollektivgut haben, in genügendem Maße an den Kosten der Bereitstellung beteiligen. Den ökonomischen Erklärungsmodellen nach beteiligen sich Individuen nur, wenn ihre individuelle Kosten-Nutzen-Rechnung eine positive Bilanz aufweist. Rechnet man aber mit ein, dass man von einem Kollektivgut bzw. dessen Nutzung nicht ausgeschlossen werden kann, müsste die Rechnung häufig negativ ausfallen. Trotzdem kommt die Trittbrettfahrerproblematik nicht gleichhäufig in Gruppen und Interessensvertretungen vor. Olson (ebd.) argumentiert, dass die Gruppengröße entscheidend ist für die Organisierbarkeit von Interessen. Gruppengröße meinte dabei alle Personen, die ein Interesse an dem jeweiligen Kollektivgut haben. Große Gruppen sind dabei schwerer zu organisieren, als kleine. Denn: Umso größer die Gruppe, umso geringer die Auswirkungen von einzelnen Inaktiven. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Möglichkeit des Trittbrettfahrens genutzt wird, ist damit folglich höher. Zweitens nimmt auch die Sichtbarkeit der Inaktivität bei einer größeren Gruppe ab und damit auch der soziale Druck in einer Gruppe, sich an den Kosten des entsprechenden Guts zu beteiligen. Drittens kann bei manchen Kollektivgütern der Nutzen für den Einzelnen abnehmen, wenn die Gruppe besonders groß ist (bspw. wird die Nutzung eines neuen Fahrradweges schwierig, wenn zu viele Menschen ihn gleichzeitig nutzen wollen). In Konsequenz heißt das, dass die individuelle Bereitschaft zur Erstellung des entsprechenden Guts abnimmt, wenn die Gruppengröße einen negativen Einfluss auf den Nutzen des Einzelnen hat. Und viertens nehmen mit einer steigenden Gruppengröße auch Organisations- und Koordinationsaufwand zu.

Neben der Größe einer Gruppe ist auch die Un-/Gleichheit von Bedürfnisintensitäten ein entscheidender Faktor für die Organisierbarkeit von Gruppeninteressen. In der Praxis profitieren häufig verschiedene Mitglieder in verschiedenem Maße von dem entsprechenden Kollektivgut, nicht alle haben einen ähnlich großen Nutzen. Diese „Ausbeutung der Großen durch die Kleinen“ (Olson 1968: 3) findet dann statt, wenn bspw. ein Gruppenmitglied häufiger Gebrauch vom entsprechenden Kollektivgut macht als andere, im Endeffekt aber beide davon profitieren. Dieses unterschiedlich stark ausgeprägte Interesse führt dazu, dass das erste Mitglied vermutlich eine positive Kosten-Nutzen-Rechnung aufstellt und sich für die Bereitstellung des Kollektivguts einbringt, obwohl es weiß, dass andere nicht aktiv werden und trotzdem von dem Gut profitieren (vgl. Dehling/Schubert 2011: 119 f). Unterschiede gibt es unter den Mitgliedern auch bzgl. ihres Veränderungspotenzials. So können einflussreiche Mitglieder weit mehr zum Erfolg beitragen als andere. Damit ist im Umkehrschluss der Druck auf diese Mitglieder höher, sich nicht der Trittbrettfahreroption hinzugeben – denn auch im Negativen hätten sie damit mehr Einfluss auf die Gruppe bzw. das entsprechende Kollektivgut.

Trotz der gerade beschriebenen Herausforderungen für die Organisationsfähigkeit von Gruppeninteressen, gibt es in der Realität weit mehr und vielfältigere Organisationen als vielleicht erwartet. Olsons (1965) Erklärung hierfür sind „selektive Anreize“. Diese Anreize sind zusätzliche Güter oder Leistungen, für die das Ausschlussprinzip gilt. Das bedeutet, sie stehen nur solchen Mitgliedern zur Verfügung, die sich im Vorfeld ausreichend an der Bereitstellung des entsprechenden Guts beteiligt haben. „Selektive Anreize dienen letztlich dazu, die Kosten-Nutzen-Kalkulation eines Individuums zu beeinflussen: Geht es darum, den Nutzen der Beteiligung zu erhöhen, spricht man von positiven selektiven Anreizen; geht es darum, die Kosten der Nicht-Beteiligung zu erhöhen, spricht man von negativen selektiven Anreizen. ‚Selektiv‘ werden die Anreize deshalb genannt, weil sie gezielt zwischen Beitragenden und Nicht-Beitragenden diskriminieren.“ (Dehling/Schubert 2011: 122) Positive selektive Anreize können z. B. Service- oder Hilfeleistungen, materielle Unterstützung, Zurverfügungstellung von Informationen oder Zugang zu bestimmten Netzwerken sein. Negative selektive Anreize erhöhen die Kosten für Nicht-Mitgliedschaft oder verhindern diese völlig. So müssen Ärzte in Deutschland bspw. verpflichtend Mitglied bei der Ärztekammer sein.

Einen weiteren Aspekt bringt Olson mit der Unterscheidung von starken und schwachen Interessen ein. Politik bzw. Politikmachenden sind auf die Artikulation von Interessen angewiesen, Interessensgruppen funktionieren folglich als Input-Lieferanten des politischen Systems (vgl. ebd.: 124). Demnach ist es kritisch anzusehen, wenn einige Gruppen aufgrund ihrer Gruppengröße und/oder Organisationsfähigkeit mehr Einfluss ausüben als andere. Doch wann gelten Interessensgruppen als stark und wann als schwach? Hier spielen weitere Faktoren eine Rolle, bspw. die Frage, ob die betroffenen Personen überhaupt erkennen, dass sie ein gemeinsames Interesse mit anderen betroffenen Personen teilen. Ist dies nicht oder kaum ausgeprägt der Fall, ist eine zentrale Organisationsvoraussetzung nicht erfüllt. Auch die Höhe der Organisationskosten spielt eine Rolle. Sind die Mitglieder geografisch weit voneinander entfernt, sind Treffen teurer und aufwendiger. Dieser Aspekt spielt bspw. bei der Entscheidung für oder gegen die Teilnahme an einer Straßendemo eine Rolle.

Sozial-strukturelle Ansätze

Verba/Nie/Kim (1978) bzw. Verba/Schlozman/Brady (1995) haben verschiedene Ressourcen-Modelle zur Erklärung von politischer Partizipation entwickelt. In „Participation in America. Political Democracy and Social Equality“ haben Verba und Nie (1972) ein Modell zur Erklärung der Abhängigkeit von Partizipation von der entsprechenden Ressourcenausstattung eines Individuums vorgestellt, es in „Participation and Political Equality“ (1978) weiterentwickelt und in „Voice and Equality – Civic Voluntarism in American Politics“ (1995) dann als Civic Voluntarism Model (CVM) präsentiert. Dieses Modell gilt bis heute als eines der wichtigsten Grundlagenmodelle für die Erklärung von politischer Partizipation. Das CVM spielt für die vorliegende Arbeit eine tragende Rolle, da es sowohl sozio-ökonomische als auch psychologische Faktoren einbezieht und damit die Grundlage der im Anschluss folgenden Analyse bildet. Ursprünglich für die Partizipationsforschung im Zusammenhang von Wahlen entwickelt, kann das CVM jedoch auch im Zusammenhang mit Sozialen Bewegungen (vgl. Barkan 2004; Han 2009; Kern/Marien/Hooghe 2015) oder Online-Aktivismus (vgl. Kim/Khang 2014) betrachtet werden.

Im Modell von 1972 betonen Verba und Nie (1972: 13) insb. die Ressourcen eines Individuums und erklären: „According to this model, the social status of an individual – his job, education, and income – determines to a large extent how much he participates. It does this through the intervening effects of a variety of ‘civic attitudes’ conducive to participation: attitudes such as a sense of efficacy, of psychological involvement in politics and a feeling of obligation to participate.“ Einstellungen und psychologische Aspekte werden in dieser Version des Modells zwar schon erwähnt, spielen aber keine so große Rolle wie in späteren Versionen. Verba und Nie haben 1972 eine erste empirische Typologie von sechs verschiedenen Partizipationsmodi entwickelt, basierend auf verschiedenen Aktivitäten oder dem Ausbleiben von Aktivitäten. Seyd und Whiteley (2002: 38) fassen diese Typen folgendermaßen zusammen: „There are, first, the inactives, who as the name suggests do little or nothing; second, the voting specialists, who vote regularly but do nothing else; third, the parochial participants, who contact officials in relation to specific problems but are otherwise inactive; fourth, the communalists, who intermittently engage in political action on broad social issues but are not highly involved; fifth, campaigners who are heavily involved in campaigns of various kinds; and, finally, the complete activists, who participate in all kinds of activities.“

Das Modell von 1978 betont wiederum insb. die Unterscheidung zwischen Ressourcen eines Individuums und Ressourcen einer Gruppe (Verba/Nie/Kim 1978: 10 ff.). In einem Sieben-Länder-Vergleich zeigen die Autoren auf, dass eine Organisation bzw. ihre Ideologie durch Gruppenzusammenschlüsse ressourcenschwache Individuen zu ressourcenstarken Individuen machen kann.

Das CVM von 1995 vereint alle bisherigen Komponenten und berücksichtigt individuelle Ressourcen, Fragen der Einstellung und ebenso das Netzwerk. Verba/Schlozman/Brady (1995: 269) fragen dabei nicht, warum Individuen sich einbringen, sondern warum sie es nicht tun: „[…] one helpful way to understand the three factors is to invert the usual question and ask instead why people do not become political activists. Three answers come to mind: because they can’t; because they don’t want to; or because nobody asked. In other words people may be inactive because they lack resources, because they lack psychological engagement with politics, or because they are outside of the recruitment networks that bring people into politics.“

Das CVM hat folglich die drei grundlegenden Komponenten „resources“, „(psychological) engagement“ und „recruitment“, sowie die zusätzliche Komponente „issue engagements“ (ebd.: 269 ff.). Diese Komponenten werden im Folgenden detailliert beschrieben, da sie eine wichtige Grundlage für die anschließende Analyse sind.

Die erste Komponente befasst sich mit Ressourcen wie Zeit, Geld, Kommunikations- und Organisations-Skills und Bildung. Je höher der Bildungsgrad und die Qualifikation, desto höher ist in der Regel das Einkommen. Individuen mit einem höheren sozioökonomischen Status sind mit größerer Wahrscheinlichkeit politisch engagiert. Die Autoren nennen Zeit und Geld als wichtigste Faktoren für politische Aktivität: „Money and time are the resources expended the most directly in political activity. It is impossible to contribute to a campaign or other political cause without some discretionary income. Similarly, it is impossible to write a letter to a public official, attend community meetings, or work in a campaign without free time to do so.“ (ebd.: 289) Neben Zeit und Geld beeinflussen auch Bildung, Organisations- und Kommunikationsfähigkeiten die Wahrscheinlichkeit für politische Partizipation. Denn wer diese Fähigkeiten besitzt, muss weniger Zeit und Aufwand investieren, um sich effektiv einzubringen: „Citizens who can speak or write well or who are comfortable organizing and talking part in meetings are likely to be more effective when they get involved in politics. Those who possess civic skills should find political activity less daunting and costly and, therefore, should be more likely to take part.“ (ebd.: 304) Dabei spielen Bildung und Sprache wiederum eine ausschlaggebende Rolle, denn die Fähigkeit zu Sprechen und zu Schreiben wird meist in der Schule erlangt. Bildung erleichtert außerdem den Zugang zu Informationen (über Politik) und ermutigt einen „sense of civic responsibility or political efficacy that predispose an individual to political involvement“ (ebd.: 305). Zusätzlich fördert Bildung Aktivitäten indirekt dadurch, dass Personen mit hohem Bildungsstand größere Chancen auf lukrative Jobs haben, in denen sie die Möglichkeit haben, auch Führungsqualifikationen zu entwickeln, welchen wiederum politisch relevante Fähigkeiten (auf der Arbeit, in einer Organisation oder anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren) fördern.

Die zweite Komponente Psychological Engagement bezieht sich auf die Einstellung des Individuums zu anderen Bürger*innen und zu Politik. Dies beinhaltet ein generelles Interesse an politischen Themen, den Glaube, dass das eigene Engagement den politischen Willensbildungsprozess beeinflussen kann und ein Gefühl von Vertrauen in Politiker*innen und andere Bürger*innen. Die Autoren nennen diesbezüglich die Dimensionen „political interest, political efficacy, political information, and partisanship“ (Verba/Schlozman/Brady 1995: 345). Je positiver die Einstellung des Individuums bzgl. dieser Aspekte ist, desto wahrscheinlicher engagiert es sich zivilgesellschaftlich. Diese Aspekte werden ausführlich in Abschnitt 5.2 „Bürgerschaftsverständnis“ dargestellt, da sie für die dortige Analyse relevant sind.

Die dritte Komponente des CVM Rekrutierung bezieht sich auf das Netzwerk von Freund*innen und Kolleg*innen eines Individuums (ebd.: 369 ff.). Solche Netzwerke finden sich im Umfeld von Arbeitsplätzen, in Vereinen oder Organisationen und auch Glaubensgemeinschaften. Einige Bürger*innen wären vielleicht in der Lage und gewillt sich politisch zu engagieren, wurden aber noch nie gefragt. Individuen, die in solche Netzwerke eingebunden sind, sind mit größerer Wahrscheinlichkeit bereit, sich für politischen Aktivismus rekrutieren zu lassen. Sie werden vielleicht von einem Freund oder einer Kollegin gefragt, ob sie an einer Protestaktion teilnehmen oder einer zivilgesellschaftlichen Organisation beitreten wollen. Außerdem ergeben sich in solchen Gruppen Gelegenheiten, in denen (über einen Kandidierenden oder eine Entscheidung) abgestimmt werden muss und anderweitig zu (politischen) Aktivitäten aufgefordert wird. Ganz informell kommen Bürger*innen so dann mit Politik in Berührung: „These institutions bring citizens into politics in another way as well – by exposing them to political cues, even in the context of endeavors having no connection to politics.“ (ebd.: 370) Ob in der Mittagspause, nach dem Gottesdienst oder beim Fußballspiel – wenn Menschen sich über Politik unterhalten, und eventuell von anderen angeregt werden, steigt die Wahrscheinlichkeit für Aktivismus.

Neben diesen drei grundlegenden Komponenten fügen Verba/Schlozman/Brady (ebd.: 391 ff.) dem Model noch eine letzte ‚Zutat‘ hinzu: Themenspezifisches Engagement. Individuen sorgen sich eher um ein bestimmtes Thema, wenn sie selbst vom entsprechenden Thema betroffen sind oder ihre moralischen oder politischen Wertvorstellungen dazu führen, dass sie sich sorgen, unzufrieden oder wütend sind. Deshalb sind jene Bürger*innen involvierter, die von den entsprechenden Themen betroffen sind. Die bisherigen Komponenten erklären Partizipation eher auf der Basis von einer generellen Orientierung, diese vierte und letzte Komponente fügt nun noch einen bestimmten Themen- oder Situationsbezug hinzu. „Even the various forms of political engagement – political efficacy, political information, and especially, political interest – are general orientations, not concerns about particular issues. […] we move beyond these general political orientations to investigate the independent role in motivating activity played by the policy concerns that arise from citizens’ differing needs and preferences – what we shall call ‘issue engagements’.“ (Verba/Schlozman/Brady 1995: 391) Die Autoren unterscheiden bei themenspezifischem Engagement zwischen solchem, das daraus resultiert, dass ein Individuum von der Politik bzw. bestimmten Entscheidungen der Regierung direkt betroffen ist und solchen, die auf Moralvorstellungen begründet sind. Beispiele für ersteres wären Änderungen in Gesetzen, die eine Bürgerin als Autofahrerin oder Mutter zweier Schulkinder betreffen würden. Tiefes und moralisch verknüpftes themenspezifisches Engagement basiert häufig auf kulturellen Werten oder Überzeugungen, die sich in Bürgerrechten, der Friedensbewegung oder dem Umweltschutz manifestiert haben (vgl. ebd.: 392 f.).

Obwohl das CVM großes Ansehen genießt und in der politischen Partizipationsforschung eines der meistzitierten Modelle ist, lassen sich auch Schwachstellen ausmachen. Seyd und Whiteley (2002) kritisieren u. a., dass das Model nicht erklären kann, warum eine Vielzahl von Individuen mit hohem sozio-ökonomischen Status trotzdem nicht partizipiert. In einer Gruppe von sehr aktiven Teilnehmer*innen sind zwar diejenigen mit hohem sozio-ökonomischen Status überrepräsentiert, doch kann das Modell nicht erklären, warum sich ein Großteil weiterhin nicht engagiert. Das Paradox lautet also: „If socioeconomic status is such an important determination of political participation, then societies that are gradually becoming more middle class and better educated over time should experience increased rates in participation […] However, there is no evidence of increased political participation in these countries.“ (ebd.: 39) Ein zweiter Kritikpunkt wird von Verba/Schlozman/Brady (1995:281) selbst genannt; eine fehlende Verbindung zwischen sozialem Status und Aktivitäten: „The SES model is weak in its theoretical underpinnings. It fails to provide a coherent rationale for the connection between the explanatory socioeconomic variables and participation. Numerous intervening factors are invoked – resources, norms, stake in the outcome, psychological involvement in politics, greater opportunities, favorable legal status, and so forth. But there is no clear specified mechanism linking social status to activity.“ Laut Seyd und Whiteley (2002) schlagen Verba/Schlozman/Brady vor, den Fokus auf allgemeine Ressourcen wie zur Verfügung stehende Freizeit und Geld zu legen, doch auch dann lasse sich nicht erklären, warum ein Individuum seine freie Zeit und das Geld für zivilgesellschaftliches Engagement ausgeben solle, anstatt bspw. für Urlaub, Sport oder Erholung. Hauptproblem des Modells sei sein ausschließlicher Fokus auf die Angebots-Perspektive, ohne Berücksichtigung der Nachfrage-Perspektive: „the key problem […] is that it focuses exclusively on the supply side of the equation and neglects the demand side aspects. Thus individuals supply more participation if they have the resources or a psychological sense of efficacy. What is missing is any understanding of why individuals have a demand for participation, of what incentives they have to get involved in politics.“ (Seyd/Whiteley 2002: 40). Viele Individuen mit hohem sozioökonomischem Status hätten solche Anreize nicht und würden deshalb nicht partizipieren.

Bei der Betrachtung bisheriger Theorien und Ansätze wird deutlich: Es fehlen konkrete und individuelle Motive und eine Analyse der Anreize für zivilgesellschaftliches Engagement. Dieser Frage will wiederum die vorliegende Arbeit nachgehen. Was genau motiviert Bürger*innen – einige davon mit hohem sozioökonomischem Status, andere wiederum nicht – ihre Ressourcen in Partizipation zu investieren? Ein im CVM nicht berücksichtigter Aspekt ist der der Technik- und Social Media-Kenntnisse, welche in der gegenwärtigen Protestlandschaft für einige (digitale) Partizipationsformen jedoch benötigt werden. Weiterhin fehlen im CVM Ausführungen dazu, was bei Überreizung der individuellen Ressourcen geschieht. Denn auch unter Aktivist*innen ist das Phänomen ‚Burnout‘ nicht unbekannt.

Neben Ressourcen spielen Bürgerschafts- und Mitgliedschafts-Verständnisse und Fragen nach der Effizienz von Engagement eine wichtige Rolle bei der Entscheidung für oder gegen (Protest-)Partizipation. Ebenso gegenwärtige Motivationen und (häufig erziehungsbedingte) Ursprungsmomente für zivilgesellschaftliches Engagement. Diese Aspekte werden in späteren Unterkapiteln ausführlich betrachtet. An dieser Stelle folgt nun zuerst eine Analyse der den Interview-Partner*innen zur Verfügung stehenden Ressourcen als Voraussetzung für zivilgesellschaftliches Engagement.

5.1.2 Ich wünschte mir, ich hätte noch mehr Zeit für die Politik.“ – Die Wichtigkeit von Ressourcen für zivilgesellschaftliches Engagement

Kategorie „Ressourcen“

„Ich wünschte mir, ich hätte noch mehr Zeit für die Politik. Aber ich muss halt leider auch Geld verdienen […].“ (Sonja) – Zeit und Geld als wichtigste Ressourcen

Übereinstimmend mit sozio-ökonomischen Ansätzen und dem CVM nennt auch der Großteil der Interview-Partner*innen Zeit und Geld als grundlegende Ressourcen für zivilgesellschaftliches Engagement. Sich für etwas einzubringen kostet Zeit, kann – meist – nicht während der Arbeitszeit erledigt werden und fällt somit auf die private Zeiteinteilung. Zeit und Geld beeinflussen sich als Ressourcen gegenseitig, denn wer Zeit für Engagement aufbringt, kann in dieser Zeit kein Geld verdienen und nur wer ausreichend Geld verdient, kann es sich leisten, Zeit für Engagement aufzubringen. Olaf formuliert dieses Zusammenspiel folgendermaßen: „Na ja, es gibt ja zwei wichtige Ebenen […]. Also, die eine wichtige ist natürlich überhaupt die Zeit und dann die finanzielle. Das heißt, wenn ich mich ehrenamtlich engagiere, kriege ich ja kein Geld dafür. Und vielleicht könnte ich ja sonst eben mehr für Geld arbeiten und dann hätte ich im Monat mehr in der Tasche. Das ist natürlich eine Sache, die sich alle Leute überlegen müssen, die ehrenamtlich tätig sind.“ (Olaf, Z. 283 ff.) Dass Zeit als eine der wichtigsten Ressourcen eingeschätzt wird, ruft bei vielen Aktiven den Wunsch hervor, mehr davon zu besitzen. Doch der Druck, Geld verdienen zu müssen und auch anderen Verpflichtungen wie der Familie nachzukommen, ist hoch. Sonja erzählt dazu: „Ich wünschte mir, ich hätte noch mehr Zeit für die Politik. Aber ich muss halt leider auch Geld verdienen und natürlich möchte ich auch Zeit für die Familie haben. Jetzt wo die Kinder groß sind, ist es auf jeden Fall einfacher.“ (Sonja, Z. 439 ff.) Hier zeichnet sich bereits ab, was die Ressourcen Zeit und Geld in Konsequenz bedeuten: Nämlich auch die Frage nach der Vereinbarkeit von Engagement mit Familie und Beruf. Dieser Aspekt wird anschließend ausführlicher thematisiert. Zuerst liegt der Fokus weiterhin auf den Ressourcen Zeit und Geld. Beides hält auch Sven für die wichtigsten Ressourcen und plädiert deshalb für mehr bezahlte Stellen in Organisationen, wie bspw. dem BUND. Ehrenamtliche wie er seien ausgelastet und am Ende hinge es nun mal an Zeit und Geld. Mehr Festangestellte in Organisationen könnten die Ehrenamtlichen entlasten, damit einen Motivationsschub auf Ebene der Freiwilligen auslösen und würde in Konsequenz den Handlungsspielraum der Organisation erweitern. Um mehr Festangestellte einstellen zu können, müssten Organisationen aber über höhere finanzielle Ressourcen verfügen bzw. mehr finanzielle Ressourcen für Personal ausgeben.Footnote 4

„Ich bin den ganzen Tag alleine zuhause.“ (Daniela) – Rentner*innen und Selbstständige mit großzügigen und flexiblen Zeitressourcen

Die kostbare Ressource Zeit haben in größerem Umfang insb. die Menschen zur Verfügung, die noch vor Beginn ihres Arbeitslebens stehen oder dieses schon geleistet haben. In Organisationen wie dem BUND ebenso wie in ParteienFootnote 5 liegt der Altersdurchschnitt oft deutlich über dem der deutschen Bevölkerung. Neben Zeit haben Rentner*innen durch die Zahlung der Rente – wenn auch häufig nicht viel – Geld zur Verfügung, welches sie ohne die Gegenleistung einer Arbeit erhalten. Daraus resultiert, dass ein Großteil der (beim BUND) Aktiven im Rentenalter ist und die dann zur freien Verfügung stehende Zeit für zivilgesellschaftliches Engagement nutzt. Für Valeria ist es eine logische Konsequenz, die Zeit nach dem Arbeitsleben in dieser Form zu verbringen: „Ja, einfach nochmal zu zeigen, und da habe ich das Gefühl, man muss an einem Wochentag wo wirklich die jungen Menschen ihrem Beruf nachgehen, also wenn der Rentner keine Zeit hat und da nicht hingeht, dann ist das strafbar für mich. Ja, da muss ich da sein.“ (Valeria, Z. 437 ff.) Über eine eventuelle Pflicht, sich zu engagieren, wird ausführlich in Abschnitt 5.2 zum Thema Bürgerschaft und Selbstverständnis der Aktiven eingegangen.

Wer im höheren Alter über viel Zeit verfügt, kann neben dem Engagement in einer Organisation wie dem BUND jedoch auch eine eigene Initiative gründen. Dazu sind weitere Ressourcen – wie das nötige Netzwerk, Know-how, Organisations-Skills und Ähnliches – nötig. So hat Günter (66 Jahre, studierter Wirtschaftsingenieur) nach dem Berufsleben ein Nachhaltigkeitsinstitut gegründet. Auch die anderen Institutsmitglieder sind alle in Rente und ähnlich wie Günter Fachmänner und –frauen aus dem Bereich Nachhaltigkeit.

Neben Rentner*innen, die über die meiste Zeit verfügen, sind auch Studierende und Selbstständige in der Situation, dass sie zumindest freier als manch andere Arbeitnehmer*innen über ihre Zeiteinteilung verfügen können. So auch Sven, der als Programmierer selbstständig ist und von zuhause arbeitet. Er beschreibt sowohl die Möglichkeit, zwischendurch etwas machen zu können, das nicht zur regulären Arbeit gehört, als auch unter der Woche tagsüber an Protestaktionen teilnehmen zu können.Footnote 6 Als Selbstständiger verfügt Sven über freie Zeiteinteilung, er hat Aufgaben, die er erledigen möchte, dies jedoch tun kann, wann es ihm gut passt. Er spricht von einer klaren Einteilung, andererseits aber auch davon, etwas zwischendurch machen zu können. Ähnlich geht es Daniela, die ebenfalls von zuhause arbeitet und flexibel mit ihrer Zeit umgehen kann. Auch sie spricht die Vereinbarkeit von Engagement und Familie an: „Ich bin den ganzen Tag alleine zuhause. Meine Kinder sind erwachsen. Ich kann mir das jetzt erlauben.“ (Daniela, Z. 746 ff.) Sie arbeitet genau wie Sven größtenteils am Computer, ist aber – anders als Sven, der viel an Straßenständen und Protestaktionen teilnimmt – fast ausschließlich mit Online-Aktivismus bzw. ihrer Webseite beschäftigt.

„Dann habe ich mich halt eben mehr engagiert und weniger studiert.“ (Sarah) – Arbeit oder Studium für das Engagement zurückstellen

Um neben anderen Verpflichtungen genug Zeit für zivilgesellschaftliches Engagement zu finden, haben einige Interview-Partner*innen ihre persönliche Strategie gefunden: Die bewusste Entscheidung für eine Teilzeit-Stelle, Altersteilzeit im Blockmodell oder das Studium geplant nicht in Regelstudienzeit zu beenden, sondern explizit weniger zu studieren. Sarah, die schon seit einiger Zeit im Berufsleben steckt, erinnert sich an ihre Studienzeit: „Und ich weiß ja, damals als ich studiert habe, das ging ja schon auch auf Kosten des Studiums. Dann habe ich mich halt eben mehr engagiert und weniger studiert. Und dann nochmal ein Urlaubssemester gemacht. Und irgendwann habe ich dann gesagt: So, jetzt ist mal Schicht, jetzt muss ich meine Diplomarbeit schreiben und das mal abschließen.“ (Sarah, Z. 670 ff.) Ob sie aus finanziellen Gründen, persönlichen Ansprüchen oder anderen Motiven dann das Gefühl hatte, das Studium beenden zu müssen, blieb im Interview offen. Ähnlich ergeht es Kilian, der sich nach zwei Jahren in seinem Bachelorstudium bewusst gegen die Regelstudienzeit entschieden hat, da er ein Vollzeitstudium als zu stressig und nicht kompatibel mit anderen Interessen empfunden hat.Footnote 7

Helena und Sarah beschreiben vergleichbare Situationen. Helena arbeitet 30 Stunden in der Woche und ist nach eigenen Aussagen 30 weitere Stunden ehrenamtlich beim BUND aktiv. Sarah arbeitet mit einer halben Stelle beim BUND und versteht die Aktivitäten mit ihren Bienen und dem Garten als zweite halbe Stelle. Helena begründet ihren Lebensstil u. a. damit, dass sich in ihrer Branche – der Pharmazie – Teilzeitstellen gut umsetzen ließen. Außerdem schrecke sie ab, wie viel die Kolleginnen und ihr Chef arbeiten. Da sie mit dem verdienten Geld auskomme, wolle sie nicht mehr arbeiten, sondern stattdessen diese Zeit in Engagement investieren – in Engagement, das ihr gleichzeitig auch Spaß mache. „Aber ich sehe das bei meinen Kollegen, ich nehme mir das ganz bewusst, dass ich sage: Ich habe 30 Stunden und diese 30 Stunden, die reichen mir, um das Geld zu verdienen, was ich brauche. Nie im Leben wollte ich so wie mein Chef 70 Stunden oder meine Kolleginnen 40 Stunden. […] Das ist nicht mein Lebensentwurf. Ich möchte wirklich Zeit haben, um mich außerhalb des Arbeitslebens noch zu engagieren. Zum einen, weil es mir Spaß macht, ich mache ganz klar wirklich nur Sachen, die mir Spaß machen, gebe ich zu.“ (Helena, Z. 331ff.) Helena wägt ab, was für sie persönlich Lebensqualität bedeutet. Sie entscheidet sich bewusst für weniger Geld und mehr Freizeit, Engagement und Spaß. Der Spaßfaktor als Motivation wird in Abschnitt 5.3 „Emotionen und Affekte“ ausführlich beleuchtet.

„[…] dieses Hin- und Hergerissen-Sein zwischen Beruf und Politik […].“ (Sonja) – Fehlende Zeit für mehr Engagement

Viele der Interview-Partner*innen sind beim BUND und/oder bei Campact und zusätzlich noch bei anderen Initiativen oder Verbänden engagiert. Aus den Interviews geht hervor, dass sich gerade diese engagierten Bürger*innen wiederum wünschen, noch mehr machen zu können. Sie kennen sich im Feld ihres Engagement-Bereichs gut aus, besitzen häufig Fachwissen und wissen um die Missstände, gegen die sie sich engagieren. So haben in den Gesprächen sechs Interview-Partner*innen betont, dass sie gerne mehr machen würden, ihnen jedoch die Zeit für mehr Aktionen fehle. Häufig geht die beschriebene fehlende Zeit auf berufliche Verantwortungen zurück. Sonja beschreibt es sogar als „Hin- und Hergerissen Sein“ zwischen der Arbeit und dem Engagement: „Ich würde gerne mehr lesen, vor allem auch Klimaretter und so, aber ich komme halt oft nicht dazu. Das ist eben wie gesagt dieses Hin- und Hergerissen Sein zwischen Beruf und Politik […].“ (Sonja, Z. 738 ff.) Auch Gerd erfährt diesen inneren Kampf, wenn er sich zwischen Terminen als stellvertretender Landrat und einer Protestaktion entscheiden muss. Für ihn ist zwar klar, dass er sich an Protestaktionen beteiligen möchte, die seiner politischen Einstellung entsprechen, doch häufig muss er dafür dann andere Verpflichtungen absagen.Footnote 8 Da Gerd schon in Rente ist und keinem Arbeitsverhältnis im klassischen Sinne nachgeht, ist es bei ihm mehr eine Entscheidung zwischen dem einen Ehrenamt und dem anderen Engagement, als zwischen Beruf und Engagement.

„Es geht ja Familienzeit bei drauf.“ (Gerd) – Vereinbarkeit von Familie oder Beruf mit Engagement

Das CVM von Verba/Schlozman/Brady (1995: 294 f.) berücksichtigt (Zeit)-Ressourcen im Hinblick auf das Zusammenspiel von bezahltem Arbeitsverhältnis und Engagement und stellt darüber hinaus fest, dass Engagement besonders erschwert wird, wenn sich kleine Kinder im Haushalt befinden. In Familien mit kleinen Kindern bleibt neben der Versorgung dieser Kinder und einem Arbeitsverhältnis oft nicht viel Zeit für zivilgesellschaftliches Engagement.

Bei der Frage nach Vereinbarkeit von Engagement mit Familien und/oder Beruf gehen die Meinungen der Interview-Partner*innen stark auseinander. Nur wenige halten die verschiedenen Lebensbereiche für miteinander kombinierbar, laut Kilian und Julia sind bspw. eine bewusste Entscheidung für das Engagement und eine entsprechende Priorisierung nötig. Geld und Zeit sind auch bei der Frage nach Familie, Beruf und Ehrenamt ausschlaggebende Faktoren, wie Mareike und Olaf beschreiben. Sven und Helena gehen wiederum so weit, dass sie sagen, die drei Bereiche seien nur extrem schwierig miteinander kombinierbar. Drei der jüngeren Interview-Partner*innen gehen noch einen Schritt weiter und fordern ein neues Arbeitszeitmodell, das explizit Zeit für Engagement vorsieht, Arbeit gerechter verteilt und sich die Automatisierung von Arbeitsabläufen zunutze macht.

Die beiden grundlegenden Ressourcen Zeit und Geld spielen auch bei der Frage nach der Vereinbarkeit von Engagement mit Familie und Beruf eine wichtige Rolle. Mareike schlussfolgert, dass es für Personen mit Familie schwierig sei, zu weit entfernt stattfindenden Veranstaltungen zu fahren, sei es wegen der Zeit oder auch, weil man aus finanziellen Gründen zwölf Stunden am Tag arbeiten müsse. Alleine könne man hingegen auch weiter fahren.Footnote 9 Olaf (Z. 289 ff.) betont insb. den Zeit-Faktor und beschreibt, wie Kinder abends und am Wochenende versorgt werden müssten und dass in seiner Ortsgruppe vom BUND folglich kaum Leute wären, die Kinder hätten oder deren Kinder noch im gleichen Haushalt wohnten. Diejenigen, die sich mit viel Zeit im BUND einbringen, können Olafs Beschreibung nach keine Kinder im Haushalt mitversorgen. Nur bei größeren Kindern, lasse sich Engagement mit Familie dann wieder besser vereinbaren.

Gerd kommt folglich zu dem Ergebnis, dass Engagement phasenweise besser und schlechter mit Familie und Beruf vereinbar sei, grundsätzlich aber schon. In einer Familien-Phase habe auch er aus guten Gründen weniger Zeit für Engagement gehabt. Die Zeit, die er mit seinem Ehrenamt verbringe, würde in Konsequenz von der Familienzeit abgehen: „Und es geht ja immer auch Zeit dabei drauf. Es geht ja Familienzeit bei drauf. Die Zeit, die wir jetzt hier sitzen, die geht meinem Enkel, meiner Tochter, meinem Sohn oder wem auch immer verloren.“ (Gerd, Z. 240 ff.) Grundsätzlich spricht sich Gerd für eine Vereinbarkeit aus, spricht dabei auch aus eigener Erfahrung und räumt kurz darauf aber ein, dass auch er Abstriche machen musste, insofern als er seiner früheren Frau versprechen musste, zu Berufszeiten nicht auch noch ehrenamtlich in die Politik zu gehen.

Im Idealfall entspricht die Engagement-Zeit gleichzeitig der Familien-Zeit. Gerd beschreibt seine Familie als eine der wenigen Familien in seiner Fraktion der Grünen, in der die Kinder das Engagement der Eltern unterstützen und für richtig halten und ihn sogar das ein oder andere Mal bei Protestaktionen begleiten: „[…] meine Frau geht dann auch mal mit zu Demonstrationen, obwohl sie beruflich ganz viel zu tun hat und mein Enkel geht mit, meine Tochter geht mit, mein Sohn geht mit – also, die tragen das auch mit, die sind auch alle Mitglied der Grünen Partei. Das ist also eine der wenigen Familien in denen das gelungen ist. Also alle anderen Grünen sagen: ‚Nee, also meine Kinder, die sagen: Bloß nichts mit den Grünen.‘ Die Eltern waren nie da und so. Und das ist bei uns genau umgedreht.“ (Gerd, Z. 249 ff.) Nichtsdestotrotz fühlt sich aber auch Gerd – wie schon beschrieben – manchmal in einer Zwickmühle, wenn er sich zwischen einer Protestaktion und Verpflichtungen als stellvertretender Landrat entscheiden muss.Footnote 10

Kilian und Julia sprechen sich für eine Vereinbarkeit aus, merken jedoch an, dass es einer bewussten Entscheidung bedarf und die Prioritätensetzung zugunsten des Engagements ausfallen muss. Neben anderen Freizeitgestaltungen wie Sport oder Musik, gäbe es so viele schöne Sachen, die man machen könne und da fällt es Kilian (Z. 428 ff.) schwer, sich nur auf wenige Dinge zu konzentrieren. Ist man in einer selbstbestimmten Situation wie während des Studiums, hält Kilian es für möglich, Engagement mit anderen Lebensbereichen zu verbinden, doch mit einer 40-Stunden-Woche sei es schwieriger. Auch Julia kennt das Gefühl, vieles gleichzeitig zu machen, spricht dabei aber nur von ihrer Erfahrung zu Schul- oder Studienzeiten. Sie habe ihre Prioritäten so gesetzt und sei daran gewöhnt. „[…] das ist halt irgendwie so eine Entscheidung, was so Priorität hat. […] Also, ich bin total dran gewöhnt, dass neben der Schule damals oder jetzt neben dem Studium einfach noch voll viele andere Baustellen zu laufen haben. Und da finde ich, geht das eigentlich dann schon ganz gut.“ (Julia, Z. 50 ff.) Beide Interview-Partner*innen sind zum Zeitpunkt des Interviews noch Studierende. Obwohl sowohl Julia als auch Kilian durch ihren Studierendenstatus keinen hohen ökonomischen Status besitzen, unterstreichen diese Aussagen die These von Seyd und Whiteley (2002:39), dass Modelle wie das CVM nicht erklären können, warum eine Vielzahl von Individuen mit hohem sozio-ökonomischen Status trotzdem nicht partizipiert. Denn sie veranschaulichen, dass Bürger*innen mit hohem Sozialkapital und vielfältigen Interessen oft mehreren Projekten nachgehen und ihre Zeit nicht ausreicht, um alles unterstützen zu können, was sie vielleicht gern unterstützen würden.

Helena (Teilzeitjob in einer Apotheke) und Sven (selbstständiger Software-Entwickler) halten die Bereiche Engagement, Beruf und Familie für nicht oder nur schwer miteinander vereinbar. „Grausam. Das ist extrem schwierig. Und da muss die Familie entweder mitmachen oder extremes Verständnis aufbringen. Und da kenne ich hier im Umfeld sehr viele Beispiele und auch sehr viele Beispiele von extremen Aktiven aus der Anfangszeit, die dann irgendwann gesagt haben: ‚Nee, meine Familie geht vor.‘“ (Sven, Z. 350 ff.) In seinem Bekanntenkreis haben viele Aktive ihr Engagement nach einiger Zeit wieder runtergefahren und den Fokus mehr auf die Familie gelegt. Svens Meinung nach müsse eine Familie entweder extrem viel Verständnis aufbringen oder – ähnlich zu Gerds Situation – sich ebenfalls engagieren. Er selbst sehe die Gefahr, dass das Umfeld daran auch kaputt gehen könne und kenne keinen Fall, in dem eine ganze Clique oder Familie das Engagement gemeinsam betreibt.Footnote 11 Auch Helena findet es schwierig einen Vollzeitjob mit Engagement zu verbinden und kann aus der Erfahrung ihres Ortsverbandes sagen, dass es kaum berufstätige Frauen gibt. Für sie war es früher eine Entscheidung zwischen Arbeit und Kindern und ist es heute eine ganze bewusste Entscheidung für eine Teilzeitstelle. „Vollzeitjob finde ich ganz schwierig mit politischem Engagement zu verbinden. […] Ich finde für mich habe ich eine total gute Lösung gefunden, ja. Es ist auch einfach dadurch bedingt, dass ich jetzt nicht so die großen finanziellen Ansprüche stelle. […] Und ich bin auch endlos dankbar, dass ich diese Zeit einfach zuhause bleiben konnte bei meinen Kindern. Das möchte ich um nichts in der Welt missen. […] Ich finde es heute, die Situation für so junge Frauen, das ist eine Katastrophe. Das ist eine echte Katastrophe, das irgendwie unter einen Hut zu kriegen. Finde ich echt schwierig. Und dann sollst du auch noch ehrenamtlich was machen!“ (Helena, Z. 352 ff.) Dass sie selbst mit der Teilzeitstelle zufrieden ist, schreibt Helena ihren geringen finanziellen Ansprüchen zu. Nach ihrem Berufseinstieg hat sie sich dann im Alter von 30 Jahren explizit für das Daheimbleiben und Kinderaufziehen entschieden. Die heutige Situation von jungen Frauen beurteilt sie als sehr schwierig.

Diese Aussagen zur Vereinbarkeit von Familie oder Beruf mit Engagement veranschaulichen Bourdieus (1983: 197) These, dass die Umwandlung von ökonomischem in soziales Kapital Arbeit voraussetzt und deswegen die aufgebrachte Zeit das beste Maß für soziales Kapital ist. Die Möglichkeiten, diese Zeit aufzubringen, hängen wiederum vom ökonomischen Kapital ab. Denn wer bspw. einen gut bezahlten Job hat, kann sich in der Freizeit ehrenamtlich engagieren. Geld und Zeit bleiben damit auch bei der Frage nach Familie, Beruf und Ehrenamt ausschlaggebende Faktoren.

„[…] weil mir das Geld fehlt, ehrlich gesagt.“ (Felix) – Ausreichende vs. geringe finanzielle Ressourcen

Nachdem Zeit und Geld sowohl im CVM (Verba/Schlozman/Brady 1995) als auch von den Interview-Partner*innen selbst als wichtigste Ressourcen genannt wurde und die Ressource Zeit im Detail thematisiert wurde, folgt nun ein Fokus auf die Ressource Geld. Dabei lassen sich Positionen unterscheiden, in denen finanzielle Ressourcen gegeben sind und solche, in denen finanzielle Ressourcen fehlen. Dies hat jeweils unterschiedliche Auswirkungen auf die Bereitschaft zu spenden und die Möglichkeiten, Zeit in Engagement zu investieren.

Mareike beschreibt, dass sie nicht so sehr unter Druck stehe, Geld zu verdienen, da ihr Mann Rentner sei. Trotzdem möchte sie gern etwas selbst verdienen.Footnote 12 Auch Sven verfügt über ausreichend finanzielle Möglichkeiten und ist der Meinung, dass jeder der das Geld hat, Organisationen unterstützen sollte. Er grenzt sich bei finanziellen Spenden stark von Parteien ab und wünscht sich stattdessen Unterstützung für Organisationen wie den BUND, LobbyControl, das Umweltinstitut oder Campact. Die Frage nach der Bereitschaft zu spenden, mischt sich bei Sven mit der Frage nach Mitgliedschaft. Diese wird in Abschnitt 5.3.2 noch einmal ausführlich behandelt. Schon hier soll jedoch angemerkt werden, dass Sven Mitgliedschaft als finanzielle Unterstützung sieht – wenn denn Mitgliedschaft das Zahlen eines Beitrages beinhaltet. Dies begründet er u. a. mit gutem Material und guten Aktionen, was alles viel Geld koste: „[…] ich unterstütze auch so eine Aktion als Mitglied, weil die machen ja sehr viel. Und auch – ich merke es ja bei uns – es kostet alles Geld. Das war eigentlich der Grund da Mitglied zu sein. […] Der BUND hat Material, Campact, das Umweltinstitut hat richtig gutes Material. Und wenn wir jetzt auf einem Stand sind oder Einladungen zum Mitgliedertreffen verschicken, ja das sind dann immer solche Berge mit Flyern. […] Es ist auch schön, wenn man aus dem Stand etwas präsentieren kann. [...] Wer Geld hat, sollte diese Sachen unterstützen anstatt jetzt einer Partei was zu geben, sage ich ganz frech.“ (Sven, Z. 437 ff.) Svens Argumentation unterstützt die These, dass selektive Anreize (vgl. Olson 1965) das Engagement von Bürger*innen begünstigen. Er nennt den Zugang zu gutem Informationsmaterial, welches er wiederum bei Infoständen verwendet, um Interessierte anzusprechen und für die Organisation von Aktionen. Beides steht ihm als Mitglied bzw. Unterstützer einer Organisation zur Verfügung.

Noch einen Schritt weiter als die finanzielle Unterstützung von Organisationen, geht Gerd, der über finanzielle Ressourcen verfügt, die ihm das Aufziehen eigener Projekte erlauben. Dabei sind jedoch nicht nur eigene finanzielle Mittel von Bedeutung, sondern auch ein großes Netzwerk von Freund*innen und Bekannten, das sich zu Spenden mobilisieren lässt. Mit einem ersten Startkapital konnte er wiederum Fördermittel einwerben und das Projekt danach noch größer aufziehen. „Ich habe z. B. den Eine-Welt-Laden, die haben ein eigenes Projekt in Nepal, die haben z. B. damals von mir als meine Frau verstorben ist, da haben wir gesammelt für dieses Projekt und da sind dann 7.000 DM zusammengekommen. […] Da haben die dann anschließend, das ist ja oft so, dann bekommt man Geld und kann damit dann Fördermittel einwerben, […] das waren dann jedenfalls später glaube ich 40.000€, die die zusammengekriegt haben und dadurch konnte diese Schule gegründet werden, die heute sogar ein Krankenhaus geworden ist.“ (Gerd, Z. 99 ff.) Dieses Beispiel zeigt, dass Bürger*innen mit einem gewissen Basiskapital für eigene Projekte deutlich mehr Spielraum zur Verfügung haben und aus einem Startkapitel durch Netzwerke und Kenntnisse des Fundraisings schlussendlich ein noch größerer Geldbetrag organisiert werden kann. Dies entspricht im CVM den Ressourcen Organisations- und Kommunikations-Skills sowie Bildung. Zusätzlich hat ein bestehendes Netzwerk (vgl. Rekrutierung im CVM) dazu beigetragen, Unterstützer*innen für das Projekt gewinnen zu können.

Andere Interview-Partner*innen würden gerne (mehr) spenden, können es aber schlichtweg nicht. Sowohl Felix als auch Valeria sind zivilgesellschaftlich engagiert, für finanzielle Unterstützung von Organisationen fehlt ihnen jedoch das Geld. Felix ist Student und sagt ganz direkt: „Nein, keine finanzielle Unterstützung, weil mir das Geld fehlt, ehrlich gesagt.“ (Felix, Z. 794) Valeria wiederum lebt derzeit von ihrer Rente und einem Erbe und könnte nach eigener Aussage ihr gesamtes Vermögen für sinnvolle Projekte spenden. Früher hatte sie Daueraufträge für monatliche Spenden, musste dies aber vorerst stoppen und sich mit ihrem Budget neu sortieren.Footnote 13 Wie von Verba/Schlozman/Brady (1995) beschrieben, gestaltet sich zivilgesellschaftliche Partizipation ohne die Ressourcen Zeit und Geld äußerst schwierig. Alleine der Wille, bestimmte Organisationen oder Projekte (finanziell) unterstützen zu wollen, reicht nicht aus, wenn die Rahmenbedingungen keine Ausgabe solcher Ressourcen erlauben.

Ähnlich wie Sven schätzt auch Valeria die Arbeit von Organisationen wie Campact und versteht es als Minimal-Unterstützung, die Arbeit zumindest finanziell zu fördern: „[…] die einfach diese Kampagnen organisieren, ich habe so das Gefühl, die haben alle einen 16-20-Stunden-Tag. Und da sage ich: Hut ab. Und womit du sie auch unterstützen kannst, tu es! […] also das Mindeste was man machen kann, ist ja spenden.“ (Valeria, Z. 562 ff.) Sybille sieht eine Geldspende als Ausgleich zu Engagement vor Ort, wenn es ihr nicht möglich war, z. B. bei einer Demo mitzumachen.Footnote 14 Ähnlich wie Online-Petitionen erfahren jedoch teilweise auch Spenden die Kritik, dass damit Engagement vor Ort ersetzt werde und sich Bürger*innen mit dem Geld ein reines Gewissen kaufen würden. Dieser Aspekt wird in Kapitel 7 ausführlich betrachtet.

„[…] meistens nehme ich mir auch viel zu viel vor.“ (Mareike) – Sich mit dem Ehrenamt übernehmen

Ein in der Literatur bisher wenig beachteter Aspekt ist Burnout unter Aktivist*innen und die Überlastung von Ehrenamtlichen.Footnote 15 Egal ob mit vielen oder wenigen Ressourcen ausgestattet, einige Aktive im Bereich Umweltschutz neigen dazu, sich über ihre persönlichen Ressourcen hinaus einzubringen und zu verausgaben. So kommt bei manchen das Gefühl auf, sich zu übernehmen, mehr zu machen als man sich vorgenommen hatte oder aber auch als schon aktive Person häufig angesprochen zu werden, ob man denn nicht Zeit für eine weitere Aktion habe. Besonders Olaf, Stefanie und Mareike haben diese Erfahrungen gemacht. Daraus leitet sich der Wunsch ab, eine persönliche Strategie zu finden, wie man sich im Aktivismus nicht verliert, sondern eine angemessene Balance zwischen Aktivismus und Auszeit bzw. sich auspowern und Spaß haben findet. Diesen Aspekt thematisieren besonders Sarah, Daniela und Helena. „Am liebsten würde ich überall alles machen, helfen, tun. Aber kann man ja gar nicht. Und ich muss sagen, also meistens nehme ich mir auch viel zu viel vor. Ich hab ja dann auch ganz viel im privaten Bereich, was ich dann noch so regeln muss […].“ (Mareike, Z. 463 ff.) Bei Mareike mischen sich private und zivilgesellschaftliche Angelegenheiten stark. Sie selbst spricht von einem Helfersyndrom. Dabei übernehme sie sich häufig. Ähnlich geht es auch Stefanie mit der Online-Petition. Im Nachhinein würde sie aus zeitlichen Gründen nicht nochmal eine Online-Petition starten. Rückblickend erklärt sie, dass sie Dank der Semesterferien zu dem Zeitpunkt zwar zeitliche Ressourcen für die Petition zur Verfügung hatte, das Projekt jedoch insgesamt unterschätzt habe.Footnote 16 Mangelnde Ressourcenausstattung seitens der DUH, ein Krankheitsfall und großes mediales Interesse führten dazu, dass Stefanie sich überfordert fühlte. Dank der Semesterferien und Motivation durch Unterstützer-Kommentare gelang es ihr jedoch aktiv zu bleiben.

Auch Olaf engagiert sich häufig mehr, als er eigentlich will und kommt dadurch in zeitliche Schwierigkeiten. Er führt dies darauf zurück, dass ihm die Sache so wichtig sei. „Ich kann nur sagen, dass es bei mir funktioniert, aber ich merke ja auch, dass ich da schon zeitlich Schwierigkeiten habe und mir oft denke: ‚Oh, jetzt so viel möchte ich eigentlich gar nicht ehrenamtlich machen.‘ Aber ich sage dann halt – und das machen ganz viele, das ist eben das Problem – aber um der Sache Willen mache ich es halt doch.“ (Olaf, Z. 309 ff.) Ein weiteres Problem ist die häufige Bitte, weitere Aufgaben zu übernehmen. Schon aktive Menschen würden immer mehr machen und für weitere Aktionen angesprochen werden, so Olaf.Footnote 17

Auf diese Form der Verausgabung folgt der Wunsch, eine gesunde Balance zwischen Aktivismus und Auszeit zu finden und sich im Aktivismus nicht zu verlieren. Für Sarah ist dabei das Wichtigste, dass alles in einem gesunden Rahmen bleibt und dass der Spaß nicht verloren geht. Überstunden seien in diesem Rahmen okay, denn man wolle ja die Welt retten: „[…] ich fahre zweimal in der Woche ins Büro, ich mache auch einen Sack voll Überstunden. Das ist ja quasi auch geschenkt. Aber wir wollen ja die Erde retten. Das ist der Spruch der BUNDjugend. Dann finde ich das ja auch okay. Also, wichtig finde ich jetzt über die Jahre gesehen, dass […] man sich selbst nicht auspowert, dass man halt einfach dabei gesund bleibt und Spaß dabei behält.“ (Sarah, Z. 639 ff.) Wie in vielen Berufsfeldern zeigt sich auch im (ehrenamtlichen oder bezahlten) Aktivismus eine Tendenz hin zum Burnout. Gerade wer für eine Sache ‚brennt‘, tendiere dazu, sich über ein gesundes Maß hinaus dafür einzusetzen. Für Sarah sind eine passende Zeitökonomie und Spaß an der Sache das Rezept für einen gesunden Aktivismus. Auch Daniela sieht das Risiko der Verausgabung und hat es selbst schon erlebt. Sie musste sich schon einmal eine Auszeit nehmen, um sich nicht zu verlieren. „[…] ich bin 2008 aus der Bank ausgestiegen und habe erstmal gar nichts gemacht, erst mal um mich gekümmert. Das muss man auch mal. Man muss als Aktivist immer daran denken, es bringt einem nichts, wenn ich mich immer nur für die Welt einsetze […]. Man muss immer daran denken, dass man zwischendurch eine Auszeit nimmt, um sich nicht zu verlieren.“ (Daniela, Z. 256 ff.)

„Ich fühle mich da total ohnmächtig.“ (Helena) – Ohnmachtsgefühle und Burnout-Symptome als Folge von Niederlagen

In Folge von Niederlagen und Misserfolgen beschreiben Helena und Sybille ein Gefühl der Ohnmacht – bis hin zum Burnout. „Also, ich fühle mich manchmal ohnmächtig oder bzw. mir ist manchmal eher nur total zum Heulen. Wenn ich so mitkriege, was alles wieder zerstört wird und wie mit Menschen umgegangen wird. Das zieht mich durchaus manchmal runter. Aber trotzdem habe ich irgendwie so eine innere Zuversicht, merke ich so. Also ich glaube, es hat Sinn zu handeln, ganz egal, was dabei raus kommt.“ (Sybille, Z. 1018 ff.) Eine solche Ohnmacht beschreibt auch Helena, die sich trotz kleiner Lichtblicke wünscht, dass ihr Engagement viel schneller Wirkung zeigt. Sie beschreibt sich als ungeduldige Person und sieht Veränderungen eher im Lokalen als im Großen. Das Fehlen einer Aufbruchsstimmung führt bei ihr zu einem Burnout-Gefühl, das sich nach eigenen Angaben aber auch wieder legen würde. „Ich fühle mich da total ohnmächtig. […] Gut, so Sachen wie die Geschichte mit TTIP, das ist jetzt so, dass man sagt: Okay, es scheint doch zu funktionieren. Vielleicht geht es auch nur zu langsam, vielleicht bin ich einfach zu ungeduldig. Ich wünsche mir, dass alles viel schneller geht. […] Aber kommt auch vielleicht durch mich, dass ich im Moment gerade so eine Burnout-Phase durchmache, dass mir so alles auf den Senkel geht. […] Das ist wie wenn du in so einem Modder stehst und die Füße nicht rauskriegst und weiterlaufen kannst. Aber da kommt auch wieder was.“ (Helena, Z. 1251 ff.)

Durch ausbleibende Erfolge oder durch Überarbeitung können individuelle Ressourcen von Bürger*innen, nicht nur in Form von Zeit und Geld, sondern auch Motivation und Kraft, ausgeschöpft sein und dazu führen, dass sich ein Gefühl von Burnout oder Ohnmacht unter den Aktiven ausbreitet. Das CVM beachtet mit der zweiten Dimension Psychological Engagement zwar die persönliche Einstellung zu anderen Bürger*innen und Politik und mit der wahrgenommenen Wirksamkeit der eigenen Handlungen eine wichtige Komponente, doch die Bedeutung von Erfolgen für die Motivation und die Überreizung der individuellen (Kraft-)Ressourcen kommen nicht explizit vor. Die individuelle Frustrationstoleranz und das Maximum an zur Verfügung stehenden Ressourcen beeinflussen die Wahrscheinlichkeit für zivilgesellschaftliches Engagement jedoch stark.

„Und dann arbeite ich noch als studentische Mitarbeiterin am Ecologic Institut […].“ (Stefanie) – Studium, Job oder Nebenjob als Quelle von Fachwissen

Neben den Ressourcen Zeit und Geld, werden im CVM auch Organisations- und Kommunikations-Skills als positive Einflussfaktoren für Engagement genannt. Wer sich und andere zu organisieren weiß, kann sich mit weniger Aufwand zivilgesellschaftlich einbringen (vgl. Verba/Schlozman/Brady 1995: 304 ff.). Diese Aspekte lassen sich so im Interviewmaterial wiederfinden, können jedoch noch um die Komponente Fachwissen ergänzt werden. Viele der Interview-Partner*innen können von ihrem Studiengang, Job oder Nebenjob profitieren, welche als Quelle für Fachwissen dienen und damit das Engagement in der Umweltschutz-Bewegung erleichtern. Neben den wichtigen Ressourcen Zeit und Geld bringen viele Interview-Partner*innen folglich noch weitere wichtige Ressourcen mit: (Fach-)Wissen, technisches Know-how, Social-Media-Skills und Zugang zu Informationen.

Mehr als die Hälfte der Gesprächspartner*innen hat oder hatte ein Studium oder einen Job in einem Bereich, der im engen oder groben Sinn mit dem Thema Umwelt und Natur(-Schutz) zu tun hat, bspw. Biologie, Umweltwissenschaft, Naturressourcen-Management oder auch Entwicklungshilfe oder Politikwissenschaft. Helena, Sybille, Sarah und Olaf haben Biologie studiert, Olaf hat daran noch Umweltwissenschaften angeknüpft, Helena Pharmazie und Sarah Pädagogik im Bereich Jugendbildung/Erwachsenenbildung. Alle vier Interview-Partner*innen verfügen damit über ein sehr ausgeprägtes Fachwissen, das ihnen in ihrem Engagement beim BUND, Campact oder bei anderen Organisationen von Nutzen ist. Stefanie und Isabelle, beide Mitte/Ende 20, studieren zum Zeitpunkt des Interviews noch und sind in Masterstudiengängen eingeschrieben: „Naturressourcen-Management“ und „Sustainability, Economics and Management“. Darüber hinaus bringt insb. Stefanie (Z. 48 ff.) Kenntnisse aus ihrem Bachelorstudium in Medien- und Kommunikationswirtschaft mit, was für ihre Online-Aktivismus–Tätigkeiten ebenso von Vorteil ist. Denn nach eigenen Aussagen lag der Fokus in diesem Studium auf digitalen Medien. Parallel zum Masterstudium geht sie einem Nebenjob beim Ecologic Institut nach, der ihr weiteres Fachwissen vermittelt.

Günter, Daniela und Markus haben wiederum einen Quereinstieg über den Beruf ins Engagement hinter sich und können alle drei in ihrem Engagement von Fachwissen aus ihren Berufen profitieren. Günter war Wirtschaftsingenieur, hat später bei der KfW Projekte im Bereich Nachhaltigkeit finanziert und im Anschluss an sein Berufsleben sein eigenes Institut gegründet. Er konnte Jahrzehnte lang Fachwissen sammeln und dies anschließend in die Gründung eines eigenen Projekts investieren. Daniela hat zuerst als Bankerin gearbeitet und in diesem Sektor später den Bereich für erneuerbare Energien bedient. Markus wiederum ist Diplom Kaufmann und hat als Entwicklungshelfer u. a. in Uganda gearbeitet. Nach einer Zeit in der Unternehmensberatung war er in der Regionalplanung und hat sich auf erneuerbare Energien spezialisiert. Damit können sowohl Günter, als auch Daniela und Markus bei ihrem heutigen Engagement von vorausgegangenen Berufen profitieren. Nach Bourdieu (1983: 187) kann hier von „inkorporiertem Kapital“ gesprochen werden, welches sie sich über Jahre angeeignet haben. Alle drei haben jeweils ihre persönliche Lücke gefunden, die Kreditvergabe an Nachhaltigkeitsprojekte oder Unternehmensberatung im Bereich erneuerbare Energien, in der sie Ressourcen (Wissen und Netzwerke) aus der Berufstätigkeit in ihr Engagement einfließen lassen können.

Felix (Z. 8 ff.) wiederum bringt Fachwissen aus dem Bereich Politikwissenschaft mit, er ist noch als Student eingeschrieben. Er hat sich dank eines Seminars aus wissenschaftlicher Sicht mit dem Thema Online-Campaigning befasst und kann so das Wissen aus dem Studium direkt für sein Engagement verwenden.

„[…] ich habe nicht die Zeit und ich will auch nicht die Zeit dafür, mich mit dem Medium so vertraut zu machen […].“ (Gerd) – Vorhandene vs. fehlende Social-Media-Skills und technisches Know-How

Neben Fachwissen aus Studium und/oder Job sind auch technisches Know-how und Social-Media-Skills für die Interview-Partner*innen eine wichtige Ressource. Dabei wurde in den Interviews sowohl das Vorhandensein als auch das Fehlen von technischen Fähigkeiten thematisiert. Mareike, die im Bereich Online-Aktivismus sehr aktiv ist, beschreibt im Interview ausführlich wie und mit welcher Faszination sie sich Computer-Kenntnisse angeeignet hat: „[...] kurz nach meiner Tochter kam ich dann zu den Computern. Und das war so eine faszinierende Welt, dass ich mich da einfach weitergebildet habe. Und nun bin ich Social-Media-Managerin und habe mein Hobby zum Beruf gemacht. Habe viele Kurse in der VHS gemacht, Administration und HTML und Java Script, PAP. Ja, natürlich schwierig in meinem Alter – ich werde nächstes Jahr 50 – da noch irgendwo in eine Agentur oder so unterzukommen. […] Und dann habe ich mir überlegt: Ja, versuche doch einfach dich selbstständig zu machen.“ (Mareike, Z. 13 ff.) Mareike spricht hier eine Vielzahl wichtiger Aspekte an, die mit Blick auf Ressourcen von Bedeutung sind: Eine Faszination für und Freude am eigenen Job, die Eigeninitiative und Weiterbildung zur Selbstständigkeit, die nötigen Fähigkeiten, um einen Internetauftritt pflegen und bedienen zu können und auch das Thema Alter. Mareike selbst gibt an, ihr Hobby zum Beruf gemacht zu haben. Dank einer Vielzahl von Weiterbildungen und VHS-Kursen verfügt sie jetzt – trotz ihres Alters – über vielfältige Kenntnisse im Bereich Computer und Programmierung. Damit widerlegt sie eine These des Digital DivideFootnote 18, nach der sich Bürger*innen in einem höheren Alter nicht mehr gut oder gerne mit Technik auseinandersetzen und sich keine neuen technischen Skills aneignen wollen oder können. Die Analyse von Mareikes Fall zeigt, dass Thesen des Digital Divide (Mossberger/Tolbert/McNeal 2008; Mossberger/Tolbert/Gilbert 2006; van Dijk 2006; Norris 2001) zu kurz greifen, wenn sie sich ausschließlich auf sozioökonomische Aspekte, Alter oder Geschlecht stützen und Faktoren wie die Motivation, sich neue Fähigkeiten anzueignen, außer Acht lassen (vgl. Min 2010). Vielmehr sollten unabhängig vom Alter Faktoren wie technische Fähigkeiten und Internet-Skills (Hargittai 2002), sowie psychologische Aspekte wie die Motivation zur Aneignung neuer Fähigkeiten (Adams/Stubbs/Woods 2005) mitberücksichtig werden.

Olaf und Gerd gehen mit dem Thema Social-Media-Skills ganz offen um und fordern Training in Form von Schulungen ein. Sie weisen bzgl. dieser Ressource Lücken auf: Gerd, weil er die Zeit dafür nicht hat oder aufbringen will und Olaf ebenso aus Zeitgründen und auch aus fehlendem Interesse. Beide haben daraufhin eine Schulung eingefordert, um weitergebildet zu werden. „Ja, ich habe darauf bestanden! Weil ich gesagt habe, also ich habe nicht die Zeit und ich will auch nicht die Zeit dafür, mich mit dem Medium so vertraut zu machen, dass ich weiß, was damit ist und auf der anderen Seite will ich nicht so viel Zeit investieren oder die Fehler machen, die viele gemacht haben. Dass sie dann persönliche Dinge da reingestellt haben und hinterher festgestellt haben: ‚Oh, wo bin ich denn noch überall?‘“ (Gerd, Z. 671 ff.) Gerd spricht hier vom Umgang mit Facebook und beschreibt das Dilemma, einerseits zwar diesen Kanal bedienen zu wollen, andererseits aber nicht viel Zeit in die Einarbeitung und Funktionen von Facebook investieren zu wollen oder zu können. Um diese Zeit nicht aufbringen zu müssen und um Fehler in der Nutzung zu vermeiden, hat er auf eine Social-Media-Schulung bestanden. Olaf wiederum hat weder die Zeit, noch das Interesse, sich in Facebook oder Twitter einzuarbeiten.Footnote 19 Gleichzeitig sieht er aber eine Berechtigung für „schöne Facebook-Seiten“ und sogar den Bedarf an Social-Media-Skills als Schlüsselkompetenz, z. B. bei einer Bewerbung. Dabei bezieht er sich jedoch mehr auf den Umgang mit Content-Management-Systemen als konkret auf Facebook oder Twitter: „[…] mich interessiert es halt nicht und es ist ein Zeitfresser. Und klar, es gibt ja Leute, die finden das auch schön. Hat ja auch seine Berechtigung. Wenn die Leute eine schöne Facebook-Seite machen und tolle Fotos von sich haben, ist auch was Schönes. [...] ich meine, das ist ja auch ne Kompetenz. So was wird ja auch immer mehr gefragt, im Arbeitsleben: Haben Sie Ahnung von Content-Management-Systemen? Können Sie mit den Sozialen Medien umgehen?“ (Olaf, Z. 566 ff.) Genau wie Gerd hat auch Olaf eine Schulung mitgemacht. Mit seiner AG Energie und Klimaschutz beim BUND hat er sich in Sachen Videodreh und YouTube schulen lassen und Spaß daran gefunden.Footnote 20 Die weiterhin vorhandenen Kenntnislücken in Sachen Computer oder Social Media weiß Olaf mit Hilfe von Kontakten zur BUNDjugend zu schließen. Dort kennt er entsprechende Personen, die ihm weiterhelfen. Dieser Aspekt wird unter dem Stichwort ‚Netzwerk‘ später genauer erläutert.

Ähnlich wie für Olaf ist Social Media auch für Helena eine Zeitfrage. Sie befürchtet, bei Facebook & Co. zu viel Zeit zu verbringen. Sie hat sich in der Vergangenheit soweit wie möglich mit verschiedener (neuer) Technik zurückgehalten. Dass sie heute ein Handy hat, führt sie darauf zurück, zumindest eine SMS schreiben zu können und erreichbar zu sein. Nichtsdestotrotz hält sie Technik und Facebook für wichtig. Valeria wiederum spricht ganz offen aus, dass sie mit der Technik nicht zurechtkommt. Sie bittet häufig ihre Tochter um Hilfe, vergisst die Erklärungen aber wieder, weil es sie nicht genug interessiert: „Ja, ich kann damit noch nicht so umgehen. Dann weiß ich wieder nicht, kann ich es auch rein technisch nicht. Und dann frage ich meine Tochter wieder – ‚Mama, ich hab es dir doch jetzt schon drei Mal ... Jetzt schreib ich dir das mal auf und jetzt legst du dir das dann mal daneben. Ist doch ganz einfach.‘ Es ist schon wieder alles weg bei mir, weil es mich gar nicht interessiert.“ (Valeria, Z. 1174 ff.) Ihr fehlen die technischen Skills und das Wissen bzgl. Social Media, was u. a. durch ihr Alter (70 Jahre) erklärt werden kann. Fehlende Skills lassen sich jedoch nicht zwangsläufig nur auf das Alter, sondern auch auf Desinteresse zurückführen.

„[…] um teilnehmen zu können, muss man erst mal Informationen haben […].“ (Kilian) – Zugang zu Informationen und Informiertheit als Grundlage von Engagement

Neben Zeit, Geld und den technischen Fähigkeiten ist auch der Zugang zu Informationen eine grundlegende Ressource, ohne die auch die weiteren Ressourcen nutzlos sind. Wer keinen Zugang zu Informationen hat oder weiß, wo er bestimmte Informationen finden kann, braucht auch keine Zeit und kein Geld, um mit dieser Information weiter agieren zu können. Auch im CVM findet der Zugang zu Informationen als Ressource eine Erwähnung. Verba/Schlozman/Brady (1995: 305 ff.) setzen dies mit Bildung und Sprachkenntnissen in Verbindung und beschreiben, dass für Bürger*innen mit hoher Bildung der Zugang zu Informationen erleichtert wird. Diese Feststellung deckt sich mit den Interviews, auch hier wird Informiertheit als Grundlage für Engagement beschrieben. Sybille, Kilian und Markus nennen den Zugang zu Informationen als wichtigen Aspekt und die Informiertheit als Grundlage für jedes weitere Handeln. Damit einher geht der Faktor Zeit, da das Sich-Informieren auch eine gewisse Dauer in Anspruch nimmt. Kilian beschreibt es folgendermaßen: „Ich glaube, dass mit Demokratie hat so einen gewissen Arbeitsaufwand. Also, um teilnehmen zu können muss man erst mal Informationen haben, muss man sich besorgen, am besten verschiedene Quellen heranziehen und dann ist man informiert. Und dann muss man sich überhaupt beteiligen, damit das funktioniert. Das ist ein Zeitkontingent, das man haben muss, sonst kann man nicht teilnehmen.“ (Kilian, Z. 320 ff.) Er spricht mehrfach den Zeit-Aspekt an und setzt den Zugang zu Informationen als Grundlage voraus. Aus seiner Sicht braucht man am besten verschiedene, unabhängige Quellen, um sich angemessen zu informieren. Auch bei Markus umfasst das Sich-Informieren viel Zeit, denn er hat Studien zu lesen, die teilweise mehrere hundert Seiten lang sind. „Also, das ist auch viel Arbeit. Und dann sind das oft Studien, lange Studien, manchmal 30 Seiten, manchmal 300, manchmal sind’s 500 Seiten – die lese ich dann bzw. ich schaue sie durch, um die Stellen zu finden, die mich interessieren. Das kostet viel Zeit.“ (Markus, Z. 388 ff.) Um solch langem Lesen zu entgehen, hat Sybille (Z. 893 ff.) Zeitschriften gefunden, die für sie passend die benötigten Informationen zusammentragen und ihr damit Arbeit ersparen. Sie nennt das Greenpeace Magazin und die Zeitschrift Publik-Forum als Quellen für ihre persönliche Informiertheit und schätzt daran insb. das Zusammentragen von Informationen, die sie sonst mühselig durcharbeiten müsste. Sybille stellt hier eine Nutzen-Kosten-Rechnung auf, die dazu führt, dass sie auf zusammengefasste Informationen zurückgreift. Neue Informationstechnologien wie das Internet spielen hierbei eine wichtige und kostensenkende Rolle. In Einklang mit dem CVM kann folglich festgehalten werden, dass das Wissen über den Zugang zu (komprimierten) Informationen zivilgesellschaftliches Engagement befördert bzw. erleichtert, weil es beim Suchen von Informationen oft Zeit einspart und damit eine der beiden wichtigsten Ressourcen betrifft. Digitale ICTs erlauben einen schnelleren Zugriff auf eine Vielzahl von Informationen, als dies vor der Digitalisierung der Fall war. Diesen Aspekt müssten Modelle wie das CVM ebenfalls berücksichtigen.

Dass auch diejenigen mit einer hohen Bildung (z. B. Universitätsabschluss) an ihre Grenzen stoßen, erläutert Stefanie, die der Meinung ist, dass Politik zu komplex sei, als dass sie verstanden werden könne. Auf diesen Aspekt wird im anschließenden Abschnitt 5.2 genauer eingegangen, wenn es um das Bürgerschaftsverständnis der Interview-Partner*innen geht. An dieser Stelle ist der genannte Aspekt jedoch mit Blick auf den Zugang zu Informationen wichtig. Stefanie bezeichnet Politik als undurchsichtiges Feld mit unklaren Strukturen und Entscheidungsfindungen – obwohl sie selbst im umweltpolitischen Bereich für die Politik beratend tätig ist. „Ja, ich glaube Politik ist in erster Linie, wenn man es nicht studiert habe, was ich nicht studiert habe, ein sehr undurchsichtiges und komplexes Feld mit Strukturen, die einem nicht so ganz klar sind, wie die immer so funktionieren und welche ganzen Gremien es da gibt und wie es wirklich zu Entscheidungen kommt. […] Jetzt bin ich ne Weile im umweltpolitischen Forschungsbereich und im beratenden Bereich für die Politik tätig und das Feld ist immer noch komplex, es hat sich mir immer noch nicht ganz erschlossen.“ (Stefanie, Z. 263 ff.) Dass der Eindruck von zu hoher Komplexität u. a. zu Politikverdrossenheit seitens der Bürger*innen führen kann, wird im anschließenden Kapitel genauer ausgeführt.

Stefanie und Kilian erläutern einen weiteren Aspekt bzgl. des Zugangs zu Informationen mit Fokus auf den Ortsbezug. Themen, die ferner sind und von denen man selbst nicht persönlich betroffen ist, seien teilweise weniger verständlich, da nötige Hintergrundinformationen fehlen. Mit persönlichem oder lokalem Bezug erscheint Stefanie ein Engagement durchaus einfacher.Footnote 21 Denn in solchen Fällen müssen sich Betroffene nicht lange in Hintergrundinformationen einlesen, sondern sind im besten Fall schon informiert. Größere und weitreichende Probleme können ebenso unverständlich sein, da sie in der Regel komplizierter und weniger schnell zu erfassen sind. Folglich hält es Kilian deswegen für schwieriger, Menschen für große Themen zu mobilisieren. „Also, ich würde jetzt nicht sagen, nur zum Kleinen oder nur zum Großen, sondern eigentlich ist beides wichtig. Also es ist eben bloß die Analyse, dass je größer das Problem ist und je abstrakter es ist, umso weniger Menschen engagieren sich dafür.“ (Kilian, Z. 1203 ff.) Der Ortsbezug wird im Folgenden auch unter dem Aspekt der Netzwerke aufgegriffen. In Abschnitt 5.3.1 spielen Ortsbezug und Betroffenheit auch als Motivation für Engagement eine große Rolle. An dieser Stelle wird Ortsbezug jedoch zuerst mit Blick auf Ressourcen untersucht.

„Weil, es ist einfach schwierig, dann auch immer so weit zu fahren.“ (Mareike) – Möglichkeiten und Hindernisse von Vor-Ort-Aktionen und Weiter-weg-Aktionen

Welche Ressourcen eine Person zur Verfügung hat, entscheidet auch darüber, ob er oder sie bspw. für Demonstrationen nach Berlin fahren oder nur Veranstaltungen in der Nähe wahrnehmen kann. Dabei spielen erneut die Ressourcen Zeit und Geld eine Rolle, ebenso aber auch ein Gefühl von Dringlichkeit.

Für Mareike finden die meisten Veranstaltungen zu weit weg statt und sie hat Probleme, weit entfernte Orte zu erreichen. Die Entscheidung für oder gegen eine weiter entfernte Veranstaltung hängt für sie von drei Faktoren ab: Finanzen, Job und Familie. „Wenn mehr in der Nähe stattfinden würde, würde ich wahrscheinlich auch öfter fahren. […] Der Ein oder Andere kann es, das hängt dann immer irgendwie mit dem Background zusammen. Wie ist man finanziell abgesichert? Muss man jetzt 12, 13 Stunden am Tag arbeiten oder nicht? Hat man Familie oder ist man alleine? Alleine würde ich wahrscheinlich auch weiter weg fahren […].“ (Mareike, Z. 1197 ff.) Ihre persönliche Entscheidung gegen das weite Fahren begründet sie mit der Familie. Ähnlich lässt sich Günters Position beschreiben, der sich lieber von daheim aus effizient einbringt, als von Hessen aus nach Berlin zu fahren. „[…] aber die Sachen sind dann in Berlin, da fährst du ja erst mal mit dem Bus und sonst was. Da habe ich hier – wenn ich meine Zeit sehe: Wo kann ich mich einbringen? Das ist hier viel effizienter. […] Ich kann an handfesten Dingen was machen. Ich brauche da nicht irgendwo hinzufahren. Da biste ja einer von 100.000 oder 10.000.“ (Günter, Z. 535 ff.) Für Günter steht Effizienz im Mittelpunkt und da er durch sein eigenes Institut dort viele Handlungsspielräume hat, sieht er dies als effizienter an als ein einzelner Teilnehmer in einer großen Masse zu sein. Er wägt Kosten und Nutzen seines Engagements bedacht ab. Seine Aussage bestätigt teilweise die These von Olson (1965), dass bei großen Gruppen eine Teilnahme unwahrscheinlicher wird, da der Einfluss eines Einzelnen abnimmt und die Inaktivität einer einzelnen Person weniger stark sichtbar ist. Günter bleibt jedoch nicht inaktiv, sondern bringt sich lieber an anderer Stelle effizienter ein.

Auch Felix gibt an, nicht die zeitlichen Ressourcen zu besitzen, um an Aktionen teilzunehmen, die weit weg sind. Deswegen ist er generell nur selten bei Straßenaktionen dabei. Als ehemaliger Praktikant von Campact wird er von der Organisation explizit angeschrieben und als Unterstützer angefragt. Hier sagt er aber nur zu, wenn die Aktion in der Nähe stattfindet.Footnote 22 Sven sieht zwar den finanziellen Aspekt, gerade mit einer Familie sei es sehr teuer nach Berlin zu fahren, für ihn spielt aber auch der Spaß-Faktor eine Rolle. Mit Blick auf die Zeit sei dann zwar ein ganzer Tag weg, aber er hält es für ein spannenderes Erlebnis als am Computer zu sitzen: „Ja, „Wir-haben-es-satt!“ – Das hat Spaß gemacht. Gut, der Tag war futsch. Morgens hin und abends zurück mit dem Zug, und im Zug hat es Spaß gemacht. Es ist auch wieder ein Erlebnis, anstatt jetzt hier am Computer zu hocken.“ (Sven, Z. 787 ff.) Straßenaktionen in der Nähe, wie in seinem Fall am Frankfurter Flughafen, hält er als Familienausflug für umsetzbar. Regelmäßige Protestaktionen mit der ganzen Familie sind für ihn finanziell jedoch nicht tragbar.Footnote 23

Die von Verba/Schlozman/Brady (1995) zweitgenannte Komponente „psychological engagement“ wird im anschließenden Abschnitt 5.2 ausführlich betrachtet. Auch die vierte Komponente, das themenspezifische Engagement, wird erst im weiteren Verlauf der Arbeit untersucht. An dieser Stelle folgt nun jedoch noch eine Analyse der dritten im CVM genannten Komponente: Die Rekrutierung. Netzwerke von Freund*innen, Arbeitskolleg*innen und Bekannten werden in der vorliegenden Arbeit als Ressourcen verstanden. Wie im Folgenden gezeigt wird, dienen Vernetzung und Expertenwissen den Interview-Partner*innen als wertvolle Ressourcen für ihr Engagement. Hier finden sie persönliche Ansprechpartner*innen und Gleichgesinnte und können auf kurzen Wegen ihre Anliegen einbringen.

„Und habe daraus auch ganz viele Kontakte bekommen.“ (Günter) – Vernetzung und Expertenwissen als wertvolle Ressourcen

Olaf und Stefanie profitieren von Fachwissen, über das sie selbst nicht verfügen und wissen, wo sie Unterstützung finden, wenn sie einmal selbst nicht weiterwissen. Olaf will und kann sich nicht ausführlich mit Social Media auseinandersetzen, hat aber Kontakte zu Aktiven beim BUND und der BUNDjugend und dadurch direkte Ansprechpartner*innen, die er zu Rate ziehen würde. Sowohl in Sachen Technik als auch Verbreitungsstrategien bei der Social-Media-Nutzung würde Olaf auf bekannte Aktive innerhalb seiner Organisation zurückgreifen. Ähnliches gilt für Stefanie, die beim Schreiben des Textes für ihre Online-Petition auf das Fachwissen einer DUH-Mitarbeiterin zurückgegriffen hat, mit der sie die Petition gemeinsam erstellt hat. Bei sich selbst sieht sie einen Mangel an wissenschaftlichem Know-how: „[…] ich habe dann den Petitionstext geschrieben und dann mit Julia abgestimmt immer wieder. Und von ihr kam dann auch noch mehr, weil die sich auch wissenschaftlich viel mehr damit auseinandergesetzt haben. […] das war mir auch wichtig und wertvoll, das mit der DUH zusammen zu machen, weil da einfach ein wissenschaftliches Know-how dahinter ist, das ich gar nicht habe.“ (Stefanie, Z. 417 ff.) Die Zusammenarbeit mit Julia von der DUH bedeutete für Stefanie eine wichtige (inhaltliche und fachliche) Unterstützung, in Konsequenz aber gleichzeitig auch größere zeitliche Ressourcen. Denn gemeinsame Absprachen benötigen häufig mehr Zeit, als etwas alleine zu entscheiden.Footnote 24

Für die Zeit, die die Petition online stand, konnte Stefanie außerdem auf das Experten-Netzwerk von Change.org zugreifen, da sie und Julia in Kontakt mit einer Mitarbeiterin vom Change.org-Team standen. Ein intensiver Austausch mit der Petitionsplattform begleitete die Online-Petition. Somit profitierte Stefanie bei ihrer Online-Petition nicht nur vom Fachwissen der DUH, in Person von Julia, sondern auch vom Expertenwissen in Sachen Online-Campaigning durch das Change.org-Team. Sie konnte für ihre Online-Petition auf vielfältige Ressourcen in Sachen Vernetzung und Expertise zurückgreifen.

Günter wiederum steht auf der anderen Seite und ist einer derjenigen, die sich Fachwissen angeeignet haben und es dann teilen wollen. Damit stellt er eine wichtige Ressource für den Nachhaltigkeits-Sektor in seinem Umkreis dar. Im selbst gegründeten Nachhaltigkeitsinstitut versammeln sich Pensionäre, die Fachwissen einbringen und dieses weitergeben wollen. Die Mitglieder des Nachhaltigkeitsinstituts haben eine Gruppe von jungen Interessierten, meist Berufsanfänger*innen oder Studierende, die im Bereich Nachhaltigkeit beruflich Fuß fassen wollen und dabei mit dem Wissen und Netzwerk von Günters Institut unterstützt werden. Einigen dieser Interessierten konnte Günter durch sein Netzwerk zu einem Berufseinstieg verhelfen.

Er selbst habe aus seiner Berufszeit viele wichtige Kontakte mitgenommen, die ihm heute bei seinem Engagement und neuen Projekten von Nutzen sind. Das sieht er nicht als selbstverständlich an, sondern hat aktiv an einigen Kontakten festgehalten: „Also ich war schon lange an diesem Thema. Und habe daraus auch ganz viele Kontakte bekommen. Die dann auch mit dem Ausscheiden aus der KfW verloren gehen und weg sind, wenn man nicht nachhakt. Viele davon habe ich noch, die Wichtigen.“ (Günter, Z. 478 ff.) Kontakte und Vernetzung mit der (ehemaligen) Berufswelt können folglich als wichtige Ressourcen für das (gegenwärtige) Engagement verstanden werden. Nach Bourdieu (1983: 190 f.) besitzen Personen mit einem ausgeprägten Netzwerk von Kontakten und Beziehungen ein hohes Sozialkapital, welches zivilgesellschaftliche Partizipation wahrscheinlicher macht.

Daniela und Gerd haben sich wiederum ein wichtiges Netzwerk in ihrer Stadt bzw. mit städtischen Institutionen aufgebaut. Beide waren oder sind im Landkreis tätig und haben gute Kontakte zur Lokalpolitik. Daniela spricht sich dafür aus, den Netzwerk-Gedanken nicht nur auf den Online-Bereich anzuwenden, sondern auch auf das Private: „Dadurch, dass ich aber selber bei dem Landkreis gearbeitet habe, der Landrat immer derselbe war, ich den aber ja kannte, man muss ja auch mal sehen, man hat sich ja ein Netzwerk gegründet. Heute spricht man nur von einem Netzwerk, der online ist, das stimmt ja gar nicht. Man braucht genauso im privaten Leben ein Netzwerk, den ich mal kurz anrufen kann und sagen kann: ‚Hör mal, wie kann ich das machen?‘ Ich bin immer für kurze Wege gewesen, nicht für lange Wege.“ (Daniela, Z. 108 ff.) So kann sie dank ihres guten Netzwerkes in der Lokalpolitik oft den direkten Weg gehen und spart so nach eigener Aussage Zeit. Auch Gerd profitiert von einer guten Vernetzung in seinem Wohnort. Er hat dort lange in einem Kinderheim gearbeitet, dann die Geschäftsführung der Diakonie übernommen und den Betrieb ausgebaut. Dabei hat er insb. mit Arbeits- und Sozialämtern zusammengearbeitet und profitiert heute als stellvertretender Landrat noch immer von diesen Kontakten.

„Du musst ganz unten anfangen, hier in dem Ort, in dem kleinen Sumpf […].“ (Sven) – Durch Ortsbezug erfolgreicher mobilisieren

Im CVM stellen Verba/Schlozman/Brady (1995: 269) die Frage, warum Menschen sich nicht einbringen und nennen als eine der drei möglichen Antworten, dass entsprechende Personen nicht gefragt wurden. Diese Annahme deckt sich mit den Ergebnissen der Aktivist*innen-Interviews. In Konsequenz von lokaler Betroffenheit und durch direkte Ansprache lassen sich Menschen einfacher mobilisieren. Aktive Beteiligung vor Ort ist schneller zu erreichen, wenn Bürger*innen mit einem Problem direkt konfrontiert sind, beobachtet auch Mareike: „Ja, ich denke einfach, das ist näher dran. Da sind die einfach wacher für. Weil viele ja auch resigniert haben: So weit weg kann ich eh nichts tun. Aber wenn man dann hier vor Ort mit dem Thema konfrontiert ist, dann sieht das anders aus.“ (Mareike, Z. 199 ff.) Auch Markus hat die Erfahrung gemacht, dass man vor Ort mit Aktionen leichter Unterstützer*innen findet als für Themen, die weiter weg liegen: „Ja, also, da krieg man sehr schnell ein ‚Ja‘. Wenn gefragt wird, wer macht da mit, Lockstöcke zu setzen und zu kontrollieren und Kameras anzubringen und da kriegt man, wenn man überhaupt erst mal jemanden hat, den man ansprechen kann, da kriegt man sehr schnell eine Zustimmung.“ (Markus, Z. 735 ff.) Damit beschreibt Markus die dritte Komponente des CVM, das Rekrutieren. Direkte Ansprache von potentiell Interessierten führt in seinem Fall zur Unterstützung von lokalen Projekten wie dem Schutz der Wildkatzen. Auch Sven beginnt vor Ort und möchte lokal mobilisieren, erhofft sich dann aber, dass sich das Interesse und der Aktivismus von dort auf höhere Ebenen übertragen lässt: „Du musst ganz unten anfangen, hier in dem Ort, in dem kleinen Sumpf und da versuchen, die Leute zu mobilisieren, damit nachgedacht wird. Und wenn dann ein paar dabei sind, die jetzt aus Gründen der Überschriften im Fernsehen oder in den Zeitungen irgendwas mitkriegen, dann auch über den Regenwald stolpern und sagen, das ist ja genauso ein Mist, dann machen sie da auch mit und unterschreiben und unterstützen.“ (Sven, Z. 985 ff.)

Betroffenheit durch Ortsbezug wird in Abschnitt 5.3.1 unter dem Stichwort ‚Motive‘ ausführlich betrachtet. Ebenso ist Ortsbezug ein wichtiger Aspekt von kollektiver Identität. Doch auch als Ressource im Sinne von Vernetzung spielt das lokale Engagement vor Ort eine große Rolle. Hier lassen sich persönliche Kontakte pflegen und nette Leute treffen. Anders als nur online vernetzt zu sein, entsteht für Olaf so ein Verbundenheitsgefühl und etwas Persönliches: „Und ich meine, es kann ja auch aus so einem Verbundenheitsgefühl dann auch was Persönliches werden. Gut, ist natürlich immer die Frage, wie man da vernetzt ist. Wenn man natürlich weltweit vernetzt ist, wird es schwierig. Wenn die Leute irgendwo in Washington sitzen oder was weiß ich. Aber wenn die in der Nähe sitzen und man sich dann treffen kann, das ist doch schön. Da kann ja auch dann was Persönliches entstehen.“ (Olaf, Z. 781 ff.) Im Gegensatz zu Greenpeace, die für Olaf mit Sitz in Hamburg sehr fern sind, schätzt er am BUND die physisch vorhandenen Menschen in den einzelnen Ortsgruppen.Footnote 25 Auch Günter sieht darin einen großen Vorteil des BUND, je nach Ortsverband sei die nationale Organisation teilweise sehr unwichtig und das lokale Engagement eher an einzelne Persönlichkeiten vor Ort gebunden: „Beim BUND ist das ganz anders. Der BUND ist eine Basisorganisation. Das heißt, das ursprüngliche Engagement gerade hier mit dem Wilfried K. [anonymisiert] im Ort, da hat der BUND als nationale Organisation faktisch keine Rolle gespielt.“ (Günter, Z. 704 ff.)

Neben charismatischen Führungspersönlichkeiten, wie von Günter genannt, spielt auch die Dauer des Engagements in einem Ort eine große Rolle für Vernetzung und ein Gefühl von Verwurzelung. Sonja betont besonders, dass sie vor Ort stark verwurzelt sei – über den BUND und/oder besondere Menschen – und dadurch vor der eigenen Haustür aktiv werde. Sie hat viele Kontakte im Ortsverband, mit denen sie eine gemeinsame Vergangenheit im Widerstand gegen die WAA verbindet. „Aber jetzt bin ich ja schon hier verwurzelt im BUND und finde das auch sehr wichtig, dass man vor der eigenen Haustür was macht. […] Aber bei mir ist es halt jetzt so und das hängt wie gesagt auch mit der Synergie der Gruppe zusammen, dass wir hier verwurzelt sind, dass wir die gemeinsame Geschichte haben mit der WAA.“ (Sonja, Z. 406 ff.) Ein (Jahrzehnte lang) aufgebautes Netzwerk bringt Vorteile mit sich, die mit Blick auf eine kollektive Identität in Abschnitt 5.3.2 ausführlicher betrachtet werden.

Ein weiterer Aspekt der Vernetzung ist, dass sich lokale und kleinere Initiativen vor Ort zusammenschließen und etwas gemeinsam machen. Dabei sei es wichtig, sich gut untereinander zu vernetzen und über gegenwärtige Aktivitäten auf dem Laufenden zu halten, so Sarah.Footnote 26 Der Vernetzungsgedanke ist somit nicht nur auf individueller Ebene der einzelnen Aktiven eine wichtige Ressource, sondern auch aus Sicht der verschiedenen Organisationen beim Bilden von Bündnissen.

Zusammenfassung

In Übereinstimmung mit dem CVM werden auch von den Interview-Partner*innen die Ressourcen Zeit und Geld als ausschlaggebende Faktoren für die Wahrscheinlichkeit von zivilgesellschaftlichem Engagement genannt. Neben Organisations- und Kommunikations-Skills beschreiben die Aktiven auch Technikkenntnisse als weitere Ressource für Partizipation. Hier zeigt sich, dass das Model von 1995 eine Überarbeitung hinsichtlich technischer Entwicklungen und der Digitalisierung von Protestpartizipation benötigt. Einige der Interview-Partner*innen besitzen Technik- und Social-Media-Kenntnisse in ausgeprägtem Maße – und das sind nicht nur die Jüngeren. Andere wiederum haben kein Interesse daran oder fühlen sich nicht in der Lage, sich Technik-Skills anzueignen. Alle von ihnen haben jedoch einen Weg gefunden, wie sie damit umgehen: Sie fragen Menschen um Rat, die mit der entsprechenden Technik umgehen können oder sie entscheiden aktiv, dass sie die Kanäle nicht nutzen müssen und arbeiten mit den ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen.

Darüber hinaus wird der (digitale) Zugang zu Information als wichtige Grundlage von Engagement verstanden. Auch hier zeigt sich ein Wandel von Protestpartizipation im Zuge der Digitalisierung, den Konzepte wie das CVM nicht berücksichtigen. Newsletter, online verfügbare Studien und Berichte, sowie Webseiten mit komprimiert zusammengefassten Informationen erleichtern Bürger*innen den Zugang zu und die Aneignung von Wissen. Ein weiterer von Verba/Schlozman/Brady (1995) nicht genannter, aber in der Empirie vorkommender Aspekt ist der der Überlastung durch Ehrenamt und Aktivismus. Einige Bürger*innen schöpfen ihre Ressourcen über eine gesunde Grenze hinweg aus und sprechen von Burnout und Erschöpfungserscheinungen sowie von Ohnmachtsgefühlen bei ausbleibenden Erfolgserlebnissen. Diese Situationen werden dadurch erklärt, dass bspw. das entsprechende Thema als so wichtig wahrgenommen wird, dass man sich trotz knapper Ressourcen trotzdem einbringt oder dass Aktive aufgrund ihres Engagements häufig gefragt werden, ob sie denn nicht dieses oder jenes noch mitübernehmen könnten. Bei vielen herrscht der Wunsch vor, eine gesunde Balance zwischen Aktivismus und Auszeit zu finden und häufig dient dabei Spaß als Kompensation für die Verausgabung. Dieser Aspekt wird in Abschnitt 5.3 „Emotionen und Affekte“ genauer beleuchtet.

Auch bzgl. der Komponente ‚Rekrutierung‘ zeigen sich in der Analyse starke Übereinstimmungen mit dem CVM. Netzwerke bestehend aus Freund*innen, Arbeitskolleg*innen und Bekannten werden hier als Ressourcen verstanden. Denn sie dienen den Aktiven mit der Vernetzung und dem Expertenwissen als wertvolle Unterstützung für ihr Engagement. Diese Bürger*innen finden in ihrem direkten Umfeld Gleichgesinnte und Ansprechpartner*innen und können dadurch auf kurzen Wegen ihre Anliegen einbringen. Für viele Interview-Partner*innen spielt der Ortsbezug dabei eine wichtige Rolle. Denn sich vor Ort einbringen zu können bedeutet, weniger Geld und Zeit aufbringen zu müssen, als bspw. für eine weit entfernt stattfindende Demo lange und teuer anreisen zu müssen. Vor Ort kennen viele außerdem häufig schon die richtigen Ansprechpartner*innen und haben sich ein Netzwerk von Expert*innen aufgebaut und (vielleicht schon über Jahre oder Jahrzehnte) Fachwissen angeeignet. Auch Kontakte aus dem beruflichen Umfeld dienen manchen Interview-Partner*innen in ihrem gegenwärtigen Engagement als Vorteil. Nach Meinung einiger lassen sich Menschen für Anliegen vor Ort leichter mobilisieren, als für Projekte, die in weiter Ferne liegen. Auch diese Annahme stimmt mit Verba/Schlozman/Brady (1995) überein, die vermuten, dass einige Menschen nur nicht aktiv sind, weil sie niemand direkt gefragt hat, ob sie mitmachen wollen. Hier zeigt sich, dass trotz Digitalisierung persönliche (analoge) Netzwerke – häufig auch mit starkem Ortsbezug – weiterhin eine wichtige Rolle als Ressource für Partizipation spielen. Viele Interview-Partner*innen beschreiben Kontakte aus der Berufswelt, der lokalen Politik oder zu Personen des Ortsverbandes als wichtigen Einfluss auf ihr Engagement – insb. bei dem Versuch andere für Partizipation zu mobilisieren. Digitale Medien spielen jedoch bei der Aufrechterhaltung von Kontakten eine Rolle.

Das Abschnitt 5.2 befasst sich im Anschluss nun mit der zweiten von Verba/Schlozman/Brady (1995) genannten Komponente, dem „psychological engagement“. Die individuelle Einstellung zu anderen Bürger*innen, Politiker*innen und dem demokratischen System hat einen großen Einfluss auf zivilgesellschaftliche Partizipation. Dabei spielt auch eine Rolle, für wie wirksam das eigene Handeln eingeschätzt wird. Die vierte Komponente des CVM, das themenspezifische Engagement, wird in Abschnitt 5.3 aufgegriffen.

5.2 Demokratie und Bürgerschaftsverständnis

5.2.1 Theoretische Konzepte von Demokratie und Bürgerschaft als Erklärung von Protestpartizipation

In der Analyse der Motive für eine Entscheidung für oder gegen verschiedene Partizipationsformen bildet das Bürgerschaftsverständnis der Aktivist*innen eine wichtige Grundlage. Wie bei Verba/Schlozman/Brady (1995) im Civic Voluntarism Model (CVM) mit der zweiten Komponente „psychological engagement“ beschrieben, ist die Einstellung zu anderen Bürger*innen und zu Politik ein ausschlaggebender Faktor für oder gegen Partizipation. Verba/Schlozman/Brady (ebd.: 345ff.) unterscheiden dabei zwischen vier Aspekten: Interesse an Politik, wahrgenommene persönliche Wirksamkeit, politische Informiertheit und Parteiidentifikation. Entsprechend beschäftigt sich das folgende Unterkapitel mit Fragen wie: Ist Engagement in einer Demokratie ein Muss? Vertreten Politiker*innen in angemessener Weise die Interessen von Bürger*innen? Welchen Einfluss können Bürger*innen auf politische Prozesse nehmen und wie wird die Wirksamkeit (des Einzelnen oder der Gruppe) sichtbar? Wie hat sich das Bürgerschaftsverständnis im Zuge der Digitalisierung gewandelt? Antworten auf diese Fragen bilden einen wichtigen Teil der Erklärung, warum die Aktiven sich engagieren und warum in welchen Formen.

Im Folgenden wird zuerst das partizipatorische Demokratieverständnis dieser Arbeit vorgestellt, da viele Interview-Partner*innen ein partizipatives Verständnis äußern, in welchem Bürger*innen sich direkt einbringen und aktiv mitgestalten können. Hier finden sich auch Habermas Model einer deliberativen Demokratie (1992), Barbers Konzept einer „Strong Democracy“ (1994) und Deweys Ansätze zu einer „Creative Democracy“ (1988) wieder. Darauf folgen zwei kritische Stimmen von Blühdorn und Crouch, die unter den Schlagwörtern „Simulative Demokratie“ (2013) und „Postdemokratie“ (2008) beschreiben, wie sich die gegenwärtige Demokratie laut der Meinung beider Autoren zu mehr Schein als Sein entwickele. Im Anschluss daran werden im nächsten Schritt konkrete Bürgerschaftsverständnisse nach Bennett (2008), Zuckerman (2014) und Dalton (2008) erläutert, die später basierend auf der Empirie einer kritischen Prüfung unterzogen werden sollen. Vor der Analyse des Interviewmaterials erfolgt zuletzt noch eine Beschreibung der Komponente „psychological engagement“ aus Verba/Schlozman/Bradys CVM (1995).

Der vorliegenden Arbeit liegt ein partizipatorisches Demokratieverständnis zugrunde. Gegensätzlich zu outputorientierten Modellen wie dem von Schumpeter (2005), liegt hierbei der Fokus auf dem tatsächlichen Prozess der politischen Entscheidungsfindung und auf den Einflussmöglichkeiten der Bürger*innen über konventionelle Partizipationsmöglichkeiten wie Wahlen und Parteimitarbeit hinweg. „Where few take part in decisions there is little democracy; the more participation there is in decisions, the more democracy there is“ (Verba/Nie 1972: 1), lautet eine Grundannahme des partizipatorischen Demokratiemodells. Dieses Verständnis steht in Einklang mit Habermas Modell (1992) einer „deliberativen Demokratie“, in welcher alle Bürger*innen die Möglichkeit haben, sich über Debatten und Kommunikation auf Augenhöhe in den Entscheidungsfindungsprozess politischer Fragen einzubringen. Eine ‚gute‘ Demokratie benötigt laut Habermas (1998: 27 ff.) eine unabhängige Öffentlichkeit, welche aus einem Netzwerk von offenen und freiwilligen Vereinigungen besteht. In einer solchen Zivilgesellschaft werden politische Themen transparent gemacht, Entscheidungsfindungsprozesse werden vorangetrieben und als Basis dessen gelten gleiche Teilnahmebedingungen für alle und eine thematische Offenheit. Neben solchen Öffentlichkeiten im habermasischen Sinne können sich auch Teilöffentlichkeiten und Gegenöffentlichkeiten herausbilden. Teilöffentlichkeiten befassen sich mit kleineren Teilaspekten, Regionen oder bestimmten Zielgruppen. Gegenöffentlichkeiten versuchen eine Gegendarstellung zu einem bestimmten Thema zu erzeugen oder ein Thema auf die politische Agenda zu bringen, das von den klassischen Gatekeepern der Massenmedien nicht als relevant erachtet wird. An dieser Stelle spielen Soziale Bewegungen und politische Kampagnen häufig eine wichtige Rolle, denn: „Soziale Bewegungen, Nichtregierungsorganisationen oder zivilgesellschaftliche Basisaktivisten [...] werden als Träger oder Institutionen von Gegenöffentlichkeit bezeichnet. [...] Der Begriff Gegenöffentlichkeit markiert dabei kritische Teilöffentlichkeiten, die sich gegen eine (massenmedial vermittelte) hegemoniale Öffentlichkeit richten und marginalisierte aber als allgemein bedeutend erachtete Themen aufgreifen.“ (Kneip 2009: 138)Footnote 27

Betrachtet man nun den Einfluss des Internets auf die Erzeugung von Öffentlichkeiten und die Herstellung einer idealen Sprechsituation, betonen einige Wissenschaftler*innen die durch neue Formen der egalitären und interaktiven öffentlichen Kommunikation entstandenen technischen Konditionen für eine Deliberation. Durch Formen der Many-to-many-Kommunikation im Internet kann die Einstiegsbarriere für die entsprechende Öffentlichkeit sinken, in dem Sinne, dass die Dominanz klassischer Massenmedien umgangen werden kann. Theoretisch können im Internet alle Nutzer*innen mit einem entsprechenden Wissen darüber, wie das Internet genutzt werden kann, sowohl Inhalte veröffentlichen als auch eine Vielzahl von Informationen recherchieren und damit Deliberation und eventuelles zivilgesellschaftliches Engagement unterstützen (vgl. Meißelbach 2009: 94).

Dahlberg (2011) untersucht die Rolle des Internets im Kontext der Öffentlichkeitstheorie von Habermas und benennt sechs Bedingungen, die E-Demokratie erfüllen muss, um im Sinne von Habermas eine deliberative Öffentlichkeit zu erzeugen: Unabhängigkeit vom Staat und von wirtschaftlichen Mächten, gute Begründungen anstatt nur Zustimmung, Reflexivität, ideale Rollenübernahme (das Hineinversetzen in die Situation anderer beteiligter Subjekte), Ehrlichkeit und diskursive Inklusion und Gleichberechtigung. Auch Chadwick (2006: 89) hält das Öffentlichkeitsmodell von Habermas im Kontext der Debatte um die deliberativen Potenziale des Internets für fruchtbar: „Central to its power is the idea of autonomous spheres of communication in which citizens can freely engage in reasoned debate away from the controlling influence of the state, large media corporations, and structures of social inequality that impinge on their daily lives. The idea of citizens deliberating in freely formed associations in civil society before taking that knowledge up to the level of government recalls the direct democracy of ancient but updates this for the contemporary period by focusing on the inescapability of mediation.“

Relevant ist in diesem Kontext auch Uppendahls (1981) Konzept einer „Responsiven Demokratie“. Partizipation und Repräsentation bilden in einer Vielzahl westlicher Demokratien die Grundlage des politischen Systems. Da jedoch der aktive Anteil der Partizipierenden (Mitglieder in Parteien, Wähler*innen, Initiator*innen von direktdemokratischen Elementen wie Volksabstimmungen usw.) nicht einem repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung entspricht, sind andere Modelle der Repräsentativität nötig, die sich mit der Repräsentation im Sinne der Bürger*innen befassen (vgl. ebd.: 87 f.). Das Konzept der responsiven Demokratie soll eine realistische Form der repräsentativen Demokratie und die theoretische Idealvorstellung einer Herrschaft des Volkes miteinander verbinden (vgl. ebd.: 88 f.). Responsivität bezeichnet dabei den Grad der Bereitschaft der Herrschenden, die Interessen von Bürger*innen zu vertreten. Ein responsives Verhalten der Repräsentant*innen setzt die „Fähigkeit zur Identifizierung der Wünsche, Vorstellungen und Bedürfnisse der Repräsentierten voraus, eine Fähigkeit, die ihrerseits von mindestens drei Variablen abhängig sein dürfte: vom Perzeptionsvermögen der Repräsentanten, von ihrer Selbsteinschätzung und ihrer Bereitschaft, die Meinungen der Repräsentierten zu akzeptieren und von ihrem Rollenverständnis.“ (ebd.: 95)

Dieses Rollenverständnis befasst sich mit dem Grad der Bindung der Repräsentant*innen an die Meinungen und den Willen der Repräsentierten. Eine Großzahl der Repräsentationstheoretiker*innen geht davon aus, dass Repräsentant*innen ein freies Mandat haben, welches ihnen erlaubt, nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln. Andere Theoretiker*innen fordern hingegen, dass „die wahre und echte Repräsentation nur in einem gebundenen Mandat bestehen könne“ (ebd.: 97). Der erste Fall entspricht dem Typ „Treuehändler“, der zweite dem Typ „Deligierter“. Vervollständigt wird diese Typologie durch einen dritten Typ, den „Politico“. Der Treuehändler orientiert sich bei allen seinen Entscheidungen nur an seinem Sachverstand und dem eigenen Gewissen, da er an keinerlei Weisungen gebunden ist. Da er meist über Informationen verfügt, die den Repräsentierten nicht vorliegen, wird ihm zugetraut, dass er Positionen und Informationen sorgfältig abwägt und im Anschluss eine Entscheidung fällt, die die Repräsentierten genauso treffen würden, wenn sie entsprechendes Wissen hätten (vgl. Uppendahl 1981: 97 f.). Der Deligierte hat sich hingegen am Wählerwillen zu orientieren und darf sein Entscheidungsverhalten nicht von seinem eigenen Urteilsvermögen abhängig machen. Hier liegt eine hohe Responsivität vor. Bei diesem Typ sind Rollenkonflikte laut Uppendahl (ebd.: 98) jedoch vorprogrammiert. Wie die Empirie später zeigen wird, vertreten auch einige Interview-Partner*innen dieses Verständnis und fordern ein, dass Politiker*innen sich stärker am Willen der Wähler*innen orientieren sollten. Der Politico hingegen „orientiert sich in seinem Entscheidungsverhalten vornehmlich an dem materiellen Gehalt der zur Entscheidung anstehenden Sache“ (ebd.). Entsprechend schlüpft er mal in die Rolle des Deligierten und mal in die des Treuehändlers, er entscheidet sich einmal wählerorientiert und ein anderes Mal sachorientiert und vertritt ein mittleres Maß an Responsivität. Der repräsentationstheoretische Typus des Politico erscheint Uppendahl (ebd.: 99) am geeignesten „die Forderung nach einem Mindest- bzw. Mittelmaß an Responsivität zu verwirklichen“ und auch im Falle von miteinander inkompatiblen Interessen eine sachorientierte Entscheidung fällen zu können.

Während sich Uppendahls (1981) Konzept der Responsivität mit dem Grad der Offenheit der Repräsentant*innen beschäftigt, die Interessen der Bürger*innen zu vertreten, untersuchen Campbell et al. (1954) die gegenüberliegende Perspektive und beschäftigen sich mit der wahrgenommenen politischen Wirksamkeit von Individuen und der Responsivität des politischen Systems. Bei solchen Ansätzen eines ‚sense of political efficacy‘ hängt die politische Beteiligung einerseits von der Selbsteinschätzung des Individuums und andererseits von der wahrgenommenen Responsivität des politischen Systems ab. „Als wie gut erachte ich mein Politikverständnis und meine Fähigkeit, das politische System zu beeinflussen (internal efficacy) und für wie offen halte ich das System für meine Beeinflussung (external efficacy)?“ – Einen ähnlichen Ansatz vertritt auch Lane (1959).

Barber (1994: 132) nimmt eine Kategorisierung von fünf Idealtypen von existierenden Regierungsformen vor und spricht sich für die Form der Starken Demokratie aus. Er beschreibt drei der Typen als repräsentative oder auch magere Formen der Demokratie (autoritative, juridische und pluralistische repräsentative Demokratie) und zwei weitere Typen als direkte Demokratien (Einheitsdemokratie und Starke Demokratie).

Die Starke Demokratie als moderne Form partizipatorischer Demokratie „beruht auf dem Gedanken einer sich selbst regierenden Gemeinschaft von Bürgern“ (ebd.: 99). Laut Barber (ebd.: 101) hätten die Gefahren des Totalitarismus und die Geschichte des 20. Jahrhunderts die Menschen lehren müssen, dass „repressivere politische Ideologien auftreten werden, wenn Demokratie auf das Bedürfnis nach Gemeinschaft nicht anders reagiert als mit einem ängstlichen Rückzug ins Private.“ Die Theorie der Starken Demokratie bietet hingegen eine alternative und aktivere Antwort: Sie „stellt die Politik nicht als eine erstarkte Daseinsweise, sondern als eine bestimmte Art dar, sein Leben zu führen – nämlich jene, die menschliche Wesen mit unterschiedlichen, wiewohl formbaren Charakteren und mit konkurrierenden, aber sich berührenden Interessen gemeinschaftlich entwickeln können, nicht nur um ihres gegenseitigen Nutzens willen, sondern auch zum Nutzen ihres gemeinschaftlichen Miteinanders.“ (Barber 1994: 101) Transformation wird als Herzstück dieses Politikverständnisses betont. Während andere Formen der Demokratie Politik als einen Weg verstehen, Uneinigkeit zu unterdrücken oder abzuschaffen, ist die Starke Demokratie „bestrebt, Uneinigkeit mit Hilfe einer äußerst erfinderischen und entdeckungsfreudigen Politik zu transformieren.“ (ebd.: 102) Laut Barber (ebd.: 103) ist die Starke Demokratie „sowohl Zweck als auch Mittel“ und Politik wird in ihr „zu einer Reise, bei der es ebenso wichtig ist, unterwegs zu sein wie an einem Ort anzukommen […].“

Starke Demokratie „schafft eine Öffentlichkeit, die fähig ist, vernünftige, öffentliche Beratung abzuhalten und Entscheidungen zu fällen“ (ebd.: 122). Die Theorie Starker Demokratie sieht die Schaffung einer Gemeinschaft als Hauptaufgabe jeder politischen Tätigkeit, die auf Bürgerbeteiligung setzt. Eine Voraussetzung für Partizipation sind Bürger*innen, „die in der Lage sind, sinnvolle und autonome Entscheidungen zu treffen“ (ebd.: 124). Zustimmungen, die ohne wirkliche Autonomie erfolgen, sind für Barber demnach keine Zustimmungen. Individuelle Willenserklärungen sind folglich das „Herzstück der Idee einer Selbstgesetzgebung durch Partizipation“ (ebd.). Uneinigkeit ist für jede Form von pluralistischer Demokratie von zentraler Bedeutung. Die Starke Demokratie erkennt ihre Bedeutung im politischen Prozess an und macht sie sich zu Nutzen. Denn sie entwickelt „eine Politik, die Uneinigkeit durch Bürgerbeteiligung, öffentliche Beratung und Erziehung zum Staatsbürger in Kooperation zu verwandeln vermag. Starke Demokratie beginnt mit Uneinigkeit, aber endet nicht dort: sie erkennt Uneinigkeit an, verändert sie aber letztendlich ohne die Konflikte dabei verschwinden zu lassen oder herunterzuspielen.“ (ebd.: 126)

Für Barber (ebd.: 146) liegt die Zukunft der Demokratie in der Starken Demokratie, denn sie ist eine „Wiederbelebung einer Form von Gemeinschaft, die nicht kollektivistisch, einer Form des öffentlichen Argumentierens, die nicht konformistisch ist, und einer Reihe bürgerlicher Institutionen, die mit einer modernen Gesellschaft vereinbar sind.“ Die Starke Demokratie ist eine Selbstregulierung der Bürger*innen, in der nicht nur eine stellvertretende Regierung im Namen dieser Bürger*innen handelt, sondern diese unmittelbar mitregieren. Zwar nicht immer und auf jeder Ebene, aber insb. dann, wenn es um grundlegende Maßnahmen und bedeutsame Machtentfaltungen geht. In einer Starken Demokratie haben Werte wie Gleichheit, Freiheit und soziale Gerechtigkeit eine hohe Bedeutung, denn „die starkdemokratische Lösung für die politische Ausgangsbedingung entsteht aus einer sich selbst zuarbeitenden Dialektik aktiver Bürgerbeteiligung und ununterbrochener Schaffung einer Gemeinschaft, in der Freiheit und Gleichheit gefördert und politisches Leben aufrechterhalten werden.“ (Barber 1994: 148) Wenn Individuen ihre Aufgabe als Bürger*innen wahrnehmen, werden sie laut Barber (ebd.: 148 f.) „dazu erzogen, öffentlich als Bürger zu denken, so wie die Bürgerschaft die staatsbürgerliche Tätigkeit mit dem erforderlichen Sinn für Öffentlichkeit und Gerechtigkeit erfüllt. Politik wird zu ihrer eigenen Universität, Bürgerschaft zu ihrer eigenen Lehranstalt und Partizipation zu ihrem eigenen Lehrmeister.“ Ein gemeinschaftliches ‚Wir‘ bleibt so lange nur Abstraktion, bis Bürger*innen sich neu definieren und unmittelbar zusammenkommen, um eventuelle Meinungsverschiedenheiten auszutauschen, Uneinigkeiten zu beheben und eine Entscheidung zu finden. Barber (ebd.: 150) schlussfolgert, dass in der „Politik starker Demokratie […] Bürgerbeteiligung eine Weise [ist], das Selbst zu definieren, so wie Bürgerschaft eine Lebensform ist.“

In Einklang mit Barbers (1994) Konzept einer Starken Demokratie steht Deweys (1988) „Creative Democracy“. Denn Dewey (ebd.) versteht Demokratie als Lebensstil, der alltäglich vollzogen werden muss. Er geht einem doppelten Demokratieverständnis nach: Einerseits Demokratie als politisches System, andererseits als kulturell-praktisches Ideal (vgl. ebd.: 224). Dewey (ebd.: 226) bezeichnet Demokratie als „a personal way of individual life“. Mit dieser Bezeichnung stellt sich Dewey gegen ein rein pflichtbasiertes Bürgerschaftsmodell wie das des „dutyful citizen“ bei Dalton (2008) oder Bennett (2008). Für Dewey (1988: 225) ist Bürgerschaft ein aktives Konzept, das alle Lebensbereiche eines Menschen umfasst. Er stellt der Vorstellung, dass Demokratie eine „machine“ sei und für diese Funktionalität Bürger*innen nur ihre Pflichten erfüllen müssten, das Verständnis gegenüber, Demokratie sei ein „way of life“ (ebd.: 226), der auf alle Lebensbereiche übertragbar sei: „democracy is a personal way of individual life; that it signifies the possession and continual use of certain attitudes, forming personal character and determining desire and purpose in all the relations of life“ (ebd.).

Für Dewey (1988) steht dabei, anders als in Theorien deliberativer Demokratie, der Austausch von individuellen Erfahrungswerten im Mittelpunkt, nicht von Argumenten und Positionen. Wie auch Barber (1994) sieht Dewey (1988: 228) in Uneinigkeiten und Differenzen eine Stärke für Demokratie, da man durch die Erfahrungen und Meinungen anderer etwas dazulernen kann: „[…] the expression of difference is not only a right of the other person but is a means of enriching one’s own life-experience, is inherent in the democratic personal way of life.“ Dabei ist der Prozess der Erfahrung wichtiger als das Ergebnis, da im Prozess und in der Interaktion (voneinander) gelernt wird.

Unter Erfahrung versteht Dewey (1988: 229) „free interaction of individual human beings with surrounding conditions, especially the human surroundings, which develops and satisfies need and desire by increasing knowledge of things as they are.“ An die Stelle von Deliberation in Form eines Austausches von Argumenten und Positionen tritt bei Dewey eine Untersuchung der Lebensbedingungen, welche Wissen über eben diese Bedingungen erzielen soll. Dieses Wissen über die Lebensbedingungen anderer Menschen ist wiederum Grundlage für einen empathischen Erfahrungsaustausch. „Knowledge of conditions as they are is the only solid ground for communication and sharing.“ (ebd.: 229) Die (materiellen) Lebensbedingungen von Bürger*innen bilden somit einen wichtigen Baustein dessen, was in einer Demokratie politisch möglich und nötig ist. Erfahrungen miteinander zu teilen und gleiche Lebensbedingungen für alle zu schaffen, ist laut Dewey (ebd.: 230) die immerwährende Aufgabe einer Demokratie: „the task of democracy is forever that of creation of a freer and more human experience in which all share and to which all contribute.“ An dieser Stelle stellt sich die Frage, ob und wenn ja, wie das Internet einen solchen Erfahrungsaustausch verändert hat. Kann bspw. durch Social Media einfacher Wissen über die Lebensbedingungen anderer Menschen gestreut werden? Dies gilt es im weiteren Verlauf der Arbeit zu untersuchen.

Mit den Begriffen „Postdemokratie“ (Crouch 2008) und „Simulative Demokratie“ (Blühdorn, 2013) beschreiben die beiden Autoren kritisch Tendenzen, die sich ihrer Meinung nach in gegenwärtigen Demokratien beobachten lassen. Bei der Annäherung an den Begriff der Demokratie gibt es laut Crouch (2008: 8 ff.) zwei Möglichkeiten: Einerseits die Systematisierung des Vorgefundenen und Definition als liberale Demokratie mit den drei Hauptkriterien Wahlbeteiligung, Einfluss von Lobbygruppen und geringer Eingriff der Regierung auf die marktwirtschaftlich organisierte Wirtschaft. Andererseits die Formulierung eines Ideals der Demokratie und das Messen der Wirklichkeit daran. Als zwei Ideale wird dabei formuliert, dass die Masse an Bürger*innen die Gelegenheit hat, sich in die Gestaltung des öffentlichen Lebens einzubringen und dass diese Beteiligung im Kontext unabhängiger Organisationen und in Form von Diskussionen stattfindet. Eine tatsächliche Verwirklichung dieses Ideals lässt sich anhand von zwei Voraussetzungen überprüfen: 1) Die Masse der Bürger*innen nimmt die Beteiligungsmöglichkeiten in der Realtität wahr und es wird nicht nur auf Stimmungsbilder und Meinungsumfragen reagiert. 2) Die Bürger*innen können auf einen ausreichenden Sachverstand zurückgreifen, um politische Fragen angemessen beurteilen zu können. Diese Aspekte werden in der Diskussion des Interviewmaterials anschließend eine wichtige Rolle spielen.

Das von Crouch (2008) als Postdemokratie bezeichnete Phänomen kann als Gegenstück zu dem gerade beschriebenen Modell verstanden werden. Charakteristisch für Postdemokratie sei, dass sich die Mehrzahl der Bürger*innen apathisch verhält und maximal auf Aufrufe zur Wahl reagiert, dass Wahlkampfthemen von PR-Profis ausgesucht und so stark beeinflusst werden, dass diese Themen schlussendlich die Wahl entscheiden und dass neben sichtbaren politischen Inszenierungen die tatsächlich wichtigen Entscheidungen zwischen Lobbyist*innen und Regierung unter Ausschluss der Öffentlichkeit getroffen werden – und dies meist noch im Sinne der Unternehmen und Lobbyvertreter*innen. „Die Mehrheit der Bürger spielt eine passive, schweigende, ja sogar apathische Rolle, sie reagieren nur auf die Signale, die man ihnen gibt. Im Schatten dieser politischen Inszenierung wird die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht: von gewählten Regierungen und Eliten, die vor allem die Interessen der Wirtschaft vertreten.“ (ebd.: 10) Crouch (2004: 49) argumentiert, dass das politische Leben größtenteils von einer kommerziellen Handlungslogik bestimmt werde und u. a. auch die Kommerzialisierung der Massenmedien dazu beigetragen habe, dass sich die Partizipation der Bürger*innen fast ausschließlich auf konsumtives Handeln beschränke: „The commercial model is […] triumphing over other concepts of mass political communication. Politics and other types of news have been increasingly redefined as items of very short-term consumer spending. The consumer has triumphed over the citizen.“

Die Postdemokratie verfüge zwar über die formalen Strukturen einer Demokratie und auch ihre Institutionen seien stabil, doch Öffentlichkeit und Teilhabe funktionierten kaum. Politiker*innen und Parteien erkennen die Bedürfnisse der Bürger*innen nicht oder selten – oder wollen sie nicht erkennen – und anstatt mit den Bürger*innen in Dialog zu treten, werden professionelle Beratungsunternehmen herangezogen und Marktforschung wird zum zentralen Moment. „Je mehr sich der Staat aus der Fürsorge für das Leben der normalen Menschen zurückzieht und zulässt, dass diese in politische Apathie versinken, desto leichter können Wirtschaftsverbände ihn – mehr oder minder unbemerkt – zu einem Selbstbedienungsladen machen. In der Unfähigkeit, dies zu erkennen, liegt die fundamentale Naivität des neoliberalen Denkens.“ (Crouch 2008: 29f.) Entsprechend kontrollieren ökonomische Interessen den demokratischen Prozess und inszenieren mit Hilfe von PR-Experten ihre Ergebnisse als Spektakel und Erfolge. Anstatt Inhalte sachlich zu vermitteln und politische Entscheidungen zu erklären, konzentrieren sich Regierungen laut Crouch (ebd.: 59) darauf, stimmbringende und positive Images zu produzieren und unter dem Stichwort ‚New Public Management‘ öffentliche Verwaltung umzustrukturieren und Regierungshandeln nach marktförmigen Prozessen an private Unternehmen auszulagern. Daraus ergeben sich für Crouch (2008: 127) unbestimmbare Grenzen der Einflussnahme und nicht mehr klar zuordnenden Verantwortlichkeiten: „Wenn man davon ausgeht, daß Unternehmen prinzipiell klüger sind als Regierungen, dann wird die Idee einer klar bestimmbaren Grenze für den politischen Einfluss der Wirtschaft absurd.“

Blühdorn (2013) geht – ähnlich zu Crouchs (2008) Standpunkt – davon aus, dass demokratische Praktiken und Institutionen schon immer nur auf eine Idee verwiesen haben und auf ein Ideal, das in der Realität eher unvollkommen war. Nach Blühdorn war Demokratie schon immer symbolisch. Die Simulative Demokratie geht nun noch einen Schritt weiter und ist die Lösung auf die Frage, wie man den nur symbolischen Charakter einer Demokratie verschleiern und die Demokratie in voller Blüte erscheinen lassen kann. „Wo die Demokratie auf eine Norm verwies, die dem gültigen Selbstverständnis der Bürger entsprach, die aber in der Praxis noch nicht umgesetzt war, konnte sie als symbolisch bezeichnet werden. Als simulative Demokratie aber inszeniert sie die Gültigkeit einer Norm, die eigentlich dem vorherrschenden Subjektivitätsverständnis der Bürger nicht mehr entspricht und die auch nicht mehr wirklich umgesetzt werden, aber doch auch auf keinen Fall aufgegeben werden soll.“ (Blühdorn 2013: 178)

Laut Blühdorn (2013) sind demokratische Institutionen nur noch eine Fassade, die eine „entkernte Politik“ (Beck 1993: 210 ff.) verstecken soll. Er geht noch einen Schritt weiter als der postdemokratische Ansatz und kritisiert an diesem wiederum, dass er ausblende, „dass die kritisierten Kommunikations- und Handlungsformen der simulativen Demokratie sehr genau auf die in sich widersprüchlichen Bedürfnisse postdemokratischer Bürger und Institutionen eingehen, während demokratische Verfahren im angeblich authentischen Sinne deren Bedürfnislagen vollkommen unangemessen wären.“ (Blühdorn 2013: 181) Das Modell der Simulativen Demokratie kann als Revision der Kritik der sogenannten ‚symbolischen Politik‘ gelten, denn diese symbolische Politik impliziert, dass eine authentische Politik theoretisch durchaus möglich sei, jedoch nicht den Interessen der Regierenden entspricht. In einer Simulativen Politik wird hingegen davon ausgegangen, dass eine tatsächliche Alternative zur gegenwärtigen Politik nicht mehr zur Verfügung steht, „weil dafür die systemischen Imperative längst zu übermächtig sind, die normativen Grundlagen fehlen, die Interessenskonstellationen zu veränderlich, komplex und widersprüchlich sind und jene vermeintlich authentische Politik mit den postdemokratischen Bedürfnissen der Bürger in Konflikt geraten würde.“ (ebd.: 182 f.) Blühdorn (ebd.: 183) spricht von einer „Art stillem Einvernehmen […] zwischen denjenigen, die Täuschungsmanöver unternehmen, und denen, die von ihnen betroffen sind.“ In einer Demokratieform mit simulativen Diskursen sowohl von unten als auch von oben, herrscht laut Blühdorn (2013: 183) ein unausgesprochener neuer „Gesellschaftsvertrag zwischen den verschiedensten gesellschaftlichen Akteuren, die alle ein gemeinsames Interesse daran haben, ihr fortgesetztes commitment zu den demokratischen Idealen unter Beweis zu stellen.“ (Hervh. i. O.)

Blühdorn (ebd.: 190 ff.) beschreibt sieben Entwicklungstrends der jüngsten Partizipationsforschung, über die seiner Meinung nach weitestgehend Einigkeit bestehe und welche die Eigenschaften der Simulativen Demokratie darstellen: 1) Wenn politische Partizipation nicht bereits an „service provider“ (ebd.: 190) wie Lobbygruppen, Bewegungsorganisationen oder Aktionsnetzwerken delegiert oder durch Scheckbuch-Aktivismus abgelöst wurde, wird sie zunehmend individualistisch. 2) Politische Partizipation ist themenspezifischer und entideologisiert. Bürger*innen engagieren sich mit Präferenz projektspezifisch und für Themen, die sie unmittelbar betreffen. 3) Heutige Partizipationsformen gehen oft mit der Logik bestehender Ordnungen konform und verzichten auf grundlegende Systemveränderungen. Politischer Konsum bspw. findet häufig weiterhin innerhalb der Logik einer Konsumgesellschaft statt. 4) Politische Partizipation wird zunehmend spontan, projekthaft und sporadisch. 5) Niedrigschwellige Formen ohne großen Aufwand und andauernde Verpflichtungen sind besonders beliebt. 6) Gegenwärtige Partizipationsformen sind oft spaßbetont und haben einen hohen Freizeit-, Unterhaltungs- und Erlebniswert. 7) Bürger*innen wollen sich auf eine möglichst selbstbestimmte Art politisch ausdrücken und beteiligen. In Konsequenz spricht Blühdorn (ebd.: 193) von einem „Bedeutungsverlust der Norm des identitären Subjekts einerseits und […] [einer] radikalisierte[n] Subjektivierung und Subjektzentrierung andererseits“.

Gegensätzlich zur Partizipationsvorstellung der 1970er und 80er Jahre, wonach das Ideal eines autonomen und identitären Subjekts vorherrschte, bestimmen in der modernen postindustriellen Gesellschaft ein „flüchtige[s] Subjekt und seine flexible Identität die Formen der politischen Artikulation und Beteiligung: liquid participation für die democracy to go.“ (ebd.; Hervh. i. O.) Inszenierung, Präsentation und Erleben stehen laut Blühdorn fortan im Mittelpunkt einer gegenwärtigen Politik. Daraus folgt die Gefahr, dass viele Partizipationsformen den Charakter einer Konsumhandlung haben und zu einer Form von „Lifestyle-Statements“ (Stoker 2006: 88) werden. Ernsthaftes Engagement inklusive einer Auseinandersetzung mit komplexen Themen werde dabei durch die Präsentation der eigenen Identität ersetzt.

Bennett (2008) hingegen stellt fest, dass Menschen sich unter den richtigen Bedingungen sehr wohl in Politik einbringen, dann jedoch häufig als Lifestyle Politics mit sehr persönlichen und kreativen Formen. Während das Negativ-Bild von ‚Politik‘ laut Bennett (2008: 1) auf das Verhalten einiger Partei-Politiker*innen zurückzuführen ist und dieses Bild auch von vielen Massenmedien vermittelt wird, beobachtet der Autor parallel dazu eine Entwicklung hin zu Online-Freundschaftsnetzwerken, Unterhaltung und Konsum in Verbindung mit Lifestyle-Fragen. Bennett beobachtet zwei gegensätzliche Paradigmen von Jugendengagement, aus denen er zwei Bürgerschaftsverständnisse ableitet: „actualizing citizenship“ und „dutiful citizenship“.

Nach dem Paradigma der „engaged youth“ (ebd.: 2) wächst die Bedeutung von Netzwerken und Communities. Schuld an einer sinkenden Glaubwürdigkeit und Authentizität von politischen Institutionen haben nach diesem Paradigma die Regierung und die Nachrichtenmedien. Dieser Sichtweise nach werden Jugendliche als expressive Individuen verstanden, die symbolisch befreit werden sollen, ihre eigenen kreativen Entscheidungen zu treffen. Die „engaged youth“ öffnet damit Türen zu einem neuen Spektrum von zivilgesellschaftlichen Aktionen in Online-Räumen. Auf der anderen Seite steht das Paradigma der „disengaged youth“ (ebd.: 3). Dieses kennt zwar neue autonomere Formen der öffentlichen Expression an, fokussiert aber weiterhin die Abnahme der Verbindung zu Regierungen und Politiker*innen und das Nachlassen von zivilgesellschaftlichem Engagement, was schlussendlich eine Bedrohung der Demokratie selbst bedeutet.

Diese unterschiedlichen Perspektiven sind laut Bennett (ebd.) davon abhängig, was unter einem ‘guten Bürger’ oder einer ‘guten Bürgerin‘ verstanden werden kann: „The engaged youth viewpoint, […] empowers young people by recognizing personal expression and their capacity to project identities in collective spaces. […] those who lean toward a disengaged youth perspective often worry about this very personalization or privatization of the political sphere and focus more on how to promote public actions that link to government as the center of democratic politics, and to other social groups and institutions as the foundation of civic life.“ Aus den zwei Paradigmen leitet Bennett (ebd.: 14) die Konzepte von „actualizing citizenship“ und „dutiful citizenship“ ab. Während im traditionellen zivilgesellschaftlichen Ideal des „dutiful citizen“ der Gang zur Wahlurne den Kern eines demokratischen Akts ausmacht, schätzt das Bügerschaftsmodell des „actualizing citizen“ persönliche Aktivitäten aus dem Bereich Konsum, transnationaler Aktivismus oder Gemeinschafts- und Ehrenamtsarbeit als wichtiger ein. In diesem zweiten Modell ist das Verpflichungsgefühl, an regierungszentrierten Aktivitäten teilzunehmen, geringer als im Modell des „dutiful citizen“. Das Bürgerschaftsverständnis des „actualizing citizen“ zeichnet sich durch ein gewisses Misstrauen gegenüber der Medien und Politiker*innen aus, wohingegen Bürger*innen des „dutiful citizenships“ ihre Informationen über die Regierung und andere Themen meist aus den klassischen Massenmedien beziehen. Sie engagieren sich in zivilgesellschaftlichen Organisationen und/oder drücken ihre Interessen über Parteien aus, „that typically employ one-way conventional communication to mobilize supporters“ (Bennett 2008:14). Im „actualizing citizenship“-Modell präferieren Bürger*innen hingegen lose Netzwerke von Gemeinschaftsaktivitäten, in denen Freundschaften und Gruppenbeziehungen eine wichtige Rolle spielen und die durch interaktive ICTs aufrechterhalten werden.

Bennett (ebd.) spricht sich dafür aus, dass das Verständnis von ‚politisch‘ erweitert werden müsse und unterschiedliche bzw. neue Bürgerschaftsmodelle anerkannt werden müssen. Er fordert, Brücken zwischen den zwei Paradigmen zu bauen, um Differenzen nicht weiter zu verstärken und damit zu einer weiteren Entfremdung zwischen Jugendlichen und der Politik beizutragen.Footnote 28 Vielmehr sollten technische Möglichkeiten und politische Praktiken ausgeschöpft werden, um Politik als schillerndes Phänomen in die Klassenzimmer der Jugend zu tragen.

Mit dem Konzept der „participatory civics“ beschreibt auch Zuckerman (2014) neue Formen gesellschaftlichen (Online-)Engagements und spricht sich in diesem Kontext für eine breitere Definition von Zivilgesellschaft und ein verändertes Verständnis von Bürgerschaft aus. Er möchte verstehen, warum (besonders junge) Menschen zu solchen neuen Formen tendieren, wann sie zu Erfolg führen oder ins Leere laufen. Laut Zuckerman (ebd.: 155) ist es nicht der Fall, dass Menschen nicht daran interessiert sind, sich zivilgesellschaftlich einzubringen, sie wollen sich jedoch nicht ineffektiv oder hilfslos fühlen. Im Modell eines „informed citizen“ (ebd.) wird die Rolle der Bürger*innen so verstanden, dass sie politische Prozesse verstehen und Tagesangelegenheiten kennen, dass sie durch Wahlen Repräsentant*innen bestimmen und diese kontaktieren, wenn sie mit Entscheidungen nicht einverstanden sind und dass sie an Referenden teilnehmen. Mit Bezug auf Schudson (1998) erklärt Zuckerman (2014: 156), dass der „informed citizen“ durch einen „monitorial citizen“ abgelöst wurde, welcher durch Überwachung und Kontrolle von Regierungen und anderen einflussreichen Akteuren partizipiert. Eine Eigenschaft von – und auch Bedingung für – gegenwärtige Partizipation im Rahmen von „participatory civics“ ist laut Zuckerman (ebd.), dass Bürger*innen ihren individuellen Einfluss auf das entsprechende Thema sehen können. Diese (insb. jungen) Bürger*innen sind mit partizipativen Medien aufgewachsen und sind es gewöhnt, dass sie ihre Perspektive mit der digitalen Welt teilen können und ihren Einfluss in Form der Anzahl von Likes und Shares messen können. Zuckerman (2014: 156) definiert „participatory civics“ folglich als „forms of civic engagement that use digital media as a core component and embrace a post-‘informed-citizen’ model of civic participation.“ Darüber hinaus zeichnet dieses Bürgerschaftsverständnis aus, dass es häufig keine Zuordnung zu einer größeren politischen Philosophie gibt, sondern vielmehr wechselnde Engagements über verschiedene politische Lager hinweg entstehen, Bürger*innen sich für ein gemeinsames Anliegen zusammenschließen und neue, häufig auch ungewöhnlichere, Koalitionen bilden. Eine Öffentlichkeit, die aus leidenschaftlichen, eigen-interessierten Menschen besteht, kann laut Zuckerman (ebd.: 157) aber an ihre Grenzen stoßen, wenn es darum geht, zusammenzukommen und deliberativ gemeinsame Lösungen zu finden – bspw. weil die Bürger*innen schon gar nicht mehr darin miteinander übereinstimmen, welches Problem derzeit überhaupt wichtig sei.

Entsprechend schlägt Zuckerman (ebd.: 158) eine Unterscheidung zwischen „thick and thin participatory civics“ vor, welche sich vereinfacht gesagt dadurch auszeichnen, dass für die erste Form der Kopf eingesetzt werden muss und für die zweite Form nur die Füße. Bei Thin Engagement haben andere – die Initiator*innen und Organisator*innen – das Denken bereits übernommen und herausgearbeitet, was gemacht werden muss, um den Gegenpart zu überzeugen. In Form von Massenpartizipation müssen einzelne Bürger*innen dann nur noch erscheinen und mitmachen, bspw. an einer Demo teilnehmen oder eine Petition unterzeichnen. Bei Thick Engagement muss hingegen selbst noch nachgedacht und eine Lösung gefunden werden. Hier ist es Aufgabe der Bürger*innen, selbst eine Kampagne zu organisieren, Mitmenschen zu mobilisieren oder anderes. Laut Zuckerman (ebd.) sind „thin“ und „thick engagement“ jedoch keine Gegensätze, sondern ein Kontinuum. Einige Engagementformen müssen einfacher sein (bspw. der Gang zur Wahlurne), während andere aufwendiger sein sollten.

Ein zweites konzeptionelles Gegensatzpaar, das laut Zuckerman (ebd.: 159) neue Formen der zivilgesellschaftlichen Partizipation beschreibt, ist „instrumental“ vs. „voice“. Instrumentelles Engagement hat eine ganz konkrete Theory of Change und ein konkretes Ziel zur Grundlage. In Anlehnung an Hirschmanns (1970) „Exit, Voice and Loyality“ steht Voice hingegen dafür, dass man sich durch die Stimme bemerkbar macht und dies der erste Schritt hin zu (mehr) Engagement ist. Nach Zuckerman (2014: 162) nutzen Bürger*innen ihre Stimme, um sich mit einer Bewegung zu identifizieren, noch bevor sie sich dann konkreter einbringen. Eine einzelne Stimme erzeugt dabei häufig viele andere Stimmen, denn alleine fällt es betroffenen Menschen oft schwerer, ihre Stimme zu erheben, als gemeinsam mit anderen Menschen, die ihre Stimme gleichermaßen einbringen. Diese Stimmen können folglich das Agenda-Setting mitgestalten, denn geäußerte Stimmen können aufgegriffen und einer größeren Zielgruppe vorgestellt werden.

Mit der konzeptionellen Matrix der beiden Gegensatzpaare „thin/thick“ und „instrumental/voice“ erhofft sich Zuckerman (2014: 163) Online-Aktivimus besser untersuchen zu können und äußert sich optimistisch, dass wir keinen Niedergang von Engagement erleben werden, sondern nur einen Wandel in den Formen von Partizipation. Damit sieht er auch die Debatte um den Vorwurf des Slacktivism als beendet an und schlussfolgert, dass manche Formen eben dünner sind als andere: „I predict this change will become mainstream and that debates over whether online activism is slacktivism or meaningful participation will become as uninteresting as debates about whether bloggers are journalists: some blogging is journalism, some online activism is slacktivism.“ (ebd.)

Ähnlich wie Zuckerman (2014) liefert auch Dalton (2008) ein wichtiges Konzept von Bürgerschaft, das im Anschluss in der Analyse des Interviewmaterials von Bedeutung sein wird. Während viele Forscher*innen besorgt einen Rückgang von politischer Partizipation und insb. von Wahlbeteiligung beobachten, pläydiert Dalton (ebd.: 77) jedoch dafür, sich alle Partizipationsformen ganzheitlich anzuschauen und spricht von einem „revival of citizenship“, welches eine Vielzahl neuer Formen von Bürgerschaft miteinbeziehe.

Dalton (ebd.: 78) geht von einem offenen Verständnis von Bürgerschaft aus, bezieht sich auf Almond und Verbas (1963) Beschreibung von politischer Kultur und definiert citizenship norms as a shared set of expectations about the citizen’s role in politics.“ (Herhv. i. O.) Eine politische Kultur enthält eine Mischung aus Einstellungen und Orientierungen und laut Dalton (2008: 78) ist die Rolle der Bürger*innen ein zentraler Teil jeder Kultur. Hier wird festgelegt, was von einzelnen ‚guten‘ Bürger*innen erwartet wird und was wiederum die Bürger*innen selbst zu erwarten haben. Solche Erwartungen formen das politische Verhalten der Bürger*innen. Es kann jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass Bürger*innen die entsprechenden Normen immer auch für gut heißen und diese sich mit den persönlichen Werten überschneiden. Demnach befindet sich Daltons Untersuchungsgegenstand in der Interaktion zwischen diesen Werten und dem tatsächlichen Verhalten. Entsprechend versteht Dalton (ebd.) Bürgerschaft als „a set of norms of what people think people should do as good citizens.“

Basierend auf historischen Definitionen von Bürgerschaft und deren Anwendung in den empirischen Sozialwissenschaften identifiziert Dalton (ebd.: 78 f.) vier Prinzipien von Bürgerschaft: 1) Öffentliche Partizipation in politischen Prozessen, meist über faire und freie Wahlen, ist ein definierendes Element von demokratischer Bürgerschaft. Über Wahlen hinaus sind jedoch auch andere Teilnahmemöglichkeiten von Bedeutung. 2) Als zweites Element nennt Dalton Autonomie, welche bedeutet, dass Bürger*innen ausreichend informiert sind, um eine partizipierende Rolle einnehmen zu können. Gute Bürger*innen sollten demnach in demokratischer Deliberation partizipieren, Politik mit anderen Bürger*innen diskutieren und dabei idealerweise auch die Meinungen anderer verstehen. Dalton (2008: 79) bezieht sich hier auf Dahl (1998), der betont hat, dass der Zugang zu Informationen und eine freie Meinungsdebatte ausschlaggebend dafür sind, bedeutungsvolle demokratische Partizipation zu generieren. 3) Als drittes Element von Bürgerschaftlichkeit nennt Dalton (2008: 79) die Anerkennung von Staatsautorität und Verbindlichkeit zur sozialen Ordnung, denn nur so könnten politische Diskurse stattfinden: „Indeed, acceptance of the legitimacy of the state and the rule of law is often the implied first principle of citizenship, since without the rule of law meaningful political discourse and discussion cannot exist.“ (ebd.) 4) Das letzte Element von Bürgerschaftlichkeit beschäftigt sich mit der Beziehung zu anderen Bürger*innen, bspw. die ethische und moralische Verantwortung gegenüber anderen, Wohlfahrt und Gleichheit. Laut Dalton spiegeln alle diese Aspekte wichtige Elemente von Bürgerschaftlichkeit wieder und tragen damit zu einer demokratischen politischen Kultur bei.

Basierend auf einer empirischen Untersuchung, welche die Wichtigkeit der vier oben genannten Elemente für einzelne Bürger*innen abgefragt hat, entwickelt Dalton (ebd.: 80f.) zwei Typen von Bürgerschaftlichkeit: „citizen duty“ und „engaged citizen“. Der erste Typ basiert größtenteils auf den Elementen soziale Ordnung und Wahlen, während sich der zweite Typ aus mehreren Elementen zusammensetzt. Hier spielen insb. Solidarität und Gemeinschaftssinn, aber auch Partizipation und Autonomie eine Rolle. Diesem Typ von Bürger*innen ist es wichtig, sich in zivilgesellschaftlichen Gruppen politisch zu engagieren und unabhängig von anderen eine eigene Meinung zu finden und vertreten.

Dalton (ebd.: 83) schlussfolgert, dass Bürgerschaftlichkeit eine Mischung aus Rechten und Verantwortungen sei. Die Diskussion über einen Rückgang von politischer Partizipation beziehe sich dabei häufig auf Elemente aus dem Bereich der „duty-based citizenship“, beobachtbar insb. durch einen Rückgang der Wahlbeteiligung. Gegenwärtige Tendenzen sind laut Dalton (ebd.: 83 f.) eine wachsende Skepsis gegenüber der Regierung und weniger Respekt gegenüber Autoritäten. Hierbei beobachtet er einen starken Einfluss des Alters: Ältere Bürger*innen tendieren eher zum Bürgerschaftsverständnis „citizen duty“, während insb. bei jüngeren und gut gebildeten Bürger*innen ein Anstieg von „engaged citizenship“ zu beobachten ist. Da jüngere Wähler*innen die Älteren ablösen, ist eine insgesamte Zunahme dieses zweiten Typs von Bürgerschaftlichkeit die Konsequenz.

Während einige Forscher*innen behaupten, dass politische Partizipation abnehme, lautet eine Gegenthese (Dalton 2008: 84), dass eine Zunahme an Bildung, Skills und anderen Wegen der Einflussnahme dazu führe, dass viele Bürger*innen es nicht mehr für ausreichend halten, alle vier Jahre wählen zu gehen und deshalb andere Möglichkeiten suchen, Einfluss auf Politikmachende zu nehmen. Bei Unmut über aktuelle Zustände wollen sie nicht vier Jahre warten, bis sie wieder etwas ändern können und suchen stattdessen Einflussmöglichkeiten über Interessensgruppen, direkte politische Aktionen, politischen Konsum und Ähnliches.

Verschiedene Bürgerschaftsverständnisse bilden einen Erklärungsrahmen für politische Partizipation. Das Konzept einer Duty-Based-Bürgerschaft kann Rückschlüsse auf die Wahlbeteiligung zulassen, aber auch das Verständnis von „engaged citizenship“ kann politische Partizipation stimulieren. Dabei ergibt sich jedoch eine Verschiebung der Praktiken hin zu individuellen und direkten Formen der Beteiligung. Dalton (ebd.: 85) beschreibt hier zwei entgegenwirkende Entwicklungen: Pflichtbasierte Werte eines Bürgerschaftsverständnisses fördern politische Partizipation, insb. bzgl. der Wahlbeteiligung, während „engaged citizenship“ mehr direkte Partizipation bewirkt und neue und kreative Formen entstehen lässt. Laut Dalton (ebd.) wird eine Balance dieser beiden Entwicklungen die politische Partizipation der Zukunft mitformen.

In einer empirischen Untersuchung prüft Dalton (ebd.: 86 ff.) den Einfluss der Variablen Alter, Bildung und eventueller Minoritäten. Er kommt zu dem Ergebnis, dass Bildung einen starken Einfluss auf sämtliche in seiner Untersuchung genannten Partizipationsformen hat. Das Alter hat wiederum oft einen relativ hohen Einfluss auf politische Partizipation. Partizipationsformen wie Wahlbeteiligung, Geldspenden und das direkte Kontaktieren von Entscheidungsträger*innen wird dabei eher Bürger*innen im hohen Alter zugeschrieben, während Online-Aktivismus in den Aktionsbereich der jüngeren Generation fällt. Ein pflichtbasiertes Bürgerschaftsverständnis befördere zwar Wahlbeteiligung, sei jedoch eher hinderlich für Formen des Protests. Im Verständnis der „engaged citizenship“ kämen hingegen vielfältige Formen der politischen Partizipation zum Tragen, welche u. a. auch dem Bereich des Online-Aktivismus zuzuordnen seien. Damit führen Veränderungen in den Bürgerschaftsverständnissen zu Veränderungen in der politischen Partizipation. Während die Wahlbeteiligung sinkt, etablieren sich andere Formen der Beteiligung und es gibt ein breiteres Repertoire an direkteren und individuelleren Partizipationsmöglichkeiten. Bei diesen Möglichkeiten, sich außerhalb von Wahlen einzubringen, haben Bürger*innen mehr Optionen, selbst zu entscheiden, wann und wie genau sie sich einbringen möchten. Aufgrund der Beobachtung, dass Personen, die in ihrer Jugend durch neue Formen partizipiert haben, auch eine höhere Wahrscheinlichkeit für Partizipation im Alter vorliegt, schlussfolgert Dalton (2008: 94), dass das Ziel von Partizipationsreformen sein müsse, junge Leute zum Wählen zu bewegen und neue Formen zu entwickeln, die an die veränderten Bürgerschaftsverständnisse angepasst seien: „The goal of participation reforms should not only be to encourage young people to act like their grandparents (and vote), but also to develop new forms of access in tune with these changing norms of citizenship.“

Wie in Abschnitt 5.1 „Ressourcen“ schon im Rahmen des CVM von Verba/Schlozman/Brady (1995) beschrieben, befasst sich eine der Komponenten des Modells mit den Einstellungen der Aktiven zu anderen Bürger*innen und zur Politik. Die Komponente Psychological Engagement beinhaltet mehrere Aspekte: Ein generelles Interesse an politischen Themen, den Glauben, dass das eigene Engagement den politischen Willensbildungsprozess beeinflussen kann und ein Gefühl von Vertrauen in Politiker*innen und in andere Bürger*innen. Die Autoren nennen diesbezüglich die Dimensionen „political interest, political efficacy, political information, and partisanship“ (ebd.: 345). Je positiver die Einstellung des Individuums bzgl. dieser Aspekte ist, desto wahrscheinlicher engagiert es sich zivilgesellschaftlich. Unter politischem Interesse verstehen die Autoren Bürger*innen, „who follow politics, who care about what happens, who are concerned with who wins and loses“ (ebd.). Politische Wirksamkeit ist Grundlage vieler Erklärungsmodelle von politischer Partizipation und bezeichnet die (wahrgenommene) Wirksamkeit, die ein Individuum auf den politischen Prozess haben kann oder „how much attention a local or national government official would pay if the respondent had a complaint and how much influence the respondent has over local or national government decisions“ (ebd.: 347). Die dritte Dimension umfasst politische Informiertheit und beinhaltet Aspekte wie tagesaktuelles politisches Geschehen, Wissen über Politiker*innen, die Verfassung und das politische System. Während man Parteiidentifikation auf den ersten Blick mit Wahlprognosen in Verbindung bringen würde, messen die Autoren ihr auch eine Verbindung zu zivilgesellschaftlichem Engagement zu. Jedoch sehen sie diese vierte Dimension etwas außerhalb von den anderen Dreien: „As we might expect, political interest, efficacy, and information are all positively related to each other. Partisanship is somewhat separate, significantly related to political interest but not to efficacy or information.“ (ebd.: 348)

Während die vorgestellten Ansätze und Bürgerschaftskonzepte eine wichtige Grundlage für die Analyse der Interviews bilden, stellt sich darüber hinaus die Frage, wie sich Bürgerschaftsverständnisse im Zuge der Digitalisierung verändert haben. Dalton (2008) thematisiert mit dem Konzept einer „engaged citizenship“ genau wie auch Bennett (2008) mit dem Ansatz einer „actualizing citizenship“ bereits Einflüsse digitaler Medien auf das Partizipationsverhalten von Bürger*innen. Auch Zuckerman (2014) untersucht neue Formen gesellschaftlichen (Online-)Engagements und wirft dabei interessante Fragen in Bezug auf Bürgerschaftsverständnisse auf. Was in oben genannten Ansätzen bisher jedoch nicht ausreichend berücksichtig wird, ist z. B. die Frage, ob sich das teils beschriebene bürgerschaftliche Pflichtverständnis für eine Wahlbeteiligung auch auf neue (digitale) zivilgesellschaftliche Partizipationsformen übertragen lässt. Ebenfalls nicht thematisiert wird die grundlegende Einstellung der Bürger*innen zum vorherrschenden Wirtschafts- und Politiksystem, bspw. unter dem Stichwort Degrowth. Auch hier können jedoch interessante Erkenntnisse für ein Bürgerschaftsverständnis erwartet werden. Eine weitere Frage, insb. mit Blick auf Veränderungen im Zuge der Digitalisierung, ist die nach der Rolle von Sichtbarkeit und Visualität von Protestpartizipation. Welche Rolle spielt die Medienberichterstattung über Proteste für Bürger*innen in Zeiten von Web 2.0? Ebenfalls interessant wäre eine Auseinandersetzung mit den von Bürger*innen individuell empfundenen gegenwärtigen Herausforderungen von Protestpartizipation unter Einfluss der Digitalisierung. Der nun folgende Abschnitt wird versuchen, diese und andere Forschungsfragen zu beantworten und wichtige Aspekte gegenwärtiger Bürgerschaftsverständnisse zu beleuchten.

5.2.2 […] das ist eigentlich ein Muss für jeden, der ein bisschen Verstand hat [...]“ – Bürgerschaftsverständnisse als Erklärung für Protestpartizipation

Kategorie „Bürgerschaftsverständnis“

Für die Einschätzung der Relevanz und Effizienz von Straßen- und Netzprotest ist auch das Verständnis von Politik und Bürgerschaft von großer Bedeutung. Für wie kompetent halten die Bürger*innen ihre Mitmenschen, Politiker*innen und sich selbst? Inwieweit vertrauen sie diesen anderen Akteuren und für wie effizient halten sie ihr eigenes Engagement? Aufbauend auf dem persönlichen Verständnis von Politik und der Rolle als Bürger*in lassen sich Antworten auf diese Fragen finden. Im Folgenden sollen deshalb zuerst das Politikverständnis der Interview-Partner*innen und ihr Selbstverständnis als Mensch, Bürger*in und Aktivist*in vorgestellt werden. Anschließend folgt eine Beschreibung der Einschätzungen zur generellen Nachhaltigkeit von Protest und Partizipation. Auf diesen Aspekt wird im weiteren Verlauf in Kapitel 7 „Einstellungen zu Straßenprotest und Netzaktivismus“ nochmals mit einer Differenzierung der verschiedenen Protestformen – insb. der Unterscheidung ‚online‘ vs ‚offline‘ – eingegangen.

„[…] das ist eigentlich ein Muss für jeden, der ein bisschen Verstand hat, sich da einzusetzen.“ (Mareike) – Engagement als Muss

Isabelle und Mareike bezeichnen politische Partizipation und Engagement als Muss und begründen ihre Argumente darauf, dass es so ungerecht zugehe und dass ähnlich wie bei einer Wahl zwar eine einzelne Stimme nicht viel ausmache, in ihrer Gesamtheit mit den anderen Stimmen daraus jedoch ein großes Bild entstehe und die eine Stimme so Gesellschaft mitgestalte. „Ja, also ich denke, wer da einfach so vor sich hinlebt und sich nicht einbringt, der kann auch nichts erreichen und ich denke, das ist eigentlich ein Muss für jeden, der ein bisschen Verstand hat, sich da einzusetzen.“ (Mareike, Z. 390 ff.) Als Muss oder Pflicht verstehen Partizipation auch die Bürger*innen in Bennetts (2008) Model einer „dutiful citizenship“ und in Daltons (2008) Konzept einer „citizen duty“. Allerdings steht dort insb. der Gang zur Wahlurne im Mittelpunkt. Mareike hingegen, spricht allgemein davon „sich einzusetzen“. Hier deutet sich bereits an, dass sie – und auch andere Bürger*innen – nicht nur (Bundes- und Landtags-)Wahlen als Muss versteht, sondern auch zivilgesellschaftliches Engagement darüber hinaus.

Laut Isabelle fügen sich, ähnlich wie in einem Mosaik, viele kleine Beiträge zu einem großen Gesamtbild zusammen. Aus diesem Grund zählt für sie jede einzelne Stimme: „[…] jeder Einzelne ist ja ein Teil der Gesellschaft und gestaltet die mit. Das ist wie in der Demokratie: Eine einzige Wählerstimme, die verändert überhaupt nichts. Aber trotzdem, wenn alle zur Wahl gehen, dann steht am Ende ein Ergebnis und es kommt ein Bild dabei raus. Und deswegen lohnt es sich, die Stimme abzugeben. Und genau das gleiche ist es auch beim politischen oder gesellschaftlichen Engagement: Dass jede kleine Veränderung oder jedes kleine Projekt, das ist nur ein winziger Teil vom Mosaik, aber es fügt sich dann zusammen.“ (Isabelle, Z. 165 ff.) Für Isabelle ist es nicht genug, sich nur bei Wahlen zu beteiligen und nur dadurch Gesellschaft mitgestalten zu wollen, oder durch eine Petition sein Dafür oder Dagegen in einer Sache auszudrücken. Sie wünscht sich darüber hinaus ein aktives Gestalten von Gesellschaft.Footnote 29 Diese Ansicht entspricht wiederum den Konzepten von Bennetts (2008) „actualizing citizenship“ und Daltons (2008) „engaged citizen“. Auch Isabelle schreibt Gemeinschaftssinn und zivilgesellschaftlichem Engagement eine starke Rolle zu, sie beschreibt diesen Anspruch, Gesellschaft aktiv mitzugestalten, jedoch erst einmal unabhängig von etwaiger Mediennutzung oder Vorteilen der Digitalisierung. Ihr Verständnis von Bürgerschaft ist folglich unabhängig von technischen Entwicklungen und neuen Einflussmöglichkeiten.

Wie bereits unter dem Aspekt der Ressourcen beschrieben, verstehen einige Interview-Partner*innen den Zugang zu Information als Grundlage für Partizipation. Auch für Isabelle ist der Schlüssel zur Teilnahme in einer Demokratie Bildung. In ihren Augen sollten Menschen dazu ermächtigt werden, in einer Demokratie zu partizipieren. Selbst denkende Menschen sind für Isabelle die Basis einer Demokratie und dazu benötigen Bürger*innen Inspiration, Ermutigung und das Gefühl, etwas erreichen zu können: „[…] wenn alle die Gelegenheit haben, gehört zu werden und sich einbringen können. Und das nicht nur vordergründig, von wegen es gibt eine Regel, die sagt, jeder kann das, sondern auch die Menschen ermächtigt werden, das zu tun. […] Deswegen finde ich z. B. Bildung auch total wichtig. Weil man Menschen auch in die Lage versetzen muss, teilzuhaben und sich einzubringen. […] Menschen, die sie dazu inspirieren und anregen und ermutigen, eben auch ihre Meinung einzubringen und auch, dass man das Gefühl bekommt, ich KANN was erreichen, es lohnt sich, es bringt was.“ (Isabelle, Z. 184 ff.) Ähnlich wie Barber (1994) vertritt Isabelle den Standpunkt, dass Bürger*innen in der Lage sein sollen, selbst autonome Entscheidungen zu treffen. Auch Zuckerman (2014) beschreibt mit dem Konzept des „informed citizen“, dass Bürger*innen politische Prozesse verstehen und das Tagesgeschehen verfolgen müssen. Dalton (2008) betont insb. den Zugang zu Informationen und dass Bürger*innen Autonomie nur erreichen können, wenn sie ausreichend informiert sind. Für Isabelle ist darüber hinaus wichtig, dass dieses Engagement „etwas bringt“. Der Aspekt der Nachhaltigkeit von zivilgesellschaftlichem Engagement wird im weiteren Verlauf der Arbeit noch ausführlich thematisiert.

Zu dem Gefühl, dass es sich lohnt sich einzusetzen, gehört auch das Gefühl, gehört zu werden. Für Julia sind mehr politische Partizipationsmöglichkeiten nötig, da die jetzigen ihr in der Umsetzung nicht ausreichen: „[…] ganz spontan würde ich sagen, dass Demokratie für mich bedeutet, dass ich wahrgenommen werde oder dass meine Stimme eine Chance hat, gehört zu werden.“ (Julia, Z. 291 ff.) Diese Ansicht veranschaulicht Habermas Modell (1992) einer deliberativen Demokratie, in welcher alle Bürger*innen die Möglichkeit haben sollen sich und ihre Stimmen über Debatten und Kommunikation auf Augenhöhe einzubringen. Julia vertritt ein partizipatorisches Demokratieverständnis und wünscht sich mehr Einflussmöglichkeiten. Wie später zu zeigen sein wird, sieht sie Verbesserungspotenzial sowohl online als auch offline.

Zum Thema Meinungsfreiheit merkt Felix an, dass einerseits zu viele Diskussionen auch hinderlich für einen Entscheidungsprozess sein können und andererseits für eine anregende Diskussion verschiedene Standpunkte nötig seien. Nur mit gleichgesinnten Leuten zu sprechen, würde jemanden nicht viel weiterbringen. Felix stützt damit die These von Habermas (1992), dass Deliberation und Debatten eine ‚gute‘ Demokratie ausmachen, und das Verständnis von Barber (1994), dass Uneinigkeit als Antrieb für Transformation gelte und man nur im Austausch mit Andersdenkenden weiterkomme. Außerdem unterscheidet Felix zwischen Konversationen, die face-to-face stattfinden und solchen, die sich in der Anonymität des Internets abspielen. Bei Face-to-face-Begegungen würde man sich „outen“ und Menschen seien dementsprechend vorsichtiger mit ihren Äußerungen, während die Anonymität des Internets dazu beitrage, dass viele Menschen ohne Rücksicht auf Netikette schreiben, was sie sich in direkter Gegenüberstellung evtl. nicht trauen würden zu sagen.Footnote 30 Felix spricht sich für anregende Diskussionen mit Andersdenkenden aus, sieht aber auch Gefahren der Netzkommunikation wie Hatespeech und Missachtung von grundlegenden Kommunikationsregeln, die unter dem Deckmantel der Anonymität des Internets häufiger vorkommen als bei Face-to-face-Begegungen.

„Wenn ich so an diese Hubschraubereinsätze und all das denke […].“ (Gerd) – Konflikte zwischen Polizei und Demonstrant*innen führen zu Vertrauensverlust in den Staat

Als undemokratisch empfinden einige Interview-Partner*innen den Umgang der Polizei bzw. des Staates mit Demonstrant*innen verschiedener Protestaktionen in der Vergangenheit, die von Gewalt und Konfrontation geprägt waren. Für Gerd bedeutet Demokratie, dass man sich einbringen kann und keine Angst vor eventuellen Konsequenzen haben muss. Er erinnert sich jedoch auch an Demonstrationen mit Hubschraubereinsätzen und Staatsgewalt, bei denen er den Missmut von aggressiven Demo-Teilnehmer*innen nachvollziehen kann. „Ich meine, das sind ja auch so, Brokdorf und solche Geschichten – das waren ja schlimme Kämpfe! Das war ja auch für eine Regierung nicht einfach, da dagegen zu halten. Wenn ich so an diese Hubschraubereinsätze und all das denke, was die da gemacht haben, das war ja auch der Staat, der war so was von undemokratisch mit den Protestlern. Also, ich habe wirklich Wut gehabt. Ich konnte oder ich kann auch heute noch verstehen, dass manch einem Demonstranten das Messer in der Tasche aufgeht, wenn der Staat so seine Macht schamlos zeigt und die Menschen einschüchtert“ (Gerd, Z. 279 ff.). Bei seinen ersten Demonstrationserfahrungen als junger Mensch hat Gerd erlebt, wie der Staat seine Machtposition in solchen Situationen ausspielen kann und mit Hilfe von Hubschraubereinsätzen die Masse zu kontrollieren versucht. Mehrfach beschreibt Gerd ausführlich das in seinen Augen übertriebene Aufgebot von Polizei, das im Verhältnis zu den Demo-Teilnehmer*innen unverhältnismäßig gewesen sei. Hätte er damals nicht schon seine Tochter gehabt, so hätte er sich auch vorstellen können, in die radikale Szene abzurutschen. Er hält das Polizeiaufgebot von damals für eine „völlige Überreaktion des Staates“ und beschreibt, wie der Staat durch das harte Eingreifen bei der Straßendemo aus seiner Sicht enorm an Vertrauen verloren hat.Footnote 31 Hier zeigt sich Gerds geringes Vertrauen in die Staatsmacht, welches sich aus einer Konfliktsituation bei einer Straßenprotesterfahrung ergeben hat und nur deshalb nicht zu einer Radikalisierung führte, weil Gerd zu dieser Zeit für seine gerade geborene Tochter da sein wollte. Familie wiegt an dieser Stelle für Gerd mehr als seine politische Überzeugung. Seinen persönlichen Vertrauensverlust in den Staat überträgt er auch auf andere Bürger*innen.

Daniela ist ähnlicher Meinung wie Gerd und schätzt an Sozialen Bewegungen und Demonstrationen besonders die friedliche Teilnahme. Sie sieht die Polizei nicht im Recht, bei einer friedlichen Sitzblockade Teilnehmer*innen anzugreifen. Sie selbst habe in dem Moment nur Pappe in der Hand und keine Waffe und wenn Polizei dann mit Tränengas oder ähnlichem angreift, gehört für Daniela (Z. 589 ff.) die Polizei verurteilt und nicht die Demo-Teilnehmer*innen. Welche Rolle Staat und Polizei als konkretes Gegenüber bei einem Straßenprotest spielen, wird in Abschnitt 5.3 „Emotionen und Affekte“ im weiteren Verlauf noch ausführlicher beschrieben.

„[…] das sind auf jeden Fall demokratische Bewegungen, [...] denn sie kommen ja letztlich von z. B. kleinen Bauern.“ (Olaf) – Demokratie heißt „von unten“

Für Olaf und Valeria bedeutet Demokratie in erster Linie „von unten“. Die Politik müsse sich wieder mehr an dem orientieren, was Bürger*innen wollen und Demonstrationen als Ausdruck des Volkswillens erkennen und damit wiederum als Hilfestellungen verstehen. Valeria versteht Demonstrationen folglich als Versuch der Kontaktaufnahme zu Politiker*innen und eine Art Echo zu getroffenen Entscheidungen: „[…] wo wir jetzt einfach so über die Politiker sprachen, finde ich sind diese Demos ein bisschen auch eine Hilfe für die. Weil die nur auf einsamem Posten stehen. Vielleicht irgendwie etwas so […]: ‚Ach guck mal, das wollen die.‘ Oder: ‚Wir sind doch nicht so abgeschoben oder isoliert.‘ Oder: ‚Sie versuchen ja mit uns Kontakt aufzunehmen.‘ Und dass es denen doch vielleicht auch gut tut. Stell dir mal vor, du machst Politik und kein Mensch interessiert sich dafür! Ja, und du musst nur irgendwie Entscheidungen treffen und es kommt kein Echo.“ (Valeria, Z. 1007 ff.) Diese Ansicht von Valeria entspricht Uppendahls (1981) Repräsentationstyp des Deligierten, der sich bei seinen Entscheidungen am Wählerwillen zu orientieren hat und das eigene Urteilsvermögen zurückstellen muss. Diesen Wählerwillen können Politiker*innen laut Valeria u. a. auf der Straße bzw. bei Straßenprotestaktionen ablesen. Hier werden die Anliegen der Bürger*innen sicht- und hörbar gemacht und sollten die Entscheidungen von Repräsentant*innen beeinflussen. Valeria versteht Straßenprotest folglich als Hilfestellung für Politiker*innen.

Politische Bewegungen wie die der Energie- oder Agrarwende sind für Olaf demokratische Bewegungen, denn sie kommen seiner Meinung nach „von unten“, von kleinen Bauern und nicht von großen Konzernen: „Energiewende oder eben auch Agrarwende, das sind auf jeden Fall demokratische Bewegungen, denke ich, denn sie kommen ja letztlich von z. B. kleinen Bauern oder eben Leuten, die mehr regionales Bio-Essen haben wollen als irgendwie in industriellen Tierfarbriken gefertigtes Schweinefleisch von irgendwo ganz weit her. […] Insofern ist das eigentlich relativ klar, dass genau das demokratisch ist, für mich.“ (Olaf, Z. 199 ff.) Demokratie bedeutet für Olaf im Kontext von Ernährung u. a. eine Wahl zu haben und über den individuellen Einkauf Einfluss auf Produktionsbedingungen nehmen zu können. Ebenso bedeutet es für ihn aber auch, dass Protest bzw. eine Bewegung von unten organisiert und angestoßen wird. Gleiches sieht er auch in den Organisationen, in denen er aktiv ist (BUND und Die Grünen) und die er deshalb als basisdemokratisch bezeichnet. Es wird abgestimmt, es werden Vertreter*innen gewählt und abgewählt und Entscheidungen nach dem Mehrheitsprinzip getroffen.Footnote 32 Für Olaf spielen demokratische Strukturen folglich sowohl in der Bewegung und in einzelnen Organisationen selbst eine Rolle, als auch in der Gesellschaft als Ganzes bzw. im politischen System Deutschlands. Er zeigt ein ausgeprägtes Vertrauen in andere Bürger*innen und Mitstreiter*innen seines Engagements.

„[…] hätten wir mehr direkte Demokratie, wären auch mehr Leute dabei […].“ (Kilian) – Kritik am bestehenden Politik- und Wirtschaftssystem

Sonja, Stefanie und Kilian fordern mehr direktdemokratische Elemente, erhoffen sich davon eine größere Motivation für politische Partizipation und sprechen damit Bürger*innen eine gewisse Entscheidungskompetenz zu. Für Kilian ist das parlamentarische System mit gewählten Repräsentant*innen nur ein Zwischenschritt zur direkten Demokratie. Er glaubt, dass dadurch die Motivation teilweise genommen wird, sich selbst direkt einzubringen: „Also mit diesem Demokratiesystem, wie wir es haben, also Vertreterinnen wählen und die sprechen dann für einen selbst, repräsentieren einen, das ist ja noch diese Zwischenstufe sage ich mal, also keine direkte Demokratie, das nimmt schon mal so ein bisschen Motivation raus bei einigen, kann ich mir vorstellen. Ich glaube, hätten wir mehr direkte Demokratie, wären auch mehr Leute dabei – weil die Stimme einfach mehr zählt, direkter zählt.“ (Kilian, Z. 347 ff.) Kilians Forderung nach mehr direkter Einflussnahme steht in Einklang mit Daltons (2008) These, dass politische Partizipation nicht grundsätzlich abnehme, sondern eine Zunahme an Bildung dazu führe, dass Bürger*innen es nicht mehr für ausreichend hielten, alle vier Jahre ihre Stimme bei Wahlen abzugeben und sie deswegen nach anderen, direkteren Einflussmöglichkeiten und politischen Aktionen suchen. Genau wie die deutliche Mehrheit der Interview-Partner*innen hat auch Kilian (23 Jahre, studiert Mathe und Psychologie) einen akademischen Hintergrund und verfügt über unterschiedliche Ressourcen (vgl. Abschn. 5.1), die es ihm ermöglichen, sich über Wahlen hinaus in verschiedenen, teils neuartigen, Partizipationsformaten einzubringen.

Stefanie beobachtet eine Entwicklung dahingehend, dass mehr Bürgernähe gesucht wird und sich in Sachen Bürgerbeteiligung und Mitentscheidungen einiges tut: „Und ich finde auch den derzeitigen Prozess, dass mehr Bürgernähe gesucht wird, sehr, sehr spannend und wichtig. Das ist halt mein Blasen-Wahrnehmen, ist nicht so ganz der Realität entsprechend, aber es bewegt sich halt viel in Richtung Bürgerbeteiligung und Mitentscheidungen und Visionen für nachhaltige Städte und eine neue Umweltpolitik des 21. Jahrhunderts.“ (Stefanie, Z. 274 ff.) Sie schränkt jedoch gleichzeitig ein, dass diese Beobachtung auch ihrer Perspektive bzw. ihrem Blasen-Wahrnehmen geschuldet sein könnte. Auch sie bewegt sich in akademischen Kreisen und verfügt über eine Vielzahl unterschiedlicher Ressourcen.

Sonja sieht Demokratie in Gefahr, wenn nicht direktdemokratische Elemente ausgebaut werden. Aus ihrer Sicht bestimmen Konzerne und Katastrophen die Entwicklungen, anstatt dass Politiker*innen sich an dem orientieren, was das Volk möchte. Von deutschen Politiker*innen wünscht sie sich deshalb nach dem Vorbild der Schweiz mehr Bescheidenheit und weniger Arroganz: „Also ich denke, wenn das jetzt ausbleibt, wenn jetzt kein großer Aufstand kommt, auch gegen die Freihandelsabkommen, dann kann man die Demokratie vergessen. Da wird unser Geschick dann nur noch von den Konzernen bestimmt. Und von den Katastrophen, voraussichtlich. Das ist ein ganz, ganz wichtiger Schritt, um die Demokratie wieder zu stärken und deswegen meine ich auch, dass ein ganz vorrangiges Anliegen sein muss, die direkte Demokratie weiter auszubauen.“ (Sonja, Z. 321 ff.) Sonjas Sorge veranschaulicht Crouchs (2008) Thesen, der ebenfalls einen großen Einfluss von Marktwirtschaft und Lobbygruppen und ein Verfolgen von rein ökonomischen Interessen beschreibt. Im Sinne von Uppendahls (1981) Repräsentationstyp des Deligierten, wünscht sich auch Sonja eine stärkere Ausrichtung an den wirklichen Interessen der Bürger*innen. Diese Forderung vertritt Sonja basierend auf dem Vertrauen, dass Bürger*innen selbst und im Sinne des Allgemeinwohls entscheiden können und bezieht sich dabei auf ein Beispiel aus der Stadt Augsburg, in dem die Bewohner sich per Bürgerentscheid für die Stadtwerke und gegen die Fusionierung mit einer Gasfirma entschieden haben. Beispiele wie dieses ermutigen sie.Footnote 33 Wie im CVM von Verba/Schlozman/Brady (1995) und auch in Barbers (1994) Konzept einer Starken Demokratie beschrieben, liegt bei Sonja hier ein starkes Vertrauen in andere Bürger*innen und in die Partizipation der Gemeinschaft vor. Aus dieser positiven Erfahrung leitet sie die Forderung ab, dass in Bayern das Volksentscheid-Gesetz revidiert werden müsse und Hürden abgebaut werden müssten, damit es grundsätzlich zu mehr Abstimmungen kommen könne.

Stefanie sieht ähnlich wie Gerd lebensphasenabhängige Unterschiede bzgl. der Möglichkeiten, Zeit für Engagement aufbringen zu können. Sie geht noch einen Schritt weiter und fordert – genau wie Kilian und Isabelle – neue Arbeitszeitmodelle, in denen Ehrenamt berücksichtigt wird und Menschen die Vorteile technischer Errungenschaften, Automatisierung und damit einhergehender zusätzlicher freier Zeit genießen können. „Ich bin ein großer Fan von neuen Arbeitszeitmodellen, wo das einfach vereinbar ist, wo man so Lebensarbeitszeit hat, wo man nicht nur für Geld arbeitet, sondern sich eben auch mit einem Garten oder ehrenamtlichen Tätigkeiten beschäftigt ... Da bin ich ein großer Fan von, dass man diese Automatisierung, die durch die ganzen technischen Errungenschaften geglückt sind, dass man die auch nutzt und sich diese freie Zeit zunutze macht und nicht weiter ackert, ackert, ackert.“ (Stefanie, Z. 325 ff.) Mit dieser Aussage spricht Stefanie verschiedene wichtige Aspekte an. Einerseits technische Fortschritte und Automatisierung, die dazu führen, dass der Mensch bzw. seine Arbeitskraft an zahlreichen Orten durch Maschinen ersetzt wird. Stefanie plädiert dafür, sich diese Entwicklung zunutze zu machen und freie Zeit sinnvoll zu gestalten, anstatt mehr zu arbeiten. Andererseits wünscht sie sich die Berücksichtigung eines dritten Bereichs – neben Arbeit und Freizeit – den sie „Lebensarbeitszeit“ nennt. Gegensätzlich zu Blühdorns (2013) These, dass neue Partizipationsformen oft mit den bestenden Logiken konform gehen, fordern Stefanie und Andere hier hingegen eine grundsätzliche gesellschaftliche Veränderung. In Einklang damit argumentiert auch Isabelle, die von alternativen Wirtschaftsmodellen und darin beinhalteter Zeit für die Gestaltung der Gesellschaft spricht. „Insofern, wenn man dann irgendwie daran kommt, über alternative Wirtschaftsmodelle nachzudenken, gibt es einige, die fordern, dass Arbeitszeit verkürzt wird und dann die restliche Zeit eben genutzt wird, die Gesellschaft mitzugestalten. Da sind wir wieder beim Thema Repair-Café: Wenn man Produkte selber reparieren will oder sein Gemüse selber anbauen will, das braucht Zeit. […] Aber anders herum ist es dann ja auch wieder so, dass ich dann ja auch weniger Geld brauche, weil ich vieles auf andere Wege lösen kann.“ (Isabelle, Z. 280 ff.) Isabelle spricht hier wichtige, strukturelle Grundlagen einer Gesellschaft an. Erstens die Verteilung von Arbeit weg von der 40-Stunden-Woche hin zu mehr Teilzeit-Stellen, zweitens die Einführung und Anerkennung von Arbeit bzw. Engagement, das sich der Gestaltung der Gesellschaft widmet und drittens die daraus folgende Konsequenz, dass dann weniger produziert oder gekauft werden müsste und folglich jeder mit weniger Geld auskäme. Isabelle denkt dabei insb. an das Sich-vernetzen, Reparieren und Tauschen. Damit entsteht eine Dreiteilung der Zeiteinteilung, nicht mehr nur in Arbeit und Freizeit – wobei Engagement dann, wenn es nicht bezahlt wird, unter Freizeit fällt – sondern eine Ergänzung der gängigen zwei Bereiche um den des Engagements. Auch Kilian äußert gefragt nach der Vereinbarkeit von Engagement mit Familie und Beruf eine Kritik, die sich der „Degrowth-“ und Postwachstums-DebatteFootnote 34 zuordnen lässt. Anstatt die Produktivität immer weiter zu erhöhen und dabei die Arbeitszeit beizubehalten, sollte das Produktionsniveau gehalten und die Arbeitszeit verringert werden.Footnote 35 Als zweite Möglichkeit nennt Kilian das bedingungslose Grundeinkommen, welches seiner Meinung nach ebenso den zeitlichen und finanziellen Spielraum für mehr Engagement erlauben würde.

„[…] Politik ist ein schmutziges Geschäft […].“ (Gerd) – Lobbyismus und die Rolle von Geld, Macht und Konzernen

Wie schon erwähnt sind einige Interview-Partner*innen in Einklang mit Crouch (2008) der Meinung, dass Geld, Macht und Konzerne Politik beeinflussen und Lobbyismus und Wirtschaftsinteressen oft über Interessen des Allgemeinwohls stehen. Für Olaf sind politische Parteien aufgrund zu ähnlicher Parteiprogramme relativ austauschbar. Lobbyismus in Form von Geld und Macht bestimmt in seinen Augen Landes- und Bundespolitik und setzt damit die Interessen einiger weniger Personen durch. Verbände wie den BUND würde hingegen niemand zu beeinflussen versuchen.Footnote 36 Genauso sieht es auch Sonja, die wie oben beschrieben, Konzerne und Katastrophen als treibende Mächte empfindet und ohne einen aus der Bevölkerung kommenden Aufstand die Demokratie in Gefahr sieht. Auch Isabelle sieht die treibenden Kräfte eher in der Wirtschaft als in anderen Bereichen. Für sie ist es eine Motivation, sich einzubringen, um solchen entgegenzuwirken, die nicht in ihrem Sinne handeln: „Also gerade so das, was in der Wirtschaft vorgeht, da gibt’s viele Kräfte, wo ich denke, wenn man denen freien Lauf lässt und da nicht was entgegensetzt, dann würden wir irgendwann in einer ganz furchtbaren Welt leben.“ (Isabelle, Z. 173 ff.)

Gerd und Sven wiederum bezeichnen Politik als „schmutziges Geschäft“, bei dem hinter verschlossenen Türen entschieden wird. Für Sven entscheiden „irgendwelche Bonzen“ ohne, dass er darauf noch Einfluss hätte: „Es wird hinter verschlossenen Türen entschieden. Es wird dann über Regeln, Gesetze, Nachtflugverbote oder ... Hier unser Kreis hat gar keinen Einfluss mehr, da dran teilzuhaben. Also, hier irgendwelche Bonzen entscheiden jetzt, Schadensersatz und es wird gemacht.“ (Sven, Z. 222 ff.) Gerd wiederum war selbst in der Politik aktiv, war Mitglied bei der SPD und entschied sich nach der Willy-Brand-Ära gegen weiteres Engagement in der Politik und für Engagement im Bereich von NGOs. „Ich habe mich da in der Zeit gar nicht so um politische Themen gekümmert, weil ich war mal bei den Sozialdemokraten und da war die Geschichte mit Willy Brandt, das war so eine schofelige Geschichte, sodass ich gesagt habe: ‚Nee, Politik ist ein schmutziges Geschäft, ich verabschiede mich‘ und bin dann bei den Sozialdemokraten raus gegangen. Und habe mich aber immer politisch interessiert, das war überhaupt keine Frage. Ich habe mich auch engagiert, aber dann eben mehr bei NGOs.“ (Gerd, Z. 38 ff.) Hier zeigt sich ein geringes Vertrauen in Politiker*innen und Parteien. Ob aus eigener Erfahrung als ehemaliges Parteimitglied (Gerd) oder wegen Berührungspunkten durch die Verbandsarbeit (Sven) beide Interview-Partner trauen der Entscheidungsfindung im politischen Tagesgeschäft nicht (mehr) und vermuten Mauscheleien. Aus diesem Grund engagieren sich beide (mittlerweile) in der Verbandsarbeit und bei Organisationen wie Campact.

Mareike und Sonja spitzen das Thema weiter zu und sind der Meinung, dass Politiker*innen lügen, betrügen und das Gegenteil von dem machen, was sie sagen. Laut Sonja sind viele Bürger*innen von Politiker*innen enttäuscht, weil sie erlebt haben, dass eine Sache versprochen und eine andere gemacht wurde. Darauf führt sie die geringe Wahlbeteiligung zurück und wünscht sich deshalb mehr direktdemokratische Elemente in der Politik.Footnote 37 Genauso sieht es auch Mareike, die Politiker*innen ganz konkret zuschreibt, zu lügen und betrügen und nur zu tun, was sie selbst wollen. Trotzdem versucht sie nicht die Hoffnung zu verlieren, heute allerdings mit geringeren Erwartungen als früher: „Und die belügen uns. Das ist meine Erfahrung in den letzten 49 Jahren gewesen. Immer und immer wieder. Betrügen uns, zapfen Geld ab und kriegen trotzdem noch einen Bundesverdienstorden. […] Also, ich versuche es auf jeden Fall, immer weiter. Aber ich gebe nicht mehr ganz so viel rein wie früher. Früher war ich erwartungsvoller.“ (Mareike, Z. 1317 ff.) Während Sonja anderen Bürger*innen das auch im CVM von Verba/Schlozman/Brady (1995) berücksichtigte Vertrauen ausgesprochen hat, gilt dies wiederum nicht für Politiker*innen. Die Frage nach der „external efficacy“ (Campbell et al. 1954), also nach der Offenheit des politischen Systems für die Einflussnahme durch Bürger*innen, fällt bei Sonja und Mareike sehr dürftig aus. Daraus schlussfolgert Mareike, dass es in Deutschland weder eine Demokratie noch Meinungsfreiheit gäbe. Sie sieht zwar, dass sie durch Wahlen ihre Meinung abgeben kann, beobachtet danach aber keinerlei Verpflichtungen seitens der Politiker*innen. Außerdem ist in ihren Augen das System nur auf die Bedürfnisse der Reichen ausgelegt und damit keine Demokratie: „Ich meine also, eine Demokratie haben wir ja nun nicht wirklich. Okay, jeder darf sagen was er möchte – ganz toll. Und darf auch sein Kreuzchen machen wo er will. Aber am Ende machen die Politiker doch was sie wollen. Die lügen uns einen vor! Also, das hat mal gar nichts mit Demokratie zu tun, was die da vorleben, das ist der reine Kapitalismus, finde ich.“ (Mareike, Z. 381 ff.) Mit dieser Aussage stützt Mareike die Lobbyismus-Thesen ihrer Vorredner*innen, dass Politik von Geld, Macht und Konzernen gesteuert sei. Auch sie hält den Gang zur Wahlurne für eine Farce und denkt nicht, dass Politiker*innen sich dem Willen der Bürger*innen verpflichtet fühlen. Mareikes Vertrauen in Politiker*innen und das politische System ist sehr gering, was wiederum dazu geführt hat, dass sie sich anderweitig in lokalen Vereinen und insb. auch im Online-Aktivismus einbringt.

„[…] Politik ist […] ein sehr undurchsichtiges und komplexes Feld mit Strukturen, die einem nicht so ganz klar sind […].“ (Stefanie) – Komplexität von Politik und Politikverdrossenheit verhindern Partizipation

Bezüglich Politik ist Stefanie der Meinung, dass sie zu komplex sei, um sie zu verstehen. Sie bezeichnet Politik als undurchsichtiges Feld mit unklaren Strukturen und Entscheidungsfindungen. Ihre Wahrnehmung ist außerdem, dass dabei viel geredet und wenig gemacht wird. Obwohl Stefanie selbst im umweltpolitischen Bereich für die Politik beratend tätig ist, hat sich ihr das Feld noch nicht ganz erschlossen.Footnote 38 Auch hier kann wieder ein Bezug zur Barbers (1994) Starker Demokratie hergestellt werden: Bürger*innen sind häufig gar nicht in der Lage, autonome Entscheidungen zu treffen, da ihnen das Verständnis für komplexe Zusammenhänge fehle. Laut Dalton (2008) müssen Bürger*innen ausreichend informiert sein, um eine partizipierende Rolle einnehmen zu können. Diese Informiertheit benötigt die Investition einiger Ressourcen. Sven wiederum ist der Meinung, dass selbst Politiker*innen mit ihren täglichen Aufgaben überfordert seien. Die Berge von Berichten und Texten, die sie durcharbeiten müssten, könnten sie zeitlich und auch inhaltlich gar nicht bewerkstelligen: „Aber wer ist Jurist? Wer ist Jurist und kann das auseinandernehmen oder hat die Zeit, jetzt zu suchen? Und das ist auch eine Überforderung von den Politikern. Das ist kein Wunder, dass sie da eigentlich ziemlich viel Müll bauen.“ (Sven, Z. 175 ff.)

Ein Problem, das Stefanie in Politik sieht, ist das Denken in zu kurzen Zyklen. Außerdem ist sie der Meinung, dass Umweltpolitik eigentlich Gesellschaftspolitik sein müsste, da Nachhaltigkeit sich auf alle Lebensbereiche und damit auf die komplette Kultur beziehen müsste: „Aber häufig wird ja dann doch eher in kurzen Zyklen gedacht und kurzfristig. Und ich glaube eben, Umweltpolitik müsste Gesellschaftspolitik sein und dürfte nicht nur auf das Ressort Umwelt begrenzt sein, dieser schwammige Nachhaltigkeits-Begriff betrifft ja eigentlich alles: Also, es geht ja um eine Kultur, um einen Wandel von der Kultur. Und das kann nicht nur einem Ressort angehören, das reicht nicht.“ (Stefanie, Z. 280 ff.) Stefanie wünscht sich ein gesamtheitliches, gesellschaftliches Umdenken und eine Anwendung von Nachhaltigkeitsstrategien auf sämtliche Lebensbereiche. Wie in Abschnitt 5.3.1 „Ursprung und Motivation“ gezeigt werden wird, stellt diese Einstellung bei einigen Interview-Partner*innen auch grundsätzlich eine starke Motivation für zivilgesellschaftliches Engagement dar. Denn Umweltschutz wird von einigen auch als Schutz von Menschen und ihrer Lebensgrundlage verstanden. Deshalb müsse man das Phänomen ganzheitlich angehen, Aufklärung betreiben und reagieren bevor es zu spät sei.

Felix und Stefanie schreiben einem Teil der Bevölkerung Politikverdrossenheit zu. Ohne einen konkreten Bezug zur Politik, hätten nur die wenigsten Lust, sich in ihrer Freizeit für etwas zu engagieren. Andere hielten es schlichtweg für die alleinige Aufgabe der Politiker*innen, sich um Politik zu kümmern.Footnote 39 Felix hält Engagement für einen ersten Schritt auf dem Weg zur Wahlbeteiligung. Er hat in seinem Freundeskreis die Erfahrung gemacht, dass viele junge Leute nicht wählen gehen und hofft, über das Engagement wieder Interesse für politische Partizipation wecken zu können. Diese Beobachtung von Felix veranschaulicht Daltons (2008) These, dass jüngere Bürger*innen eher zum Model einer „engaged citizenship“ tendieren und nicht dem „citizen duty“ zuzuordnen sind und entsprechend ein Rückgang von Wahlbeteiligung die Folge ist.

Felix hält Kreativität wiederum für ein passendes Mittel, um Aufmerksamkeit zu erhalten. Kreative Kampagnen, modernes Design und eine gute Internetpräsenz sind für ihn von Bedeutung. Mit dem Zugriff auf gut sortierte und aufbereitete Informationen könne das Internet eine Schlüsselrolle einnehmen und den ersten Schritt auf dem Weg zu Partizipation ebnen. „Junge Leute lesen keinen Blogeintrag, außer sie interessieren sich generell schon vorher dafür. Und ich finde es halt wichtig, Leute die sich nicht schon vorher dafür interessieren, irgendwie zu kriegen. Weil, es wird Politik für alte Menschen gemacht. Weil junge Leute nicht wählen gehen. Und ich glaube mit politischem Engagement kriegst du die irgendwann auch dazu, zu wählen. […] also es ist traurig, ne, weil meine Großeltern auch zu dieser Generation gehören, die wählen geht – es ist das Problem, in Anführungszeichen, dass das irgendwann aussterben wird, so. Und dann: Wählt dann keiner mehr? […] Ehrlich gesagt, junge Leute wollen, glaube ich, ernst genommen werden. Und deswegen: Ja, mach modernes Design, eine gute Internetpräsenz ist mega wichtig, aufgeräumt, sortiert. Daran scheitern die meisten NGOs, glaube ich, dass man Informationen schlecht oder langsam findet.“ (Felix, Z. 1287 ff.) Auch hier stimmt Felix These mit Dalton (2008) überein, der eine grundsätzliche Verschiebung von „citizen duty“ zu „engaged citizenship“ damit begründet, dass ältere Bürger*innen mit einem pflichtbasierten Bürgerschaftsverständnis sterben und junge Menschen mit neuen Ansichten als Wahlberechtigte und anderweitig Engagierte nachrücken. Wolle man jungen Menschen das Gefühl geben, ernst genommen zu werden, müsse man sie mit einer modernen und guten Internetpräsenz ansprechen, so Felix. Für ihn bildet das Internet mit schlechten NGO-Websiten (d.h. mit nicht gut und sauber aufbereiteter Information) eine Hürde, die weiteres Engagement verhindert. Hat man das Interesse junger Bürger*innen für politische Inhalte im Netz aber erst mal gewonnen, sieht Felix darin eine Chance auch diese Menschen wieder für den Gang zur Wahlurne zu motivieren.

„Das ist eigentlich eher eine Pflicht, dass ich da dabei sein muss.“ (Markus) – Zivilgesellschaftliches Engagement als Bürgerpflicht

Für etwa die Hälfte der Interview-Partner*innen ist es eine Selbstverständlichkeit und Pflicht, sich zu engagieren. Es herrscht die Meinung vor, dass sich jeder mit Verstand einsetzen müsse, dass es Jedermans Verantwortung sei, aktiv zu werden und der Gesellschaft etwas zurückzugeben und dass es sogar eine Bürgerpflicht sei, dies zu tun. Ebenso sind einige der Meinung, dass jeder bei sich selbst anfangen solle, dass Veränderungen in der eigenen Welt stattfänden und es dementsprechend um die kleinen, einzelnen Beiträge eines jeden Einzelnen gehe. Diese Ansichten stützen Barbers (1994) Theorie einer Starken Demokratie, die Demokratie als Lebensform versteht und sich auf ein starkes Eingebundensein der Bürger*innen beruft. Auch Deweys (1988) Theorie einer Kreativen Demokratie, die Demokratie als Lebensstil versteht, der täglich vollzogen werden müsse, stützt diese Ansicht der Interview-Partner*innen. Prüft man die Aussagen mit Blick auf Bennetts (2008) Typologie einer „actualizing“ und „dutiful citizenship“, zeigt sich hier eine Mischung. Denn die Interview-Partner*innen übertragen die Pflicht bei Wahlbeteiligung auch auf andere Bereiche und Formen der Partizipation.

Mareike kann es bspw. nicht verstehen, wie sich jemand nicht einbringen kann. Jeder mit Verstand müsse sich einbringen: „Ja, also ich denke, wer da einfach so vor sich hinlebt und sich nicht einbringt, der kann auch nichts erreichen und ich denke, das ist eigentlich ein Muss für jeden, der ein bisschen Verstand hat, sich da einzusetzen.“ (Mareike, Z. 390 ff.) Auch Felix hält es für eine Pflicht, an die nächste Generation zu denken und sich einzubringen. Obwohl er bzgl. der Einflussmöglichkeiten eher pessimistisch ist, hält er das Erzeugen von Aufmerksamkeit für ein Problem für wichtig.Footnote 40 Die Aussage, dass das Erzeugen von Aufmerksamkeit für ein bestimmtes Thema der erste Schritt sei, stützt das Modell einer deliberativen Demokratie, in der das Anstoßen von Debatten und das Führen von Konversationen zwei wichtige Bestandteile sind.

Auf die Frage, welche Protestformen ihm Spaß machen, antwortet Markus, dass Demonstrationsteilnahmen für ihn eine Pflicht seien. Es freue ihn zwar, dass dort oft gute Stimmung herrsche, aber er sieht es in erster Linie als Pflicht an. „Das ist eigentlich eher eine Pflicht, dass ich da dabei sein muss. Und dann ist es gut, wenn es dann lustig und fröhlich ist, dann ... Aber ich sehe es schon mehr als eine Pflicht an.“ (Markus, Z. 651 ff.) Kilian wiederum möchte ungern von Pflichten sprechen, da es für ihn aus philosophischer Sicht keine Pflichten gibt. Er wünscht sich jedoch, dass im Sinne der Generationen-Gerechtigkeit heute schon jeder an die größeren globalen Zusammenhänge denkt und mit kleinen Beiträgen seinen Soll tut. Die Energiewende würde bei jedem Einzelnen anfangen.Footnote 41

Auch Gerd sieht Engagement als Pflicht an und ärgert sich besonders über solche, die viel Geld verdienen und sich nicht einbringen. Für ihn haben Ärzte und Co. Dankbarkeit zu zeigen und der Gesellschaft etwas zurückzugeben, für das, was sie selbst von ihr erhalten haben: „Also, wenn ich sehe, da ärgere ich mich auch drüber, im Bekanntenkreis, wenn Ärzte dann hohe Gehälter einstreichen und absolut Null Engagement haben, dann bin ich eigentlich immer sehr wütend, weil ich dann denke, die haben alles, was sie erreicht haben, das haben sie dieser Gesellschaft zu verdanken und sie machen dann nur ihr privates Ding dann.“ (Gerd, Z. 229 ff.) Diese Ansicht entspricht einer der vier Prinzipien von Bürgerschaft bei Dalton (2008), der die Beziehung zu anderen Bürger*innen und damit auch die moralische Verantwortung gegenüber anderen, als wichtigen Beitrag zu einer demokratischen, politischen Kultur versteht. Julia wiederum versteht es zwar als jedermanns Verantwortung, etwas zur Verbesserung der eigenen, nächsten Umwelt beizutragen, akzeptiert jedoch auch die Entscheidung für ein Nicht-Engagement.Footnote 42

Ähnlich wie Julia, die die Verbesserung des eigenen kleinen Mikrokosmo anregt, ist auch Stefanie der Meinung, dass jeder bei sich selbst anfangen sollte. Dazu gehört für sie auch, dass man zuerst bei sich zuhause aufräumt, bevor man anderen Menschen sagt, wie sie sich zu verhalten haben. Das ist in ihren Augen wichtig, weil man ansonsten frustiert werden und mental daran zerbrechen könnte. Der Aspekt der Frustrationstoleranz wird im weiteren Verlauf dieses Kapitels ausführlicher beschrieben. Da sich Stefanie jedoch an diesen Vorsatz hält, ist sie laut eigener Aussage mit sich selbst im Reinen. „Das ist auch eine ganz große Überzeugung von mir. Dass man bei sich selbst zuhause erstmal aufräumt, bevor man anderen Leuten sagt, wie man es machen soll. Deswegen bin ich, glaube ich, auch kein unglücklicher Mensch. Weil man sonst, glaube ich, auch in dem Bereich zugrunde geht, auch mental.“ (Stefanie, Z. 1110 ff.) Ähnlich formulierte es auch schon Dewey (1988), der in seinem Verständnis von Demokratie als Lebensstil davon ausgeht, dass Bürger*innen eingeforderte Werte wie Toleranz und Gleichberechtigung nur erreichen können, wenn sie selbst gelebt und praktiziert werden.

Auch Valeria möchte negative Gefühle vermeiden und erzählt, dass sie heute engagiert ist, weil sie sich nicht wohlfühlen würde, wenn sie nichts machen würde. Sie hat Verständnis für Leute, die heute keine Zeit dafür haben und erinnert sich an ihre Zeit mit kleinen Kindern zurück, ist aber der Überzeugung, dass sie heute zu der Gruppe derjenigen gehört, die sich einbringen müssen. „Wenn nicht ich, wer dann? Wenn ich es jetzt nicht mache – dass ich es vor 30 Jahren nicht tun konnte, mit drei kleinen Kindern, ist klar. Und dass vielen jetzt das gar nicht möglich ist, ist klar. Aber ich kann es. Und wenn ich es dann nicht tue, dann […] fühle ich, dann kann ich mich eigentlich auch nicht mehr so doll wohlfühlen.“ (Valeria, Z. 1101 ff.)

In Übereinstimmung mit Dewey (1988), der Bürgerschaft als aktives Konzept versteht, das alle Lebensbereiche eines Menschen umfasst und das täglich vollzogen werden muss, nehmen aktives Handeln und das Ergreifen der Initiative auch für Mareike und Sybille eine wichtige Rolle in ihrem Selbstverständnis ein. Mareike (Z. 1260 ff.) sieht sich selbst in der Funktion derjeniger, die andere häufig auf Missstände hinweisen und damit Aktivitäten auslösen. Auch für Sybille steht das aktive Einbringen im Vordergrund, sie möchte nicht nur reden, sondern auch machen. Das Gärtnern ist für sie wiederum ein sehr gutes Handlungsfeld, um sich selbst direkt einzubringen und dabei vieles zu lernen. „Und da war natürlich ganz klar: Es soll kein Redeclub werden, sondern wir müssen zum Handeln kommen. […] Also, gerade auch beim Gärtnern wird das ja deutlich: Dass so dieses Selbst-was-zu-essen-anzubauen, ganz viele Facetten hat. Also es ist einmal wirklich so, dass man da direkt Energie einspart, zum anderen hat das mit dem Selbst-sich-einbringen was mit einer Identifizierung zu tun. Es hat was mit Lernen zu tun: Wie könnte ich mich selbst ernähren? Und was geht denn eigentlich? Viele wissen ja nicht mal, wie eine Bohnenpflanze aussieht. Also, das ist ein starker Lerneffekt.“ (Sybille, Z. 766 ff.) Neben dem Lerneffekt spielt auch die Sichtbarmachung des eigenen Engagements beim Gärtnern eine wichtige Rolle. Dieses Thema wird in Abschnitt 5.3.1 „Ursprung und Motivation“ ausführlicher betrachtet.

„[…] entweder bin ich praktisch aktiv oder politisch.“ (Helena) – Reflexionen über verschiedene Einfluss- und Mitmachmöglichkeiten

Einige Gesprächspartner*innen haben für sich selbst eine Unterscheidung zwischen gesellschaftspolitischem Engagement und praktischem Umweltschutz oder zwischen parteipolitischem und gesellschaftlichem Interesse vorgenommen. Isabelle bspw. distanziert sich von Parteipolitik und beschränkt ihr Interesse überwiegend auf Gesellschaftspolitik. Diese Einstellung deckt sich mit Zuckermans (2014: 156) Beobachtung, dass in neuen Bürgerschaftsverständnissen häufig keine klare Zuordnung zu einer größeren politischen Philosophie vornehmbar ist, sondern wechselnde Engagements über verschiedene politische Lager hinweg entstehen. Isabelle selbst siedelt ihr Engagement im „gesellschaftspolitischen“ und „zivilgesellschaftlichen“ Bereich an: „Wobei es weniger Parteipolitik ist, die mich interessiert, als vielmehr – wenn man den Begriff ein bisschen weiter fasst und die Frage, wie man die Gesellschaft gestalten kann – das interessiert mich mehr. […] Ja, es gibt so diesen Begriff ‚gesellschaftspolitisch engagiert‘ – das finde ich ganz treffend, weil das irgendwie so ganz gut bezeichnet, was ich mache. Weil so Politik im engeren Sinne, mit Parteien und dass man wirklich auf den politischen Ebenen, in den Parlamenten oder auch auf lokalen oder nationalen oder auf Landesebene versucht, etwas zu bewirken, das ist natürlich das, woran jeder als erstes denkt, bei Politik. Aber ich glaube, dass es genauso wichtig in einer Gesellschaft ist, dass auf allen möglichen Ebene und von ganz unterschiedlichen Akteuren versucht wird, Verbesserung durchzusetzen. Und ich bin eben vorrangig im zivilgesellschaftlichen Bereich unterwegs.“ (Isabelle, Z. 20 ff.) Anstatt „im engeren Sinne“ parteipolitisch aktiv zu werden, möchte Isabelle lieber gesamtgesellschaftlich wirken und sich zivilgesellschaftlich einbringen. Sie versteht es als Stärke, wenn sich verschiedene Akteure auf verschiedenen Ebenen engagieren. Ähnlich ergeht es Sarah, die beruflich über die BUNDjugend im Umweltschutz tätig ist, aber auch die gesellschaftspolitische Seite nicht vernachlässigen möchte: „Also, dass ich auch schon vor längerem mal gedacht habe, jetzt ist aber mal gut. Jetzt hast du da genug an den Stellschrauben gedreht. Jetzt musst du mal wieder gucken, dass du dir so ein Engagement-Feld suchst, wo du mehr so in dieses gesellschaftliche, politische reingehst.“ (Sarah, Z. 497 ff.) Helena wiederum nimmt eine Trennung zwischen praktischem Aktivismus und politischem Engagement vor. Sie selbst kennt nur wenige Leute, die in beiden Bereichen gleichzeitig aktiv sind: „[…] also entweder bin ich praktisch aktiv oder politisch. Also ich kenne ganz wenige, die wirklich ganz massiv politisch arbeiten und gleichzeitig aber dann auch noch Kröten tragen oder Bäume schneiden oder so was.“ (Helena, Z. 384 ff.) Felix hingegen unterscheidet zwischen Aktivismus und Interesse und würde sich selbst primär Letzterem zurechnen. Die Frage, ob er sich als Aktivist versteht, verneint er und führt dann aus, dass er sich als Interessierter benennen würde.Footnote 43

Günter und Isabelle reflektieren nochmal differenzierter über verschiedene Einflussmöglichkeiten, die in ihren Augen zur Auswahl stehen. Laut Günter gibt es zumindest drei Handlungsoptionen: In die Politik gehen, verschiedene Protestformen ausüben oder in eine Institution gehen. Er selbst hat sich für den letzten Weg entschieden, da er Dank einer ausreichenden Rente und genügend Vorwissen einen eigenen Verein gründen und direkt dessen Vorsitz übernehmen konnte. „Also, wenn sich heute Dinge weiter entwickeln sollen, dann hast du ja verschiedene Handlungsoptionen: Du kannst Politiker werden, […] du kannst demonstrieren gehen, du kannst Petitionen schreiben, du könntest in die Institutionen gehen – das ist ja eigentlich der Weg, den ich gewählt habe, ich bin in eine Institution gegangen. […] Nur, innerhalb einer Institution bist du natürlich immer weisungsgebunden, du bist ja nicht gleich der Vorstand. Es sei denn, du gründest selbst.“ (Günter, Z. 151ff.) Durch die Selbstgründung und die Übernahme des Vorsitzes, ist Günter nicht weisungsgebunden, sondern kann viele Dinge selbst entscheiden. Hier zeigt sich, dass er direkt und unmittelbar wirken und unabhängig sein möchte. Trotz neuer Möglichkeiten der (digitalen) Protestpartizipation hat sich Günter für den ‚klassischen Weg‘ einer Vereinsgründung entschieden. Dabei weiß er die ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen zu schätzen. Er sieht über die Institution für sich den besten Weg, Ziele der Nachhaltigkeit zu verfolgen. Für Günter sind Demonstrationen und andere Protestformen zwar wichtig und er hat in der Vergangenheit auch an einigen teilgenommen, er lehnt Gewalt und Ausschreitungen jedoch kategorisch ab und begründet so auch seinen gewählten Handlungsbereich.Footnote 44 Neben den genannten Einflussmöglichkeiten findet Günter es jedoch am wichtigsten, dass jeder seinen eigenen Weg findet und sich so einbringt, wie er oder sie möchte. Um einer häufig beschriebenen Politikverdrossenheit entgegenzuwirken, sei das der richtige Weg. „In vielen Formen kannst du irgendwo Dinge weiterbringen. Und ich finde einfach, jeder sollte den Weg finden ... Also, erstmal finde ich es schön, wenn sich Leute engagieren. Ohne Engagement gehts nicht. Man liest es ja immer wieder in der Zeitung: Politik-Müdigkeit und so.“ (Günter, Z. 438 ff.) Diese Aussagen von Günter stimmen mit in der Forschung häufig beschriebenen Tendenzen der Individualisierung von Partizipation überein (Blühdorn 2013: 190 ff.). Auch Bennetts (2008) Konzept von „actualizing citizenship“ umfasst Partizipationsformen, die sich Bürger*innen individuell nach persönlichen Präferenzen und Lebenssituationen selbst gestalten. Hier können kreative und neuartige, digitale Formen des Engagements eine Rolle spielen. Wie das Beispiel von Günter zeigt, müssen sie dies aber nicht zwangläufig.

Isabelle (Z. 211 ff.) wiederum begründet ihre Abneigung gegenüber Partei- und Organisationsmitgliedschaft damit, dass sie ganzheitlich wirken möchte und in Projekten selbst mit anpacken will, anstatt bspw. nur Bäume zu pflanzen, dann aber den Nachhaltigkeitsgedanken nicht in den Alltag und die eigenen alltäglichen Handlungen zu übertragen. Sie möchte Menschen zum Nachdenken und Umdenken anregen und sieht ihren Platz eher in gesellschaftskritischen Projekten. Auch Isabelle bezeichnet es als Stärke einer pluralen Gesellschaft, dass unterschiedliche Menschen viele verschiedene Mitmachmöglichkeiten haben und das für sie Passendste finden können.

Das ganzheitliche Handeln ist für viele Interview-Partner*innen wichtig, die bezahlten Beruf und Engagement miteinander verbinden können oder die sich bewusst für eine Teilzeitstelle entschieden haben, um daneben noch ausreichend Zeit für das persönliche Engagement zu haben – welches sie wiederum teilweise als zweite Teilzeitstelle verstehen. Hier fehlt es in der Partizipationsforschung derzeit noch an Literatur, die sich explizit mit Ressourcen und Motiven von Bürger*innen beschäftigt, die sich bewusst gegen eine Vollzeitanstellung entschieden haben und ihr Engagement als zweiten Job verstehen. So sieht Sarah neben ihrer bezahlten halben Stelle bei der BUNDjugend ihre Aktivitäten im Garten und mit ihren Bienen als zweite halbe Stelle: „Das war eine strategische Überlegung. Ich meine, im Moment ist es einfach so, das ist quasi meine zweite halbe Stelle.“ (Sarah, Z. 105 ff.) Genauso versteht auch Helena ihr Engagement beim BUND als zweite Stelle neben ihrer Arbeit in der Apotheke. Sie erzählt, 30 Stunden in der Woche ehrenamtlich für den BUND aktiv zu sein und 30 Stunden als Pharmazeutin zu arbeiten. Dies ist eine bewusste Entscheidung ihrerseits gewesen. Isabelle schlussfolgert entsprechend, dass man die persönliche Zeiteinteilung folglich in drei Bereiche unterteilen müsste: Job bzw. Studium, ehrenamtliches Engagement und Freizeit. Für sie gehört das Engagement nicht zu ihrer Freizeit. „[…] für mich ist das auch nicht direkt Freizeit. Also ich habe das Studium, quasi so als Beruf, und dann habe ich mein ehrenamtliches Engagement und dann habe ich noch meine private Freizeit. Und das sind alles Bereiche, die mir wichtig sind in meinem Leben.“ (Isabelle, Z. 269 ff.) Aufbauend auf der zuvor beschriebenen Forderung nach einem neuen Wirtschaftssystem mit kürzeren Arbeitszeiten, wünschen sich einige Interview-Partner*innen eine Zeiteinteilung, die nicht nur zwischen Arbeit und Freizeit unterscheidet, sondern zivilgesellschaftliches Engagement als feste, dritte Komponente berücksichtigt. Diesen Bürger*innen sind ganzheitliches Handeln und das Mitgestalten der Gesellschaft wichtiger, als materielle Dinge wie bspw. ein höheres Gehalt. Sie entscheiden sich bewusst gegen eine Vollzeitanstellung und verstehen Engagement nicht als ‚Nebensache‘, die man in der Freizeit kurz miterledigt, sondern als eigenständige Komponente. Damit werten sie das Engagement auf und stellen es mit bezahlter Arbeit gleich. In vielen Fällen, wie bspw. dem von Isabelle, geht diese Einstellung damit einher, dass Engagement als Muss verstanden wird und es nicht ausreichend sei, sich nur über die Stimmabgabe bei Wahlen zu beteiligen. Im Sinne einer „actualizing citizenship“ (Bennett 2008) oder eines „engaged citizen“ (Dalton 2008) gehe es vielmehr darum, Gesellschaft aktiv mitzugestalten. Für diese Mitgestaltung müsse ein fester Platz in der Zeiteinteilung der Bürger*innen vorgesehen sein.

Sybille und Felix wiederum haben den Wunsch, als Personen ganzheitlich zu handeln oder im Idealfall Beruf und Engagement miteinander zu verbinden. So wünscht sich Felix nach Studienabschluss einen Job, der ihm Spaß macht, in dem er ausreichend Geld verdient und bei dem er etwas verändern kann. Er nennt dabei Campact als Beispiel dafür, wie so ein Job aussehen könnte.Footnote 45 Die Rolle von Spaß im Engagement wird in Abschnitt 5.3 „Emotionen und Affekte“ genauer beschrieben. Sybille hat von ihrer Berufstätigkeit in der Biologie zu Familie und Erziehung in Vollzeit gewechselt und erzählt, wie sie sich dort ganzheitlich einbringen konnte. Im Engagement hat sie auch zu dieser Zeit pausiert, da sie ihre ganze Zeit und Energie für die Familie brauchte. In ihren Augen hat sie auch dort ihre Ideen von Umweltschutz und Nachhaltigkeit weitergetragen. „Also, ich habe nicht von den Ideen gelassen, ich habe nur den Handlungsort gewechselt. Und das Besondere an Familie und Kindern ist eben – es war wirklich das Gefühl: Da kann ich mich mit allem, was ich bin, einbringen. Und anders war es in der Biologie, da war ich an der Hochschule und hatte das Gefühl, die Kommunikation läuft über einen bestimmten schmalen Ausschnitt. […] Also, ich habe sowieso etwas gesucht, wo ich als ganze Person handeln kann – beruflich oder wie auch immer. Umweltschutz-Engagement war sowieso neben dem Beruf. Ja und auch da habe ich aber pausiert, weil ich bemerkt habe, dass ich meine ganze Kraft für die Familie brauche.“ (Sybille, Z. 23 ff.) Wie schon Isabelle, argumentiert auch Sybille dafür, sich explizit Zeit zu nehmen für die Lebensbereiche, die einem wichtig sind und einen erfüllen. In ihrem Fall ist dies die Familie. Sowohl vom Umweltschutz-Engagement als auch von ihrer Arbeit in der Hochschule hat sie deswegen für eine bestimmte Zeit Abstand genommen.

Ähnlich wie Sarah versteht auch Sven den BUND als Lobby für die Natur – als Lobby ohne Umsatzinteressen. In seinen Augen hat der BUND eine gewisse Bekanntheit und Anerkennung, die es ermöglicht für entsprechende Interessen Lobbyismus zu betreiben. Entsprechend ist Sven oft in Doppelfunktion unterwegs: Als Mitglied einer Fluglärm-Initiative, aber auch als Sprecher seines BUND-Kreises, in dessen Funktion er sich mehr Einfluss erhofft.Footnote 46 Dieses Beispiel zeigt, dass kleine Initiativen es aufgrund fehlender Bekanntheit oft schwerer haben, als die großen bekannten Akteure. Sven hat jedoch den Vorteil, dass er in seiner Doppelfunktion die Bekanntheit des BUND aufgrund inhaltlicher Überschneidungen auch für die Fluglärm-Initiative nutzen kann und sich deren Einflussmöglichkeiten dadurch erhöhen. Günter (Z. 106 ff.) versteht sein Institut wiederum als Ideengeber für die KfW Bank und als Netzwerk und Jobvermittler für junge Absolvent*innen. Als kompetenter und weniger teurer Berater kann das IzN in Günters Augen andere Consulting Firmen ausstechen und Aufträge für sich gewinnen. Durch Auftragsarbeiten für die KfW können Günter und seine Initiative verhältnismäßig viel Einfluss nehmen.

Einen weiteren wichtigen Aspekt im Selbstverständnis von Daniela und Gerd stellen direkte Verbindungen zu Politiker*innen dar. Beide beschreiben gute Netzwerke und Beziehungen in die Politik. Aus diesem Grund schreibt sich Daniela ganz andere Einflussmöglichkeiten zu, als manch anderem. Sie geht von einer hohen „internal efficacy“ (Campbell et al. 1954) aus, die durch ihre direkten Kontakte auch zu einer hohen „external efficacy“ führt (vgl. Verba/Schlozman/Brady 1995: 346 f.). Wenn Daniela ein Anliegen zu einem Thema hat, ruft sie nach eigener Aussage direkt im Ministerium an und fragt nach. Dabei droht sie mit Berichterstattung auf ihrer Website, falls sie das Problem für berichtenswert hält.Footnote 47 Auch Gerd, der als stellvertretender Landrat selbst in der Lokalpolitik aktiv ist, verfügt über ein gutes Netzwerk, welches er häufig für seine Anliegen nutzt. So sieht er es bspw. als seine Aufgabe an, die Vereine untereinander besser zu vernetzen. „[…] natürlich bin ich durch meine Tätigkeit als stellvertretender Landrat sehr vernetzt inzwischen. Ich habe also überall Leute, mit denen ich dann im Gespräch bin und nutze dieses dann wiederum für Netzwerkarbeit, was dann zur Folge hat, dass Bestehende wie dieser Hundeverein, die habe ich dann mit der Feuerwehr bekannt gemacht und habe gesagt, also ihr müsst mal miteinander viel mehr machen, weil die brauchen die Unterstützung, die ihr geben könnt, und umgekehrt.“ (Gerd, Z. 160 ff.) Wie bereits im vorangegangenen Unterkapitel beschrieben, zeigt sich auch hier die besondere Bedeutung von Netzwerken und der Erhaltung von Kontakten. Laut Gerd können so verschiedene Akteure jeweils voneinander profitieren.

„[…] das ist alles noch recht überschaubar.“ (Sarah) – Das eigene Engagement ‚runterspielen‘ oder als nicht-politisch abtun

Ein weiterer interessanter Aspekt im Bereich Selbstverständnis ist das Abwerten des eigenen Engagements. Dieser Bereich wird in der Literatur der Partizipations- und Protestforschung bisher wenig beachtet. Sven, Sarah, Olaf und Helena zählen bspw. eine Menge Aktivitäten auf, nennen ihr Engagement dann aber überschaubar oder sagen, sie wären nur mitgelaufen oder eigentlich keine politischen Menschen. Hier zeigt sich ein sehr unterschiedliches Verständnis von politisch. Sarah ist im BUND aktiv, bei den Imkern, im Obst- und Gartenbauverein und unterstützt die Ferienspiele. Sie selbst schätzt diese Aktivitäten jedoch als wenig aufwendig ein.Footnote 48 Sie bewirtschaftet alleine eine Streuobstwiese und einen Gemüsegarten und hat sich eigene Bienen zugelegt. Für Sarah ist das kein direkter Aktivismus, jedoch ein politisches Statement, das sie ins Private übertragen und umgesetzt hat: „Und dann bin ich dazu gekommen, dass ich mir diese Streuobstwiese zugelegt habe, mit dem Gemüsegarten angefangen habe und mir Bienen angeschafft habe. Und das ist ja jetzt nicht ein direkter Aktivismus-Zweig, aber irgendwie schon. Also für mich hat das halt auch was politisches, obwohl es ja ne konkrete Umsetzung im privaten Bereich ist.“ (Sarah, Z. 96 ff.) Sarah würde das Gärtnern und die Imkerei zwar nicht uneingeschränkt als „Aktivismus“ bezeichnen, als „politisch“ jedoch schon – „obwohl“ es im privaten Raum sei. Hier zeigt sich, dass für Sarah Aktivismus und politische Aktivitäten wohl in erster Linie im öffentlichen Raum stattfinden. Trotzdem versteht sie auch ihr Engagement als politisches Statement und, wie bereits gezeigt wurde, auch als festen und wichtigen Bestandteil ihres Lebens und ihrer Zeiteinteilung.

Olaf wiederum würde sich nicht als politischen Menschen bezeichnen, obwohl er für eine Grüne Abgeordnete arbeitet, beim BUND aktiv und auch bei verschiedenen Protestaktionen dabei ist. Er versteht ‘politisch’ mehr als ‘Politik-machen’ und sieht sich hier nur in einer zuarbeitenden und unterstützenden Rolle, die seinen Job ausmacht. „Aber ich bin eigentlich auch nicht so ein politischer Mensch. Also, ich bin eher – jetzt bei den Grünen – als politischer Referent eher ein fachorientierter Mitarbeiter. Klar, ich organisiere auch Veranstaltungen usw., aber ich stehe da nicht in der ersten Reihe der Politiker*innen und mach da eben ... ich mache eben keine Politik in dem Sinne, ich arbeite da zu.“ (Olaf, Z. 139 ff.) Auch Sven wertet sein eigenes Engagement ab, wenn er erzählt, dass er in den 1960er Jahren zwar bei Straßendemonstrationen dabei war, aber nur mitgelaufen sei. Auf die Frage, ob er zu Studienzeiten aktiv war, antwortet er: „Ja, so ein bisschen. Aber da ist man mitgelaufen. Das waren so diese ... – ich bin kein 68er, also da war ich noch ein bisschen jung, aber man ist mitgelaufen.“ (Sven, Z. 57 f.) In den 1960er Jahren war Sven noch zu jung, um sich auf den Straßendemos neben der Teilnahme als Fußgänger auch anderweitig einzubringen. Dass er nur mitgelaufen sei und nicht mehr gemacht habe, versteht er nur „ein bisschen“ als Engagement.

„Wir können nicht immer nur dagegen sein […].“ (Sonja) – ‚Für‘ Dinge kämpfen und nicht nur ‚gegen‘ etwas sein

Ein wichtiger Aspekt hinsichtlich des Selbstverständnisses der Aktiven und der Nachhaltigkeit von Engagement ist die Position, ‚für‘ etwas zu sein, anstatt immer nur ‚dagegen.‘ Besonders Sonja, Günter und Gerd betonen diese Herangehensweise und beziehen sich dabei auf die Energiewende, Energieeffizienz und andere Nachhaltigkeitsthemen. Für Sonja ist die Bewegung für erneuerbare Energien aus der Anti-Atom-Bewegung entstanden und sie findet die Einsicht wichtig, diesmal ‚für‘ etwas zu kämpfen: „Und vor allem, die Anti-AKW-Bewegung hat ja gemündet in die Bewegung für Erneuerbare Energien. Weil halt da die Einsicht gekommen ist: Wir können nicht immer nur dagegen sein, wir müssen auch mal für etwas sein, nämlich für erneuerbare Energien. Und das ist einfach der entscheidende Punkt.“ (Sonja, Z. 165 ff.) Auch Günter betont lieber die Effizienz von Strategien zur Ressourcen-Vermeidung, anstatt nur die Verschwendung von Ressourcen zu kritisieren. In seinen Augen ist das Sparen unstrittig und sollte damit für jeden von Interesse sein.Footnote 49

Gerd wiederum hält es auch im Wahlkampf der Grünen für strategisch klüger, ‚für‘ etwas zu sein, als nur dagegen. Dabei nennt er das Beispiel Wasserschutz und möchte keine Verzichts-Szenarien aufbauen, sondern vielmehr das positive Profil der Partei schärfen: „[…] dass ich immer wieder sage: Leute, wofür stehen Grüne? Und nicht, wogegen stehen Grüne. Also, z. B. habe ich bei uns im Wahlkampf dafür gesorgt, dass wir dieses Verzichts-Szenario raus lassen. […] Also, dass wir sagen, wir sind dafür, dass Landwirtschaft eine andere Richtung einnimmt. Dafür kämpfen wir. Oder dass das Wasser geschützt wird. Nicht: Also, wir wollen verhindern, dass Nitrat ins Wasser kommt, sondern wir wollen das Wasser schützen. […] Fakt ist, dass ich gemerkt habe, dieses ständige Katastrophen-Szenarien an die Wand werfen, stumpft die Leute ab.“ (Gerd, Z. 845 ff.) Die von Crouch (2008) beschriebene Apathie unter Bürger*innen gegenüber der Politik, kann nach Aussage der Interview-Partner*innen folglich auch auf Bewegungsarbeit und zivilgesellschaftliches Engagement übertragen werden. Dabei werden neue Strategien zur Motivation der Aktiven entwickelt, um ein positiveres Bild ohne Verzichts-Szenarien zu zeichnen und ein Abstumpfen der Bürger*innen zu verhindern. Auch Daniela vertritt die Meinung, dass man nicht immer nur gegen etwas sein sollte. In ihrem Selbstverständnis ist es somit oft nötig viele kleine Schritte zu gehen, um an das eigentliche Ziel zu kommen. Hier spielen auch Kompromissbereitschaft und das Aufzeigen alternativer Lösungen eine wichtige Rolle.Footnote 50 Dies ist insb. für eine langfristige Motivation von großer Bedeutung.

„[…] die Leute, die gar nichts machen, handeln schon grob fahrlässig.“ (Sonja) – Verschiedener Umgang mit Inaktiven

Aufbauend auf den vorherigen Punkt und die Einstellung, dass Engagement zur Bürgerpflicht gehöre, herrscht folglich größtenteils Unverständnis (Ausnahme Julia) für Nicht-Engagement. Franz, Sonja und Valeria beschreiben in diesem Kontext Wut, Aufregung und Unverständnis und bezeichnen ein solches Handeln teilweise sogar als grob fahrlässig. Insbesondere mit Blick auf folgende Generationen sei ein solches Verhalten nicht nachvollziehbar: „Ja, also ich muss sagen, die Leute, die gar nichts machen, handeln schon grob fahrlässig. Ich kann es eigentlich nicht verstehen, vor allem wenn man Kinder und Enkel hat. […] man versteht es nicht, dass sich jemand nicht dafür interessiert, dass wir auf so einer Zeitbombe sitzen.“ (Sonja, Z. 293 ff.) Franz versucht Kolleg*innen und Freund*innen immer wieder zum Umdenken zu bringen und ärgert sich sehr über solche, die sich in seinen Augen nicht richtig verhalten. So erklärt er, dass er eigentlich gar nicht anders könne, als andere verändern zu wollen: „Ja, ich bin denen zwischendurch wahrscheinlich auch auf den Keks gegangen, zwischendurch. […] ich kann dann einfach irgendwann nicht anders, weil mich das derart aufregt.“ (Franz, Z. 88 ff.) Auch Valeria versteht nicht, wie jemand anders denken kann, als sie selbst. Sie beschreibt, wie ihr die Galle hochkommt, wenn sie darüber nachdenkt, wie der Mensch die Erde zerstört. „Ja, insofern bei Atom z. B. da hat man das erkannt und auch die Möglichkeit, was es bewirken kann und jetzt ist, finde ich, das übersichtige Menschendenken: Okay, dann machen wir hier mal Stopp, denn dann können wir uns eine wunderschöne Erde erhalten. Und wenn da nicht Stopp gemacht wird, sondern weiter gemacht wird, dann geht bei mir die Galle hoch. […] Da sage ich: […] Das kann nicht sein, dass jemand anders denkt.“ (Valeria, Z. 638 ff.)

Gegensätzlich zu Kilian, für den es aus philosophischer Sicht keine Pflichten gibt, wollen Franz, Sven und Helena sehr wohl andere in ihrem Verhalten beeinflussen, dahingehend, dass sie nachhaltiger agieren oder dass die Stadt ihre Position in bestimmten Projekten überdenkt. Während dieser Aspekt in Abschnitt 5.1 „Ressourcen“ mit Bezug auf das CVM von Verba/Schlozman/Brady (1995) unter dem Gesichtspunkt des Netzwerkens und Rekrutierens bereits analysiert wurde, liegt hier nun der Fokus auf dem Umgang mit inaktiven Bürger*innen und dem Frust, den Aktive bei ihren Überzeugungsversuchen teilweise erleben. Franz hat noch zu Berufszeiten häufig versucht, seine Kolleg*innen auf Energiesparmaßnahmen hinzuweisen, ist meist jedoch gescheitert und daran oft verzweifelt. Dass Menschen mit einem akademischen Hintergrund sich so wenig Gedanken über die Auswirkungen ihres Handelns machen, kann er nicht verstehen.Footnote 51 Auch Helena versucht auf der Arbeit ihre Kollegin zu beeinflussen. Sie spricht sie regelmäßig auf ihr Kaufverhalten (z. B. bei Bananen) an und legt ihr Infomaterial zur Aufklärung hin. Doch in Helenas Augen ist die entsprechende Kollegin recht beratungsresistent: „[…] ich habe jetzt gerade meine Kollegin, die immer wieder mit Chiquita Bananen kommt und da sage ich: […] ‚Du siehst das im Fernsehen! Die Leute werden besprüht, die haben Ekzeme und sonst was! Und du stellst dich jeden Tag wieder mit der Chiquita Banane hier her.‘ Und da gab es jetzt so ein schönes Buch über den Ökomverlag: Billig Banane, keine Ahnung was, und das habe ich ihr jetzt gekauft und lege es ihr immer wieder hin ... – ‚Ja, ich hab es mal durchgeblättert.‘ – Sag ich: ‚Nein, du sollst es lesen!‘ Aber ich merke, wie die in ihrem Trott komplett vor sich hintrottet.“ (Helena, Z. 342ff.) Sven wiederum versucht häufig Einfluss auf städtische Entwicklungen zu nehmen und hält es für nötig und sinnvoll, dort immer wieder zu „piesacken“. Er habe seinen Ruf weg als derjenige, der am Küchenfenster steht und meckert. Doch hat er mehrfach die Erfahrung gemacht, dass sich so Sachen verändern ließen.Footnote 52

„Aber irgendwie esse ich auch gerne ne Bratwurst oder ein Schnitzel.“ (Mareike) – Gegenwärtige Herausforderungen für Protest-Bürger*innen

Einige Interview-Partner*innen beschreiben selbstkritisch, wie auch sie sich nicht immer ganz konsequent an die eigenen Prinzipien halten können, wie es ihnen manchmal schwer gemacht wird, alle Ideale umzusetzen oder dass sie trotz Kritik an der Massentierhaltung eben ganz gerne mal eine Bratwurst essen. Bei der letzten Bundestagswahl hat das Mareike davon abgehalten, die Tierschutzpartei zu wählen: „Ich finde es auch ganz schlimm, was da passiert in der Tierfarm-Industrie. Aber irgendwie esse ich auch gerne ne Bratwurst oder ein Schnitzel. Ich finde aber dennoch, sollten die Tiere vernünftig gehalten werden und nicht so eingequetscht. Aber ich esse trotzdem gerne. Und da habe ich gedacht: ‚Nee also, wenn die dann jetzt kommen und dann dürfen wir alle kein Fleisch mehr essen – ist auch blöd.‘ Und dann habe ich mich dann entschieden, das Kreuzchen da doch nicht zu machen.“ (Mareike, Z. 751ff.) Stefanie wiederum ist der Meinung, dass es Bürger*innen heute sehr schwer gemacht wird, sich an alle gesetzten Prinzipien zu halten. Ihr fehlen die besseren Rahmenbedingungen und Anreize, um bspw. das Einkaufsverhalten nachhaltigen Aspekten anzupassen. Sie vermutet, dass häufig ein Anstupser von außen – wie in der Schule z. B. – kommen muss, damit sich Menschen genauer mit nachhaltigem Konsum auseinandersetzen. Dieser Aspekt wurde in Abschnitt 5.1 „Ressourcen“ im Rahmen des CVM und der Komponente „Rekrutierung“ (Verba/Schlozman/Brady 1995) bereits untersucht. Aktuell würden es Preis und Verpackungen den Konsument*innen schwer machen, so einzukaufen, wie Stefanie es eigentlich gerne würde.Footnote 53

Auch Franz und Isabelle beschreiben Probleme, sich immer an alle Prinzipien zu halten – insb. beim ökologischen Fußabdruck. Nicht immer lassen sich Flugzeug oder häufige Bahn- und Autofahrten verhindern und häufig seien demnach Kompromisse nötig. Für Franz ist es die Balance zwischen einem glücklichen Leben und Rücksicht auf die eigene Umwelt mit Tier und Mensch. „Aber ein Verständnis dafür zu haben und danach zu agieren oder sich drauf einzustellen, ist natürlich schon sehr schwierig. Vor allem, wo man sich selbst an die eigene Nase greifen kann und sagt: ‚Ich habe jetzt schon wieder im Flugzeug gesessen.‘ Man ist ja selbst nicht der 100pro-Öko. Man versucht irgendwie einen Weg zu finden und sagt: Einerseits will man leben, aber man versucht doch wo man kann, seine Gegend sauber zu halten und Mensch und Tier zu achten.“ (Franz, Z. 790ff.) Isabelle hat diese Schwierigkeit besonders durch eine eineinhalb-jährige Fernbeziehung erlebt, in der sie häufiger als ihr aus ökologischer Sicht recht war 400 Kilometer zurücklegen musste. Obwohl ihr bewusst ist, dass jede Entscheidung für oder gegen das Auto eine Entscheidung mit Konsequenzen ist, und dass jede Kaufentscheidung ein Signal an den Hersteller ist, muss sie manchmal Kompromisse eingehen.Footnote 54 Ähnlich wie Franz beschreibt auch Isabelle die Notwendigkeit, für sich selbst eine Balance zu finden: Bereiche, in denen man nachhaltig agiert und solche, in die man sich in naher Zukunft einlesen möchte. So kann man sich in ihren Augen Schritt für Schritt jedes Thema erarbeiten, ohne dabei das Gefühl zu haben, man müsse nun auf viele Dinge verzichten.

Frust bereitet es Aktiven außerdem, wenn sie für ihr Engagement keine oder wenig Unterstützung im Freundeskreis finden. So ist insb. bei Felix die Enttäuschung darüber groß, dass seine Freund*innen ständig Ausreden haben, warum sie ihn nicht zu Protestaktionen begleiten. Nur aus Prinzip nimmt er bei Diskussionen gern den gegensätzlichen Standpunkt ein, um die Gespräche anzufeuern und seine Freund*innen herauszufordern. Doch selbst wenn sie dann ganz engagiert im Thema sind, lassen sich Felix‘ Freund*innen nicht für weitere Aktivitäten mobilisieren. „Freunde – von meinen Freunden bin ich, was das angeht, ehrlich gesagt regelmäßig enttäuscht. Weil wenn ich denen was erkläre und […] dann sind die immer total Feuer und Flamme und reden auch gegen mich. Also, ich vertrete immer den Standpunkt, den ich eigentlich nicht vertrete und dann streiten die mit mir und das finde ich immer ganz toll. Und ich sag, ‚Da muss man doch was gegen machen!‘ – Und dann so, ‚Nee, dafür haben wir gerade keine Zeit. Das Wetter ist zu gut oder das Wetter ist zu schlecht.‘ Irgendwie so, keine Ahnung.“ (Felix, Z. 1162 ff.) Auch Julia erfährt teilweise wenig Verständnis für ihr Engagement und wünscht sich insb. in stressigen Phasen mehr Rückhalt und Einsicht. Denn sie ist sich ihrer Verantwortung bewusst und gibt diese auch in schwierigen Momenten nicht einfach ab.Footnote 55 Hier wird erneut deutlich, dass Engagement als Pflicht verstanden wird und sich Julia ihrer Verantwortung für die BUNDjugend bewusst ist.

Helena kommt nicht gut damit zurecht, Absagen zu erhalten. Aus dem Grund hat sie aufgehört zu versuchen, Freund*innen für Aktionen zu mobilisieren. Deswegen sagt sie heute nur noch Bescheid, dass sie an dieser und jener Protestaktion teilnimmt und überlässt es dann den anderen, freiwillig mitzukommen oder eben nicht. „Und ich kann nicht gut damit leben, Absagen zu bekommen, habe ich festgestellt. Ich habe das mal eine Weile probiert, auch Leute aktiv irgendwo mitzunehmen, und sei es nur zur Mitarbeit, muss ja nicht zum Protest sein. Aber das ist so zäh, dass ich einfach gesagt habe, ich fahre und wenn jemand sagt, dass finde ich toll, sage ich, du kannst ja mitfahren.“ (Helena, Z. 959 ff.) Der unterschiedliche Umgang mit Absagen und der Inaktivität von Freund*innen wird im weiteren Verlauf unter dem Stichwort der ‚Frustrationstoleranz‘ ausführlicher thematisiert.

Felix vertritt ähnlich wie Julia das Selbstverständnis, nur Mitglied von etwas zu sein bzw. etwas zu unterstützen, das er nahezu hundertprozentig unterstützenswert findet. Nach diesem Vorsatz wählt er Aktionen aus, an denen er teilnimmt und dies führt für Felix dazu, dass er nicht Mitglied einer Partei ist. Denn er würde sich dann zu einem ganz großen Teil mit der entsprechenden Partei identifizieren wollen.Footnote 56 Neben der fehlenden nötigen Identifikation, ist es auch die Sorge vor beruflichen Nachteilen, die Felix von einer Parteimitgliedschaft abhält. Hier zeigt sich die u. a. von Bennett (2008) beschriebene sinkende Glaubwürdigkeit von politischen Institutionen und der im CVM von Verba/Schlozman/Brady (1995) unter der Komponente „psychological engagement“ berücksichtigte Aspekt der Parteiidentifikation („partisanship“). Dass diese nicht vorliegt, hält Felix und andere Bürger*innen jedoch nicht von ihrem Engagement ab.

Ein weiterer, sehr wichtiger Aspekt im Selbstverständnis des Engagements ist die Meinung, dass man sich im Aktivismus nicht verlieren dürfe und es wichtig sei, sich auch Auszeiten zu nehmen. Daniela äußert den Rat, dass man sich nicht immer nur für die Welt einsetzen solle, sondern dazwischen immer auch an sich selbst denken müsse. „Man muss als Aktivist immer daran denken, es bringt einem nichts, wenn ich mich immer nur für die Welt einsetze oder ich für die Frauen oder für die Kinder, weil man ändert sich ja im Laufe der Jahre. Man muss immer daran denken, dass man zwischendurch eine Auszeit nimmt, um sich nicht zu verlieren.“ (Daniela, Z. 257 ff.) Auch Valeria (Z. 1095 ff.) bemerkt die Auswirkungen des Engagements bei sich persönlich. Sie beschreibt eine Tendenz, oft zu tief in die Themen einzutauchen und beurteilt das gleichzeitig als Stärke und Schwäche von sich selbst. Der Bereich „Burnout im Aktivismus“ ist in der Forschung kaum untersucht und entsprechend liegt hier kaum Literatur vor. Eine theoretische und praktische tiefergehende Auseinandersetzung mit diesem Thema könnte vielversprechende Einsichten in die Motive von Engagierten und Inaktiven geben. Da dieses Thema insb. durch die Emotionen der Bürger*innen geprägt ist, wird der Aspekt in Abschnitt 5.3 „Emotionen und Affekte“ genauer untersucht.

Kategorie „Nachhaltigkeit“

Die Kategorie Nachhaltigkeit spielt beim Engagement vieler Interview-Partner*innen eine wichtige Rolle. Denn mit der persönlichen Einschätzung über die Wirksamkeit und Nachhaltigkeit von zivilgesellschaftlichem Engagement und verschiedenen Protestformen im Spezifischen liegen wichtige motivierende oder demotivierende Faktoren vor. Während an dieser Stelle grundsätzliche Aussagen zur Wirksamkeit von Engagement zusammengetragen werden, geht Kapitel 7 „Einstellungen zu Straßenprotest und Netzaktivismus“ anschließend nochmal genauer auf die Einschätzung der Wirksamkeit spezifischer Protestformen im Netz und auf der Straße ein.

„[…] kommt es immer drauf an, an welchen Schrauben man denn überhaupt auch drehen kann.“ (Stefanie) – Macht und Größe eines Themas bestimmen dessen Einflusschancen

Am übereinstimmendsten sind die Meinungen dahingehend, dass die Größe des Einflusses oft von Faktoren wie Macht, Thema und Reichweite des Problems abhängig ist. Dabei besteht die Theorie: Je kleiner das Problem, desto mehr Einfluss können wir nehmen. Die „external efficacy“ (Campbell et al. 1954; Verba/Schlozman/Brady 1995: 346 f.), also die wahrgenommene Offenheit des politischen Systems für die individuelle Beeinflussung, hängt laut Interview-Partner*innen folglich vom jeweiligen Thema ab. Kilian ist der Meinung, dass Einflussnahme bei großen Themen wie dem Klimawandel schwierig ist, bei konkreteren Anliegen wie TTIP hingegen einfacher. Trotz großem Widerstand im Bereich Globalisierung oder Kapitalismus hat Kilian dort nicht das Gefühl, dass Engagement Veränderung bewirken kann: „Ja, also TTIP ist schon wieder was Konkretes und was nicht so großes wie Klimawandel oder so. Und je kleiner die Sachen sind, desto mehr habe ich das Gefühl, man kann was machen und es bewirkt auch was. Davon bin ich auch überzeugt. Aber je größer die werden, und dann bei den ganz großen Problemen sowas wie Globalisierung oder Kapitalismus […] da habe ich nicht das Gefühl, dass irgendein Engagement was ändert […].“ (Kilian, Z. 1154 ff.) Ähnlich sehen das Helena und Gerd, die der Meinung sind, dass man insb. im Lokalen und im Kleinen etwas verändern könne, dass man gegen die großen Kräfte jedoch kaum eine Chance habe. Gerd will Veränderungen im Kleinen erwirken und erhofft sich davon einen Einfluss auf größere Ebenen: „Aber ich glaube, dass es auf der anderen Seite immer noch dieses gibt, dass man trotzdem was bewirkt. Und gerade dieses Tun im Kleinen, merke ich immer, das ist ganz wichtig, dass man da immer nochmal ran geht. Also, die Politik im Kleinen hat mir gezeigt, dass es im Großen Veränderungen geben kann. Aber die ganz großen Kräfte, ich glaube gegen die hätte man nie eine Chance.“ (Gerd, Z. 995 ff.) Helena wiederum hat beim Thema Ernährung die Erfahrung gemacht, dass das was sie vor 20 Jahren gepredigt und vorgelebt hat, heute weitaus verbreitet akzeptiert ist. Früher sei sie hier eine Exotin gewesen, heute sei gesunde, biologisch Ernährung nahezu Standard. Auch der Naturschutz ist für sie im Lokalen einfacher umsetzbar als im Großen.Footnote 57

Ein weiterer Aspekt ist die Frage der Einflussnahme auf Landesebene, wenn bspw. bei Anhörungen im Landtag versucht wird, die eigene Position – oder in dem Fall die des BUND – vorzutragen und damit ernst genommen zu werden. Markus hat an solchen Anhörungen teilgenommen und die Erfahrung gemacht, dass vieles schon vorab entschieden ist und kritische Positionen wie die seine keinen Einfluss mehr auf die Entscheidung haben. Solche Anhörungen bezeichnet er als „Farce“.Footnote 58 Markus betont auch den erheblichen Zeitaufwand, den er im Rahmen der Vorbereitungen aufgebracht hat und ärgert sich über das Gefühl, mit seiner Position keinen Einfluss genommen zu haben.

Die Frage von Einflussnahme und Macht stellt sich auch Stefanie und kommt zu dem Schluss, dass sie selbst nur an einer sehr kleinen Schraube drehen und so nur kleine Veränderungen bewirken kann. „Ich glaube, da kann man jeden Tag auch dran arbeiten und versuchen, das weiter anzuregen, dass sich was verändert. Wie viel das dann letztlich ist, dafür kommt es immer drauf an, an welchen Schrauben man denn überhaupt auch drehen kann. Also, das ist auch eine Machtfrage. Und ich glaube, da sitze ich gerade einfach an einer ganz kleinen Schraube.“ (Stefanie, Z. 1101 ff.) Im Kontext ihrer Online-Petition hat sie die Erfahrung gemacht, dass aufgrund der Vielzahl von Petitionen nicht jede Petition als gleich wichtig eingestuft wird. Ihre Unterschriften-Übergabe fand folglich ‚nur‘ mit dem Staatssekretär und nicht mit der Umweltministerin statt. Eine Entwicklung, die Stefanie persönlich enttäuscht hat.Footnote 59

„Ich sehe es direkt und es ist viel unmittelbarer […].“ (Julia) – Direkte Sichtbarkeit und hoher Einfluss als Motivation

Ein wichtiger motivierender Aspekt bzgl. des eigenen Engagements ist das Gefühl, etwas bewirken zu können und die Einflussnahme des Engagements direkt sichtbar werden zu lassen. Diese Sichtbarkeit des Engagements bezieht sich in allen beschriebenen Fällen auf Sichtbarkeit im Sinne eines Erfolgserlebnisses, nicht etwa auf Sichtbarkeit im Sinne einer Visualisierung oder gar digitalen Darstellung des Engagements. Alle Interview-Partner*innen empfinden es als Motivation, wenn ihr Einsatz durch Erfolge sichtbar wird. Etwa die Hälfte der Gesprächspartner*innen ist der Meinung, direkten Einfluss zu nehmen, meinungsbildend zu agieren und/oder kann Positivbeispiele für Veränderungen nennen. Andere Aktive benennen wiederum ihr Engagement wie z. B. das Gärtnern als eine Form der direkten Sichtbarmachung von Aktivismus und sehen dies auch als nötig an, um nicht frustriert zu werden. Auch Bennett (2008) beschreibt mit dem Bürgerschaftsverständnis einer „actualizing citizenship“ neue Partizipationsformen, die alltäglich, individuell, direkt und gut sichtbar sind.

In Engagementformen wie dem Nachhaltigkeitsbüro an der Uni, in Beratungsgremien auf Landes- und Bundesebene oder über Vorträge zum Thema Nachhaltigkeit – Kilian und Markus schätzen ihr Engagement als wirksam ein. In seinem Spezialgebiet „erneuerbare Energien“ nimmt Markus eigenen Aussagen nach in Diskussionen Einfluss auf Entscheidungen: „Ja, vor allem, ich kann sie mitbestimmen. Darum geht’s! Ich bin da schon mit meinem Spezialgebiet ‚erneuerbare Energien‘ speziell Windenergie – da bin ich schon meinungsbildend. Nicht nur auf Landes- sondern auch auf Bundesebene. Also natürlich nicht alleine, sondern mit anderen, aber die Diskussion, da hat man schon Einfluss.“ (Markus, Z. 231 ff.) Außerdem hält er häufig Vorträge und erfährt dort größtenteils positive Rückmeldungen. Auch Kilian (Z. 1119 ff.) beurteilt sein Engagement im Nachhaltigkeitsbüro als durchaus einflussreich.

Julia wiederum ist der Meinung, dass man besonders viel Spaß bei einer Sache hat, wenn man Einfluss nimmt und gut in etwas ist. So sieht sie ihre Stärke in strukturellen Aufgaben, die wiederum auch dem BUND als Verband etwas bringen. Ihr Ziel ist es dabei, die politische Wirksamkeit der BUNDjugend zu stärken.Footnote 60 Julia verknüpft ihre „internal efficacy“ (Campbell et al. 1954, Verba/Schlozman/Brady 1995: 346 f.), die wahrgenommene Fähigkeit, das politische System zu beeinflussen, folglich mit Aspekten des Spaßes und der Motivation. Wenn man gut in etwas ist und damit direkten Einfluss nehmen kann, macht Engagement Spaß und dies motiviert sie wiederum ihre Stärken und Fähigkeiten weiter einzubringen. Spaß als Motivation für Engagement wird in Abschnitt 5.3 „Emotionen und Affekte“ ausführlicher behandelt.

Direkte Sichtbarkeit des eigenen Aktivismus ist auch für Isabelle und Sybille von Bedeutung. Sybille findet diese wiederum am deutlichsten im Gärtnern, da sie durch den Anbau von Obst und Gemüse ganz direkt erfährt, welche Auswirkungen ihre Aktivitäten haben. Daneben betont sie auch den gemeinsamen Lerneffekt, den das Gärtnern mit sich bringt, und beschreibt so neben den Auswirkungen auf die Pflanzen auch direkte Auswirkungen auf die im Garten aktiven Menschen: „Also, gerade auch beim Gärtnern wird das ja deutlich: Dass so dieses Selbst-was-zu-essen-anzubauen, ganz viele Facetten hat. Also es ist einmal wirklich so, dass man da direkt Energie einspart, zum anderen hat das mit dem Selbst-sich-einbringen was mit einer Identifizierung zu tun, es hat was mit Lernen zu tun: Wie könnte ich mich selbst ernähren? […] das ist ein starker Lerneffekt. Und auch dieses Gemeinsam-voneinander-lernen, diese Gemeinschaft und diese Freude, auch dann zu erleben, wenn man da ein bisschen was gemacht hat und dann kommt man hin und da ist ja ganz viel anderes entstanden! […] Und Garten ist halt einfach total anschaulich und schnell, hat einen schnellen Effekt, also eine Wirksamkeit bei den Menschen auch.“ (Sybille, Z. 848 ff.) Neben der Wirksamkeit auf die Menschen, bspw. in Form einer Wissensaneignung und dem „Gemeinsam-voneinander-lernen“, und der Verbesserung der Energiebilanz, verdeutlicht Sybilles Aussage auch Aspekte der Visualität und Ästhetik von Engagement. Gärtnern sei „anschaulich“ und ohne Zutun der Menschen würde durch die Pflanzen dort Neues entstehen, was bei Sybille Freude auslöst.

Isabelle wiederum stellt ihr Engagement beim Repair-Café dem Unterschreiben von Petitionen gegenüber und merkt an, dass sie bei solchen ‚Offline‘-Treffen und Vernetzungen deutlicher und direkter Feedback bekommt als online. Selbst wenn bspw. ein gekipptes Gesetzesvorhaben auf eine erfolgreiche Petition zurückzuführen sei, erlebt sie strahlende Augen und positives Feedback als direktere Auswirkungen ihres individuellen Handelns: „Wobei man ja auch, wenn man irgendwie eine Petition unterschreibt und dann wird ein Gesetzesvorhaben gekippt, dann kann man sich das ja auch selbst zuschreiben. Aber wenn man natürlich ein direktes Feedback bekommt, wie hier bei dem Vernetzungstreffen, das wir im Repair Café gemacht haben, wo dann einfach diese strahlenden Augen ... Wir haben am Ende eine Abschlussrunde gemacht und jeder sagte, was er mit nach Hause nimmt […] und eine Aussage: ‚Ich dachte, wir wären bereits gut vernetzt, aber ich habe festgestellt, wir sind es noch gar nicht.‘ Und das war natürlich für mich total toll.“ (Isabelle, Z. 633 ff.) Hier wird deutlich, dass „direktes Feedback“ für Isabelle bedeutet, dass es von einer ihr real gegenüberstehenden Person kommt. Erfolge wie das Verhindern eines Gesetzesvorhabens könne man zwar auch konkreten Aktionen wie einer Online-Petition und der eigenen digitalen Unterschrift zuordnen, doch unvermitteltes Feedback erlebt Isabelle nur bei Treffen vor Ort.

Darüber hinaus können Positivbeispiele aus der Vergangenheit herangezogen werden, um die Wirkung der eigenen Handlungen zu belegen. So berufen sich bspw. Sonja, Günter, Daniela, Markus oder auch Helena auf die Verhinderung der WAA oder von Fracking, auf eine BUND-Klage gegen Bayer oder auch lokale Protestaktionen, die etwas bewirkt hätten. Im Fall von Fracking ist laut Sonja, Dank des Widerstandes, bisher noch kein Gesetz verabschiedet worden. Das geht in ihren Augen auf Aktionen des BUND, von Campact, Abgeordneten-Watch und anderen zurück.Footnote 61 Ähnliches sieht sie im Fall des Widerstandes gegen die WAA erfüllt. Mit teilweise illegalen Protestaktionen und einer langen Ausdauer habe man über Jahre hinweg Widerstand geleistet: „Ja gut, also es gibt Leute, die heute noch sagen, nicht wir hätten die WAA verhindert, sondern der Tod von Strauß wäre maßgeblich gewesen. Aber ich bin der Meinung, wir haben sie verhindert. Durch unseren harten, engagierten und auch teilweise illegalen Widerstand. Also, wir haben Grenzen überschritten und wir haben gezeigt, dass wir nicht locker lassen.“ (Sonja, Z. 914 ff.) Hier zeigt sich Sonjas Einschätzung einer hohen politischen Wirksamkeit (Verba/Schlozman/Brady 1995: 346 f.). Sie schreibt sich und der Bewegung Einflussnahme auf das politische Geschehen zu und erfährt durch solche Erfolgserlebnisse Motivation für gegenwärtiges Engagement.

Im Kontext des BUND haben auch Günter und Markus die Erfahrung gemacht, dass Widerstand etwas bewirken kann. Mit Hilfe einer Klage hat der BUND im Rechtsstreit gegen Bayer bewirkt, dass der Verband weiterhin aussagen darf, dass die Pestizide von Bayer Bienen-gefährlich sind. Markus lobt das Am-Ball-bleiben des BUND und die Benachrichtigung über Erfolge von Kampagnen.Footnote 62 Günter (Z. 818 ff.) hingegen kann auf lokaler BUND-Ebene Erfolgsgeschichten erzählen. In einem Bauprojekt wurde auf Druck des BUND eine neue Projektleitung eingestellt und in vielen anderen Projekten kann sich der BUND laut Günter mit Fachwissen einbringen und durch die Erzeugung von Öffentlichkeit, z. B. wenn Medien darüber berichten, Druck auf bestimmten Entscheidungen ausüben.

Über persönliche Erfolgsgeschichten aus der Vergangenheit berichtet Helena insb. im privaten Bereich, bzw. wie sich aus dem privaten Bereich heraus etwas Größeres entwickelt hat. Helena hat sich schon früh für das Thema gesunde Ernährung eingesetzt und erzählt, wie sie schon zu Zeiten, in denen ihre Kinder im Kindergarten waren, dort für ein gesundes Frühstück gekämpft habe. Damals sei sie als Öko-Tussi abgetan worden und heute sei ein gesundes Frühstück Standard, berichtet sie stolz: „[…] gerade auch im Bezug auf Ernährung z. B. – ich weiß, als meine Kinder klein waren, haben wir im Kindergarten erbitterte Kämpfe über gesundes Frühstück gemacht. Und meine eine Kollegin […] erzählt immer, […] ihre Mutter hätte immer schon gesagt, diese verrückten, bescheuerten Öko-Tussen, die ihr vorschreiben wollen, dass sie ihrem Kind kein Nutella-Brot mitgeben soll. Und heute ist gesundes Frühstück Standard. […] Insofern sage ich mal, ist da schon so ein bisschen eine Entwicklung.“ (Helena, Z. 1282 ff.) Als Paradebeispiel für den Einfluss von Protest und Widerstand gilt für Sybille der Mauerfall. Mit Hilfe einer kritischen Masse und dem richtigen Timing hätte so Veränderung stattfinden können.Footnote 63 Beide Fälle beziehen sich auf Situationen in der Vergangenheit, in welcher neue, digitale Protestformen noch nicht zur Verfügung standen, Überzeugung (Helena) und Widerstand (Sybille) aber zu ‚Erfolg‘ geführt haben, der die beiden Bürgerinnen bis heute motiviert, an persönliche Wirkkraft zu glauben.

Wenn man die Auswirkungen des eigenen Handelns sehen kann, hat das für einige Interview-Partner*innen häufig auch Einfluss auf den Spaß-Faktor. Für Olaf hängen Spaß und Ergebnisse erzielen zusammen. Und nebenbei kann man dadurch oft auch noch neue und nette Leute kennenlernen. „Aber es ist ja immer so im Leben: Wenn man erstmal den Arsch hoch kriegt und sich engagiert und was tut und sich anstrengt und auch schwitzt und meinetwegen auch Fehler macht usw. – am Ende ist es doch oft so, ich habe auf jeden Fall was dabei gelernt, ich habe vielleicht auch nette oder interessante Leute kennengelernt und vielleicht ist sogar was richtig gutes bei rübergekommen.“ (Olaf, Z. 911 ff.) Ähnlich sieht das auch Gerd, für den Spaß gleichgesetzt ist mit guten Ergebnissen. Das Miteinander und das Vertrauen zu stärken führt für Gerd zu guter Arbeit und ohne Spaß daran könnte er sich auch nicht vorstellen, sich weiter zu engagieren. „Wenn das mir keinen Spaß macht, dann gehe ich da nicht mehr hin. Dann sage ich: ‚Ach, das können dann auch andere machen.‘ Aber unter Spaß meine ich damit dann auch, es werden Ergebnisse erzielt, man macht was miteinander und das Miteinander führt dazu, dass man sich wieder ein bisschen mehr vertraut oder sich näher kennenlernt und so.“ (Gerd, Z. 474 ff.) Gerd spricht hier mehrere wichtige Aspekte an: Ohne Spaß würde er sich nicht länger beteiligen. Spaß dient ihm und anderen als wichtiges und eigenständiges Motiv für Engagement.Footnote 64 Engagement muss Ergebnisse erzielen und diese führen wiederum dazu, dass es überhaupt Spaß macht, sich einzubringen. Mit anderen Menschen gemeinsam Ergebnisse zu erreichen, stärkt das Miteinander und baut Vertrauen auf. Hier zeigt sich die besondere Bedeutung von kollektiven Aktionen für die Identität des Einzelnen. Dieses Motiv für Partizipation wird in Abschnitt 5.3.2 „Kollektive Identität und Mitgliedschaft“ ausführlich beschrieben.

„War ich das denn jetzt wirklich […]?“ (Olaf) – Die Schwierigkeit, Wirkung von Masse und Einzelperson zu unterscheiden

Eine Konsequenz davon, wenn man alleine wenig bewirken kann, in der Masse jedoch viel, ist es, dass sich die Wirksamkeit des Einzelnen innerhalb dieser Masse schwer nachvollziehen lässt. Welchen Einfluss habe ich ganz persönlich an einer Entwicklung gehabt? Diese Frage lässt sich im Nachhinein oft schwer beantworten. So weiß Günter zwar einzuschätzen, welche Veränderungen das Engagement in der Anti-Vietnam-Bewegung bewirkt hat, was genau davon jedoch sein persönlicher Anteil ist, lässt sich in seinen Augen nicht rückverfolgen: „Aber gut, auch unser damaliges Anti-Vietnam und sonst was, das hat schon einiges geändert. Da kannst du natürlich zwischen mir als Person und dem, was sich da getan hat, keine direkte Verbindung herstellen.“ (Günter, Z. 823 ff.) Für Olaf sind es die fernen Projekte, bei denen er seinen individuellen Einfluss schwer nachvollziehen kann: „Und bei diesen fernen Dingen ist es halt oft so, man weiß ja nicht so, was daraus wird, aus meiner Zeit, die ich da reinstecke. War ich das denn jetzt wirklich, wenn irgendwas nicht gebaut wird oder war es einfach nur die Masse der Leute […]?“ (Olaf, Z. 907 ff.)

Individuelle Verständnisse von „internal efficacy“ und „external efficacy“ (Campbell et al. 1954) lassen zwar Aussagen bzgl. des persönlichen Bürgerschaftsverständnisses zu, wenn es um Aktivitäten einer ganzen Bewegung oder größeren Gruppe geht, sind überprüfbare Aussagen zur tatsächlichen politischen Wirksamkeit (Verba/Schlozman/Brady 1995: 346 f.) eines Individuums jedoch schwer zu treffen. Modelle zur Wirksamkeit von Engagement sollten folglich noch um den Aspekt der tatsächlichen, individuellen Wirkung ergänzt werden. Interessanterweise führt die Nichtüberprüfbarkeit des einzelnen Einflusses einer Person jedoch nicht dazu, dass sie sich nicht weiter engagiert. Das Erreichen des gemeinsamen Ziels und Erfolge der ganzen Bewegung stehen damit über individuellen Wirksamkeitsempfindungen und dienen Bürger*innen als Motive für Partizipation.

„Dass man nicht auch irgendwann den Abschluss dann sieht.“ (Mareike) – Der Wunsch nach Mitteilung von Ergebnissen und mehr Erfolgen

Ein weiterer Aspekt von Nachhaltigkeit ist es, dass Ergebnisse von Protestaktionen mitgeteilt werden und Erfolge und Highlights besser kommuniziert werden. So wünschen es sich Sarah, Mareike und Kilian. Sarah vermisst es, dass nach Unterschriften-Aktion und –Übergabe von der entsprechenden Kampagne auch darüber hinaus ein Ergebnis übermittelt wird. Diese Kritik richtet sie aber nicht nur an die Kampagnenorganisationen, bei denen sie ein solches Berichten teilweise beobachtet, sondern auch an Politiker*innen, die Straßendemonstrationen und Ähnliches nicht aufgreifen.Footnote 65 Mareike wiederum wünscht sich mehr Highlights und Erfolgserlebnisse, ist sich gleichzeitig aber nicht sicher, ob dessen Fehlen daran liegt, dass es gar keine gibt oder ob sie nur nicht ausreichend kommuniziert werden. Sie beobachtet, dass bei Online-Petitionen nach dem Erreichen eines Ziels oder Zwischenziels dann eine neue und höhere Zielsetzung erfolgt. Insgesamt wünscht sie sich mehr Pressearbeit zu Erfolgen von Protestaktionen: „Was ich ein bisschen vermisse – vielleicht geht es mir durch, weil ich ja so viel lese oder vielleicht gibt es keine Highlights, keine Happy Ends – aber das fehlt mir so ein bisschen. Dass dann da auch gesagt wird: ‚So, jetzt haben wir das und das erreicht.‘ Ich bekomme leider immer wieder nur Sachen wie: ‚Jetzt haben wir das und das erreicht, wir brauchen aber jetzt nochmal zwei Millionen.‘ Das finde ich sehr schade.“ (Mareike, Z. 1276 ff.) Auch Kilian wünscht sich mehr Erfolgserlebnisse und würde eine positive Erfahrung als Beweis dafür sehen, dass Demonstrationen wie gegen TTIP oder Fracking etwas bewirken: „Also, bei Fracking oder bei TTIP ist es noch so ein bisschen offen. […] Das wäre wirklich eine schöne Erfahrung für mich, dass ich sehe: Okay, das bringt wirklich was. Dann hab ich auch einen Beweis dafür, dass auch Demonstrationen was bringen.“ (Kilian, Z. 1139 ff.) Alle drei Interview-Partner*innen engagieren sich aber trotz des Wunsches nach mehr Erfolgsmitteilungen weiterhin. An den Beispielen von Sarah und Mareike wird deutlich, dass Online-Petitionen im Vergleich zu Straßenprotesten oder anderem Offline-Engagement konkretere Möglichkeiten bieten, Erfolg zu ‚messen‘, bspw. in Form der Anzahl von Unterstützer*innen. Hier kann nummerisch festgehalten werden, wann ein vorher abgestecktes Ziel erreicht ist bzw. wie viele Menschen für das Erreichen des formulierten Ziels noch fehlen.Footnote 66 Allerdings zeigt die Aussage von Mareike auch, dass Bürger*innen entmutigt werden, wenn das formulierte Ziel dann nicht gewürdigt wird, sondern stattdessen ein nächsthöheres Ziel neu formuliert wird. Doch auch bei Straßendemos wünschen sich Bürger*innen Erfolgserlebnisse, die ihnen bezogen auf konkrete Politikfelder zeigen, dass ihr Engagement auf der Straße etwas bewirkt hat.

„Wir müssten wirklich noch viel revolutionärer werden.“ (Sarah) – Wunsch nach mehr Aktiven, mehr Aktionen und revolutionäreren Forderungen

In Einklang mit der unter dem Bürgerschaftsverständnis schon genannten Einstellung, dass jeder etwas machen müsse, steht auch die Forderung von Stefanie, Sarah und Kilian, dass eigentlich eine Revolution nötig wäre. Kilian schätzt den Einfluss von den wenigen Aktiven als gering ein und hält auch die Anzahl der Aktiven für zu gering. Sein einzelnes Engagement gegen die ganz großen Themen wie Klimawandel und Co. sieht er verpuffen.Footnote 67 Stefanie wiederum findet die Forderung nicht ausreichend und hat im Fall der Umweltabgabe auf Plastiktüten erlebt, dass von einer Vielzahl von Unterstützer*innen ein Verbot von Plastiktüten für angemessen gehalten wurde. „Und insgesamt ist ein ganz großes Feedback immer gewesen: Wir brauchen ein Verbot von Plastiktüten! Also, das reicht nicht.“ (Stefanie, Z. 538 ff.) Sarah fordert deswegen eine Revolution und wird das Gefühl nicht los, dass auch sie eigentlich noch viel mehr machen müsse: „Wir müssten wirklich noch viel revolutionärer werden. Und das ist eigentlich das Frustrierende, dass man da meint […] die Katastrophe kommen zu sehen und nicht so richtig so weiß, ist das jetzt schon genug, was ich mache oder müsste ich eigentlich noch viel mehr machen?“ (Sarah, Z. 1344)

Unter den Bereich der Nachhaltigkeit fallen auch andere Aspekte, wie bspw. der von Julia angemerkte Punkt, dass Nachhaltigkeit im Engagement-Bereich bedeutet, nicht nur neue Aktive zu finden, sondern sie auch langfristig an die Organisation zu binden. Julia wünscht sich deshalb flexiblere Strukturen seitens der Hauptamtlichen, um so Ehrenamtliche besser einzubinden und zu unterstützen. Denn die große Herausforderung sieht sie darin, dass neu gewonnene Aktive auch langfristig Teil der Organisation bleiben.Footnote 68 Gleichzeitig sieht sie aber auch Verantwortung auf Seiten der Politik, Ehrenämtler besser und nachhaltiger zu unterstützen. Durch Missverständnisse und Missbrauch der ehrenamtlichen Arbeitskräfte für nur einfachste organisatorische Aufgaben, könne laut Julia keine nachhaltige Zusammenarbeit entstehen. „Ich habe einfach das Gefühl, dass Politik – also jedenfalls in Hessen – überfordert ist, mit Ehrenamtsstrukturen zu arbeiten. Es gibt in Hessen die Nachhaltigkeitsstrategie, wo sich die BUNDjugend Hessen auch einbringt. […] Es gibt ständig irgendwelche Missverständnisse und super einfache organisatorische Arbeiten werden dann irgendwie auf die Freiwilligenverbände umgewälzt.“ (Julia, Z. 302 ff.) Im Bereich der Zusammenarbeit von Politik und Ehrenamt herrscht in der Partizipationsforschung noch Nachholbedarf.

„Weil ich alleine, ich würde nie was verändern, ich brauche viele Leute um mich herum.“ (Olaf) – Gemeinsam kann Veränderung gelingen

Einige Interview-Partner*innen sind der Meinung, dass man zwar alleine nichts verändern kann, als große Gemeinschaft von Gleichgesinnten jedoch schon. Dabei kann es helfen, im Kleinen anzufangen und sich zu vernetzen und dann auf das Große zu wirken. Zuckerman (2014: 162) beschreibt dieses Phänomen mit Verweis auf Hirschmanns (1970) „Exit, Voice and Loyality“ und stellt fest, dass es einzelnen Betroffenen oft schwerfällt, ihre Stimmen zu erheben, sie sich gemeinsam mit anderen Bürger*innen jedoch sicher fühlen, mit ihren Anliegen die politische Agenda mitzubestimmen bzw. zu versuchen, diese mitzugestalten. Sybille bspw. bezieht sich in ihrer Argumentation auf eine Studie aus den USA von 1995, die nachweisen soll, dass sich diejenigen, die sich für Veränderung und eine nachhaltigere Welt einsetzen, zwar als Einzelkämpfer fühlen, insgesamt aber einen großen Anteil an der Gesamtgesellschaft ausmachen – in diesem Fall 30 %: „Ich habe von so einer Studie gelesen, die 1995 durchgeführt wurde, über die kulturellen Subgruppen in den USA. Da waren so drei Gruppen: Die Traditionalisten, die Modernisten und die kulturell Kreativen – also die, die bereit sind, sich zu engagieren für die Gesellschaft, dass sich was zum Positiven verändert. Und das waren damals schon fast 30 % und alle haben sich als Einzelkämpfer gefühlt. […] Ich habe so diese innere Gewissheit, wir sind eigentlich schon ganz viele, die eigentlich anders wollen. Nur, es wird noch nicht so sichtbar.“ (Sybille, Z. 1025 ff.) Diese Studie gibt Sybille die Gewissheit, dass auch in Deutschland eigentlich viele andere mit ihr zusammen für die gleiche Sache kämpfen, auch wenn Sybille diese anderen Mitstreiter*innen noch nicht sehen kann. Auch Olaf (Z. 1085 ff.) vertritt die Meinung, dass einer alleine vielleicht nicht viel ausrichten könne – insb. wenn es um Geld und Einflussnahme auf große Konzerne geht – alle Leute gemeinsam jedoch schon. Er nennt das Beispiel des BUND und seinen knapp 500.000 Mitgliedern, die wenn sie ihre Mitgliedsbeiträge zusammenlegen würden, genug Geld hätten, um dem BUND eine Klage gegen Bayer zu ermöglichen.

„[…] dann möchte ich dabei sein, etwas getan zu haben und nicht nichts getan zu haben.“ (Franz) – Nichtstun und die anderen gewinnen lassen, ist keine Option

Für eine Vielzahl der Interview-Partner*innen stellt sich die Frage nach der Wirksamkeit des eigenen Engagements nicht als besonders wichtige Frage, da für sie das Engagement ein Muss ist und die Meinung vorherrscht, dass man etwas machen müsse, weil ansonsten „die anderen“ schon gewonnen hätten. Auch eine „Die-Hoffnung-stirbt-zuletzt“-Einstellung treibt einige in ihrem Engagement an. Man möchte nicht nichts gemacht haben, wenn man später einmal auf die heutige Gegenwart zurückblickt. Für Sarah ist es folglich keine Wahl, ob man sich einsetzt oder nicht, sie will ihre Möglichkeiten ausnutzen und mit Geschichte schreiben: „Man hat eigentlich keine andere Wahl, weil es besteht ja immerhin doch die Möglichkeit. Weil: Geschichte ist offen. Und man weiß ja nicht, welche Dynamiken irgendwelche Sachen entwickeln und was noch für Sachen passieren.“ (Sarah, Z. 1307 ff.)

Franz und Sybille möchten nicht nichts gemacht haben. Mit Verweis auf das Dritte Reich erklärt Sybille, dass sie sich später nicht fragen müssen möchte, warum sie diese oder jene Entwicklung zugelassen hat. Dabei sei es zweitranging, ob etwas gelingt oder nicht.Footnote 69 Franz ist unentschlossen, welche Auswirkungen sein Handeln schlussendlich hat. Wenn es etwas bewirkt, will er jedoch dabei gewesen sein, und wenn es nichts bewirkt, will er zumindest versucht haben, etwas dagegen zu unternehmen. Negativerfahrungen und Misserfolge werfen ihn zwar häufig in ein emotionales Loch, er ist aber auch in der Vergangenheit immer wieder aus solchen Tiefphasen herausgekommen: „Ich bin mir nicht sicher, ob ich was bewirke, ich hoffe es. Und wenn es dann so ist, dann möchte ich dabei sein, etwas getan zu haben und nicht nichts getan zu haben. Es gibt eine große Befürchtung, dass tatsächlich alle machen, was sie wollen. Aber das will ich nicht wahrhaben. […] wenn jetzt das TTIP durch kommt, dann falle ich erstmal in ein Loch. Gut, da komme ich wieder raus, das weiß ich, ich kenne mich.“ (Franz, Z. 833 ff.)

Dass nichts-tun keine Lösung ist und damit dann die Bösen direkt schon gewonnen hätten, finden auch Isabelle und Olaf. Für Olaf ist zwar nicht jede in Engagement investierte Zeit eine sofort sichtbare und messbare Veränderung in der Welt, aber er will das Böse bzw. die andere Seite nicht einfach so gewinnen lassen: „Und wenn man die Leute mehr […] dazu bringen könnte zu erkennen, dass sie natürlich nicht messbarer die Welt für jede Stunde, die sie investieren, ne Stunde besser wird oder so was, sondern dass es eher darum geht, zu sehen: Okay, wenn ich das Gute nicht tue, dann hat das Böse eh schon gewonnen.“ (Olaf, Z. 1119 ff.) Isabelle beruft sich auf das Vernetzen und darauf, vom Kleinen auf das Große zu wirken. Ob dieser Einfluss dann letztendlich ausreicht, um andere negative Einflüsse zu verdrängen, weiß sie nicht. Aber auch für Isabelle wäre es keine Lösung, nichts zu tun.Footnote 70

Valeria (Z. 1250 ff.) versteht es als Herausforderung im Leben sich einzusetzen, selbst bei Rückschlägen am Ball zu bleiben und sich nicht entmutigen zu lassen. Sie möchte nicht glauben, dass ihr Handeln keine Wirkung hat und bleibt aktiv. So kommen sowohl Mareike als auch Sarah zu dem Schluss: „Die Hoffnung stirbt zuletzt. Dran bleiben!“ (Sarah, Z. 1284 ff.) Mareike ist mittlerweile jedoch nicht mehr so euphorisch wie früher und gibt an, die Erwartungen runtergeschraubt zu haben: „Also, ich versuche es auf jeden Fall, immer weiter. Aber ich gebe nicht mehr ganz so viel rein wie früher. Früher war ich erwartungsvoller. Das ist zwar immer noch, die Hoffnung stirbt zuletzt, ganz klar.“ (Mareike, Z. 1325 ff.)

Die hier zitierten Interview-Partner*innen vertreten eine relativ hohe Frustrationstoleranz. Trotz Rückschlägen, Misserfolgen und Unsicherheiten bzgl. der individuellen Wirkungsmacht, bleiben sie aktiv und bringen sich weiter ein. Wie im Fall von Franz, können Negativerfahrungen zwar ein emotionales Loch erzeugen, dies ist jedoch immer nur temporär und hat nicht zur Konsequenz, dass sich jemand ganz vom Engagement zurückzieht. Das Thema Frustrationstoleranz wird in Abschnitt 5.3 „Emotionen und Affekte“ genauer beschrieben.

„Der Weg ist das Ziel.“ (Olaf) – Kompromisse und Zwischenziele als realistische Erfolgsaussicht

Einige Gesprächspartner*innen gaben bzgl. der Nachhaltigkeit von Engagement außerdem an, dass oft nicht das deklarierte Ziel das wirkliche Ziel sei, sondern andere kleine Zwischenziele oder Kompromisse ebenso ein Erfolg seien. So bspw. im Fall von Castor-Transporten, bei denen Sarah nicht mit dem Ziel antritt, den Transport des Castors wirklich zu verhindern. Hier sei es viel mehr das Ziel, die Fahrt des Castors möglichst in die Länge zu ziehen und so kompliziert wie möglich zu gestalten. Während Sarah andere Protestierende beobachtet hat, für die die Weiterfahrt des Castors ein Scheitern der Protestaktion bedeutet hat, ist für sie jede Minute Zeitverzögerung des Transports ein Sieg der Bewegung.Footnote 71 Gleiches beobachtet Gerd bei der Energiewende-Demo, bei der seiner Meinung nach die Teilnehmer*innen gar keine Energiewende von der Bundeskanzlerin Merkel erwarten, sondern wegen der Demo als Happening an sich vor Ort sind. „Aber ich beobachte, dass die Menschen nicht mehr so hingehen mit der Zielsetzung: Wenn wir jetzt hier demonstriert haben, dann macht Merkel die große Energiewende oder so. Also, die Erwartung haben die Leute nicht. Die gehen einfach hin, weil es ein Happening ist.“ (Gerd, Z. 462 ff.) Auch bei Gerd und Sarah zeigt sich daran eine hohe Frustrationstoleranz. Die Ziele werden heruntergeschraubt und die Motivation für Engagement dadurch langfristig beibehalten. Dabei helfen Zwischenziele des Protests oder auch grundsätzlich der Aspekt, dass Straßenprotestaktionen als Happening wahrgenommen werden, für das alleine sich schon die Teilnahme lohnt.

Felix spricht von Kompromissen und nennt TTIP als Beispiel dafür, dass man vielleicht kleine Einschränkungen erreiche, aber niemals TTIP als Ganzes abwenden könne. Ein Grund dafür sei der längere Atem der Konzerne und dass Bürger*innen ihre Aufmerksamkeit schnell wieder neuen Themen widmen. „Im Endeffekt handelt man immer nur einen Kompromiss aus und man wird niemals ein TTIP ganz verhindern. Man wird vielleicht Einschränkungen schaffen, aber im Endeffekt setzen die sich durch, weil Konzerne auch den längeren Atem haben.“ (Felix, Z. 122 ff.) Aufmerksamkeit ist für Felix jedoch das Stichwort, um das es eigentlich geht, denn er hält es schon für ein Ziel, die Aufmerksamkeit von Freund*innen und Freundesfreunden auf ein Thema zu lenken und das Thema oder die Protestaktion somit bekannter zu machen.

Bei solchen Protestaktionen können Kompromisse, die aus einem deliberativen Prozess mit Kommunikation auf Augenhöhe entstanden sind und Debatten angestoßen haben, als Stärkung einer Demokratie gewertet werden. Nach dem Motto ‚Der Weg ist das Ziel‘ argumentiert auch Olaf, der neben einem inhaltlichen Ziel immer wieder auch die Gemeinschaft und die Freude am gemeinsamen Engagement betont. Selbst wenn große Konzerne am Ende gewinnen würden, geht es ihm darum, sich prinzipiell eingesetzt zu haben: „Der Weg ist das Ziel. Und dadurch, dass ich einfach etwas tue, habe ich an diesem Tun schon eine Freude. Und ich lerne nette Leute kennen […].“ (Olaf, Z. 1128 f.)

„Aber wichtig ist ja letztendlich, dass irgendwo mal was ankommt, dass es sich dann über die Presse verteilt.“ (Franz) – Medienresonanz als Wirksamkeitsanzeiger mit Symbolcharakter

Für einige Interview-Partner*innen sorgt insb. eine hohe mediale Präsenz für deutlich mehr Wirksamkeit einer Protestaktion. Schaffen es Bilder oder Bewegtbilder – bspw. von einer Demo – in die Zeitung oder das Fernsehen, erhält die Aktion dadurch eine größere Aufmerksamkeit, was von Felix wiederum als Erfolg eines Protests verstanden wird. „Also, es geht halt bei NGOs generell […] darum, Aufmerksamkeit zu bekommen. Dafür sind Offline-Aktionen wichtig. Weil wenn die Leute in der Tagesschau um 20.15 sehen, das ist Campact, dann hast du schon wieder 1.000 Leute mehr.“ (Felix, Z. 633 ff.) Felix vertritt ein deliberatives Demokratieverständnis. Für ihn ist es wichtig, dass Debatten angestoßen, Informationen verbreitet und Menschen zu bestimmten Themen aufgeklärt werden, um am politischen Entscheidungsfindungsprozess teilnehmen zu können.

Auch Sarah hält Wirksamkeit größtenteils für mediale Wirksamkeit, da viele Protestaktionen in ihren Augen auf eine Symbolik ausgelegt sind, die auf die Bilderproduktion ausgerichtet ist. Einzig den Castor-Transport hält sie für ein Beispiel, das mehr Ernst-Charakter besitzt und das konkrete Ziel einer Blockade verfolgt. „Weil das ist ja die Frage nach der Wirksamkeit. Und ein großer Teil ist natürlich die mediale Wirksamkeit, denk ich schon. Also viele Sachen sind ja mittlerweile auch symbolisch. Irgendwelche Ketten, die gemacht werden. Beim Castor hat das ein bisschen einen anderen Charakter. Da könnte man meinen, das hat so einen Ernst-Charakter.“ (Sarah, Z. 1055 ff.) Campact wiederum nennt Sarah als Paradebeispiel für Protestaktionen, die auf die Produktion von aussagekräftigen und bunten Bildern ausgelegt sind. Sie kann diese Strategie verstehen und lobt die Kombination von verschiedenen Protestformen bei der Kampagnen-Organisation.Footnote 72 Den Fokus auf Medienberichterstattung schätzt Sarah jedoch als zwiespältig ein. Denn die Medien stürzen sich ihrer Meinung nach insb. auf Gewalt und diskreditieren damit auch Teile der Protestaktionen, die sich bewusst gewaltfrei engagieren. „Und ich sage mal, in dem Moment hat man die mediale Aufmerksamkeit, […] das ist natürlich auch gespalten. Weil wenn die Medien vor allen Dingen auf die Gewalt fokussieren, die da im Feld passiert, und weniger auf die Gründe, warum dann Leute irgendwas machen, wird man ja diskreditiert sozusagen. […] Da werden halt auch die Teile diskreditiert, die sich da bewusst gewaltlos verhalten.“ (Sarah, Z. 1074 ff.)

Während Medienresonanz auch vor der Digitalisierung schon als Wirksamkeitsanzeiger von Protesten galt und Felix mit der Tagesschau ein traditionelles Nachrichtenformat nennt, hat sich die Erzeugung und Verbreitung von Bildern durch die Digitalisierung und den Einsatz von Smartphones jedoch stark verändert. Bei kreativen Protestaktionen erstellen sowohl Teilnehmer*innen als auch Organisationen wie Campact zahlreiche Bilder, die sie später auf ihren Social-Media-Kanälen teilen und/oder für die digitale Erzeugung von weiterem Bildmaterial nutzen. Dadurch erhält der Protest eine deutlich größere Reichweite als wenn er nur in traditionellen Nachrichtenformaten wie der Tagesschau gezeigt worden wäre.

„[…] man muss da schon sehr idealistisch sein […].“ (Sarah) – Benötigter Idealismus gegen ausbleibende Wirkung des individuellen Engagements

Sarah und Helena betonen insb., wie äußere Einflüsse den persönlichen Lebensstil verändern und wie es zu keiner Veränderung kommt, wenn man als einzige den Lebensstil nachhaltig gestaltet, alle anderen aber weiter nicht nachhaltig agieren. Egal, ob Verzicht auf ein Auto und Umstieg auf das Fahrrad oder Krötenschutz – wenn nur eine einzige Person ihr Verhalten ändert und niemand sonst, sind die Auswirkungen davon verschwindend gering. So schätzt es auch Sarah ein, die glaubt durch ihren Verzicht nur Platz für andere gemacht zu haben: „Aber wenn ich mir das halt angucke, also so quasi seit ich das auch so selbstständig entscheiden kann, also so seit Anfang der 80er, ist dadurch ja nichts besser geworden. Im Gegenteil. Ich habe ja quasi nur Platz gemacht für die Anderen. Es sind mehr Autos geworden, die Autos sind größer geworden. […] Also, die persönliche Veränderung bewirkt ja nichts oder bzw. die verpufft! […] Ich fahre Fahrrad. – Das nützt aber nichts, wenn dann alle Anderen Auto fahren. Ich mache dann nur Platz für die Anderen.“ (Sarah, Z. 430 ff.) Genauso sieht das auch Helena, die aus diesem geringen Einfluss eines Einzelnen ableitet, dass sie bzgl. ihrer politischen Einstellung immer weiter nach links driftet und sich deshalb neben dem Naturschutz im BUND noch eine zweite außerparlamentarische Engagementmöglichkeit in Form von Campact gesucht hat: „Irgendwann stellt man dann fest, ist zwar schön und gut, wenn du da draußen rumrennst und Naturschutz machst, aber wenn die anderen drum herum nur noch Auto fahren und Straßen bauen und sonst was machen, musst du wo anders angreifen. Ich merke auch schon, dass ich so eigentlich immer weiter nach links drifte, ja. Und, dass ich eigentlich mit Parteien […] überhaupt nichts anfangen kann.“ (Helena, Z. 111 ff.) Während sich Konzepte der politischen Wirksamkeit (Campbell et al. 1954, Verba/Schlozman/Brady 1995) mit den wahrgenommenen Einflussmöglichkeiten der Bürger*innen auf das politische System und ihren persönlichen Fähigkeiten befassen, sollten solche Wirksamkeitskonzepte noch um den Aspekt des Einflusses auf Gesellschaft und andere Bürger*innen erweitert werden. Sarah und Helena beschreiben hier den Einfluss ihrer persönlichen Aktivitäten auf Gesellschaft, nicht auf das politische System als solches. Das CVM von Verba/Schlozman/Brady (1995) befasst sich zwar mit Aspekten der Rekrutierung von anderen Bürger*innen aus dem Umfeld von Freund*innen, Familie, Arbeitskolleg*innen usw., lässt große gesamtgesellschaftliche Wirksamkeit aber außer Acht.

Für Sarah wäre es eine Lösung des Problems, eine Bewusstseinsveränderung bei Leuten aus dem Umfeld zu erreichen. Mehr Menschen für das Thema zu begeistern und eine Veränderung in deren Handlungen zu bewirken. Sarah sieht jedoch auch Hindernisse, die gegen eine Auseinandersetzung mit einem bestimmten Thema sprechen: Keine Bereitschaft, sich mit einem Thema auseinanderzusetzen, ungünstige gesellschaftliche Rahmenbedingungen, die verhindern Veränderungen bei sich selbst vorzunehmen oder dass ein Thema einfach nicht „zieht“: „Ja, bei sich anzufangen und halt andere Leute im Umfeld zu überzeugen, dass sie es halt eben auch machen. Und da gibt’s ja verschiedene Hindernisse. Das eine kann sein, dass das Thema halt gerade überhaupt nicht zieht, das andere kann sein, dass die Leute dazu nicht bereit sind. Und es kann aber auch sein, dass einfach halt die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen dagegen sprechen, eine Veränderung bei sich selbst vorzunehmen.“ (Sarah, Z. 453 ff.) Diese Abhängigkeit von äußeren Rahmenbedingungen erklärt Sarah mit Bezug auf das Konzept des Gefängnisses bei FoucaultFootnote 73 und sagt aus, sich abgesehen davon jedoch nicht besonders abhängig zu fühlen: „Auf jeden Fall, vom Foucault gibt’s ja das mit dem Gefängnis. Das ist im Prinzip, dass Strukturen einen durchdringen und dass man zwar vermeintlich frei ist, aber ist es gar nicht mehr. Sonst würde ich eigentlich sagen: Nee, ich fühle mich nicht sonderlich abhängig. Weil ich halt für mich privat möglichst viel versuche, so zu arrangieren, dass ich denke, dass das für mich richtig ist und passt. Aber ich meine, auf der anderen Seite bin ich natürlich doch auch Rahmengegebenheiten ausgeliefert.“ (Sarah, Z. 1279 ff.)

Neben hoffnungsvollen Einschätzungen ist Sarah jedoch auch der Meinung, dass ihr zivilgesellschaftliches Engagement und ihr alltägliches Handeln sehr idealistisch sind. Gegen den Strom zu schwimmen erfordere aber einen solchen Idealismus: „[…] weil einfach der Widerstand, gegen den man quasi die ganze Zeit anschwimmt, zu groß ist. Also man muss da schon sehr idealistisch sein, um eben so wie ich immer mit dem Fahrrad zu fahren.“ (Sarah, Z. 458 ff.) Hier zeigt sich erneut Sarahs hohe Frustrationstoleranz. Ihre Einschätzungen halten sie nicht davon ab, sich weiter zivilgesellschaftlich zu engagieren. Auch Felix (Z. 119 ff.) weiß von Freund*innen, die im politischen Tagesgeschäft arbeiten, dass diese mit Idealismus in ihre Jobs reingehen und später desillusioniert rauskommen. Diese Erfahrungen prägen auch ihn und seine Einschätzung zur Wirksamkeit von Protestaktionen.

Negativ beurteilen Mareike und Sarah auch die Gesamtsituation, wenn sie zurückblicken und überlegen, was sich bisher verbessert hat. Wie schon beschrieben hat Sarah das Gefühl, dass sie durch ihren Auto-Verzicht nur mehr Platz für andere Autofahrer*innen gemacht hat und sieht auch generell keine längerfristigen und stabilen Alternativen für Mobilität ohne Auto. Mareike kann beim Blick zurück auf vergangene Konflikte eigentlich nur Niederlagen nennen und sich konkret an keine Highlights erinnern. Stattdessen ist ihr nur im Gedächtnis geblieben, dass sie an Aktionen teilgenommen hat, damit nichts bewirkt hat und eventuell sogar noch vom Verfassungsschutz registriert wurde. „Und wir haben ja leider immer verloren: Atomkraft haben wir versagt, ganz viele besetzte Gebäude haben wir versagt. Ja, es gab ein paar Highlights, die weiß ich jetzt aber auch nicht. Es sind so wenige! Also, man hat auch mal gewonnen, aber so wenig, dass man sich gar nicht dran erinnert, sondern eben nur daran erinnert: Tja, hat ja eh nichts gebracht. Biste hingegangen, haste womöglich noch aufgeschrieben gekriegt, Verfassungsschutz keine Ahnung, und ja.“ (Mareike, Z. 423 ff.) Auch Mareike besitzt eine sehr hohe Frustrationstoleranz. Sie erinnert sich an keine konkreten Erfolge ihrer Proteste und engagiert sich trotzdem weiterhin, insb. im Bereich Online-Aktivismus. Allerdings zeichnet Mareike (wie zuvor beschrieben) ein sehr negatives Bild von Politiker*innen und politischen Entscheidungsfindungen aus. Sie hat ein geringes Vertrauen in die Politik und beschreibt Lobbyist*innen als die eigentlichen Politik-Machenden. Politiker*innen würden nur lügen und betrügen. Ob diese kritische Einstellung Konsequenz von Mareikes empfundenen Protest-Niederlagen ist oder bereits davor so bestand, lässt sich anhand des Interviewmaterials nicht klären.

„Weil die einen auf Trapp halten […].“ (Franz) – Nachhaltiges Engagement im Rahmen von Campact

Einen Campact-spezifischen Aspekt beim Thema Nachhaltigkeit erwähnen Franz und Valeria, die die Arbeit der Organisation nachhaltig und gut finden und angeben, wegen den vielen Mitmachmöglichkeiten von Campact aktiver zu sein, als sie das ohne Campact wären. Ohne Campact wäre Franz laut eigener Aussage schon auf dem Sofa eingeschlafen. Er erzählt, dass er besonders die Straßenaktionen von Campact schätzt, weil alleine nur Unterschriften-Aktionen ihm nicht das Gefühl geben, wirklich etwas gemacht zu haben. „Dass es Campact gibt, hat bestimmt dazu geführt, dass ich wesentlich häufiger unterwegs bin. Weil die einen auf Trapp halten, wenn man so will. Wenn man den Trapp dann mitmacht, dann ist das gut. Also wenn nur einmal im Jahr eine Demo ist und sonst nichts, dann wäre ich wahrscheinlich wieder auf dem Sofa eingeschlafen. [...] Und alleine stell ich mich nicht mit dem Schild irgendwo hin. Oder joa, Unterschriften-Aktion: Kann man mitmachen, kann man nicht mitmachen, merkt nach außen keiner. Man hat auch nicht das Gefühl, als hätte man richtig was gemacht. Und deswegen freut mich, dass Campact so viel macht.“ (Franz, Z. 336 ff.) Valeria lobt an Campact insb., dass sie Themen aufgreifen, die ihr nah gehen und am Herzen liegen: Gerechtigkeit und Schutz des Lebens. Dabei sieht sie eine direkte positive Auswirkung auf ihr Leben, bspw. beim Thema Mietpreisbremse, die bewirkt, dass Valeria sich eine annehmbare Wohnung leisten kann.Footnote 74

„Das ist die Zukunft des BUND!“ (Olaf) – Nachhaltiges Engagement beim BUND bedeutet, die Jugend mehr einzubeziehen

Einen BUND-spezifischen Aspekt beim Thema Nachhaltigkeit stellt wiederum die Debatte um den Einbezug der Jugend dar. Helena und Olaf fordern mehr Mitspracherecht für Jugendliche und generell das Anwerben von Jugendlichen, damit einzelne Ortsgruppen nicht aussterben. Für Olaf ist die Jugend die Zukunft des BUND und deswegen müsse diese auch das Gefühl vermittelt bekommen, dass sie ernst genommen werde und wichtig sei. „Also, was sie [BUND] auf jeden Fall besser machen könnten, sollten, das ist aber eine ganz schwierige Sache, ist: Der Jugend mehr Mitsprache geben, der BUNDjugend. […] Um eben zu hoffen, dass die dann irgendwie sich wichtiger genommen fühlen, im Positiven. […] Das ist die Zukunft des BUND! Wenn man die aussperrt, dann kann man sich auch gleich begraben, wenn man nur so ein Alte-Herren-Verein ist.“ (Olaf, Z. 921 ff.) Ein notwendiger Schritt hin zu einem Gefühl von Wichtigkeit ist es in Olafs Augen, dass der Jugend mehr Verantwortung übertragen werden müsste. Als Positivbeispiel hierfür zieht er die Grünen heran, die es schaffen würden, jungen Engagierten früh viel Verantwortung zu übertragen und ihnen dann trotz eventueller Rückschläge und Fehler durch diese Erfahrungen einen hohen Lerneffekt ermöglichen.Footnote 75 Durch diese Strategie hofft Olaf, dass die betreffenden Personen ein erfülltes Aktiveren-Leben haben und sich dadurch die Lücke zwischen BUNDjugend und den älteren Aktiven schließt. Dass bei Verbänden wie dem BUND der Mittelbau fehlt, wurde unter dem Aspekt der Vereinbarkeit von Familie und Beruf mit Aktivismus zuvor schon behandelt.

Um das Aussterben einzelner Ortsverbände zu verhindern, wünscht sich auch Helena mehr Teilnahme von jungen Leuten. Durch einen immer flexibleren Lebensstil und weniger Ortsbezug erklärt sie sich, dass junge Leute sich nicht an Ortsverbände wie den BUND binden wollen. Eine Gegenmaßnahme wäre in ihren Augen das Investieren in Kindergruppen, die dann später neue Ortsverbände gründen könnten.

Zusammenfassung

Die meisten Interview-Partner*innen unterstützen die These von Habermas (1992), dass sich eine ‚gute‘ Demokratie dadurch auszeichne, dass in einer deliberativen Demokratie alle Bürger*innen die Möglichkeit haben sollten, sich und ihre Stimmen über Debatten und Kommunikation auf Augenhöhe einzubringen. Eine Stärkung der Demokratie erfolgt dadurch, dass Diskussionen angestoßen, Informationen verbreitet, Menschen aufgeklärt und damit in die Lage versetzt werden, an politischen Prozessen teilzunehmen. Laut einiger Interview-Partner*innen führt folglich u. a. eine hohe mediale Präsenz zu mehr Wirksamkeit einer Protestaktion. Es wird jedoch auch kritisiert, dass Bürger*innen oft nicht in der Lage seien, autonome Entscheidungen zu treffen, da ihnen das Verständnis für komplexe politische Zusammenhänge fehle. Gleichzeitig fordern einige Interview-Partner*innen aber auch mehr direktdemokratische Elemente oder gar ein ganz neues Wirtschaftssystem.

Etwa die Hälfte der Interview-Partner*innen bezeichnet es als Pflicht und/oder Selbstverständlichkeit, sich zu engagieren. Darüber hinaus vertreten einige der Meinung, dass jede/r bei sich anfangen müsse und es um jeden einzelnen Beitrag gehe. Prüft man die These mit Blick auf Bennetts (2008) „dutiful citizenship“, zeigt sich nur eine teilweise Übereinstimmung. Denn die Interview-Partner*innen sehen ihre Pflicht auch über den Bereich der Wahlbeteiligung hinaus für andere Formen der Partizipation. Sie halten es nicht für ausreichend, sich alle vier Jahre mit einer Stimmabgabe bei der Wahl in Politik einzumischen, sondern sehen ihre Verantwortung vielmehr in der alltäglichen Gestaltung von Gesellschaft und dem Miteinander. Während einige von ihnen dabei neue, kreative Partizipationsformen wählen, bleibt auch die klassische Mitgliedschaft in Vereinen und Umweltorganisationen wie dem BUND für sie attraktiv.

Ein Interview-Partner beobachtet im Freundeskreis, dass viele junge Menschen nicht wählen und hofft, über andere Engagementformen Interesse für Partizipation wecken zu können. Er vermutet, dass über kreative und insb. auch digitale Informations- und Partizipationsangebote („engaged citizenship“) junge Leute langfristig auch wieder einen Zugang zur Stimmabgabe bei Wahlen („citizen duty“) finden.

Mehrere kritische Äußerungen beschreiben Uppendahls (1981) Repräsentationstyp des Delegierten, der seine Entscheidungen basierend auf dem Wählerwillen zu treffen hat und das eigene Urteilsvermögen zurückstellen muss. Die Sorgen dieser Interview-Partner*innen beschrieb schon Crouch (2008), der einen großen Einfluss von Lobbygruppen und ein Verfolgen rein ökonomischer Interessen beklagt.

Etwa die Hälfte der Gesprächspartner*innen beschreibt das sie motivierende Gefühl, direkt und sichtbar Einfluss zu nehmen, meinungsbildend zu agieren oder kann Positivbeispiele für Veränderungen nennen. Andere Bürger*innen benennen Praktiken wie z. B. das Gärtnern als eine Form direkter Sichtbarmachung von Aktivismus. Diese Aussagen veranschaulichen Bennetts (2008) Bürgerschaftsverständnis einer „actualizing citizenship“ und Deweys (1988) Konzept einer Demokratie als Lebensstil.

Bezüglich der „external efficacy“ (Campbell et al. 1954; Verba/Schlozman/Brady 1995: 346 f.) – der wahrgenommenen Offenheit des politischen Systems für individuelle Beeinflussung – vertreten einige Bürger*innen die Meinung, dass die Größe des Einflusses häufig von Faktoren wie Macht, Thema und Reichweite des Problems abhängig sei. Einige Interview-Partner*innen schätzen ihre Möglichkeiten hier grundsätzlich als gering ein. Persönliche Einschätzungen der „internal efficacy“ und „external efficacy“ (Campbell et al. 1954) ermöglichen zwar Aussagen über das Bürgerschaftsverständnis, Aussagen zur tatsächlichen politischen Wirksamkeit (Verba/Schlozman/Brady 1995: 346 f.) eines Individuums sind bei Gruppenaktivitäten jedoch schwer zu treffen. Für manche Bürger*innen stellt sich folglich die Frage, wie sie persönlich einen Unterschied machen (können). Einige verknüpfen ihre „internal efficacy“ (Campbell et al. 1954, Verba/Schlozman/Brady 1995: 346 f.) auch mit Aspekten des Spaßes. Wer seine Fähigkeiten sichtbar einbringen kann und Spaß dabei hat, ist motiviert sich weiterhin zu engagieren.

Während genannte Konzepte Einschätzungen zur möglichen Beeinflussung des politischen Systems enthalten, könnten sie noch um einen Aspekt erweitert werden: Einige Interview-Partner*innen beschreiben ihre Wirkungskräfte auf die Gesellschaft und andere Bürger*innen, nicht auf das politische System als solches. Das CVM (Verba/Schlozman/Brady 1995) befasst sich zwar mit der Rekrutierung von anderen Bürger*innen aus dem Umfeld, lässt eine gesamtgesellschaftliche Wirksamkeit jedoch außer Acht.

Während viele bestehende Konzepte durch das Interviewmaterial bestätigt werden, zeigt sich jedoch auch, dass in der Protestforschung einige Themen bisher noch nicht ausreichend erforscht wurden. Für viele Interview-Partner*innen ist das ganzheitliche Handeln so wichtig, dass sie Job und Engagement miteinander verbinden möchten oder sich explizit für Teilzeitarbeit entschieden haben, um Zeit für ein Ehrenamt zu haben. Sie fordern eine neue Zeiteinteilung, die neben Arbeit und Freizeit als drittes Element auch zivilgesellschaftliches Engagement berücksichtig und damit als festen Bestandteil des täglichen Lebens anerkennt. Wenn sich Bürger*innen für die Gemeinschaft einbringen, bspw. durch die Erzeugung von eigenem Obst und Gemüse, das Reparieren von Gegenständen oder das Teilen anderer Fähigkeiten, sei in Konsequenz für alle eine Teilzeitstelle ausreichend, um den benötigten Lebensunterhalt zu verdienen. So würde Engagement wertgeschätzt und explizit Zeit dafür eingeräumt werden. Damit würde auch die Frage nach der Vereinbarkeit von Familie, Beruf und Engagement leichter zu beantworten sein.

Ein weiterer Aspekt, der in der bisherigen Literatur nicht ausreichend berücksichtig wird, ist das Abwerten des eigenen Handelns. Einige Interview-Partner*innen zählen eine Vielzahl von aktiven Mitgliedschaften und Teilnahme an Protestpraktiken auf, um dies anschließend als „wenig“ oder „unpolitisch“ zu bezeichnen. Wichtig für das Selbstverständnis einiger Aktiven ist auch die Einstellung, ‚für‘ etwas zu sein, anstatt immer nur ‚dagegen‘, bspw. bei der Energiewende und der Anti-Atom-Bewegung. Hierbei erhoffen sie sich eine positive Außendarstellung der Umweltschutz-Bewegung und wollen einer Abstumpfung durch Katastrophenszenarien und Verzichtsempfehlungen entgegenwirken. Die von Crouch (2008) beschriebene Apathie gegenüber der Politik, kann laut einiger Interview-Partner*innen damit auch auf zivilgesellschaftliches Engagement übertragen werden. Es werden neue Strategien entwickelt, die ein positives Bild der Bewegung zeichnen sollen.

Auch die Themen ‚Burnout im Aktivismus‘ und ‚Frustrationstoleranz‘ sind bisher nur wenig untersucht. Eine tiefergehende Auseinandersetzung könnte vielversprechende Einblicke in die langfristigen Motive von Engagierten, aber auch Inaktiven ermöglichen. Wie reagiert man auf Niederlagen von Protestbemühungen, auf Absagen von Freund*innen oder auf ausbleibende Erfolge? Dieser Aspekt wird insb. mit Fokus auf Emotionen im nun folgenden Unterkapitel ausführlicher thematisiert.

Dieses Unterkapitel hat darüber hinaus deutlich gemacht, dass einige Bürger*innen eine scharfe Trennung zwischen praktischem Umweltschutz und gesellschaftspolitischem Engagement oder zwischen parteipolitischem und gesellschaftlichem Interesse vornehmen. Sie differenzieren stärker zwischen Zivilgesellschaft und Politik bzw. unkonventionellen und konventionellen Formen der Partizipation, als dies in oben genannten Theorien meist berücksichtigt wird. Basierend auf den Interviews kann auch festgehalten werden, dass sich die Protest-Bürger*innen der Gegenwart deutlich mehr Herausforderungen gegenüber gestellt sehen, als es bisherige Literatur thematisiert: Bspw. die Schwierigkeit, sich selbst immer und überall an die eigenen Prinzipien zu halten, bei der Vielzahl von Niederlagen und Absagen nicht frustriert das Engagement einzustellen oder auch der Versuch, aus dem existierenden Wirtschafts- und Politiksystem auszubrechen und eine eigene Zeiteinteilung bzgl. Beruf, Freizeit und Engagement vorzunehmen. Die Rolle von Sichtbarkeit und Visualität hat sich für Bürger*innen insofern geändert, als dass heute deutlich mehr Akteure Inhalte öffentlich (und digital) platzieren und den politischen Diskurs so mitgestalten können. Darüber hinaus verstehen die meisten unter Sichtbarkeit von Protest jedoch medienunabhängig den Erfolg von Protestpraktiken. Eine hohe Medienresonanz gilt dabei weiterhin als Wirksamkeitsanzeiger mit Symbolcharakter.

5.3 Emotionen und Affekte

Während Aspekte wie Freude, Spaß, aber auch Frustration in den bisherigen Unterkapiteln bereits eine Rolle spielten, geht das nun folgende Abschnitt 5.3 nochmal explizit und ausführlich auf Emotionen und Affekten ein und stellt eine detaillierte Analyse der Kategorien Ursprung, Motivation, Emotionen, Kollektive Identität und Mitgliedschaft dar. Um diese fünf aus dem Interviewmaterial gewonnenen Kategorien angemessen als Faktoren einer Entscheidung für und gegen Partizipation zu untersuchen, werden an dieser Stelle zuerst Forschungsansätze aus dem Bereich „Emotionen und Partizipation“ zusammengetragen. Hier spielen insb. die Arbeiten von Goodwin/Jasper/Polletta (u. a. 2004) eine tragende Rolle. Nach dieser theoretischen Auseinandersetzung mit der Literatur zu Emotionen und Affekten, folgt unter 5.3.1 ein Fokus auf konkrete Ursprungs- und Auslöser-Momente für Partizipation und die gegenwärtige Motivation von Aktiven, sich im Bereich der Umweltschutz-Bewegung einzusetzen (vgl. u. a. McAdam 1989, Teske 2009 oder Han 2009). Hierbei spielen auch die Faktoren Spaß und Ortsbezug eine wichtige Rolle. Das Abschnitt 5.3.2 befasst sich im Anschluss dann mit Konzepten der Kollektiven Identität und Mitgliedschaftsverständnissen – zwei Faktoren, die ähnlich wie Ursprungsmomente und Motivationen, häufig stark an Emotionen und Affekte gebunden sind. Hier spielen insb. die Werke von Melucci (1996) oder Castells (1997) und auch von Bennett/Segerberg (2012) eine wichtige Rolle.

In der Psychoanalyse wird zwischen Emotionen und Affekten unterschieden (Diehl 2012: 164 f.). Affekte sind hierbei weitgehend unterbewusst und situativ, während Emotionen bewusst und damit auch verbalisierbar sind (ebd.: 164). Auch der vorliegenden Arbeit liegt das Verständnis zugrunde, dass Affekte kurzfristige und unbewusste Gefühle sind, welche bspw. Auslöser für politische Partizipation sein können. Emotionen sind hingegen längerfristige und bewusste Gefühle, die ein Individuum in diesem Moment schon verbalisieren kann und welche langfristig als Motivation für eine gegenwärtige Partizipation gelten können. Auch Affekte können verbalisiert werden, tendenziell jedoch eher rückblickend und nach Vergehen einiger Zeit, in der das Individuum früheres Handeln reflektieren und erklären kann. Die Unterscheidung zwischen Affekten und Emotionen spiegelt sich hier in der Analyse der Kategorien Ursprung und Motivation wieder. Ursprünge von Engagement können oft erst rückblickend verbalisiert werden und basieren häufig auf Affekthandlungen, während Motive für Engagement gegenwärtige und bewusste Emotionen darstellen.

Für Goodwin/Jasper/Polletta (2004: 413 f.) sind Emotionen und Affekte ein Teil jeglichen sozialen Handelns von Menschen. In den Sozialwissenschaften und in der Forschung über Soziale Bewegungen seit den 1970er Jahren seien sie jedoch vernachlässigt worden. Erst seit den 1990er Jahren wurden Emotionen in Protest, Sozialen Bewegungen und politischen Konflikten untersucht. Ein „cultural turn“ (u. a. Bachmann-Medick 2006) in den Sozialwissenschaften hat dazu beigetragen, Emotionen nicht mehr als rein biologisches, sondern auch als durch die Kultur und ihre Normen geformtes Phänomen zu sehen. Dass Emotionen zuvor nicht adäquat erforscht wurden, hängt laut Goodwin/Jasper/Polletta (2004: 413 f.) einerseits mit Unklarheiten der Konzeptualisierung zusammen, andererseits auch mit dem Bestreben von Bewegungsforscher*innen, die Rationalität Beteiligter hervorzuheben und gegenüber früheren Theorien von irrationalem Verhalten von Massenprotesten zu verteidigen. Dabei übersahen solche Theorien, dass es verschiedene Typen von Emotionen und Affekten gibt und nicht alle gleichermaßen zu irrationalem Handeln führen, wie dies bei plötzlichen, reflexhaften Emotionen und Affekten der Fall sein kann (ebd.).

Emotionen und Affekte unterscheiden sich in ihren Ursprüngen und Auswirkungen auf das Handeln. Entsprechend ist es notwendig, verschiedene Formen zu differenzieren. Goodwin/Jasper/Polletta (ebd.) unterscheiden zwischen „immediate reflex emotions, longer-term affective commitments, moods, and emotions based on complex moral and cognitive understandings.“ Diese vier Typen werden im Folgenden beschrieben.

Die erste Kategorie von Emotionen bei Goodwin/Jasper/Polletta (ebd.: 416 ff.) sind reflexhafte Emotionen, „reflex emotions“, oder im Folgenden auch als Affekte bezeichnet. Zu ihnen gehören die Gefühle Angst, Überraschung, Wut, Ekel, Freude und Trauer. Diese treten plötzlich und unwillkürlich auf, ohne vorhergehende kognitive Verarbeitung, ähnlich wie bei einem Muskelreflex. Die Gefühle lösen automatisches, nicht zu unterdrückendes und daher potenziell irrationales Verhalten aus. Goodwin/Jasper/Polletta (ebd.) betonen jedoch auch, dass eine Reihe von Studien darauf hinweist, dass Reflex-Emotionen den Fokus auf ein Problem zeitweilig erhöhen und damit zu rationalerem Handeln beitragen können. Die Autor*innen weisen darauf hin, dass auch innerhalb der Kategorie der Reflex-Emotionen deutliche Unterschiede in Bezug auf die Auslöser und Effekte dieser Emotionen bestehen. „The fact that we use the same term to cover rather different feelings does not mean they have the same causes and effects. Expressions of reflex emotions may be similar across cultures, furthermore, but their causes are not“ (Goodwin/Jasper/Polletta 2004: 418).

Die zweite Kategorie von Emotionen sind affektive Emotionen. Sie können positiver wie negativer Art sein und bestehen oft über längere Zeit gegenüber Menschen, Orten, Ideen und Dingen. Zu ihnen gehören Liebe, Hass, Respekt und Vertrauen. „[…] affective emotions such as love and hate, respect and trust normally persist over a long period of time. Affects are positive and negative commitments or investments […] that we have toward people, places, ideas, and things. Commitment to a group or cause may be based on instrumental calculations and morality, but it is also based on affection.“ (ebd.)

Affektive Bindungen zeigen an, wer und was Individuen besonders wichtig ist. Damit schaffen sie Motive für Partizipation in Sozialen Bewegungen. Z. B. weil Menschen dabei Zeit mit Freund*innen verbringen, weil sie geliebten Menschen helfen wollen, weil sie ihre Gegner hassen, weil sie einen Ort lieben oder weil sie Loyalität gegenüber einer Gruppe empfinden. „Our affects give us our basic orientations toward the world, especially telling us what we care most deeply about. They are the reason we bother to participate in movements at all rather than sit on the sidelines […]. Collective identities, in fact, are nothing more or less than affective loyalties […]“ (ebd.). Die Autor*innen betonen insb. die Rolle von Respekt und Vertrauen als ausschlaggebende emotionale Faktoren in Politik und Partizipation. „Respect and trust are crucial factors in politics. At a cognitive level, we tend to believe the statements of those individuals and organizations toward whom, at the emotional level, we have positive affects: We trust those we agree with, and agree with those we trust“ (ebd.: 419). Dabei können Führungsfiguren von Organisationen eine wichtige Rolle spielen. Identifikation mit ihnen und eine gewisse Bewunderung für sie verkörpern moralische Ideale einer Gruppe von Aktiven: „Successful leaders embody the moral ideals of a group, crafting a way of living that resonates with their followers. There is both identification with and admiration for leaders, who are both similar to their followers and at the same time superior (although some leaders emphasize their common attributes, others their unique qualities).“ (ebd.) Solche affektiven Emotionen können sich auch lediglich auf Teilgruppen anstatt auf das gesamte Kollektiv richten (ebd.: 420). Laut Psychoanalyse müssen affektive Bindungen nicht bewusst sein, um Auswirkungen auf das Handeln zu haben (ebd.: 421).

Die dritte Kategorie bezeichnet Stimmungen – „moods“ (ebd.). Dies sind vorübergehende Gefühle, die die Ausrichtung von Intentionen und Handlungen in verschiedene Richtungen lenken können. Stimmungen wie Fatalismus, Resignation und Pessimismus können paralysieren und demobilisieren, während Optimismus wiederum eine mobilisierende Wirkung besitzt, da er die Selbstwahrnehmung der Handlungsfähigkeit und von Visionen für die Möglichkeiten eines politischen oder sozialen Wandels stärken kann (vgl. Bogerts 2015: 233). Stimmungen sind nicht gegen ein bestimmtes Objekt gerichtet, sondern von einer Situation auf die andere übertragbar, u. a. weil sie auf biochemischen Prozessen beruhen. Damit können Stimmungen auch Auswirkungen auf spätere Situationen haben und Handeln langfristig beeinflussen. „Most emotions take a direct object – we are afraid of something, we love someone – but moods do not. Moods are modular or transportable emotions. We typically carry a mood from one situation to the next, in part because most moods are apparently correlated with biochemical changes. […] Thus, a mood formed in one context may affect how we think and act in another.“ (Goodwin/Jasper/Polletta 2004: 421)

Wie im vorangegangenen Abschnitt 5.2 „Bürgerschaftsverständnis“ beschrieben, haben Individuen nicht immer und ausschließlich langfristige, große Ziele, sondern sind teils auch mit Kompromissen und Zwischenzielen zufrieden. Eine zufriedene Stimmung stellt sich bei ihnen dann schon dadurch ein, dass sie wissen, gehandelt und es probiert zu haben. „Participants do not necessarily believe that the movement’s goals will be realized. Rather, their satisfaction comes in acting now, in the face of those who deny their capacities for courage, dignity, and coordination […]. And it comes from acting on behalf of their children, and their children’s children, on the basis of the possibility – not the certainty – that they will eventually win“ (ebd.).

Die vierte und letzte Kategorie befasst sich mit moralischen Emotionen, welche aus kognitiven Prozessen und einem moralischen Bewusstsein heraus entstehen und eine normative Sicht auf die Welt, den eigenen Platz in dieser Welt, das eigene Handeln sowie die Kultur reflektieren. Beispiele für moralische Emotionen von Individuen sind Scham und Stolz. „Perhaps the largest group of emotions arise out of complex cognitive understandings and moral awareness, reflecting our comprehension of the world around us and sometimes of our place in it. They reflect cultural variations and constructions much more than reflex emotions do. Some of these moral emotions reflect judgments, often implicit, about our own actions.“ (ebd.: 422)

Doch auch andere Menschen und deren Handeln können durch moralische Emotionen wie Neid oder Empörung bewertet werden. Empörung steht im Zentrum vieler Sozialer Bewegungen und mobilisiert Menschen, sich der entsprechenden Bewegung anzuschließen. Bewegungsorganisationen selbst arbeiten aktiv daran, moralische Emotionen zu stimulieren und verbreiten, welche dann wiederum das Bild der Bewegung prägen. Da moralische Emotionen eng mit Kognition verbunden sind, kommen Framing, Narrativen und Diskursen hierbei einflussreiche Rolle zu (vgl. Goodwin/Jasper/Polletta 2004: 423).

Zwei weitere relevante Terminologien liefert Jasper (2011) mit den Begriffen „moral shock“ und „moral batteries“. Mit dem ersten Begriff bezeichnet Jasper (ebd.: 289) ein Gefühl, welches aus einem Event oder einer Information resultiert, die dem Individuum zeigt, dass die Welt nicht das ist, wofür es sie bisher gehalten hat. „[…] the vertiginous feeling that results when an event or information shows that the world is not what one had expected, which can sometimes lead to articulation or rethinking of moral principles.“ Aus einem solchen Aha-Moment heraus kann ein Überdenken der eigenen Prinzipien und des eigenen Handelns entstehen. Mit dem Begriff der „moral batterie“ bezeichnet Jasper (ebd.: 291) wiederum die Spannung zwischen einem negativen und einem positiven Pol, welche dazu beitragen kann, dass Aktionen angeregt werden. „One category, which I call moral batteries, consists of a positive and a negative emotion, and the tension or contrast between them motivates action or demands attention. An emotion can be strengthened when we explicitly or implicitly compare it to its opposite, just as a battery works through the tension between its positive and negative poles.“ Das Gefühl von Hoffnung nennt Jasper dabei als eines der häufigen Positiv-Pole der Batterie. Grundsätzlich ist es oft der Kontrast zwischen einer gegenwärtigen Situation, in der Dinge nicht gut laufen, und einem Zukunftsszenario, das beschreibt wie die Dinge eigentlich sein müssten. Aus Mobilisierungsgründen greifen Organisationen hier laut Jasper (ebd.) häufig zum Stilmittel der Übertreibung: „A more generic form of moral battery combines hope for future change with fear, anxiety, and other suffering in the present. Most successful organizers exaggerate the promise of the future as well as the suffering of the present. The excruciating contrast between the way things are now and the way things might be helps motivate protest and political action.“

Im deutschen Kontext beschäftigen sich u. a. Betz (2016) und Brodde (2010) mit Spaß und Emotionen im Kontext von Protest. Laut Betz (2016) fehle es an empirischen Studien zu Emotionen in Protestaktionen und der bisherige Fokus läge meist ausschließlich auf negativen Gefühlen. Des Weiteren würden Protestereignisse jeweils mit Schwerpunkt auf den Protest untersucht werden, anstatt auch den Aspekt des Ereignisses stärker zu berücksichtigen. Während Humor, Satire und karnevaleske Protestformen zwar als Instrumente berücksichtigt wurden, die aus taktischen und strategischen Gründen rational eingesetzt werden, fehlt Betz (ebd.: 11) die Interpretation dieser Aspekte als eigenständiges Motiv für Partizipation: „Bei all diesen Beschreibungen werden Humor, Satire und karnevaleske Formen instrumentell verkürzt und somit ihre kurzfristige, mitunter psychologische, Gemeinschaft und Sinn stiftende Wirkung über den Protestinhalt und die proklamierten Protestziele hinaus missachtet.“ Brodde (2010) zeigt hingegen Beispiele für Protestaktivitäten auf, bei denen Spaß und Humor nicht nur als Instrument verwendet werden, sondern positive Emotionen auch als Selbstzweck und Motiv wahrgenommen und beschrieben werden. Entsprechend lautet Betz (2016: 13 f.) These: „Selbst für langfristige (Protest-)Ziele gilt also, dass das Engagement auch kurzfristige Genugtuung zu irgendeiner Form bringen muss, um einen Menschen motivieren zu können. Diese kurzfristigen Belohnungen […] bestehen nicht lediglich aus Wut-, Angst- und Frustrationsabbau – also aus der Reduzierung negativer Empfindungen – sondern (mindestens, wenn nicht gar vordergründig) auch aus positiven Gefühlen, die im Erlebnismoment und im in sich selbst genügsamen Vergnügen evoziert werden.“ Betz (ebd.: 275) entwickelt eine Typologie von eventisierten Protestereignissen, politisierten Events und einem dritten Protesthybrid, der die beiden Ebenen Protest und Vergnügen genuin miteinander verbindet. Er kommt zu dem Ergebnis, dass seine untersuchten Fallbeispiele alle auch „vergnügte Ereignisse kollektiven Ungehorsams“ zum Anlass haben. Betz (ebd.) konnte zwar auch instrumentelle Elemente beobachten, doch Spaß und Vergnügen haben auch ihren Selbstzweck und dienen u. a. der Bildung einer Gemeinschaft und des Zugehörigkeitsgefühls: „Zwar konnte ich auch Instrumentalisierung feststellen: Mit Spaßankündigungen wird mobilisiert, freudige Protesthandlungen prägen einen positiven Eindruck gegenüber einer interessierten Öffentlichkeit und verbinden die Inhalte auch gegenüber den Teilnehmern mit positiven Emotionen. Darüber hinaus wird Vergnügen allerdings auch in seinem Selbstzweck als Wert für sich erlebt und dient der positiven Einbindung in eine Gemeinschaft, repräsentiert eine einende Vision und erhöht das Gefühl der Zugehörigkeit.“

5.3.1 Ursprung und Entstehung von Engagementbereitschaft und persönliche Motivation

5.3.1.1 Forschungsansätze zum Ursprung von Engagementbereitschaft und zur persönlichen Motivation

Die Forschung von McAdam (1989, 1999) stellt einen wichtigen Klassiker in der Biographieforschung und der Untersuchung von Ursachen und Motivationen für politische Partizipation dar. McAdam (1989) sammelte 1983/84 umfangreiche Umfragedaten von 212 Teilnehmer*innen des sogenannten ‚Mississippi Freedom Summer Projekts‘ (1964)Footnote 76 und von 118 Individuen, die sich dafür beworben hatten, angenommen wurden, aber nicht teilgenommen haben.Footnote 77 Ziel war die Untersuchung der kurz- und langfristigen politischen und persönlichen Konsequenzen von ‚high-risk activism‘ der Individuen oder wie McAdam (1989: 744) es formuliert: „I examine the activist, occupational, and marital histories of both groups and seek to determine what effect, if any, participation in the summer project had on the subsequent lives of the volunteers and ‚no-shows‘.“

Wichtige Ergebnisse dieser Forschung sind, dass die Projekt-Teilnehmer*innen aktiver waren als Nicht-Teilnehmer*innen und dies auch zum Zeitpunkt der Untersuchung (1983/84) noch waren. Ein großer Anteil der Teilnehmer*innen und der Absagenden war bereits vor dem Sommercamp politisch aktiv: 79 % der Teilnehmer*innen und 65 % der Absagenden gaben bei der Bewerbung an, in einer Bürgerrechtsorganisation beteiligt zu sein. Die Aktiven waren seltener verheiratet und hatten ein signifikant geringeres Einkommen als Nicht-Teilnehmer*innen. McAdam (ebd.: 750) unterscheidet zwischen kurzfristigen Folgen, die er für die Jahre 1964 bis 1970 abfragte, und langfristigen Folgen, für die er 1983/84 die gegenwärtigen Einstellungen und Aktivitäten abfragte. Hierbei stellt er fest, dass die Teilnehmer*innen durch die 1960er Jahre hinweg deutlich aktiver waren als die Absagenden. Bspw. organisierten sie mit dreifach höherer Wahrscheinlichkeit bürgerrechtsrelevante Boykotte o.Ä. Außerdem waren 36 % der Teilnehmer*innen und 24 % der Absagenden als bezahlte Aktivist*innen berufstätig. McAdam (ebd.: 751) kommt zu dem Ergebnis, dass das Sommercamp von 1964 vielen Bürger*innen als Gelegenheit für einen Wechsel bzgl. ihrer politischen Aktivitäten diente und in großen Teilen die darauf folgende Aktivisten-Geschichte beeinflusste. Dabei waren zwei Faktoren besonders wichtig: Erstens, die Einschätzung des Individuums bzgl. der eigenen politischen Haltung vor und nach dem Sommercamp mit einem starken Wandel nach links. Zweitens, aktive Beziehungen zu anderen Aktivist*innen aus der gemeinsamen Zeit. Je höher die Zahl der noch bestehenden Kontakte, umso größer das Level des gegenwärtigen Aktivismus. Das Sommercamp hat folglich nicht nur die Einstellungen der Menschen verändert, sondern auch ein Netz von Beziehungen entstehen lassen. Wie wichtig ein solches Netz von Beziehungen ist, wurde bereits unter dem Aspekt der Ressourcen beschrieben und wird im Anschluss noch mit Blick auf kollektive Identitäten vertieft.

Auch bei den langfristigen Konsequenzen zeigte sich, dass die Teilnehmer*innen weiterhin aktiver blieben als die Absagenden und sie sich bzgl. der politischen Einstellung weiter links einordneten als diejenigen, die nicht am Sommercamp teilgenommen hatten. Entsprechend lautet die These von McAdam (1989: 753), dass eine Teilnahme am Sommercamp einen Aktivismus in den späteren 1960er Jahren durch eine Radikalisierung der Einstellung, stärkere Integration in politischen Organisationen und stärkere Integration in ein Beziehungsnetzwerk von Aktivist*innen begünstigt hat. Ein ausgeprägter Aktivismus in den 1960er Jahren habe eine starke Grundlage für gegenwärtigen Aktivismus geschaffen, indem er das Individuum an andere Individuen und Organisationen gebunden und politische Werte vertieft habe.

Aktivismus stärkt laut McAdam (ebd.: 754) grundsätzlich Beziehungen zu anderen und zu Organisationen. Diese Verbindungen machen es wahrscheinlicher, dass jemand engagiert bleibt, seine Werte vertieft und persönliche Veränderungen eintreten. Diese Veränderungen betreffen Arbeit, Familie und Beziehungen. Teilnehmer*innen des Sommercamps stiegen tendenziell später in einen Vollzeit-Job ein, wechselten den Job öfter und arbeiteten in den 1960er Jahren weniger als die Absagenden des Sommercamps.Footnote 78.

McAdam (ebd.: 757 f.) kommt zu dem Schluss, dass Teilnehmer*innen des Mississippi Freedom Summer Projekts nachhaltig durch dieses geprägt wurden: „[…] the summer volunteers have evidenced a remarkable continuity in their lives over the past 25 years. They have continued not only to voice the political values they espoused during the 60s, but to act on those values as well. They have remained active in movement politics. Moreover, in a variety of ways they appear to have remained faithful to the New Left imperative to treat the personal as political. Indeed, both their work and marital histories appear to have been shaped, to a remarkable degree, by their politics.“

In einer Studie von 1999 geht McAdam dem Zusammenhang zwischen politischen Erfahrungen und Orientierungen von Bürger*innen in den 1960/70ern und Entscheidungen über daran anschließenden Lebensverläufen nach. Die Forschungsfrage der Studie lautet, ob nicht-traditionelle politische Erfahrungen und Orientierungen während dieser Jahre mit später vorkommenden Abweichungen von traditionellen Lebensverläufen, z. B. kinderloses, verheiratetes Paar, Zusammenleben ohne Heirat, usw., zusammenhängen. McAdam (1999: 127) kommt zu dem Ergebnis, dass in allen Fällen einer Teilnahme an sogenannten ‚New Left Activities‘ signifikante Abweichungen im Lebensverlauf zu beobachten sind. Die Variablen NOKIDS (Individuum hat keine eigenen oder adoptierten Kinder), COHABIT (Individuum lebt unverheiratet mit jemandem zusammen) und NEVERWED (Individuum hat niemals geheiratet) kommen bei Teilnehmer*innen solcher Aktivitäten deutlich häufiger vor als bei Bürger*innen, die sich nicht im Bereich ‚New Left Activities‘ engagieren. McAdam (ebd.: 128) beschreibt einen starken Zusammenhang zwischen (Aus-)Bildung und Familiengründung: Eine Teilnahme am College verzögere den Eintritt in weitere Lebensphasen (Heirat und/oder Elternschaft) um mindestens vier Jahre.

Durch eine Hinzunahme fünf weiterer Variablen (links-liberale Mutter, links-liberaler Vater, früherer Konsum von Marihuana, frühe sexuelle Erfahrungen und im Alter von 18 Jahren die Äußerung des Wunsches nach einem anderen Leben als das gleichgeschlechtliche Elternteil) prüft McAdam (ebd.: 130 f.) vorausgegangene Einstellungen gegenüber Nichtkonformität. Er beobachtet einen starken Effekt zwischen einer links-liberalen Mutter und oben genannten Lebenslauf-Variablen. Von einer links-liberalen Mutter großgezogen zu werden kann folglich starken Einfluss auf spätere Lebensphasen haben. Die anderen vier Variablen hatten im Vergleich zur links-liberalen Mutter kaum bzw. keinen Einfluss.

Teske (2009) wiederum untersucht Motive und Ursachen von Engagement mit einem Fokus auf die Ziele, Träume und Gedanken von Aktivist*innen. Der Autor legt seiner Studie, die auf 80 Interviews basiert, ein breites Verständnis von Politik zugrunde, nach welchem es nicht nur um das Besetzen von Posten oder Beeinflussen der Regierung geht, sondern welches die großen Zusammenhänge von Gesellschaft und dem Zusammenleben verstehen möchte. Diese weite Vision von Politik erlaubt es zu verstehen, warum und wie viele der Aktivist*innen ihr Selbstverständnis mit Politik verbunden haben, obwohl die Aktivitäten nicht direkt Einfluss auf eine Regierung nehmen. Laut Teske (ebd.: 30) ist der/die durchschnittliche US-Amerikaner*in statistisch gesehen nicht politisch aktiv und beschäftigt sich mehr damit, den Alltag zu bestreiten. Er/Sie engagiert sich erst, wenn der eigene Lebensstil in Gefahr ist. Aktivismus ist damit ein reaktiver Schritt. Dabei ist der Begriff des ‚Aktivismus‘ häufig negativ konnotiert und suggeriert, dass jemand radikal sei, die bestehende Ordnung störe und vielleicht sogar gefährlich sei (Teske 2009: 32). Ein Aktivist ist demnach immer auch politisch. Er politisiert das Apolitische (bspw. durch Moralisierung).

Teskes Untersuchung konzentriert sich insb. auf zwei Punkte: 1) Die Vergleiche verschiedener Aktivist*innen führen dazu, dass Aktive artikulieren wollen, inwiefern sie anders sind und was sie zu Aktivist*innen macht. Dieses Streben führt zu einer größeren Eigenwahrnehmung und Sensibilität für ihre Motive Aktivist*innen zu sein. 2) Wie sie Aktivist*innen wurden, ist meist in „involvement stories“ (ebd.: 34) verarbeitet – dramatische Narrative, die zur Entwicklung von Aktivist*innen führen. Diese Involvement Stories haben wiederum zwei Funktionen: 1) Sie erlauben Aktiven, sich von anderen abzusetzen, ihre Einzigartigkeit zu beschreiben und zu erklären, warum sie als Individuum involviert wurden. 2) Sie verraten etwas über die Weltanschauung der Aktiven und platzieren ihre Handlungen und persönlichen Entscheidungen in einen größeren Kontext (vgl. ebd.). Während Teske (ebd.: 80 f.) in seiner Studie Lobbyist*innen und Aktivist*innen miteinander vergleicht und dabei die drei Politikfelder „Pro-life Activist“, „Social Justice Activist“ und „Environmental Activist“ untersucht, liegt der Fokus bei der hier folgenden Zusammenfassung relevanter Aspekte insb. auf Aktivist*innen und den beiden letztgenannten Politikfeldern.

Laut Teske (ebd.: 36) gaben die von ihm interviewten Aktivist*innen an, sich bereits selbst schon einmal Gedanken über das Warum gemacht zu haben, persönliche Opfer gebracht zu haben und schon mit Stresssituationen nahe eines Burnouts konfrontiert gewesen zu sein. Die für den Aktivismus gebrachten Opfer beinhalten auch Geld. Im Sample von Teske befinden sich unter den 60 interviewten Aktivist*innen nur 17 Personen, die kein Geld für ihr Engagement erhalten. Jedoch gaben sie alle an, wegen des Einkommens eines Partners oder anderer Unterstützungsquellen nicht auf ein Einkommen angewiesen zu sein. Eine der Aktivist*innen, die beim Wechsel von ihrem alten Job zu einer Stelle im Aktivismus eine deutliche Gehaltsreduzierung in Kauf nahm, gab an, froh darüber zu sein, dass sie etwas tun dürfe und dafür bezahlt werde, was ihren Werten entspreche.

Bezüglich der Involvement Stories, einem Hauptaugenmerk Teskes (ebd.: 51 ff.) Untersuchung, unterscheidet der Autor drei Themen: Persönliche Krisen, moralische Entdeckungen und lebenslange Verpflichtung. Diese Themen können sich überlappen und bei verschiedenen Personen in Kombination auftreten, eines der Themen dominiere jedoch jeweils. Bei der persönlichen Krise führt oft ein inneres psychologisches Drama inklusive einer Suche nach Sinn und Zweck zu Aktivismus. Politik und Engagement können hier als Therapie dienen. Bei der moralischen Entdeckung gibt es hingegen eine Konfrontation mit externen Faktoren oder Geschehnissen in der Welt. In der persönlichen Krise liegt das zu lösende Dilemma größtenteils im eigenen Selbst, bei der moralischen Entdeckung wird das Dilemma durch externe Stimuli hervorgerufen, die dazu führen, dass das Individuum den Kurs seines Lebens in Frage stellt. Aktivist*innen beschreiben einen Punkt des Bewusstwerdens über eine Unmoral in der Welt als Wendepunkt hin zum Aktivismus (Teske 2009: 55). Diese Erfahrung kann bspw. durch eine öffentliche Rede, einen Film, ein Buch, aber auch einen Krieg oder persönliche Betroffenheit ausgelöst werden. Auch eine Reise in fremde Länder und das Sehen von Armut oder eigene Kinder zu haben und um deren Zukunft besorgt zu sein, kann moralische Entdeckungen befördern. Beim dritten Thema, den lebenslangen Verpflichtungen, herrschen hingegen eine Kontinuität in der Identität des Individuums und ein Beibehalten der Werte vor – nicht selten schon seit der Jugend oder Kindheit. Oft werden hier Eltern, Großeltern oder andere Erwachsene als wichtige Einflüsse auf das eigene Leben beschrieben.

Während bei Lobbyist*innen zwischen persönlichen Ansichten und politischen Aktivitäten unterschieden werden kann, macht diese Unterscheidung bei Aktivist*innen wenig Sinn (ebd.: 78). Die persönlichen Identitäten der Aktiven sind viel enger mit ihren politischen Aktivitäten verbunden, als das der Fall bei den Lobbyist*innen ist. Während die „Pro-life“-Aktivist*innen sich häufig auf religiöse Werte berufen und darauf, dass sie Gott gehorchen, versteht nur knapp die Hälfte von ihnen ihren Aktivismus auch als politisch. Politik ist eher etwas Böses und Pro-life-Aktivismus etwas Persönliches. Die Social Justice Aktivist*innen beschäftigen sich mit Themen wie Armut und soziale Ungerechtigkeit. Teske (ebd.: 83) unterscheidet hierbei zwei Untertypen: 1) Einen serviceorientierten Typ mit einer Anpacker-Mentalität, der direkt in einer Organisation arbeitet und Benachteiligte unterstützt. 2) Einen Social-Change-Aktivist, der stärker politisiert ist als der erste Typ und fundamentale Veränderungen in der Gesellschaft bewirken will. Die Aktivist*innen aus der Umweltschutz-Bewegung haben laut Teske (ebd.: 86) hingegen eine weitere Sicht auf die Dinge als die anderen beiden Aktivismus-Typen. Sie haben Angst um die Erhaltung der Welt und die Grundlagen für zukünftige Generationen. Sie sprechen eine universelle Sprache der Anliegen von Umweltschutz-Aktivist*innen, welche sich nach dem Motto ‚think global, act local‘ sowohl lokal als auch im breiteren Sinne zeigt. Dabei herrscht ein weites Verständnis von Politik und politisch vor. Auch der Typ des Umweltschutz-Aktivismus will menschliches Verhalten fundamental verändern und versteht jede Entscheidung als politische Aussage. Die von den interviewten Aktivist*innen genannten Ziele sind nach Teske (ebd.: 90) zweckbestimmte Ziele – jedoch in mehrfacher Hinsicht. Einerseits arbeiten die Aktivist*innen zweckgebunden und verfolgen ein konkretes Ziel, andererseits beeinflussen sie damit aber gleichzeitig auch ein größeres moralisches Ziel.

Die von Teske interviewten Aktivist*innen konstruieren ihre Identität besonders gern als „action-takers“ (Teske 2009: 98), also als Anpacker*innen. Sie empfinden eine große Wertschätzung dafür, etwas gegen das zu tun, was sie in der Welt oder Gesellschaft als Problem definieren. Ökonomische Ansätze, wie die von Downs (1968) und Olson (1965), vertreten die Position, dass auch altruistisches Handeln immer einem Eigeninteresse entspringt. Autor*innen wie Mansbridge (1990) unterscheiden hingegen moralische Bedenken von Eigeninteressen und betonen die Wichtigkeit von Motivation. Teske (2009: 106) hält die Beziehung zwischen Moral und Eigennutzen für sehr komplex und zieht das Konzept der Belohnung heran, um diese Komplexität zu verdeutlichen. Viele der von Teskes Interview-Partner*innen genannten Belohnungen wie Geld, Befriedigung, ein gutes Gefühl, Selbstbewusstsein, Gemeinschaft oder Wissen lassen sich gleichermaßen den Bereichen Moral und Eigennutzen zuordnen. Z. B. hat jemand ein gutes Gefühl, weil er/sie etwas Gutes tut. Er/Sie profitiert vom Eigennutzen des guten Gefühls, erfüllt aber auch den Aspekt der Moral, da etwas Gutes für andere getan wird. Laut Teske (ebd.: 108) ist es folglich nicht sinnvoll, die Belohnungen für Aktivismus jeweils in eine der beiden Kategorien (Moral oder Eigennutzen) zwängen zu wollen.

Die Bedenken und Selbstbeschreibungen der Aktivist*innen sind laut Teske (ebd.: 120) eine Mischung aus Selbstnutzen und Altruismus. Teske (ebd.: 120 f.) möchte nicht auf die Spannung zwischen den beiden Begriffen achten, sondern dies als Identitätskonstruktion verstehen: „[…] instead of focusing on the presumed tension between self-interest and altruism, we should focus on the ways that activists, through their activism, develop certain identities for themselves. This is the identity-construction approach to political activism.“ Er spricht sich weder für den Rational Choice Ansatz, noch für das Konzept von Altruismus aus. „Rather, identity construction points to the qualitative concerns and the desires activists have that certain qualities be instantiated to their actions and lives.“ (ebd.: 121) Nach diesem Ansatz wird Motivation nicht als Interessensmaximierung oder Interessensnegierung verstanden, sondern als etwas Gesamtes und Identitätskonstruierendes: „Through their involvement, activists are able to construct identities for themselves and to strive to become the kind of persons they admire and want to be.“ (ebd.)

Die Aktivist*innen aus Teskes Sample sehen ihre Aktivitäten meist in einem positiven Licht. Die Dinge für die sie einstehen, halten sie für richtig und wichtig. Diese Bedenken passen nicht in eine Dichotomie von Selbstnutzen und Altruismus, sie sind beides gleichzeitig, sind selbstbezogen und gleichzeitig tief moralisch. Teske (2009: 122) hebt hierbei vier Punkte als wichtigste Ergebnisse hervor: 1) Aktivismus verändert Aktivist*innen und ihren Charakter. Sie entwickeln bestimmte Werte, Begehren und Anliegen, sowie Gefühle, die ihnen erlauben etwas zu tun, das sie zuvor nicht tun konnten. Durch den Aktivismus entwickeln Aktive bspw. mehr Selbstbewusstsein, lernen vor anderen Leuten aufzutreten und zu sprechen, lernen mehr über sich selbst, haben Kontakt zu anderen (Aktivist*innen) und finden (neue) Freund*innen. Durch Aktivismus bauen sie ein Verständnis füreinander auf, da sie in der gleichen Situation sind, sie treffen Menschen und lernen mit ihnen zusammenzuarbeiten, sie erhalten die Möglichkeit, selbst zu wachsen und zu lernen, wie man mit Inaktiven umgeht. Aktivismus führt laut Teske (ebd.: 123) folglich zu mehr Aktivismus: „Some activism begets more activism: The individual becomes politicized, and the citizen becomes an activist.“ 2) Aktivismus ist eine Aktivität mit moralischer Bedeutung – und dies sowohl im objektiven Sinne als auch im subjektiven. Im objektiven Sinne hat das Engagement von Aktivist*innen eine Bedeutung in einem größeren sozialen oder politischen Kontext. Es hat z. B. wichtige Konsequenzen für andere Menschen oder Geschehnisse. Im subjektiven Sinne hat Aktivismus eine psychologische Bedeutung, bspw. Erfüllung oder Befriedigung. Beide Bedeutungen hängen voneinander ab, denn Menschen fühlen Erfüllung, wenn sie einer Handlung mit größeren Konsequenzen nachgehen: „[…] we think of having meaningful work or doing meaningful things in the objective sense as tending to produce meaningfulness in the subjective sense“ (ebd.: 124). 3) Der dritte Aspekt ist laut Teske (ebd.: 126) eine Perspektive auf das gesamte Leben: Am Ende zu beurteilen, ob man mit dem eigenen Leben zufrieden war oder nicht. Dies muss nicht zwingend einen religiösen Hintergrund haben. Die ganzheitliche Lebensperspektive drückt ein Bedürfnis nach Ganzheitlichkeit des Lebens aus und setzt sich mit der Frage auseinander, an was man sich später rückblickend erinnern würde und was vom Individuum als Mensch erwartet wird. „It is a concern about the self and life seen from a perspective outside the self. Hence it is not exclusively self- or other-regarding but both at the same time. […] It is a moral concern that involves consideration for the treatment of others but that also incorporates desires related to the self as well.“ (ebd.: 127) 4) Der letzte Punkt beschreibt die Einstellung, dass man etwas machen müsse und dass man keine Wahl habe, ob man aktiv oder passiv sein wolle. Diese Form von Motivation baut insb. darauf auf, dass man sich selbst und seinen Verpflichtungen gegenüber treu bleiben möchte. Die Formulierung, dass es „no choice“ (ebd.: 128) sei, drückt eine innere Überzeugung aus und beschreibt, wie tief der Ursprung des Aktivismus verankert ist. Die Aktivist*innen wissen sehr wohl, dass sie eine Wahl haben, ob sie aktiv werden möchten oder nicht, aber dieses Wissen kommt nicht an die Oberfläche des Bewusstseins, weil die Überzeugung bzw. das Gefühl der Wichtigkeit und Notwendigkeit so groß ist, dass es wie eine „No-choice“-Situation erscheint. Damit ist diese Haltung eine Frage der Identität, nicht der möglichen Handlungsspielräume.

Mit diesen vier Aspekten plädiert Teske (2009: 130f.) für eine Auflösung der Dichotomie von Eigennutzen und Altruismus. Sowohl altruistische Konzepte von Moralität und Rational Choice als auch Konzepte von Eigennutzen beschränken das Verständnis von Eigennutzen auf das Streben nach „interest goods“ (ebd.: 131), wie bspw. Reichtum, Macht, Prestige oder das Ansehen innerhalb einer Gruppe. Teskes (ebd.: 142) Modell von „identity-constructing powers of political involvement“ beschrieben durch die Aktivist*innen, drängt hingegen dazu, politisch Partizipation zu überdenken und die Aktiven selbst ins Zentrum zu rücken. Denn die Aktivist*innen machen nachvollziehbar, warum Bürger*innen sich einbringen würden, welche Bedürfnisse Partizipation befriedigt, wie man die Person sein kann, die man sein will und die Rolle in der Geschichte spielen kann, die man spielen möchte.

Han (2009) wiederum untersucht Motive für Partizipation und das Verbleiben in Organisationen mit Fokus auf ressourcenarme Bürger*innen. Sie geht der Frage nach, wie diejenigen mit weniger Ressourcen partizipieren können. Han (ebd.: 7) kritisiert, dass klassische Modelle wie das CVM (Verba/Schlozman/Brady 1995) Ressourcen für Partizipation untersuchen, aber dabei Motivation nicht als eigenen Faktor miteinbeziehen. Laut der Autorin sind spezifische persönliche Ziele, die das Engagement bewirken, nicht ausreichend berücksichtigt. Han (2009: 48 ff.) entwickelt eine „Issue Public Hypothesis“ welche neben Ressourcen, Rekrutierung und Motivation auch dem Bedürfnis zu partizipieren eine Wichtigkeit zuschreibt. Sie versteht Motivation als dynamischen Prozess, der Veränderungen erfährt, u. a. auch von Emotionen beeinflusst wird und eine ständige Interaktion zwischen dem Individuum und seiner Umwelt ist. Han (ebd.: 23 ff.) schlägt ein alternatives und breites Konzept von Motivation vor, das auch persönliche Ziele von Partizipation berücksichtigt. Darüber hinaus spielen persönliche und politische Bedenken eine wichtige Rolle. Bei ersteren drängen persönliche Bedenken zu einer Partizipation, im Falle der zweiten muss eine Person vor der Partizipation erst noch politisiert werden. Auch Werte wie das Bürgerschaftsverständnis sind laut Han Teil von Motivation.

Während das „Attentive Public Model“ (ebd.: 48 ff.) davon ausgeht, dass sich Bürger*innen entweder für Politik interessieren oder nicht, geht Han (ebd.) in ihrem Model von „Issue Publics“ davon aus, dass sich Menschen verschieden stark für verschiedene Themen interessieren und keine politischen Generalisten, sondern Spezialisten sind. Eine persönliche Bindung und Verpflichtung zu einem Thema mache Partizipation wahrscheinlicher und dieser Aspekt spiele bei ressourcenarmen Bürger*innen eine besonders große Rolle (Han 2009: 72 ff.). Ihre empirische Untersuchung bestätigt die zwei von ihr aufgestellten Hypothesen: 1) Persönliche Bedenken und Bindungen zu einem Thema fördern Partizipation. 2) Neben Bildung und anderen Ressourcen spielen „Issue Commitments“ (ebd.: 72 ff.) insb. bei ressourcenschwachen Bürger*innen eine wichtige Rolle. Zwischen Partizipation und einer themenspezifischen Zugehörigkeit herrsche wiederum eine Wechselseitigkeit: Wer einem politischen Thema nahesteht, lässt sich wahrscheinlicher für Partizipation motivieren und wer motiviert ist zu partizipieren, wird sich mit der Zeit dem Thema gegenüber stärker verpflichtet fühlen und Partizipation vertiefen (ebd.: 80). Das Ergebnis von Hans Untersuchung ist, dass sich Menschen mit starken persönlichen Verbindungen zu einem Thema engagieren – unabhängig von Ressourcen wie Bildung, Finanzen, Civic Skills oder Ähnlichem.

Anschließend geht Han (ebd.: 92 ff.) der Frage nach, wie solche Verpflichtungen entstehen und wie Bürger*innen ursprünglich das erste Mal involviert gewesen sind. Dabei spielen persönliche Werte, Trigger-Momente wie besondere Erlebnisse, ein/e Mentor*in oder eine Organisation eine wichtige Rolle. Basierend auf 58 leitfadengestützten Interviews arbeitet Han drei Hauptergebnisse heraus: 1) Ohne einen Trigger-Moment, welcher Politik personalisiert, sind Werte alleine kein ausreichender Motivator für Engagement. 2) Issue Commitments entstehen durch Partizipation selbst – dadurch, dass man dabei Freund*innen oder Familie trifft und neue Leute kennenlernt. 3) Das Verhalten der Organisation ist ein ausschlaggebender Faktor: Wenn Individuen dort Verantwortung tragen und das Gefühl haben, dass sie ein wichtiger Teil der Organisation sind, bleiben sie wahrscheinlicher motiviert und engagiert. Verbindung entsteht folglich über Verantwortung und darüber, sich in der Organisation weiterentwickeln zu können, neue Fähigkeiten zu erlernen und mit der Gruppe zu interagieren.

Entsprechend kommt Han (ebd.: 128 ff.) zu dem Fazit, dass alternative Wege zur Motivation in der Partizipationsforschung mitbedacht werden müssen und Bürger*innen über Werte und persönliche Verpflichtungen an Partizipation und Organisationen gebunden werden können. Wenn Menschen partizipieren ‚wollen‘, sind die zur Verfügung stehenden Ressourcen nicht der ausschlaggebende Faktor. Eine wichtigere Rolle spielen dann persönliche Ziele und Verpflichtungen.

Klandermans (2004) widerum verwendet in seiner Analyse der Motive für Partizipation die beiden wirtschaftswissenschaftlichen Metaphern Angebot und Nachfrage. Unter Angebot versteht er die Möglichkeiten für Partizipation und Protest durch Organisationen und andere Akteure. Als Nachfrage bezeichnet er das Potenzial einer Gesellschaft für Protest. Mobilisierung ist dabei die Verbindung zwischen Angebot und Nachfrage. „Mobilization brings a demand for political protest that exists in a society together with a supply of opportunities to take part in such protest.“ (Klandermans 2004: 361) Klandermans versteht Mobilisierung als Marketing-Mechanismus von Sozialen Bewegungen und stellt fest, dass die Analyse von Mobilisierung folgende Komponenten beinhaltet: Die Effektivität von überzeugungskräftiger Kommunikation, den Einfluss von sozialen Netzwerken und die wahrgenommenen Kosten und Nutzen von Partizipation.

Klandermans (ebd.) Theorie baut auf der Annahme auf, dass es drei fundamentale Gründe gibt, warum Individuen in Bewegungen partizipieren: 1) Sie wollen ihre Lebensumstände verändern. 2) Sie wollen als Teil ihrer Gruppe agieren. 3) Sie wollen ihrer Welt Bedeutung geben und ihren Gefühlen und Ansichten Ausdruck verleihen. Laut Klandermans erfüllen Soziale Bewegungen diese drei Nachfragen – und je besser sie sie erfüllen, umso befriedigender wird das Partizipationserlebnis für Individuen. Klandermans kürzt die drei oben genannten Aspekte mit den Begriffen Instrumentalität, Identität und Ideologie (‚Instrumentality‘, ‚Identity‘ und ‚Ideology‘) ab. Instrumentalität „refers to movement participation as an attempt to influence the social and political environment“ (ebd.) und spielt eine Rolle in Theorien der Ressourcenmobilisierung, der politischen Prozesse und der Rational Choice. Individuen wollen ihre Lebensumstände verändern. Identität hingegen „refers to movement participation as a manifestation of identification with a group“ (ebd.) und ist Teil von Theorien kollektiver Identität und soziopsychologischen Ansätzen. Hier wollen Individuen als Teil ihrer Gruppe agieren. Der dritte Aspekt, Ideologie, „refers to movement participation as a search for meaning and an expression of one’s view.“ (ebd.) Hier spielen Kultur, Bedeutungen, Narrative, Moralvorstellungen und Emotionen wichtige Rollen. Individuen wollen ihrer Welt Bedeutung geben und ihren Gefühlen und Ansichten Ausdruck verleihen.

Im Folgenden werden die drei Aspekte Instrumentalität, Identität und Ideologie zuerst aus Sicht der Nachfrage und dann aus Sicht des Angebots betrachtet. Laut Klandermans (ebd.: 362ff.) beginnt die Nachfrage nach Wandel mit Unzufriedenheit, z. B. durch die Erfahrung von Ungleichheit, Gefühlen von Mangel, Ungerechtigkeit, moralischer Empörung oder Missstände. Hier spielt Rationalität eine wichtige Rolle. Teilnehmer*innen von Sozialen Bewegungen glauben, dass sie ihr politisches Umfeld zu ihren Vorteilen verändern können und ihr Verhalten nach Kosten und Nutzen ausrichten – wobei sie davon ausgehen, dass sie die Situation zu sich lohnenden Kosten verändern können. Diese Teilnehmer*innen haben die Ressourcen und erhalten Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen.

Neben einer Kosten-Nutzen-Rechnung ist laut Klandermans (2004: 364 f.) jedoch auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe von Relevanz für die Teilnehmer*innen. Individuen nehmen gleichzeitig viele verschiedene Rollen an, je nach Kontext, in dem sie sich gerade befinden. Viele dieser Rollen teilen sie mit (wechselnden) anderen Menschen. Die Schnittmengen machen kollektive Identitäten aus. Folglich ist jede persönliche Identität immer auch eine kollektive Identität. Die persönliche Identität bezieht sich immer auf mehrere Orte in der Gesellschaft, wohingegen sich die kollektive Identität auf einen spezifischen Ort bezieht. Kollektive Identitäten bleiben die meiste Zeit latent. Den Zusammenhang zwischen Partizipation und kollektiver Identität sieht Klandermans darin, dass eine starke Identifikation mit einer Gruppe die Teilnahme an kollektiven Protestaktionen wahrscheinlicher macht.

Bezüglich der Ideologie unterscheidet Klandermans (ebd.: 365) zwischen „instrumental movements“ mit einem konkreten Ziel vor Augen (z. B. die Implementierung von gewissen Bürgerrechten) und „expressive movements“, welche das Ziel selbst sind (z. B. Ausdruck von Unzufriedenheit über eine Handlung). Viele Bewegungen enthalten jedoch beide Aspekte, weswegen die Trennung beider Typen nicht eindeutig ist. Beim Ausdruck persönlicher Sichtweisen und Meinungen liegt der Schwerpunkt oft auf kreativen und kulturellen Aspekten von Sozialen Bewegungen, Erzählungen und Emotionen.

Die Angebotsseite (ebd.: 366) setzt wiederum eine effektive Bewegung voraus, die es schafft, gesetzliche Veränderungen durchzusetzen und Unterstützer*innen zu mobilisieren. Soziale Bewegungen versuchen das Bild einer effektiven Bewegung zu erzeugen, indem sie sich bspw. auf vergangene Erfolge oder Allianzen berufen, hohe Mitgliederzahlen und Spendeneinnahmen vorweisen oder charismatische Führungsfiguren aufstellen. Ein wichtiges Element von Instrumentalität ist auch die Bereitstellung von Informationen über das Verhalten anderer. Soziale Netzwerke spielen hierbei eine strategisch wichtige Rolle, da sich darüber Bürger*innen informieren können. Zu sehen, dass viele andere auch an kollektiven Protestaktionen partizipieren, motiviert Individuen häufig ebenso zur Teilnahme, weil es die individuellen Partizipationsschwellen abbaut.

Soziale Bewegungen bieten laut Klandermans (ebd.: 366 f.) die Möglichkeit, im Namen einer Gruppe zu sprechen. Das ist für einzelne Bürger*innen je attraktiver, umso mehr sie sich mit der entsprechenden Gruppe identifizieren. Partizipation an Protestformen zu einem frauenrelevanten Thema ist bspw. wahrscheinlicher, wenn sich viele Frauen mit anderen Frauen identifizieren können. Je exklusiver die Gruppe dabei ist, desto höher ist die Identifikation. Neben der Möglichkeit, im Namen einer Gruppe zu sprechen, gibt es noch weitere Möglichkeiten der Identifikation bei kollektiven politischen Protestaktionen, z. B. die Identifikation mit den Zielen einer Bewegung, mitwirkenden Personen, der Organisation, einer bestimmten Untergruppe oder mit Führungsfiguren. Auch Märsche, Rituale, Treffen, Symbole und gemeinsame Codes bieten die Möglichkeit kollektive Identitäten zu (er-)leben. Identitätsprozesse haben laut Klandermans (2004: 367) direkte und indirekte Effekte auf Protestpartizipation. Kollektive Identitäten beeinflussen Motive indirekt insofern, als sie es weniger attraktiv machen als sogenannter ‚free rider‘ aufzutreten. Eine ausgeprägte Gruppenzugehörigkeit sorgt dafür, dass die Kosten für ein Überlaufen zu einer anderen Partei und die Vorteile von einer Kooperation steigen. Direkte Effekte treten wiederum auf, wenn kollektive Identität eine Art Abkürzung zu Partizipation darstellt, d.h. wenn Bürger*innen nicht zwangsläufig wegen der Ergebnisse partizipieren, sondern weil sie sich mit den anderen Teilnehmer*innen identifizieren. Im zweiten Fall ist Identifikation wichtiger als die Ergebnisse selbst.

Bezüglich der Ideologie der Angebotsseite unterscheidet Klandermans (ebd.: 368 f.) zwischen „critical communities“, in welchen neue und kritische Ideen und Werte entwickelt werden, und „social movements“, die wiederum ein Interesse daran haben, soziale und politische Akzeptanz für diese Ideen und Werte zu gewinnen. Aber nicht alle aus den „critical communities“ kommenden Ideen eignen sich auch für die Mobilisierung für kollektive Aktionen. Kollektivakteure und Organisationen der Sozialen Bewegungen können als Träger*innen für Bedeutungen verstanden werden, die durch Konsens-Mobilisierung, Framing oder Dialog transportiert und somit der breiten Masse zugänglich gemacht werden sollen. Beteiligt sich jemand an Aktionen einer Sozialen Bewegung, kann davon ausgegangen werden, dass er oder sie zumindest in Teilen solche „collective action frames“ teilt. Soziale Bewegungen arbeiten dabei in der Regel nicht mit gänzlich neuen Ideen, sondern bauen oft auf ideologisches Erbe auf und berufen sich auf breitere Themen und Werte der Gesellschaft. Diese „collective action frames“ werden in Abschnitt 5.3.2 „Kollektive Identität und Mitgliedschaft“ genauer untersucht.

Erfolgreich zu mobilisieren bedeutet, die Angebots- und Nachfrageseite zusammenzubringen. Klandermans (ebd.: 369 f.) unterscheidet dabei zwischen „consensus mobilization“ – die Verbreitung der Ansichten einer Bewegungsorganisation – und „action mobilization“ – die Mobilisierung derjenigen, die die Ansichten bereits übernommen haben, hin zu konkreten Partizipationsformen. Er konzentriert sich insb. auf „action mobilization“, welche er in vier Schritte unterteilt. Jeder dieser Schritte bringt dabei Angebots- und Nachfrageseite näher zusammen, bis das Individuum am Ende an einer kollektiven politischen Aktion partizipiert. 1) Sympathisiert das Individuum mit den Anliegen und Teilnehmer*innen der Bewegung? 2) Wird das Individuum von den Mobilisierungsversuchen angesprochen? Hier unterscheidet Klandermans zwischen Quantität und Qualität, also wie oft und wie eindringlich jemand angesprochen wurde. 3) Ist das Individuum für eine Teilnahme an der entsprechenden Aktion motiviert? 4) Nimmt das Individuum an der Aktion teil? Bei jedem dieser vier Schritte fallen einige Individuen raus, weil die entsprechende Frage verneint wird. Je weniger Ausfälle es gibt, umso besser liegen Angebot und Nachfrage beieinander.

Bezüglich Schritt 3), der Motivation für eine Partizipation, differenziert Klandermans (2004: 371) zwischen selektiven und kollektiven Anreizen und beschreibt die Annahme, dass die Entscheidung von Individuen, an einer Aktion teilzunehmen oder nicht, immer auch von anderen Bürger*innen abhängig ist. Nehmen viele andere teil, ist die eigene Teilnahme überflüssig – nehmen wenig andere teil, erscheint die eigene Teilnahme hoffnungslos. Je stärker ein Individuum motiviert ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass es den letzten Schritt geht und partizipiert. Freundschaftliche Netzwerke spielen dabei eine wichtige Rolle. Auch die Frage, ob und wie jemand angesprochen wird (Schritt 2), ist stark vom Netzwerk des Individuums abhängig.

Als Gründe für Nicht-Teilnahme nennt Klandermans (ebd.: 372) unzureichende Befriedigung und absinkende Bindung. Soziale Bewegungen können nach Klandermans in jedem der drei Bereiche – Instrumentalität, Identität und Ideologie – versagen. Am schwierigsten sei es jedoch, die Ziele zu erreichen und attraktiv zu halten, d.h. als dringend und aus Kosten-Nutzen-Sicht lohnenswert zu erscheinen. Eine zweite Herausforderung sei eine Spaltung der Gruppe, woraufhin sich Teile der Gruppe vermutlich nicht mehr mit der Bewegung identifizieren können. Unzureichende Befriedigung ist die Folge dieser genannten Entwicklungen. Um wiederum eine absinkende Bindung zu verhindern, müssen Bindungen laut Klandermans (ebd.: 373) durch Interaktionen mit der Bewegung gepflegt werden. Mechanismen eines solchen ‚social bondings‘ sind bspw. eine starke Führerschaft, Ideologie, Rituale, soziale Beziehungen bis hin zu Freundschaften oder im Idealfall eine Kombination vieler dieser Aspekte. Auch eine Einbindung der Teilnehmer*innen in Entscheidungsprozesse kann Bindung stärken.

Die vorgestellten Theorien und Ansätze zur Forschung über Ursprünge von und Motive für Partizipation stellen eine wichtige Grundlage für die Analyse der Interviews dar. Eine Vielzahl der herausgearbeiteten Kategorien weist starke Bezüge zu schon existierender Forschung auf, bspw. beim Thema Einfluss durch Eltern, Lehrer*innen, frühere Aktivismuserfahrungen oder Triggermomente wie Krisen und Kriege. Auch der Einfluss von Ideologien, Moralvorstellungen und Identitätskonstruktion wird in bisheriger Literatur schon ausführlich beschrieben, genauso auch die Wichtigkeit von Aspekten wie Gemeinschaft und kollektiver Identität. In der Forschung nicht ausreichend berücksichtigt ist hingegen u. a. die Frage welche Rolle ein konkreter Orts- und/oder Alltagsbezug für die Motivation der Bürger*innen spielt. Oben genannte Ansätze thematisieren zwar persönliche Betroffenheit als Partizipation begünstigenden Faktor, erläutern jedoch nicht, was genau darunter verstanden werden kann oder ob persönliche Betroffenheit mit einem lokalen Ortsbezug gleichzusetzen ist. In der folgenden Analyse sollen Betroffenheit, Ortsbezug, Alltagsbezug und auch exotische, ferne Themen entsprechend detaillierter als Motivationsfaktoren beschrieben werden. Diese und andere Themen werden von den Interview-Partner*innen angesprochen und sollten in der Forschung zu den Ursprüngen von und Motiven für Partizipation berücksichtigt werden.

5.3.1.2 […] in der Situation kam dann Tschernobyl, das war 86, ich war schwanger im dritten Monat […]“ – Individuelle Ursprünge von Engagement und persönliche Motivationen

Im Folgenden werden nun Ursprünge von und Motive für Engagement analysiert. Die Interview-Partner*innen wurden explizit gefragt, wo sie den Ursprung ihres Engagements sehen bzw. wo und warum sie sich das erste Mal für oder gegen etwas eingebracht haben. Die Frage zielte insb. auf Einflüsse und Inspiration in der Kindheit, Jugend oder dem frühen Erwachsenenalter ab. Im Gegensatz dazu beschreibt die Kategorie der Motive aktuelle Motivationen und den Antrieb für gegenwärtige Engagementpraktiken der Aktiven. Faktoren wie Spaß und Ortsbezug spielen häufig eine wichtige Rolle bzgl. der Motivation und werden deswegen als Kategorien unter der Rubrik Motive miteinbezogen.

Kategorie „Ursprung“

„Mein Vater war ein ziemlicher Naturbursche und der hat uns immer in die Natur mitgenommen […].“ (Olaf) – Naturverbundene Kindheit und Einfluss von Eltern und Großeltern

Die am häufigsten genannte und ausführlichsten beschriebene Unterkategorie in der Kategorie Ursprung stellen der Einfluss der Eltern, Großeltern und eine naturverbundene Kindheit dar. 13 oder 18 Interview-Partner*innen gaben im Gespräch an, dass sie in ihrer Kindheit stark durch die (Groß-)Eltern und deren Einstellung zu Natur, Umweltschutz oder Protest beeinflusst wurden. Stefanie und Isabelle haben in ihrer Kindheit bspw. viel Zeit draußen in der Natur verbracht – Urlaub, wandern, im Wald spielen – und dabei auch gelernt, dass man mit natürlichen Ressourcen sparsam umzugehen hat, Müll getrennt werden soll und Ähnliches: „Ich glaube, ich bin da so ein bisschen reingerutscht. Zum einen eher so ein bisschen irgendwie für Gesellschaft oder wo es hingeht oder wie die Gesellschaft funktioniert, dafür habe ich mich, glaube ich, schon früher interessiert, mit meinen Eltern auch drüber diskutiert und war vor allem auch als Kind schon immer sehr naturverbunden. Also viel im Wald gespielt und zuhause war auch klar, dass Wasser gespart und Müll getrennt wird, so die Basics.“ (Isabelle, Z. 79 ff.) Gespräche und Diskussionen mit den Eltern spielen dabei eine entscheidende Rolle und sind Isabelle als Einfluss im Gedächtnis geblieben. Stefanie wiederum grenzt ihre Eltern von „Ökos“, „Hippies“ und der „68er-Generation“ ab, sieht aber rückblickend trotzdem eine starke Naturverbundenheit in ihrer Kindheit. Zusätzlich zu den schon genannten Einflüssen, sieht sie auch einen Faktor in der Nähe zum Meer und dem Aufwachsen am Wasser.Footnote 79

Sarah ist in der Stadt nahe einer Bundesstraße aufgewachsen und hat Natur deswegen als etwas Bedrohtes empfunden. Ihre Großmutter hat ihr insb. die verschiedenen Vogelarten nähergebracht, worauf Sarah heute ihr Interesse an der Natur zurückführt: „Von der Kindheit her habe ich so das Gefühl mitgenommen, dass Natur bedrängt und bedroht ist. Und ich habe mich aber auch immer für Natur sehr interessiert. Da ein Schlüsselmoment sind so die ersten Vogelarten, die ich durch meine Oma gezeigt bekommen habe. Also Buchfink, Kohlmeise und so. […] dieses Naturkundliche, ich glaube das habe ich wirklich so von meiner Oma bekommen.“ (Sarah, Z. 121 ff.) Weil sich die Großmutter sehr für Pflanzen interessiert hat und dieses Interesse ihrer Enkelin weitergegeben hat, hat Sarah als Jugendliche angefangen, ein Herbarium anzulegen und später Biologie zu studieren. Auch Felix (Z. 40 ff.) wurde durch seinen Großvater inspiriert. Er erinnert sich heute an Erzählungen aus dem Zweiten Weltkrieg und daran, dass er immer viel gelesen und Dokumentationen angeschaut hat. Darauf führt Felix sein eigenes Interesse an Dokus und Geschichte zurück. Neben dem Großvater sieht Felix einen Ursprung seines Engagements auch in seinem Vater und dem täglichen Sehen der Tagesschau.

Die Eltern sind auch für Olaf, Kilian und Julia ein wichtiger Ursprung und Einfluss für ihren heutigen Aktivismus. Ähnlich wie Isabelle und Stefanie verbrachte auch Olaf in seiner Kindheit viel Zeit draußen, er hat mit dem Vater Wanderungen gemacht und sich Pflanzen und Tiere erklären lassen. „Mein Vater war ein ziemlicher Naturbursche und der hat uns immer in die Natur mitgenommen, Wanderungen gemacht und so. Der wusste sehr viel Bescheid so von Feld-, Wald- und Wiesenbiologie. Also, der kannte da jede Pflanze und jeden Käfer usw. Viel besser als ich eigentlich, obwohl ich ja Biologie studiert habe und er nicht. […] Auf jeden Fall hat er das auch uns eingeimpft sozusagen, also hat uns dafür auch wirklich begeistert.“ (Olaf, Z. 102 ff.) Gemeinsam mit seinem Vater ist Olaf auch beim BUND beigetreten und hat sich seitdem aktiv für den Naturschutz eingesetzt. Der Vater habe ihm das Spielen in der Natur „eingeimpft“ und Begeisterung für das Thema Naturschutz geweckt. Etwas politischer empfand Julia ihre Kindheit und den Einfluss der Eltern. Sie erzählt, dass sie „politisch sozialisiert“ worden sei, die Eltern selbst politisch aktiv waren und sie schon im Alter von ca. 15 Jahren zu Protestveranstaltungen wie einem Castor-Transport mitgenommen haben. Bei den Castor-Demos mit den Eltern und Freund*innen ist bei Julia das erste Mal der Wunsch aufgekommen, zivilen Ungehorsam zu leisten. Trotzdem blieb es bei ihr aber bisher bei der einfachen Demo-Teilnahme, ohne Blockade des Transportes.Footnote 80

Von den Eltern beeinflusst wurde auch Kilian – jedoch sowohl im positiven, als auch im negativen Sinne. Er beschreibt, wie nach der Trennung der Eltern, die Mutter Interesse am Thema Atomkraft entwickelt und sich neuen Input gesucht habe. Es war auch seine Mutter, die Kilian das erste Mal eine E-Mail von Campact weitergeleitet hat. Besonders „mitgerissen“ habe ihn das jedoch nicht. Andererseits sei sein Vater aber mit dem Ist-Zustand der Gesellschaft und Welt so zufrieden, dass Kilian sprachlos sei. Das Verhalten des Vaters scheint ihn wiederum mehr anzuspornen, Dinge in Frage zu stellen, anderen Menschen Sachverhalte zu erklären und Aufklärungsarbeit zu leisten: „Mein Vater ist rundum zufrieden mit der jetzigen Situation. Also, das war im April oder Mai, da hat er mich tatsächlich gefragt, ob wir Probleme haben in unserer Gesellschaft, weil ich immer so kritisch bin und immer so Sachen in Frage stelle und dann eigentlich Sachen ändern will und dann fragt er mich so, was denn jetzt eigentlich schlecht sei?! Und da war ich erstmal richtig sprachlos, weil ich gar nicht wusste, wo ich anfangen soll.“ (Kilian, Z. 205 ff.)

Die oben beschriebenen Einflüsse durch Eltern und Großeltern verdeutlichen Ergebnisse aus Teskes (2009) Untersuchungen, welcher als eines von drei Themen in seinen Involvement Stories sogenannte ‚lebenslange Verpflichtungen‘ nennt. Dabei beschreibt er eine Kontinuität in der Identität des Individuums und ein lebenslanges Beibehalten persönlicher Werte, basierend auf Einflüssen der Eltern und Großeltern. Diese Personen prägen das Individuum in einer frühen Phase des Lebens bzgl. des Engagements und diese Verhaltensweisen werden oft den Rest des Lebens beibehalten. Der durch die Interview-Partner*innen beschriebene Einfluss von Eltern deckt sich auch mit McAdams (1999: 130 f.) Forschungsergebnissen. Diese belegen einen starken Effekt zwischen einer links-liberalen Mutter und späteren Abweichungen im Lebenslauf, wie bspw. kinderlos oder unverheiratet zu bleiben. Das könnte z. B. daran liegen, dass eine solche Mutter ihren Kindern Werte wie Unabhängigkeit und ihre Verantwortung für die Ausgestaltung der Gesellschaft vermittelt. Die Eigenschaften kinderlos und/oder unverheiratet zu bleiben, zeichnen Aktivist*innen im links-liberalen progressiven Spektrum öfter aus als nicht-engagierte Bürger*innen. Diese These trifft sowohl bei Sarah als auch bei Olaf zu: Beide sind kinderlos und stark engagiert, beide wurden von Großmutter und Vater früh in ihrer Einstellung zur Natur geprägt.

„Und wir hatten politisch engagierte Lehrer, auch eher linksorientiert.“ (Sonja) – Engagierte und motivierende Lehrkräfte in der Schule

Ein zweiter wichtiger Einfluss neben den Eltern und Großeltern, sind Lehrkräfte und die Schule. (Politisch-)engagierte Lehrkräfte oder Schulausflüge haben fünf der Interview-Partner*innen so sehr geprägt, dass sie sie heute als Ursprung für ihr persönliches Engagement angeben. Sonja erzählt, ein gutes sozialwissenschaftliches Gymnasium besucht zu haben und fühlt sich insb. von ihrer ehemaligen Englischlehrerin inspiriert. Und auch andere Fachlehrer haben laut Sonja Diskussionen über Politik gefördert: „Und wir hatten politisch engagierte Lehrer, auch eher links orientiert. Das war vor dem Radikalenerlass, sind die schon eingestellt worden. Und die haben uns schon Anregungen gegeben. Also, ich denke vor allem auch an meine Englischlehrerin, die sich viel mit Bürgerrechten beschäftigt hat und uns immer eigene Texte gebracht hat und nicht mit dem Lehrbuch gearbeitet und man hat halt einfach das persönliche Engagement gemerkt. Und auch bei anderen Lehrern war es eigentlich auch so, in Sozialkunde und Geschichte usw. Also, von daher war es irgendwie natürlich, dass wir auch über Politik geredet haben, damals schon, und uns dafür interessiert haben.“ (Sonja, Z. 184 ff.) Auch Daniela wurde nach eigenen Angaben von SPD-nahen Lehrer*innen unterrichtet, die aus der 68er-Szene kamen: „Wir haben auch immer Lehrer gehabt, die aus diesem SPD-Bereich kamen, also die sehr engagiert waren, die eben aus dieser 68er-Szene kamen. Und die uns auch voll unterstützt haben, mit unserem politischen Engagement. Politik war ja in der Schule ein Fach, Sozialkunde. Und da habe ich immer eine Eins gehabt. Und das war so, dass wir sehr gefördert worden sind.“ (Daniela, Z. 93 ff.) Diese Lehrer*innen haben nicht nur im Unterricht viel Engagement gezeigt, sondern auch das politische Engagement der Schüler*innen gefördert. Dass Daniela in Sozialkunde immer eine Eins hatte, diente ihr als positive Verstärkung und hat ihr Interesse an Politik und Gesellschaft seit der Schule gefördert.

Auch Markus und FelixFootnote 81 nennen jeweils ihren Geschichts- bzw. PoWi-Lehrer als Ursprung für ihr heutiges Engagement. Gute Erklärungen des Nationalsozialismus, spannender Geschichtsunterricht und Diskussionen im Elternhaus waren für beide Auslöser für bzw. Wurzeln von Aktivismus: „Das hängt auch mit der Schule zusammen. Also wir hatten einen sehr guten Geschichtslehrer, der uns den Nationalsozialismus sehr gut erklärt hat. Und dann gab es auch Diskussionen im Elternhaus. Das waren wahrscheinlich die Auslöser.“ (Markus, Z. 94 ff.) Isabelle (Z. 84 ff.) wiederum wurde von einem Schulprojekt in Zusammenarbeit mit der GIZ inspiriert. Das Thema Biodiversität in China und das Vorbereiten von Plakaten für eine Ausstellung haben sie dazu angeregt, Umweltwissenschaften zu studieren.

Die hier beschriebenen Untersuchungsergebnisse verdeutlichen den auch von Teske (2009) beschriebenen wichtigen Einfluss von Eltern, Großeltern und anderen Erwachsenen wie bspw. Lehrer*innen. Diese Personen tragen in der Kindheit und Jugend der Bürger*innen dazu bei, dass sich Wertvorstellungen festigen und sich das Gefühl einer „lebenslangen Verpflichtung“ etabliert. Positive Verstärkungen wie gute Noten in entsprechend relevanten Fächern, können zu dieser Entwicklung ebenfalls beitragen.

„Zu viele Autos, zu wenig Bäume, zu viel Krach.“ (Sarah) – In der Stadt aufwachsen und Natur als etwas Bedrohtes wahrnehmen

Wie schon erwähnt, ist Sarah mitten in der Stadt aufgewachsen und hat Pflanzen und Tiere immer als etwas Besonderes angesehen. Für sie gab es zu wenig Grün und sie hat Natur als etwas Schützenswertes und Bedrohtes empfunden. „Also, ich bin aufgewachsen an der B1, das ist da ja der Ruhrschnellweg. Also das ist quasi wie eine Autobahn durch die Stadt. Und das war für mich auch immer so was ... also: Zu viele Autos, zu wenig Bäume, zu viel Krach. So das. Also, wir haben auch einen schönen Park in der Nähe gehabt und das war eigentlich so mein zweites Zuhause. Wenn das Wetter war, dann waren wir halt da draußen. Und das war für mich so ein ganz starkes Moment, Natur schützen, erhalten zu wollen, der mehr Raum zu geben.“ (Sarah, Z. 125 ff.) Ein Ursprung ihres Umweltschutzes liegt für Sarah im Aufwachsen im Stadtzentrum und dem Fehlen von ausreichenden Grünflächen und Ruhe. Ähnlich hat es auch Sonja erlebt, die in München nicht mit dem Verkehr und fehlendem Grün zurechtkam und beschreibt, dass ihr das Großstadtleben deswegen „zuwider“ war.Footnote 82

Sarahs Beschreibungen lassen sich der ersten Kategorie der vier verschiedenen Formen von Emotionen und Affekten bei Goodwin/Jasper/Polletta (2004: 416 ff.) zuordnen: „reflex emotions“. Die Autoren nennen als Beispiele für diese Affekte u. a. Angst, Wut, Ekel, Freude oder Trauer. Sarah beschreibt ihre Angst um Natur, welche sie als etwas Bedrohtes empfindet. In Konsequenz will sie Natur beschützen und ihr auch in der Stadt mehr Raum geben. Ähnlich beschreibt auch Sonja ihre Abneigung gegenüber Abgasen, Lärm und Smog, welche für sie das Bild von München geprägt haben. Aufbauend auf diese Gefühle von Angst und Ekel beschreibt der Begriff der „Instrumentalität“ bei Klandermans (2004: 361 ff.), dass Individuen partizipieren, weil sie ihre Lebensumstände verändern wollen. Durch das Empfinden von Ungerechtigkeit, Mangel und Empörung in Bezug auf Natur sind auch Sarah und Sonja dazu motiviert, sich in der Umweltschutz-Bewegung zu engagieren. Sie sind unzufrieden und wollen durch ihre Aktivitäten Wandeln bewirken.

„[…] mein ursprüngliches Engagement kommt eigentlich so vom Naturschutz.“ (Sarah) – Ursprung des Engagements liegt im Naturschutz und dem Vorhaben, die Umwelt zu retten

Sarah und Olaf sehen einen Ursprung für ihr Engagement explizit im Naturschutz und dem Wunsch, die Umwelt retten zu wollen. Wie schon beschrieben hat Sarah in ihrer Kindheit Natur als etwas Bedrohtes wahrgenommen und daraus ihr Interesse für Natur und ihren Schutz entwickelt. Der Wunsch, die Umwelt zu retten, hat sie ursprünglich motiviert und zum Biologiestudium gebracht. „Also mein ursprüngliches Engagement kommt eigentlich so vom Naturschutz. Von der Kindheit her habe ich so das Gefühl mitgenommen, dass Natur bedrängt und bedroht ist. Und ich habe mich aber auch immer für Natur sehr interessiert. […] Und habe dann deswegen auch angefangen Biologie zu studieren. Also, ich hatte schon so die Vorstellung eigentlich, weiß ich gar nicht, was ich für eine Vorstellung hatte ... Ob ich mit nem weißen Kittel im Labor stehe. Ich wollte aber auf jeden Fall die Umwelt retten.“ (Sarah, Z. 121 ff.) Ihr weiteres Engagement gehe immer auf diesen Ursprungsmoment des Naturschutzes zurück, erzählt sie. Ähnlich beschreibt es Olaf, der seinen Vater zum BUND begleitete und mit ihm über das Thema Fluglärm einstieg, eigentlich jedoch mehr am Thema Naturschutz interessiert war. „Ja, das war eigentlich mein Vater, dem das am Herzen lag. Klar mir auch, weil das nervt. Wir haben ja in Schwanheim gewohnt. Da war das damals auch recht laut. Aber bei mir ging‘s eher allgemein um Naturschutz, also ich fand das halt interessant, was die machen: Kröten- und Amphibienschutz, was weiß ich, Schwanheimer Düne als Naturschutzgebiet pflegen und so ein Zeug.“ (Olaf, Z. 125 ff.)

Auch für diese Kategorie lässt sich ein Bezug zu Goodwin/Jasper/Polletta (2004) und Klandermans (2004) herstellen. Olaf hat ebenso wie Sonja und Sarah schon in der Kindheit Natur als etwas Schützenswertes empfunden. Sarah beschreibt frühe Ambitionen, ihre Lebensumstände und das Umfeld zum Positiven verändern zu wollen. Durch ein Biologiestudium sieht sie sich in der Lage, Einfluss auf die Situation nehmen zu können und sie zu lohnenden Kosten verändern zu können (vgl. Klandermans 2004: 361 ff.). Basierend auf der Wahrnehmung, dass Natur in Gefahr ist – welches bei einigen Interview-Partner*innen als Auslöser für Engagement beschrieben wird – entsteht auch längerfristig die grundsätzliche Motivation für Aktivismus, die Lebensgrundlage der Menschen erhalten zu wollen. Dieser Aspekt wird im Anschluss unter dem Stichwort ‚Motive‘ detaillierter untersucht.

„[…] in der Situation kam dann Tschernobyl, das war 86, ich war schwanger im dritten Monat [...].“ (Sonja) – Tschernobyl und Schwangerschaft

Die nächsten zwei Kategorien lassen sich recht deutlich jeweils einem Geschlecht zuordnen. Bei den Frauen spielten in drei Fällen eine Schwangerschaft bzw. eine Schwangerschaft während der Tschernobyl-Katastrophe eine wichtige Rolle bei der Politisierung und Entwicklung des persönlichen Engagements. Bei den Männern wiederum wurde zwei Mal der Vietnamkrieg als Ursprung einer Politisierung genannt.

Sonja beschreibt eindrücklich Ängste und Herausforderungen, denen sie und ihr Mann ausgesetzt waren, nachdem sie 1986 in ihrer Schwangerschaft die Tschernobyl-Katastrophe erlebte. Stark verunsichert wusste sie nicht, was sie dem Kind zu essen geben könne und auch die mit ihrem Mann gemeinsam aufgebaute Landwirtschaft war durch den Nuklearunfall größtenteils zerstört: „Und dann in der Situation kam dann Tschernobyl, das war 86. Ich war schwanger im dritten Monat und wir waren gerade aufs Land gezogen, haben Landwirtschaft gemacht, mit Kühen und haben Heu gemacht usw. und das war dann verstrahlt. Also, das war so ein richtiger Schlag in die Magengrube. Also, das so zu erleben und dann ist das erste Kind unterwegs und man hat Angst, was soll man dem Kind überhaupt für Nahrung geben. Und ich glaube, das ist auch eine Erfahrung, die uns jetzt verbindet. Also, in dem Kreis, in dem ich jetzt bin. Die Hilde und die Brigitte, die haben beide auch zu der Zeit ihr erstes Kind bekommen. Also, das ist schon eine prägende Erfahrung gewesen.“ (Sonja, Z. 214 ff.) Die Erfahrung einer Schwangerschaft während Tschernobyl teilt Sonja mit einigen anderen Frauen in ihrer heutigen Gruppe. Wie sie dies zusammenbringt, wird in Abschnitt 5.3.2 „Kollektive Identität und Mitgliedschaft“ genauer untersucht. Auch Helena beschreibt ihre Schwangerschaft bzw. das Kinderkriegen unabhängig von Tschernobyl als politisierenden Wendepunkt ihres Lebens. Gleiches kann sie auch in ihrem Umfeld beobachten. Während sie für ihr Öko-Essen zuerst belächelt wurde, findet sie nach dem Kinderkriegen hingegen sofort Nachahmer*innen: „Ich bin, glaube ich, der unpolitischste Mensch auf der Welt gewesen. Ja, das ist einfach richtig heftig. Ich glaube, ich bin durch meine Kinder dahin. Ich sehe das auch ganz oft in meinem Kollegenkreis, in meinem Bekanntenkreis: Die sind alle…, keine Ahnung, haben sonst welche Prioritäten, lachen mich aus, weil ich mit meinem Öko-Essen usw. und die sind schwanger und kriegen Kinder und schon kaufen sie Bio-Nahrung.“ (Helena, Z. 100 ff.) Bei sich selbst und bei Bekannten hat Helena beobachtet, dass durch eigene Kinder ein erhöhtes Bewusstsein für Bio-Nahrung oder die generelle Zukunftsgestaltung eingesetzt hat.

Sonjas emotionale Beschreibung ihrer Schwangerschaft während der Tschernobyl-Katastrophe und die daraus folgenden offenen Fragen lassen sich mit Jaspers (2011: 289) Begriff des „moral shock“ konzeptualisieren. Dieser verwendet den Begriff für einen Aha-Moment und ein daraus folgendes Gefühl, welches aus einem Ereignis resultiert und dem Individuum zeigt, dass die Welt nicht (mehr) das ist, was sie vorher war. Es entsteht ein Überdenken der eigenen Prinzipien und des eigenen Handelns. Dies trifft auch auf das Umfeld von Helena zu, die beobachtet hat, wie Frauen durch ihre Schwangerschaft und das Kinderkriegen ihre Einstellung zu ökologischem Essen von Grund auf verändern. Teske (2009: 55) nennt dieses Phänomen eine „moralische Entdeckung“, welche bspw. durch einen Film, ein Buch oder auch durch einen Krieg oder persönliche Betroffenheit ausgelöst werden kann. In seiner Forschung beobachtete auch Teske (ebd.), dass ein solcher Sinneswandel durch eigene Kinder und die Sorge um dessen Zukunft ausgelöst werden kann. Han (2009: 92 ff.) bezeichnet dies wiederum als „Trigger Moment“, welcher Politik personalisiert.

„[…] diese Brutalitäten, die sich da in Vietnam entwickelten, als ich das so richtig anschaulich hatte, das hat bei mir auch zu einer Radikalisierung und Politisierung geführt.“ (Günter) – Vietnam-Krieg als Ursprungsmoment

Günter beschreibt eine Politisierung und Radikalisierung durch den Vietnam-Krieg und die Bilder davon, die sich aus dieser Zeit bei ihm eingebrannt haben: „Bei mir eindeutig aus dem Vietnamkrieg. Ich war damals bei der Bundeswehr, also ich war vorher auch schon immer politisch interessiert. Ich war auch in der Schule in so einer politischen Arbeitsgruppe, das gab es ja auch, dass du dann in der Oberstufe die Möglichkeit hast, Politik-Abi zu machen. Also, diese Brutalitäten, die sich da in Vietnam entwickelten, als ich das so richtig anschaulich hatte, das hat bei mir auch zu einer Radikalisierung und Politisierung geführt. Also auch radikal.“ (Günter, Z. 198 ff.) In Heidelberg, wo Günter zu Studienzeiten gewohnt hat, hat er sich daraufhin in einer Gruppe eingebracht, an Demonstrationen und anderen Straßenveranstaltungen teilgenommen, sich aber bei gewalttätigen Ausschreitungen zurück-gehalten.Footnote 83 Auch Markus nennt im Interview auf die Frage nach den Ursprüngen seines Engagements neben anderen Themen den Vietnamkrieg: „Bildungsmisere, Vietnamkrieg, Atomenergie, die kam dann erst später – gegen die Atomenergie – und dann natürlich auch Entwicklungshilfe beim DED.“ (Markus, Z. 86 ff.)

Für die von Günter und Markus genannten Ursprungsmomente gelten ähnlich der vorherigen Kategorie die gleichen theoretischen Bezüge. Auch hier lassen sich persönliche Betroffenheit und der Krieg als moralische Entdeckungen und „moral shock“ (Jasper 2011: 289) konzeptualisieren. Beide Männer beschreiben sehr persönliche Trigger-Momente der Politisierung und Radikalisierung u. a. durch den Vietnamkrieg.

„[…] bevor die Kinder kamen, war ich gegen die WAA aktiv.“ (Sonja) – Einfluss aus früheren Sozialen Bewegungen und früherem Aktivismus

Besonders die Interview-Partner*innen 50+ sind häufig durch frühere Soziale Bewegungen inspiriert worden. Die Anti-AKW-Bewegung der 1980er Jahre, die Friedensbewegung und die Bildungsmisere wurden von sechs Gesprächspartner*innen als ursprüngliche Einflussfaktoren für ihr heutiges Engagement genannt.

Sybille und Valeria haben in den 1980er Jahren über die Anti-AKW-Bewegung Zugang zum Aktivismus gefunden. Valeria befand sich damals in einem Umfeld, in dem sich mehr und mehr Personen in Bewegung gesetzt haben und gegen AKW aktiv wurden. Damit entwickelte sich auch bei ihr ein Bewusstsein dafür, dass sie nicht nur Zuschauerin bleiben, sondern aktiv werden wollte: „Ich bin erst wieder in solche Kreise, als ich in Süddeutschland mit meinen Kleinkindern lebte, mit diesen ganzen Anti-AKW-Bewegungen. Da hab ich das in meinem Umkreis mitgekriegt, dass Menschen sich in Bewegung setzen. Und vornehmlich auch Frauen, sich da vor die Atomlager gestellt haben, mit den Soldaten gesprochen haben. Und das fing dann so an in mir dieses Bewusstsein zu entwickeln: Ja, wir sind eigentlich auch da, um etwas zu machen, um aktiv zu sein und nicht immer nur Zuschauer im Leben […].“ (Valeria, Z. 288 ff.) Auch Sybille nahm in ihrem Umfeld eine Veränderung war, es wurden Bürgerinitiativen gegründet und bei ihr selbst kam der Wunsch nach Aktivismus auf: „Und es ist eigentlich, ich denke, mit dieser Kernkraftwerk/Anti-Atom-Bewegung. Da haben sich eben viele Bürgerinitiativen gegründet und da wurde der Wunsch immer stärker, dass ich dabei sein wollte.“ (Sybille, Z. 89 ff.) Sonja wiederum fand ihren Weg zum Aktivismus über die Wiederaufbereitungsanlagen (WAA) und die Grünen. So hat sie in den 1980er Jahren schon einige Zeit im Hüttendorf verbracht, sich gegen WAA eingesetzt und ganz generell gegen Atomkraftwerke. Ihr Aktivismus sei dann für einen bestimmten Zeitraum eingeschlafen, in dieser Phase gründete sie auch ihre Familie, und sei später wieder neu aufgeblüht.Footnote 84

Neben der Anti-AKW-Bewegung war Sonja, ebenso wie Günter, auch in der Friedensbewegung aktiv. Dort habe sie ihre Gruppe sehr geprägt, u. a. mit Übungen des zivilen Widerstands: „Ich habe da ja noch was ganz Wichtiges ausgelassen, nämlich die Friedensbewegung! Die war ja damals auch und da war ich auch aktiv. Und war in so einer Bezugsgruppe und wir wollten da bei Neu-Ulm blockieren, die Pershing-Raketen. […] Und diese Gruppe hat mich ja auch mitgeprägt. Da ging es halt auch um gewaltlosen Widerstand, wir haben dann so Übungen gemacht, wie man sich wegtragen lässt und dass man halt in der Gruppe immer zusammen bleibt, aufeinander aufpasst, dass man nur im Konsens etwas macht und solche Dinge.“ (Sonja, Z. 233 ff.) Insbesondere die Demo im Bonner Hofgarten ist Sonja gut im Gedächtnis geblieben. Die Menschenmassen haben bei ihr bleibenden Eindruck hinterlassen.Footnote 85 Auch Günter kann sich noch an die Ostermärsche erinnern, auf die er als Schüler schon gefahren ist: „Ja also, zu der Zeit waren ja auch die Ostermärsche, die waren wichtig. Also, da weiß ich noch, da bin ich schon als Schüler hingefahren. Das waren so diese Anti-Atom, da ging es ja auch um die Aufrüstung der Bundeswehr und als ich bei der Bundeswehr war, da war damals die Krise in Prag, wo mobilisiert wurde.“ (Günter, Z. 233 ff.) Hier mischen sich argumentativ Anti-AKW und Friedensbewegung mit dem Aspekt der eigenen Betroffenheit. Günter war in der Bundeswehr und hätte zum Auslandseinsatz geschickt werden können. Dieser Aspekt wird im Anschluss ausführlicher thematisiert.

Markus fasst die verschiedenen Bereiche noch einmal zusammen. Auch er war bereits in verschiedenen Bewegungen engagiert: „Ja, schon immer, schon immer. Also ich habe in der Jugend schon Zeitung gelesen und Leserbriefe geschrieben. Und dann natürlich als 68er die ganze Bewegung gegen Vietnamkrieg und gegen die Bildungsmisere damals. ‚Muff unter den Talaren‘ […] Bildungsmisere, Vietnamkrieg, Atomenergie, die kam dann erst später – gegen die Atomenergie – und dann natürlich auch Entwicklungshilfe beim DED – das war ja auch nicht zum viel Geld verdienen, sondern das war ja auch ein Freiwilligendienst. Also, das war ja dann auch politisch.“ (Markus, Z. 83 ff.)

Die Protest-Erfahrungen der Interview-Partner*innen aus den 1980er Jahren bilden bis heute eine Grundlage für ihren Aktivismus. Dieses Ergebnis deckt sich mit den Untersuchungen von McAdam (1989: 751 ff.), der in seiner Studie zum Mississippi Freedom Summer Project aufzeigte, wie Aktivismus in den 1960er Jahren Engagement in den 1980er Jahren beeinflusste. Ähnliches lässt sich auch für die gegenwärtig Aktiven der Umweltschutz-Bewegung feststellen, die – wenn es das jeweilige Alter zulässt – oft schon in der Anti-AKW-Bewegung der 1980er Jahre partizipierten. Die sechs oben zitierten Interview-Partner*innen nannten als ursprüngliche Einflussfaktoren für ihr heutiges Engagement u. a. die Anti-AKW-Bewegung, die Friedensbewegung und die Bildungsmisere. In Einklang damit steht auch eines der drei von Teske (2009) genannten Hauptthemen seiner „Involvement Stories“: Die lebenslange Verpflichtung. Hierbei herrscht eine Kontinuität in der Identität des Individuums vor, ein Beibehalten bestimmter Werte, oft schon seit der Kindheit oder Jugend. In den hier beschriebenen Fällen, kann eine Kontinuität der Wertvorstellungen in Bezug auf Umwelt und Natur für teilweise bereits 35 bis 40 Jahre beobachtet werden.

Die Hausbesetzer-Szene ist ein weiterer Ursprungsmoment, in dem zwei der Interview-Partner*innen eine frühe Prägung ihres Engagements sehen. Sarah kam zu Studienzeiten mehr zufällig als geplant mit der Szene in Berührung, als sie in eine WG einzog, in der ihr und ihren Mitbewohnerinnen nach nur zwei Monaten unrechtmäßig gekündigt wurde. Für ihr Verständnis kam damit die Auseinandersetzung mit politischen Themen verhältnismäßig spät, vorher habe sie sich nicht besonders für Politik oder auch die Friedensdemos der 1980er interessiert. „Und dann hat sich das aber durch die besondere Situation ergeben, die sich halt hier in Gießen ergeben hat. Dass ich in Kontakt, in Berührung mit der Hausbesetzer-Szene gekommen bin. Und das war eigentlich auch ein Zufall. Ich bin halt in eine WG gezogen in einem Haus. Das waren drei Wohnungen und ich war da zwei Monate und dann sind wir gekündigt worden. Und der Kündigungsgrund war aber nichtig. […] Und die sollten halt bei uns auch drum herum alles abreißen. Und dann wir schon: ‚Oh oh.‘ Und dann haben wir halt angefangen, Autos rund um das Haus zu stellen. Quasi nochmal so eine Pufferzone zu machen. […] Die Hausbesetzer haben sich nicht raus getraut, weil es war ja Presse da und sie hätten fotografiert werden können. Also haben wir Mädels, wir waren oben nämlich ne Frauen-WG, und vor das Gartenhäuschen gestellt, vor die Baggerschaufel und haben versucht, dieses Gartenhäuschen zu retten. Haben wir natürlich nicht geschafft. Und das waren aber so Sachen, die... – sage ich mal Politisierung. Also, ist das richtig? Aber das schafft natürlich ganz viel emotionale Aufregung und man ist dann auch irgendwie so zusammengeschweißt.“ (Sarah, Z. 187 ff.) In ihren Erzählungen unterscheidet Sarah zwischen den „Hausbesetzern“ und ihrer WG als „wir Mädels“, wobei beide Wohneinheiten im gleichen Haus unter Besetzungsumständen wohnten. Jedoch sei die andere Gruppe politischer gewesen und sie selbst mehr zufällig in der Situation. Nichtsdestotrotz hat aber auch Sarah mit konkretem physischem Widerstand versucht, die Bagger am Abriss des Gartenhäuschens zu hindern und dabei trotz einer Niederlage erlebt, wie solch eine Protestaktion die Aktiven zusammenschweißt. Dieser Aspekt wird ausführlich in Abschnitt 5.3.2 „Kollektive Identität und Mitgliedschaft“ untersucht. Nachdem Sarah zuvor kein Interesse an Politik hatte, hat sie durch den „zufälligen“ Kontakt mit der Hausbesetzer-Szene und durch persönliche Betroffenheit eine Politisierung erlebt, die sie bis heute prägt. Seit dieser Erfahrung engagiert sich Sarah vielseitig, sowohl lokal in ihrer Stadt als auch darüber hinaus hessenweit für die BUNDjugend.

Auch Mareike hat sich über die SDAJ in der Hausbesetzer-Szene eingebracht und als Jugendliche versucht, verschiedene Abrisse und Neubauten zu verhindern.Footnote 86 Ausbleibende Erfolgserlebnisse haben aber auch sie nicht von zukünftigem Engagement abgehalten. Neben Vereinsarbeit bspw. im Bereich Schutz für Missbrauchsofer, engagiert und vernetzt sich Mareike mittlerweile jedoch größtenteils online.

Auch die von Sarah und Mareike beschriebenen Erfahrungen aus der Hausbesetzer-Szene als Ursprungsmomente des persönlichen Engagements decken sich mit McAdams (1989) und Teskes (2009) Ergebnissen zu den Einflüssen früheren Aktivismus und über Jahrzehnte konstanten Wertvorstellungen. Insbesondere im Fall von Sarah stellten diese Erfahrungen den ersten Berührungspunkt mit politischen Aktivitäten dar und prägen Sarahs Einstellung zu Engagement bis heute.

„[…] da gab es zu Weihnachten ein Hüttendorf, das war 85, da bin ich durch die Grünen hingekommen.“ (Sonja) – Parteien als Einstieg in den Aktivismus

Neben anderen Sozialen Bewegungen spielten für Sonja, Mareike und Daniela auch Parteien bzw. Jugendorganisationen von Parteien eine Rolle bei der Entwicklung von erstem Aktivismus. Sonja trat den Grünen bei und wurde daraufhin auf die WAA aufmerksam. Ihr intensives Engagement im Hüttendorf und in der AWK-Bewegung habe sich durch die Parteiarbeit bei den Grünen intensiviert, als Konsequenz habe sich aber auch ihr Blick auf Politik verändert und desillusioniert – Politiker*innen würden mit Gewalt „verbrecherische Projekte“ durchsetzen: „[…] so mit 23 bin ich dann zu den Grünen gekommen. Da war halt gerade Wahl und wir haben eine Wahlveranstaltung besucht und dann bin ich halt beigetreten. Und dadurch hat sich das dann alles vertieft, auch das Anti-AKW Engagement und vor allem gegen die WAA. Und das war halt auch – ich sage immer – wir wurden da sehr desillusioniert in Bezug auf die Politiker, die das Sagen haben. Und haben einfach gemerkt, dass die verbrecherische Projekte mit Gewalt durchpeitschen wollen, mit Polizeigewalt. Und dieses Misstrauen ist geblieben.“ (Sonja, Z. 204 ff.) Ihre Erfahrungen aus dieser Zeit und auch das damals entwickelte Misstrauen habe sie sich beibehalten, erzählt Sonja. Wie im vorangegangenen Unterkapitel beschrieben, fodert Sonja deshalb auch mehr direktdemokratische Elemente und dass Politiker*innen ihre Entscheidungen wieder stärker am Willen der Bürger*innen zu orientieren hätten. Sonjas Protesterfahrungen inkl. Gewaltanwendung der Polizei prägen bis heute ihr Politik- und Bürgerschaftsverständnis.

Mareike und Daniela wurden wiederum zu Jugendzeiten von der Mutter in den Urlaub mit der DKP-Jugendgruppe geschickt oder sind im Jugendzentrum mit Jugend-Sozialisten-Einfluss aufgewachsen. Die Anfänge ihres politischen Interesses sieht Mareike in den Urlauben mit den Jungen Pionieren. Ihre Mutter schickte sie – auch aus finanziellen Gründen – mit der Jugendgruppe der DKP in Feriencamps und zu Exkursionen nach Buchenwald oder Auschwitz.Footnote 87 Für Mareike war es etwas typisch Ostdeutsches, „politisch mit eingebunden“ zu werden, schon früh Konzentrationslager zu besuchen und mit der deutschen Vergangenheit konfrontiert zu werden. Daniela wiederum beschreibt in ihrer Jugend viel Zeit in Jugendzentren verbracht und diese mit aufgebaut zu haben. Sie sei „schon immer“ – damals wie heute – ein Rebell gewesen und von zuhause aus sehr mit einem sozialen Bewusstsein geprägt worden: „Angefangen in der Politik bin ich mit 14 Jahren. Bei der damaligen Jugend-So, Jugend-Sozialisten. Habe ich viele Jugendzentren mit aufgebaut, also war schon immer ein Rebell. Auch schon in der Schule, ob das jetzt Klassensprecher ist oder sonstiges, von zuhause aus mit einem sehr sozialen Bewusstsein geprägt.“ (Daniela, Z. 47 ff.)

Die Beschreibungen von Sonja, Mareike und Daniela stimmen mit dem CVM von Verba/Schlozman/Brady (1995: 348) überein, welches besagt, dass eine hohe Identifikation mit einer Partei zivilgesellschaftliches Engagement wahrscheinlicher macht. Alle drei haben in ihrer Jugend oder im jungen Erwachsenenalter erste Berührungspunkte mit politischen Parteien gehabt und u. a. damit den Grundstein für ihr späteres zivilgesellschaftliches Engagement gelegt.

„Es hätte ja auch jederzeit der Befehl kommen können: ‚Jetzt ausrücken.‘“ (Günter) – Persönliche Betroffenheit als Ursprungsmoment

Ein wichtiger Aspekt für die Motive von aktuellem Engagement, aber auch für den Ursprung von Engagementbereitschaft generell liegt in der eigenen Betroffenheit. Das kann wie in Frankfurt am Main mit der Startbahn-West des Flughafens praktische Gründe haben, aber auch biografische, wie die Fluchterfahrung der Eltern oder des Mannes, bis hin zu persönlichen und emotionalen Gründen, wie Missbrauchsopfer zu sein oder von einem möglichen Auslandseinsatz der Bundeswehr bedroht zu sein.

Sven hat – generell und auch innerhalb des BUND – das Thema Lärm bzw. Lärmbelästigung als Schwerpunkt. Er erzählt, schon zu Studienzeiten gegen die Startbahn 18 West aktiv gewesen zu sein und später gegen die Landebahn Nord-West, da über seinem Wohnort spätestens ab fünf Uhr in der Früh die Flugzeuge über den Himmel dröhnen. Er selbst nennt es „politische Aktivität in Anführungszeichen“, bringt sich aber innerhalb des BUND auch mit vielen anderen lokalen Projekten für Lärmschutz ein.Footnote 88

Sybille führt den Ursprung ihres Engagements insb. auf biografische Erlebnisse zurück. Sie bezieht sich dabei auf die Hirnforschung und frühkindliche Prägungen. Ihre Eltern hätten als Flüchtlinge immer einen Sonderstatus gehabt und schon damals habe sie erfahren, was Ungerechtigkeit und Not bedeuten. „[…] wir werden sehr früh geprägt und wir nehmen auf, was wir – das sage ich aus der Biologie- und Hirnforschung – was wir um uns herum wahrnehmen, und zwar die Regeln, die dahinter stehen. Also nicht unbedingt, was uns gesagt wird, sondern das, was wir wahrnehmen und was der gemeinsame Nenner ist von dem, was wir wahrnehmen. Und in meiner Familie, mit meinen Eltern als Flüchtlingen, die hatten schon einen Sonderstatus, also ich habe als kleines Kind schon ihre Not erlebt und diese Ungerechtigkeit.“ (Sybille, Z. 47 ff.) Als Konsequenz aus dieser Not, habe sie bei den Eltern beobachtet, wie man mit dem Nötigsten leben könne und sich dabei vor allem auch die Natur zunutze machen kann. Darüber habe sie den Zugang zu (Heil-)Kräutern und Natur erhalten. Auch Mareike (Z. 262 ff.) kam mit einer Fluchterfahrung in Berührung, die ihren Gerechtigkeitssinn geprägt hat. Ihr Ex-Mann sei von Ghana nach Deutschland geflüchtet und sie habe daraufhin ihm und anderen Geflüchteten bei Amtsgängen, beim Dolmetscher und anderem geholfen.

Ein Themenbereich unabhängig vom Umweltschutz, in dem sich Mareike auch engagiert, ist die Missbrauchshilfe. Hier resultiert ihr Aktivismus aus der eigenen Betroffenheit in Form einer eigenen Missbrauchserfahrung, wie sie im Interview geschildert hat. „Dass die Leute nicht mehr weggucken, sondern eben auch wenn sie mitkriegen, dass da so was ist, auch erst mal Bescheid sagen und eben die Augen geöffnet werden. Ich bin selbst betroffen, als Kind hat mich so ein Nachbar missbraucht. Und von daher finde ich schon wichtig – ich denke, das hätte man einfach auch sehen müssen. So die Leute drum herum. Weil, warum nimmt so ein alter Opa so ein Kind mit in die Wohnung?“ (Mareike, Z. 67 ff.) Sie appelliert an mehr Aufmerksamkeit für Mitmenschen und ein fürsorglicheres Miteinander.

Günters persönliche Betroffenheit bezieht sich, wie bereits thematisiert, auf einen drohenden Auslandseinsatz der Bundeswehr im Vietnamkrieg. Er war zu einer Zeit bei der Bundeswehr, als es um die Aufrüstung der Bundeswehr ging und zur Pragkrise mobilisiert wurde. Er selbst sah sich dementsprechend mit „diesen Weltfragen konfrontiert“ und befürchtete den Befehl, ausrücken zu müssen: „Ja also, zu der Zeit waren ja auch die Ostermärsche, die waren wichtig. Also, da weiß ich noch, da bin ich schon als Schüler hingefahren. Das waren so diese Anti-Atom, da ging es ja auch um die Aufrüstung der Bundeswehr und als ich bei der Bundeswehr war, da war damals die Krise in Prag, wo mobilisiert wurde. Also, da war Alarm. Das heißt, als Soldat in dieser Wehrdienstzeit war ich auch mit diesen Weltfragen konfrontiert. Es hätte ja auch jederzeit der Befehl kommen können: ‚Jetzt ausrücken.‘“ (Günter, Z. 233 ff.)

Auch an dieser Stelle bietet sich ein Bezug auf eines der drei Hauptthemen von Teskes (2009: 27 ff.) Involvement Stories an. Bei den sogenannten ‚moralischen Entdeckungen‘ wirken externe Faktoren auf das Individuum ein. Der Punkt des Bewusstwerdens über eine Unmoral in der Welt gilt hierbei als Wendepunkt hin zum Aktivismus. Diese Erfahrung war bei Günther eine Konfrontation mit dem Krieg, bei Mareike eine Missbrauchserfahrung und bei Sybille die Kindheit als Flüchtlingskind. Persönliche Betroffenheit wie in diesen Fällen oder im Falle von Lärmbelästigung, können Individuen als Ursprungsmoment für Aktivismus dienen. Auch Han (2009: 48 ff.) geht in ihrem Model von „Issue Publics“ davon aus, dass Menschen sich verschieden intensiv für unterschiedliche Themen interessieren und vielmehr politische Spezialisten als Generalisten sind. Persönliche Bindung und Verpflichtung zu einem Thema macht laut Han (ebd.: 72 ff.) Partizipation wahrscheinlicher.

„[…] das ist halt ein Buch, was mich persönlich einfach zum Nachdenken angeregt hat.“ (Kilian) – Ein Medium als Ursprung für Engagement

Drei Interview-Partner*innen haben ausgesagt, durch ein bestimmtes Medium – ein Buch, einen Film oder eine Sendung – ursprünglich beeinflusst worden zu sein und daraufhin ihr Engagement angefangen oder ausgebaut zu haben. Kilian erinnert sich daran, dass er in einem Prozess von Jahren immer mehr Dokumentationen gesehen hat, die ihm vor Augen geführt haben, dass viele Sachen schlecht laufen und die ihn sehr berührt haben. „Unser täglich Brot“ (2005), „Plastik Planet“ (2009) und auch das Buch von Richard David Precht „Wer bin ich und wenn ja, wie viele?“ (2007) nennt er ganz konkret als persönliche Prägungen.Footnote 89 Auch Sonja fühlt sich ganz besonders von einer speziellen Autorin angeregt. Sie sei zwar schon vorher aktiv gewesen, habe das Buch „Kapitalismus vs. Klima“ (2016) aber als Ansporn zu mehr Aktivismus empfunden: „Ja, also für mich sehr einschneidend war, dass ich mit zwei Kolleginnen von Naomi Klein ‚Kapitalismus vs. Klima‘ übersetzt habe. Ich war schon vorher in dem Bereich aktiv, aber das hat mich nochmal zusätzlich angespornt und ich habe mir geschworen, dass ich jetzt nach Möglichkeit keine Demo auslasse. In der nächsten Zeit.“ (Sonja, Z. 15 ff.) Sybille wiederum berichtet von einer bestimmten Radiosendung, dessen Manuskript sie erhielt und woraufhin sie das erste Mal mit Transition Towns in Berührung kam. „Ja, ich bin ja schon lange dran am gesellschaftlichen Wandel, der sich ja bezieht auf das Miteinander der Menschen und wie wir mit den natürlichen Ressourcen umgehen und wie wir wirtschaften, wie wir mit welcher Ungerechtigkeit leben. Und dann habe ich durch eine Radiosendung, also das Manuskript dieser Sendung hat mir jemand zukommen lassen, und da wurde Transition Town erwähnt und da habe ich direkt gemerkt: ‚Oh, das gefällt mir total gut.‘ Und was das Besondere bei Transition Town ist, ist dass es mehrere Themen miteinander verknüpft.“ (Sybille, Z. 707 ff.) Obwohl sie auch zuvor schon am gesellschaftlichen Wandel interessiert war, ist sie seitdem besonders aktiv in der Transition-Town-Initiative ihrer Stadt.

Auch diese Beschreibungen der Interview-Partner*innen decken sich mit bisheriger Forschung zu den Ursprüngen von Partizipation. Jaspers (2011) Begriff des „moral shock“ bezeichnet einen Aha-Moment, der dem Individuum zeigt, dass die Welt nicht ist, wofür es sie gehalten hat. Kilian hat dies beim Sehen einiger Dokumentationen und Lesen bestimmter Bücher erfahren. Auch für Sonja und Sybille waren es Bücher und Radiomanuskripte, die das Engagement ausgelöst oder erneut befeuert haben.

„Und dann habe ich angefangen Umweltwissenschaften zu studieren.“ (Isabelle) – Das Studium in einem für das Engagement relevanten Fach absolvieren

Vier der 18 Interview-Teilnehmer*innen haben im Bereich Biologie, Umweltwissenschaften oder Politik studiert und sehen einen Ursprung für ihr Engagement in ihrem Studium. Isabelle, die ihren Ursprung wie schon beschrieben in einem Schulprojekt sah, entwickelte darauf aufbauend den Wunsch, Umweltwissenschaften zu studieren. Darüber sei sie immer tiefer ins Thema gesunken und habe dann die Erkenntnis gehabt, dass alle Umweltprobleme menschengemacht seien und damit den gesellschaftlichen Bezug hergestellt.Footnote 90 Von diesen gesellschaftlichen Ursprüngen der Umweltprobleme aus, folgt für Isabelle die Konsequenz, dass man Menschen zu einem Wandel ihres Lebensstils bringen müsse. Mit einem stärkeren Fokus auf Gesellschaft, Politik und Geschichte, kam auch Felix durch sein VWL- und Politikwissenschaften-Studium zum Engagement. Er habe sich schon immer sehr dafür interessiert, warum Dinge wie geschehen, und fühlt, dass er seinen Wissensdurst und sein großes Interesse am besten im Politikstudium stillen kann: „Also das Interesse war halt immer groß. Ich komme aus keiner politisch aktiven Familie, ich würde mich auch selber nicht als Aktivist bezeichnen. Ich wollte einfach immer viel darüber wissen. Ich kann nicht wirklich so gut erklären, warum das jemals so war, aber es hat mich immer sehr interessiert, warum diese Sachen so passieren […].“ (Felix, Z. 18 ff.)

Sarah und Stefanie wiederum haben Biologie und Naturressourcen-Management studiert und dabei viel Spaß, Spannung und Praxisbezug erfahren. Stefanie zeigt sich zufrieden mit der Wahl ihres Masterstudiums und interessiert sich insb. für die Landwirtschaftsthemen und Nahrungsmittelproduktion.Footnote 91 Das Studium bestärkt Stefanie darin, in diesem Bereich später einen Job zu suchen und bietet ihr wichtige Hintergrundinformationen für ihr Engagement in Form der Erstellung einer Online-Petition.

Schulprojekte, Studium und andere wissenschaftliche Auseinandersetzungen haben bei Sarah, Isabelle, Felix und Stefanie im Sinne einer „moralischen Entdeckung“ (Teske 2009: 55) dazu geführt, dass sie sich intensiver mit umweltrelevanten Themen auseinandergesetzt haben. Sie sehen einen Ursprung für ihr Engagement u. a. im Studium und profitieren auch im gegenwärtigen Engagement von Wissen, das sie sich im Studium angeeignet haben. Eine detaillierte Untersuchung des Zusammenhangs von Engagement und einem fachrelevanten Studium, könnte interessante Erkenntnisse über die Motive von Bürger*innen bringen.

„Es war so dieser Punkt, von Zuhause mal weg zu gehen […].“ (Stefanie) – Reisen und Auslandserfahrung als Perspektiverweiterung und Schlüsselmoment

Reisen erweitert den Horizont, heißt es, und so hat es auch Stefanie erfahren. Nach dem Abitur ging sie für ein Jahr nach Australien, absolvierte ein Work-and-Travel, lernte eine neue Kultur kennen, verbesserte ihr Englisch und erschloss sich neue Informationen. Obwohl ihrer Meinung nach die australische Kultur der deutschen bzw. westlichen sehr ähnlich sei, nennt Stefanie diese Erfahrung ein Schlüsselerlebnis. „Es war so dieser Punkt, von Zuhause mal weg zu gehen und ich glaube, das ist immer etwas total Wertvolles, weil es die Perspektive wechselt. Man sieht, es geht auch anders. Also, auch von den gesellschaftlichen Strukturen und dabei ist Australien ja sehr nah, sehr westlich. Ja, ich glaube, das war so ein erstes Schlüsselerlebnis.“ (Stefanie, Z. 154 ff.) Besonders die darauf folgenden Reisen in Entwicklungsländer haben ihr dann ein starkes Ungerechtigkeitsgefühl vermittelt, haben sie Armut, Umweltverschmutzung und Auswirkungen des Klimawandels sehen lassen und ihr ein neues Gefühl für die Größe dieser Welt gegeben. „Und durch das Reisen und so ist mir das Thema Nachhaltigkeit immer näher gerückt und hat immer mehr an Relevanz gewonnen. […] so einige Reisen in der Dritten Welt, in Entwicklungsländern, die mir ein sehr starkes Ungerechtigkeitsgefühl gegeben haben. Und auch einen Blick darauf, wie mit Umwelt ganz anders umgegangen wird oder was das auch für Auswirkungen haben kann. Und auch wenn es immer so das Wetter ist, was man spürt und fühlt und nicht wirklich das Klima – schon irgendwie ein Gefühl dafür zu haben, wie hier einiges in eine Schieflage gerät.“ (Stefanie, Z. 42 ff.)

Valeria wiederum wurde stark geprägt von ihrer Kindheit im Ausland, sie wuchs in Brasilien auf und lebte phasenweise dort und in Deutschland. In Sao Paulo hat sie schon früh aufmerksam beobachtet, was um sie herum passierte, wie Menschen außerhalb ihrer gut-situierten Familie weniger hatten oder gar als Flüchtlinge in ihre Region kamen. „Ich komme sozusagen aus der Herrenklasse und habe, wenn ich jetzt zurückdenke, schon als kleines Kind immer auf die Bedürftigen geguckt, auf die Favela oder die, die ich da so in meinem abgeschiedenen Glashaus, in dem ich saß, was ich da so erkennen konnte, waren meine ganzen Sinne immer darauf ausgespannt, was da draußen passiert. […] Ja, und ich erinnere als ganz kleines Kind, wie z. B. diese Leute dann durch die Straßen streiften, so wie hier die Zigeuner irgendwo was suchen, und wie da eine Mutter z. B. ihr Kind in der Straßenpfütze irgendwie ein bisschen wusch. Und das ist so ein Bild, was mich mein ganzes Leben nicht verlassen hat.“ (Valeria, Z. 192 ff.) Es sind diese Bilder aus der Kindheit, die Valeria auch heute antreiben und ihre Motivation darstellen. Und so hat sich bei ihr auch der Wunsch entwickelt, in Brasilien aktiv zu werden. Valeria hat ein Jahr lang privat Entwicklungshilfe geleistet und in Grenzgebieten als Krankengymnastin gearbeitet.

Die Auslandserfahrungen von Stefanie und Valeria können im Sinne von Jasper (2011) als „moral shocks“ verstanden werden. Augenöffnende Momente, die eine neue Seite der Welt zeigen und bisheriges in Frage stellen. Auch Teske (2009) und Han (2009) nennen Auslandsaufenthalte und Reisen in fremde Länder als moralische Entdeckung und Trigger-Momente, die Aktivismus begünstigen. Hierbei können sich Individuen über Unmoral und Ungerechtigkeit in der Welt bewusst werden und überdenken ihr Handeln. Die beschriebenen Erfahrungen von Stefanie und Valeria verdeutlichen insb. die große Bedeutung von Visualität für die Motivation, sich zivilgesellschaftlich einzubringen. Reisen, Auslandsaufenthalte, Dokumentationen und Erzählungen führen dazu, Missstände direkt vor den eigenen Augen zu sehen und sich der Folgen eines (globalen) Problems bewusst zu werden. Manchmal am Beispiel eines einzelnen Kindes, manchmal am Beispiel eines betroffenen Landes. Auf emotionaler Ebene sprechen diese Erfahrungen das persönliche Verantwortungsgefühl eines Menschen an, stärken damit das Betroffenheitsgefühl und machen Aktivismus wahrscheinlicher und/oder intensivieren ihn.

„[…] ein ganz starkes Schlüsselelement war auch ein Meditationskurs […].“ (Stefanie) – Meditation und Spiritualität als Ursprungsmoment für Engagement

Stefanie und Valeria haben in den Interviews auch einen spirituellen Schlüsselmoment bzw. spirituelle und religiöse Ursprünge für ihr Engagement genannt. Ein Meditationskurs habe sie in Sachen Achtsamkeit geschult und einen ‚Reset‘ bei ihr ausgelöst, erzählt Stefanie. Das sei ein Schlüsselmoment für sie gewesen, etwas aktiv zu unternehmen.Footnote 92 Valeria wiederum hat sich in ihrer eigenen Familie nicht akzeptiert, sondern wie das schwarze Schaf gefühlt und daraufhin nach etwas gesucht, das sie zur Religion und der Kirche geführt hat. Erst vor sechs Jahren habe sie sich dann nochmal auf eine neue spirituelle Suche begeben und von der Kirche abgewandt: „So war ich sozusagen auch ein Außenseiter oder ein schwarzes Schaf oder zumindest ein Exot in der Familie, dass ich irgendwie nach irgendetwas suche, nur damals war es eben die Sache mit dem lieben Gott. Und dass eben auch sehr lange in meinem Leben, bis ich vor sechs Jahren oder so gesagt habe: ‚Nee, dieses ist die falsche Institution.‘“ (Valeria, Z. 221 ff.) Im Aktivismus und in der Spiritualität fühlt Valeria nun angekommen zu sein.

Während explizite Bezüge zu Religion und Glauben im CVM von Verba/Schlozman/Brady (1995: 369 ff.) in Form von Mitgliedschaft in Glaubensgemeinschaften berücksichtigt wurden, werden Spiritualität und Mediation im Zusammenhang mit zivilgesellschaftlicher Partizipation bisher wenig beachtet. Im Fall von Stefanie hat ein Achtsamkeitskurs zu einem Reset geführt und damit Aktivismus begünstigt. Bei Valeria hingegen haben Erfahrungen von Ungerechtigkeit dazu geführt, dass sie sich zuerst der Kirche zugewandt und dann wieder von ihr abgewandt hat. Laut Klandermans (2004: 362ff.) beginnt die Nachfrage nach Wandel und gesellschaftlicher Veränderung häufig mit Unzufriedenheit, z. B. durch solche von Valeria beschriebenen Erfahrungen von Ungleichheit und Ungerechtigkeit.

„Und dann bin ich eben auf Campact gestoßen […].“ (Sonja) – Schritte zum Aktivismus bei Campact und/oder dem BUND

Neben den allgemeinen Ursachen für das persönliche Engagement, wurde in den Interviews auch thematisiert, wie die Bürger*innen das erste Mal mit Campact und/oder dem BUND in Kontakt kamen bzw. wie Mitmachmöglichkeiten bei Campact und dem BUND das eigene Engagement begünstigt haben. Diese Erfahrungen werden im Folgenden vorgestellt und in Klandermans (2004: 370) vierschrittiges Konzept der „action mobilization“ eingeordnet.

Gerd ist bei einer Recherche zufällig auf Campact gestoßen. Er organisiert Mahnwachen anlässlich der Tschernobyl- und Fukushima-Katastrophen und sei dabei auf die Webseite von Campact gekommen. Daraufhin hat er sich die Seite gemerkt, da sie für ihn relevante Nachrichten hatte, und sich etwas später auf die Verteilerliste von Campact setzen lassen.Footnote 93 Felix wiederum ist durch ein Referat im Fach Medien und Kommunikation das erste Mal auf Campact gestoßen, hat die Organisation seitdem immer im Hinterkopf gehabt und sich, als er dann ein Pflichtpraktikum absolvieren musste, erinnert, dass dieses doch auch dort möglich sein müsse. Sowohl Gerd als auch Felix haben also bereits mit den Anliegen der Organisation sympathisiert, noch bevor sie Campact selbst kennengelernt haben. Wie oft und wie eindringlich die beiden von der Organisation zu Mobilisierungszwecken angesprochen wurden (Schritt 2), lässt sich anhand der Aussagen nicht nachvollziehen. Gerd ließ sich jedoch mindestens auf den Verteiler setzen und auch Felix behielt Campact weiterhin im Blick. Aufgrund persönlicher Motivationen – sich gegen Atomkraftwerke einzusetzen bzw. ein Praktikum im Bereich von NGOs und Online-Kampagnen zu absolvieren – haben sich schlussendlich beide bei Campact engagiert.

Günter, Sarah, Julia und Helena haben in den Gesprächen beschrieben, wie sie das erste Mal in Kontakt mit dem BUND kamen, bspw. über eine Fahrrad-Rallye, die Kindergruppen-Betreuung oder allgemein das Netzwerk durch die eigenen Kinder. Sarah hatte gerade ihr Vordiplom erhalten und den Studienort gewechselt, da stieß sie in Gießen mit dem BUND auf einen Umweltverband, der ihr zusagte. Kaum war sie dort, wurde ihr als junge Frau auch gleich die Kindergruppe zugetragen: „Endlich hatte ich dann in Gießen, wo ich den Studienort gewechselt habe nach dem Vordiplom, einen Umweltverband gefunden bei dem ich mich engagieren kann. Wobei so hatte ich mir das nicht ganz vorgestellt. Ich bin da hin und die haben gesagt: ‚Ach ja, junge Frau – kannst du doch die Kindergruppe machen.‘ Und dann habe ich da halt auch angefangen mit eine Kindergruppe und eine Jugendgruppe aufzubauen […].“ (Sarah, Z. 391 ff.) Seitdem leitet Sarah die Kinder- und Jugendgruppe des BUND Hessen. Sie sympathisierte schon früher mit den Zielen des BUND und war explizit auf der Suche nach einer Engagement-Möglichkeit. Mit Bezug auf die zweite Stufe von Klandermans (2004) „action mobilization“ lässt sich hier eine sehr eindringliche Ansprache beobachten: Der BUND Hessen spricht Sarah explizit auf eine bestimmte Position an und schlägt ihr die Übernahme der Jugendgruppe vor. Sarah ist dazu motiviert und übernimmt die Aufgabe.

Günter (Z. 489 ff.) und seine Frau sind ebenfalls nach einem Umzug im neuen Wohnort in den BUND eingetreten, damals über ein schon bestehendes Netzwerk von Aktiven, das sich rund um eine im Ort bekannte Person gebildet hatte. Den Einstieg stellte für Günter eine Fahrrad-Rallye dar. Sich nach einem Umzug im neuen Ort nach Engagement-Möglichkeiten umzusehen, ist keine Seltenheit. Besonders, um sich ein neues Netzwerk aufzubauen und neue Bekanntschaften zu schließen. Dieser Aspekt trifft neben Günter und Sarah bspw. auch auf Sonja zu und wird anschließend in Abschnitt 5.3.2 „Kollektive Identität und Mitgliedschaft“ ausführlicher beleuchtet.

Julia wiederum hat sich explizit nach einer Engagement-Möglichkeit umgesehen, dabei verschiedene Optionen durchdacht und daraufhin ausgeschlossen. Nachdem sie Parteiarbeit und Greenpeace aussortiert hatte, fiel ihre Wahl dann auf die BUNDjugend, weil sie diese als politischste Jugendumweltgruppe einschätzt: „Ich wollte keine Partei. Also waren so was wie GrüneJugend oder so schon mal gleich aussortiert. Dann wollte ich, also Greenpeace ist mir von den Organisationsstrukturen irgendwie zu undurchsichtig gewesen und – weil die kamen noch länger in Frage – und dann sowas wie Naturfreundejugend oder so was war mir nicht so bekannt. Also, keine Ahnung, BUNDjugend kannte ich jedenfalls so vom Namen schon mal. Und sind auch irgendwie, glaube ich, schon auch so die politischsten, die es dann so da gibt, von Umweltverbänden.“ (Julia, Z. 125 ff.) Der Bekanntheitsgrad des BUND hatte dabei Einfluss auf ihre Entscheidung und übertrumpfte die Naturfreunde. Auch Julia sympathisierte bereits mit den Zielen der Organisation, als sie auf die BUNDjugend stieß. Somit war auch hier keine eindringliche oder mehrfache Ansprache nötig, um eine neue Aktive für den BUND zu gewinnen.

Für Helena war der BUND schon länger eine Option, die sie auf Anraten eines Freundes im Blick hatte. Dabei war für sie besonders das aktive Anpacken attraktiv und macht für sie bspw. den Unterschied zum WWF, bei dem sie sich als finanzielle Unterstützerin in einer eher passiven Rolle sieht. Doch erst nachdem sie ihre Kinder und Zugang zu einem sozialen Netz hatte, das ihr den Kontakt zu anderen BUND-Aktiven brachte, wurde auch Helena schlussendlich im BUND aktiv: „[…] ich finde es so schade, dass man so gar nichts mit dem WWF so machen kann. Das war noch lange, bevor ich Kinder bekommen habe. Und da sagte er, wenn du was machen willst, dann musst du in den BUND gehen. Und dann habe ich mich mal so schlau gemacht und habe dann auch immer mal so geliebäugelt. Und dann war es aber einfach so, dass wenn man ein Kind bekommt, bist du auch einfach automatisch so im sozialen Netz drin. Und dann habe ich da drüber Leute kennengelernt, die schon im BUND aktiv waren und darüber bin ich dann im Prinzip dann aktiv auch in den BUND.“ (Helena, Z. 452 ff.) Auch hier spielt der schon angesprochene Aspekt des sozialen Netzwerkes eine tragende Rolle. Der Netzwerkgedanke funktioniert dabei in beide Richtungen: Über ein schon bestehendes Netzwerk in die Organisation finden (Beispiel Helena) oder über eine Organisation ein neues Netzwerk/neue Bekanntschaften finden (Beispiel Sonja). Auch Klandermans (2004) betont mit dem zweiten Schritt seiner „action mobilization“ die Wichtigkeit von freundschaftlichen Netzwerken für die Rekrutierung neuer Unterstützer*innen für Organisationen und Aktionen.

Valeria und Sonja haben angegeben, Campact und/oder den BUND als sehr passende Mitmachmöglichkeit empfunden zu haben und deshalb aktiv geworden zu sein. Sonja hat vor ihrem Umzug recht abgeschieden gelebt und erst im neuen Wohnort und durch einen Aktionsaufruf von Campact dort dann eine erste Straßenaktion gestartet. Durch einen Zufall hatte auch der örtliche BUND zeitgleich Ähnliches geplant und so wurden die Aktionen zusammengelegt. Durch den Kontakt zum BUND erfuhr Sonja wiederum auch von einer Bürgerinitiative, der sie daraufhin beitrat. Über diese selbst organisierte Aktion ist Sonja mit Campact, dem BUND und der BI vor Ort in Kontakt gekommen. Per E-Mail wurde sie von Campact explizit gefragt, ob sie an ihrem Wohnort eine Aktion organisieren wolle. Durch die hohe persönliche Motivation für das Thema und die Situation, dass Sonja gerade sowieso auf der Suche nach Anschluss in ihrem neuen Wohnort war, war der Weg für eine Teilnahme geebnet.Footnote 94 Für Valeria waren anfangs besonders die Themen und die Aktionsformen von Campact der ausschlaggebende Grund, sich dieser Organisation anzuschließen. Seit sie in Berlin lebt, hat sie beobachtet, wie viel dort veranstaltet wird und wie viele Akteure dort aktiv sind. Durch eine E-Mail stieß sie auf Campact und war begeistert: „[…] hier tanzt ja nun wirklich der Bär, hier ist wirklich alles anzutreffen. Hier sind die Sachen, da habe ich mal zum ersten Mal so eine E-Mail bekommen und da bin ich drauf aufmerksam geworden, was Campact macht und da dachte ich: Wow, das ist ja ... die Ideen, die sie verfolgen, ja wo ich dann auch irgendwie dahinter stehe oder das was auch meine Themen sind. Aber in einer anderen Form.“ (Valeria, Z. 311 ff.)

Zusammenfassung

Die Analyse der Interviewpassagen bzgl. des Ursprungs von Engagementbereitschaft deckt sich in großen Teilen mit der bisherigen Forschung zu diesem Thema. Eltern, Lehrer*innen und andere Vorbilder prägten viele Interview-Partner*innen schon früh und legten damit den Grundstein für ein Interesse an Umweltschutz und/oder Protestpartizipation. Auch explizite Auslöser-Momente wie Kriege und Katastrophen oder der Einfluss früherer Sozialer Bewegungen spielen eine Rolle bei der Entscheidung für Aktivismus im Umweltschutzbereich. Hierbei stellen Krisenerfahrungen wie eine Schwangerschaft während der Tschernobyl-Katastrophe (Frauen) oder der Vietnamkrieg (Männer) einen jeweils geschlechterspezifischen Ursprungsmoment von Engagement dar. Wie von verschiedenen Autor*innen beschrieben und auch durch das Interviewmaterial belegt, fördern persönliche Betroffenheit und moralische Wertvorstellungen Partizipation. Diese Faktoren werden im anschließenden Unterkapitel nochmals ausführlich als gegenwärtige Motive für Partizipation beleuchtet. In der bisherigen Forschung wenig beachtet, hier jedoch als Ursprungsmomente genannt, sind konkrete Medien wie Bücher, Filme usw. als Auslöser für Engagement oder der Einfluss von Spiritualität und Meditation. Diese Aspekte wurden von verschiedenen Interview-Partner*innen als Ursprung ihres Engagements benannt und könnten bei tiefergehender Forschung vielversprechende Erkenntnisse liefern. Ein ebenso in der bisherigen Forschung vernachlässigter Faktor ist der Zusammenhang zwischen Studium und Aktivismus. Einige Interview-Partner*innen absolvierten ein Studium in einem für den Aktivismus relevanten Fach, z. B. Politikwissenschaft, Biologie oder Umweltwissenschaften. Kenntnisse aus dieser Lebensphase haben ihr Interesse an Umweltschutz und/oder Partizipation verstärkt und damit einen Teil des Grundsteins für zivilgesellschaftliches Engagement in der Umweltschutz-Bewegung gelegt.

Kategorie „Motive“

„Hey Leute, wir graben uns hier die eigene Lebensgrundlage ab!“ (Sarah) – Insbesondere für nachfolgende Generationen muss eine Lebensgrundlage erhalten werden

In der Kategorie Motive sollen nun, anders als bei den Ursachen mit Vergangenheitsbezug, grundsätzliche und heute noch aktuelle Motivationen für das gegenwärtige Engagement beschrieben werden. Warum sind die Interview-Partner*innen heute aktiv im Umweltschutz, was treibt sie (täglich) an, ihre Zeit und Energie für zivilgesellschaftliches Engagement auszugeben, anstatt bspw. mehr Zeit für die Familie, Hobbies oder den Beruf aufzubringen?

Die am häufigsten genannte (zehn von 18) und mit dem meisten Nachdruck beschriebene Motivation stellt dabei der Erhalt der Lebensgrundlage dar. Die Einsicht, dass Naturschutz in Konsequenz auch Schutz der Lebensräume für Menschen bedeutet, treibt viele Engagierte in ihrem täglichen Tun an. Ebenso die Befürchtung, dass die Welt ‚den Bach runter geht‘, wenn man nichts unternimmt und dass der Erhalt der Lebensgrundlage insb. für die Kinder und nächsten Generationen von enormer Bedeutung ist. Für Sarah ist Naturschutz deswegen gleich Menschenschutz: „Und für mich war das früher, so wo ich hergekommen bin, jetzt so emotional, immer so wirklich dieses: Schutz der Natur so an sich als Eigenwert. Und heute würde ich auch viel sagen: ‚Hey Leute, wir graben uns hier die eigene Lebensgrundlage ab!‘ Also, das ist eigentlich letztendlich Menschenschutz, wenn wir gucken, dass die Lebensgrundlagen erhalten bleiben. Und ich denke, man muss so von beiden Enden anfangen. Man müsste im Prinzip in der Politik was gucken, dass sich da was verändert und man muss halt eben bei sich selbst anfangen.“ (Sarah, Z. 471 ff.) Das Argument, bei sich selbst anzufangen, stellt eine weitere Motivation dar, die später noch ausführlicher beschrieben wird. Olaf prognostiziert auf Sarahs Argument aufbauend, dass es in ferner Zukunft eventuell nicht mehr so viele Menschen gäbe, wenn wir nichts ändern: „Also klar, ich bin der Meinung, dass eben die Welt zu wenig nachhaltig läuft, also durch den Menschen betrieben wird, sagen wir es mal so. Und dass wir eben schauen müssen, dass wir das ändern. Sonst, tja ... gibt vielleicht nicht mehr so viele Menschen in nicht zu ferner Zukunft.“ (Olaf, Z. 160 ff.) Bei dem Gedanken, dass es in Zukunft keine lebensfähige Welt mehr geben könnte, spielen zukünftige Generationen und die heutigen Kinder eine tragende Rolle. Mareike fragt sich deswegen, ob diejenigen, die nicht aktiv sind, keine Kinder wollen oder der Nachwelt keine Erde hinterlassen wollen.Footnote 95 Kilian ist der Meinung, dass wir die Welt nur geliehen haben und sie dann an die Kinder weitergeben müssen. Da die Welt niemandem gehöre, wäre es in seinen Augen ungerecht, sie nachher in einem miserablen Zustand zurückzulassen: „Also, ich bin der Ansicht, dass wir die Erde praktisch geliehen bekommen haben von unseren Kindern und uns gehört sie nicht eigentlich. Sie gehört eigentlich niemandem, sagen wir mal so. […] Wir leihen die Erde von unseren Kindern und geben sie eigentlich dann nie wieder zurück. Und in welchem Zustand sollen die sie vorfinden? Und das nehme ich echt ziemlich ernst. Alles andere fände ich auch furchtbar ungerecht.“ (Kilian, Z. 281 ff.) Daniela schreibt deswegen insb. Müttern eine tragende Verantwortung zuFootnote 96 und Felix nennt es eine Pflicht, an die nachfolgenden Generationen zu denken: „Ja, also im Endeffekt ist es schon irgendwie die Pflicht. Ich bin zwar jung, aber man kann ja trotzdem zumindest mal versuchen, an die Generation nach sich zu denken. Das ist zwar irgendwie schwer, aber ja, es ist irgendwie das Pflichtgefühl, dass vielleicht ich ja sogar schon drunter leide, im schlimmsten Fall, und ja, Pflichtgefühl bringt das eigentlich so ziemlich auf den Punkt.“ (Felix, Z. 109 ff.)

Einen weiteren Aspekt bzgl. der Erhaltung der Lebensgrundlage stellt der Zeitfaktor dar. Sonja und Franz sind der Meinung, dass uns die Zeit weglaufe. Sonja spitzt dies sogar noch einmal zu und spricht mit Blick auf die Zeit und mit Rücksicht auf spätere Generationen bildlich von einer tickenden Zeitbombe, auf der wir sitzen: „Ja, also ich muss sagen, die Leute, die gar nichts machen, handeln schon grob fahrlässig. Ich kann es eigentlich nicht verstehen, vor allem wenn man Kinder und Enkel hat. […] Man versteht es nicht, dass sich jemand nicht dafür interessiert, dass wir auf so einer Zeitbombe sitzen.“ (Sonja, Z. 293 ff.) Sie hofft wegen drängender Zeit auf wachrüttelnden Einfluss von außen, wie bspw. der Kirche.Footnote 97 Franz schätzt die heutigen Probleme als durchaus gravierender ein, als Probleme, die bisher bestanden hätten: „Was da auf uns zukommt, das hatten wir ja vorher gar nicht! Sondern es waren so schleichende Probleme: Wir müssen mal was für den Umweltschutz tun und müssen mal dies und das. Aber jetzt hier, dann direkt reagieren, dann ist der Zug abgefahren.“ (Franz, Z. 328 ff.)

Einen letzten Aspekt stellt die Einschätzung dar, dass wir gegenwärtig einen sehr hohen Lebensstandard hätten und dass diese Standards, dieser Reichtum oder – wie Valeria es nennt – dieses „Paradies“ erhalten werden müsse. „Ich möchte einfach das Paradies auf Erden wieder sichtbar machen. Wir leben in einem Paradies, nur wir haben uns das so zugekleistert […].“ (Valeria, Z. 619 ff.) Gegen Egoismus und Ungerechtigkeit will deswegen auch Kilian angehen und den hohen Lebensstandard, Freiheit und Reichtum mit anderen teilen. „Ich finde, wir haben jetzt gerade einen Lebensstandard, der ist enorm hoch. Also, hier in Deutschland, oftmals. Und diese Freiheit, diesen Reichtum den wir haben, würde ich gern erstmal teilen und weitergeben und das ist so die Hauptmotivation für mich. Dass ich das einfach richtig finde und gerecht finde.“ (Kilian, Z. 287 ff.) Kilians Argument, dass es richtig und gerecht sei, Freiheit und Reichtum zu teilen, verdeutlicht u. a. auch sein Bürgerschaftsverständnis, das auf Werten wie Gerechtigkeit und Solidarität beruht. Ähnlich wie Gerd, der beschrieb, der Gesellschaft etwas zurückgeben zu wollen, will auch Kilian seinen Lebensstandard mit anderen teilen.

Alle diese Aspekte zum Thema Erhaltung der Lebensgrundlage vereint Helena in ihren Aussagen, dass es uns heute so gut gehe wie niemals wieder, dass ohne Aktivismus die Welt den Bach runtergehe und dass diese Einsicht insb. für die nächste Generation von Folgen sei: „Weil ich, für mich jetzt, ich sage mal, uns geht es so gut! So gut wird es niemandem wieder gehen. So gut ist es auch, glaube ich, vorher nicht gegangen. Aber ich engagiere mich wirklich, weil ich Angst habe, dass in Zukunft alles den Bach runtergeht. Das geht schon los, dass ich die Krise kriege, wenn ich mir überlege, dass da oben die Eisbären verhungern, weil wir hier unten das Klima verändern. Aber nicht nur für die Tiere, halt auch für meine Kinder. Und manchmal ist es, finde ich, vielleicht tun sie es im Moment gar nicht so realisieren und honorieren, ja. Das kommt wahrscheinlich erst noch, wenn die erst mal selber Kinder haben oder so.“ (Helena, Z. 188 ff.) Angst ist hierbei Helenas treibende Kraft.

Auch an dieser Stelle kann Bezug genommen werden auf Teskes (2009: 55) Konzept der „moralischen Entdeckung“, bei der ein Bewusstsein über die Unmoral in der Welt als Wendepunkt hin zum Aktivismus oder auch als gegenwärtige Motivation für Engagement verstanden werden kann. Die Einsicht, dass Menschen der zukünftigen Generationen eine Lebensgrundlage benötigen und sie diese nur erhalten können, wenn Menschen gegenwärtig Naturschutz betreiben und damit Lebensgrundlagen erhalten, treibt viele der Interview-Partner*innen an. Diese Beobachtung deckt sich mit den Ergebnissen zu Teskes (ebd.: 86) Umweltschutz-Aktivist*innen. Sie denken dabei an ihre eigenen Kinder oder die Kinder ihrer Kinder und wissen, dass die Zeit knapp ist, um eine zukünftige Katastrophe noch zu verhindern. Entsprechend stark sind ihre moralische Empörung und ihr Gefühl von Ungerechtigkeit gegenüber zukünftigen Generationen (vgl. auch Klandermans 2004: 362 ff.). Diese Aktivist*innen glauben, dass sie ihr politisches Umfeld zu ihren Vorteilen verändern können und rechnen den Nutzen dessen höher an als die dafür notwendigen Kosten. Was im Konzept von Klandermans (2004) allerdings unbeachtet bleibt, ist der hier konkret vorliegende Fall, dass eine Generation die gegenwärtigen Kosten bspw. in Form von strengeren Umweltschutzgesetzen tragen müsste, damit eine andere Generation in Zukunft einen Nutzen davon hat. Oder im umgekehrten Fall: Dass zukünftige Generationen die Kosten dafür tragen werden, wenn gegenwärtige Generationen nicht ausreichend konsequent handeln. Die Frage einer Generationengerechtigkeit ist als einflussreicher Motivationsfaktor jedoch sehr bedeutsam für das Engagement der Bürger*innen und sollte bei Kosten-Nutzen-Rechnungen beachtet werden.

„[…] wenn jeder vor Ort was tut, dann würde die ganze Menschheit schon ein bisschen weiterkommen.“ (Mareike) – Vor der eigenen Haustür anfangen und durch persönliche Betroffenheit Probleme vor Ort angehen

Vielen Interview-Partner*innen dient es als Ansporn, vor der eigenen Haustür anzufangen. Bei so vielen Themen, die es zu bearbeiten gäbe, wisse man gar nicht, wo man anfangen solle, deswegen ist es bspw. für Mareike die logische Konsequenz, bei sich selbst anzufangen und lokal aktiv zu werden. „Und man weiß ja gar nicht, wo man anfangen soll. Und von daher habe ich mich entschlossen, doch hier mehr lokal zu tun. […] Und ansonsten denke ich, wenn jeder vor Ort was tut, dann würde die ganze Menschheit schon ein bisschen weiterkommen.“ (Mareike, Z. 171 ff.) Ähnlich sieht es Valeria, die sich dieser Logik anschließen würde, es aber auch als Schicksal benennt. Jeder solle an dem Ort handeln, an dem er oder sie sich befinde.Footnote 98 Auch Stefanie beobachtet, dass es viele Dinge in der Welt gibt, für die man sich engagieren könnte, sodass es schwierig wird, alles zu machen. Deswegen hält sie es für sinnvoll, sich dort zu engagieren, wo man davon betroffen ist und worüber man die nötigen Hintergrundinformationen besitzt: „Es passiert so viel in dieser Welt, dass es schwierig ist, sich dann auch noch für Dinge zu engagieren, von denen man weniger betroffen ist, bzw. wovon einem auch so die Hintergrundinformation fehlt. […] Und dann, klar: Wenn es einen lokalen oder persönlichen Bezug hat, dann ist das Engagement sehr viel wahrscheinlicher.“ (Stefanie, Z. 355 ff.)

Betroffenheit ist auch für Isabelle, Sonja und Günter ein Argument für Engagement. Sonja erfährt solch eine Betroffenheit insb. beim Thema Fracking oder beim Ausbau der Trassen. Das beobachtet sie bei sich selbst, aber auch bei anderen Betroffenen und empfindet es als Ansporn dafür, aktiv zu werden: „Eigentlich geht das halt schon dann über die regionale Betroffenheit. Also wir sind jetzt betroffen von dieser Fracking-Lizenz, von den HGÜ-Leitungen – das ist natürlich schon ein Ansporn. […] und man merkt es jetzt auch z. B. mit der Geschichte mit den Trassen: Dass dann durchaus Leute aktiv werden, die halt vorher vielleicht noch nie auf irgendeiner Demo waren. Aber halt durch ihre persönliche Betroffenheit vor Ort dann eben doch teilnehmen.“ (Sonja, Z. 398 ff.) Neben dieser Betroffenheit findet Sonja es aber auch generell wichtig, sich vor der eigenen Haustür einzubringen. Außerdem fühlt sie sich durch ihr Engagement beim BUND vor Ort verwurzelt.Footnote 99 Isabelle wiederum informiert sich zwar über Themen, die ihr sowohl nah sind, als auch solche, die ferner liegen, aber dann tatsächlich aktiv zu werden, scheint ihr sinnvoller nur für solche Fälle, von denen sie auch persönlich betroffen ist.Footnote 100 Auch Sven ist größtenteils bei sich im Ort aktiv und kann über zahlreiche Anekdoten aus seinem lokalen Aktivismus berichten. Von Flug- und Verkehrslärm über Straßenauslastung bis zur Planung von Neubauten, die das Abholzen von Bäumen beinhalten sollen, ist Sven mit dem BUND oder seiner Bürgerinitiative vor Ort engagiert: „Und jetzt hier diese Lärmsachen, da grabe ich mich rein. Und das ist natürlich hier auch ein Thema, wo ich direkt betroffen bin. Wenn ich morgens um 4.45 aufgewacht bin, weil es da oben trubelt, dann bin ich natürlich motivierter, jetzt wieder was gegen Fluglärm zu machen. […] Und hier im Ort hast du natürlich einen schönen Bezug.“ (Sven, Z. 284ff.)

Günter hingegen versteht Betroffenheit weitaus breiter und erklärt, dass Klimawandel, Energiewende und Nachhaltigkeit uns alle betreffe und der Unterschied nur darin liege, ob jemand diese Betroffenheit als solche wahrnehme oder nicht. Als konkreteres Beispiel nennt er das AKW in Biblis und dass bei einem Unfall dort auch Ortschaften betroffen seien, die weiter weg liegen. „Wenn es um Klimawandel geht, Nachhaltigkeit, Energiewende – irgendwo betrifft uns das alle. Du musst es nur auch als solches sehen. Auch Atom. Wenn in Biblis was passiert, sind wir hier auch betroffen. Das sieht man ja an dem, was in Fukushima passiert ist. Die Orte sind teilweise 40km weg, die stark kontaminiert sind. […] Also insofern, die Frage der Betroffenheit kann man grundsätzlich bejahen, vor allem Klimaschutz und Atom – das sind die wichtigsten Themen – oder auch Naturschutz und Biodiversität, da sind wir in jedem Fall betroffen. Aber die Erkenntnis, ob jemand das wirklich wahrnimmt, dass er betroffen ist, das ist halt ein großer Unterschied.“ (Günter, Z. 746 ff.) Günters Beschreibung verdeutlicht, dass die wahrgenommene Realität und ein daraus eventuell resultierender Handlungsbedarf immer auch auf individuellen Perspektiven von Menschen basieren.

Helena und Olaf betonen insb. den lokalen Ortsbezug der BUND-Gruppen und wie der BUND basisdemokratisch vor Ort aktiv ist. Es gäbe zwar so etwas wie eine Corporate Identity, aber die wirkliche Arbeit würde vor Ort gemacht werden, denn das sei der Ort wo die Probleme entstehen, so Olaf. Lokale Geschehnisse und Konfliktsituationen würden so auch lokalen Protest hervorrufen.Footnote 101 Aus der lokalen Betroffenheit heraus interessieren sich Menschen neben Bundespolitik auch für Lokalpolitik, die Landespolitik wiederum sei für die meisten jedoch uninteressant. Beim Thema Windräder zeige sich jedoch, wie Betroffenheit und lokaler Protest auch gegen die Energiewende agieren können: „[…] was halt immer zieht, ist natürlich das lokale Problem, das siehst du ja auch in der Politik. Die Leute interessieren sich für Lokalpolitik und Bundespolitik, für Landespolitik interessieren sie sich nicht so, in der Regel. […] Ja, Energiewende ist ja ganz toll und wollen die Leute haben und Atomkraft wollen sie auch nicht mehr – ja, aber wenn das Windrad jetzt hier mittendrin im Garten aufgestellt wird, mein Gott, dann ist ja hier das Geschrei groß.“ (Olaf, Z. 883 ff.) Helena hat sogar erlebt, dass sich aufgrund von lokaler Betroffenheit im BUND neue Ortsverbände gegründet haben.Footnote 102

Vor Ort aktiv zu werden kann auch bedeuten, konkret Widerstand zu leisten und die Verantwortlichen so lange zu kontaktieren bis sie den Forderungen nachgeben. Am Beispiel von Fracking führt Sonja aus, dass Widerstandsaktionen vor Ort nötig sind, um Probebohrungen oder anderes zu verhindern und – neben Online-Protestaktionen – um immer auch offline aktiv zu sein. „Aber es muss dann möglicherweise wirklich zu konkreten Widerstandsaktionen vor Ort kommen, wenn irgendwo dann ne Probebohrung oder seismische Untersuchungen gemacht werden. Das ist möglicherweise nötig. Online alleine reicht nicht.“ (Sonja, Z. 25 ff.) Sven wiederum hat in seiner Stadt die Erfahrung gemacht, dass ein wachsames Auge und ständiges Nachfragen, Kritisieren und Erinnern zu Erfolgen führen können. An Beispielen wie einer Einbahnstraße oder einer Zeitschaltuhr an der Lüftungsanlage eines Supermarktes erklärt er, wie sich ‚Terror machen‘ auszahlen kann: „[…] wir haben hier diesen kleinen [Straßenname], ein riesen Einkaufstourismus, weil immer mehr zum Rewe fahren und auch das ganze Gebiet hier als Schleichweg benutzen. Wir haben es hingekriegt, dass das eine Einbahnstraße wurde. Aber auch nur, weil wir Nachbarn hier Terror gemacht haben.“ (Sven, Z. 124ff.) Durch lokale Betroffenheit kann es sogar so weit gehen, dass sich aus einem akuten Problem eine neue Organisation oder Ortsgruppe gründet. So hat Helena, wie bereits ausgeführt, beobachtet, dass sich im Norden Frankfurts ein weiterer BUND-Ortsverband bildete, da zahlreiche Leute dort von neuen Bebauungsplänen betroffen waren.

Ähnlich wie die Umweltschutz-Aktivist*innen in Teskes (2009: 86) Sample, sorgen sich auch die hier zitierten Interview-Partner*innen um die Erhaltung des Lebensraumes und fühlen sich durch persönliche Betroffenheit und einen Ortsbezug motiviert, vor der eigenen Haustüre mit dem Umweltschutz anzufangen. Teils ist es explizit die Betroffenheit, mit dem Ziel einen bestimmten Missstand oder eine Störung zu beheben, teils ist es die Hoffnung, dass jeder etwas vor Ort bei sich tut und damit überall auf der Welt Menschen aktiv werden. Dieses Verhalten wird auch durch die Forschung von Han (2009) bestätigt, die empirisch belegt, dass eine persönliche Bindung Engagement wahrscheinlicher macht.

„[…] Vorteil vom lokalen Engagement ist halt, dass man ja direkt etwas tun kann und sehen kann, wie etwas wächst […]“ (Olaf) – Direkte Sichtbarkeit von Ergebnissen und direkte Einflussnahme vor Ort als Motivationsfaktoren

Eine weitere Motivation für Engagement vor Ort ist die bessere Sichtbarkeit der Ergebnisse und die leichtere Beeinflussung der Geschehnisse. Während in Abschnitt 5.2 „Bürgerschaftsverständnis“ bereits die Einschätzung der individuellen Wirksamkeit mit Bezug auf das daraus resultierende Bürgerschaftsverständnis thematisiert wurde, liegt an dieser Stelle nun der Fokus auf der Frage des Ortsbezugs. Olaf schätzt am lokalen Engagement besonders, dass man direkt etwas tun kann, aktiv mit anpacken und danach die Ergebnisse davon sehen kann. So sieht er, wo seine Zeit hineingeflossen ist. Bei fernen Themen ist es seiner Meinung nach nicht möglich Rückschlüsse darauf zu ziehen, ob eine Veränderung explizit auf sein Einwirken oder nur auf die Masse zurückgeht. „Aber der Vorteil vom lokalen Engagement ist halt, dass man ja direkt etwas tun kann und sehen kann, wie etwas wächst, aus der Zeit die man da reinsteckt – wenn es funktioniert. Also, wenn man sich da gegen diese Umgehungsstraße einsetzt und das klappt und man kann da irgendein Naturschutzgebiet halten und das dann pflegen, das ist doch super.“ (Olaf, Z. 903 ff.) Auch Isabelle hat einen kritischen Blick auf die Möglichkeiten ihrer Einflussnahme. Deswegen hält sie es für nötig, dass jeweils die Leute vor Ort aktiv werden und sich selbst organisieren. Gleichzeitig kritisiert sie mit ihrer Einschätzung aber auch „westliche Einflussnahme“ von Großkonzernen und anderen, die in anderen Ländern die Probleme erst hervorrufen würden.Footnote 103 Die Verantwortung des Westens, und damit auch die von Isabelle, sei es nur, den Menschen vor Ort Beteiligung möglich zu machen und Hilfestellung dabei zu geben, selbst aktiv zu werden. Helena hat mit einem Projekt genau diese Erfahrung gemacht. Von Deutschland aus ein Projekt aufzuziehen, aber in dem entsprechenden Land keine Unterstützung vor Ort zu haben, ergibt ihrer Meinung nach keinen Sinn. Deswegen fördert sie Organisationen und Projekte, die man (finanziell) dabei unterstützten kann, vor Ort selbst aktiv zu werden.Footnote 104

Die erhöhte Motivation für Engagementformen, bei denen eine direkte Sichtbarkeit und Ergebnisse wahrscheinlich sind und eine Einflussnahme leichter ist als bei fernen und komplizierteren Themen, deckt sich mit den Forschungsergebnissen von Teske (2009: 98), der beschreibt, wie viele seiner Interview-Partner*innen sich als „action-takers“ inszenieren. Als Anpacker*innen wollen sie unmittelbar gegen die von ihnen wahrgenommenen Ungerechtigkeiten und Probleme aktiv werden.

„Müll ist ja eigentlich auch ein Alltagsthema.“ (Stefanie) – Alltagsbezug als Motivation

Julia und Stefanie nennen u. a. einen Alltagsbezug als relevantes Motiv für ihr Engagement. Beiden ist wichtig, dass sich das entsprechende Thema oder die Engagementform im Alltag wiederfinden lässt. Für Stefanie ist damit das Thema Plastik bzw. Vermeidung von übermäßigem Plastik-Konsum sehr passend, da Plastik im Alltag omnipräsent sei. „Und diese Up-Cycling-Sache, das mache ich ja schon länger, also Müll als Ressource […] Müll ist ja eigentlich auch ein Alltagsthema. Man kann es natürlich auch auf einer Produktionsebene, auf einer größeren Ebene sehen, aber bei mir kam es auf jeden Fall von einem Alltagsbezug her. Auch das Plastiktüten-Thema oder Plastik an sich, Plastik als Rohstoff. […] also Plastik ist halt omnipräsent, überall.“ (Stefanie, Z. 371 ff.) Julia wiederum möchte Engagement und Alltag miteinander verbinden und den Alltag von anderen bereichern. Mehr aufeinander achten und Horizonte erweitern ist ihr besonders wichtig.Footnote 105 Sie möchte in ihrem Alltag nicht nur dem eigenen Job oder anderen täglichen Aufgaben nachgehen, sondern den Blick für die Gesamtheit stärken.

Die Beschreibungen von Julia und Stefanie stützen ebenfalls das von Teske (2009) gezeichneten Bild der „action-takers“, die konkret und oft auch vor Ort Probleme angehen wollen. Auch Hans (2009: 48 ff.) These, dass Menschen sich verschieden stark für Themen interessieren und dabei eine persönliche Bindung Partizipation wahrscheinlicher macht, lässt sich durch oben genannte Interview-Ausschnitte veranschaulichen.

„[…] vor der eigenen Haustür anfangen und […] vielleicht auch Auswirkungen auf den Eisbären haben […].“ (Julia) – Vom Kleinen aufs Große wirken und über den Tellerrand hinaus schauen

Julia und Sven vertreten die Meinung, dass es Sinn mache, von kleinen Themen zu großen Themen hin zu mobilisieren. Also vor Ort anzufangen und Menschen auf Themen oder Probleme hinzuweisen und dann zu versuchen, sie auch für fernere oder übergeordnete Themen zu sensibilisieren. Sven geht nach dieser Logik vor: „Du musst ganz unten anfangen, hier in dem Ort, in dem kleinen Sumpf und da versuchen, die Leute zu mobilisieren, damit nachgedacht wird. Und wenn dann ein paar dabei sind, die jetzt aus Gründen der Überschriften im Fernsehen oder in den Zeitungen irgendwas mitkriegen, dann auch über den Regenwald stolpern und sagen: Das ist ja genauso ein Mist‘ dann machen sie da auch mit und unterschreiben und unterstützen.“ (Sven, Z. 985 ff.) Sven erhofft sich durch Aufklärungsarbeit vor Ort dann ein Interesse an anderen Themen. Auch Julia hält es für sinnvoll, vor der Haustür anzufangen und von dort weiterzugehen. Sie spricht Themen, die sich im Alltag wiederfinden, aber weltweite Auswirkungen haben, das größte Mobilisierungspotenzial zu. Am Beispiel Plastik zeigt sie auf, wie das Thema für jeden unumgänglich ist und am Ende bis hin zum Eisbären die ganze Welt betrifft: „Ich glaube, dass am besten Themen ziehen, die man so breit vernetzen kann. Also, die so vor der eigenen Haustür anfangen und die aber vielleicht auch Auswirkungen auf den Eisbären haben oder so. Also z. B. Thema Plastik: Jeder nimmt im Supermarkt, wenn er Tomaten kauft die Plastikverpackung mit nach Hause, spätestens beim Tetra Pack von der Milch oder dem Käse […]. Das heißt, jeder benutzt Plastik und wenn man dann da darauf aufmerksam macht, was mit dem Plastik dann weiter passiert und was das für Auswirkungen auf Fische und Pelikane und vielleicht auch den Eisbären hat – ich habe das Gefühl, dass so Themen am ehesten oder am leichtesten zu platzieren sind.“ (Julia, Z. 869 ff.)

Helena und Sarah sprechen diese Eigenschaft insb. dem BUND zu. Er sei eine Organisation, die sich lokal engagiere, aber am Ende mit Friends of the Earth weltweit vernetzt und aktiv sei.Footnote 106 Insbesondere im Unterschied zu Greenpeace sieht Sarah eine Hauptaufgabe des BUND in der Vernetzung mit anderen Umweltorganisationen weltweit unter dem Zusammenschluss Friends of the Earth. Greenpeace ist ihrem Verständnis nach eher als eine Organisation mit verschiedenen Filialen zu verstehen, der BUND hingegen als deutsche Vertretung von Friends of the Earth. Auch Helena schätzt besonders den Blick auf Internationales und die Gesamtheit. Im Gegensatz zum BUND sei der NABU wiederum ausschließlich auf Lokales fokussiert. Der BUND deckt damit in ihren Augen besser lokal und global ab: „Was ich am BUND halt viel besser finde, ist dass der BUND auch diesen Blick über den Tellerrand hat. Das Gesamtheitliche. Der NABU ist immer noch so ein bisschen die alten Vogelschützer und wir haben so großen Ärger im Moment mit dem Ausbau der Windräder, dass der NABU dagegen baggert und das kann es nicht sein. Ich kann nicht meine Vogelkästen sauber machen und nebenan fliegt ein Atomkraftwerk in die Luft.“ (Helena, Z. 477 ff.) Für Helena ist es unverständlich, wie man sich nur für lokale Themen einsetzen und größere Zusammenhänge ignorieren kann.

Einerseits an lokalen Themen interessiert und für solche engagiert zu sein, andererseits dabei aber auch über den Tellerrand hinauszublicken und die größeren Zusammenhänge zu betrachten, lässt sich unter dem Slogan ‚think global, act local‘ zusammenfassen. Diesen schreibt Teske (2009: 86) auch den Umweltschutz-Aktivist*innen seines Samples zu, deren Engagement sich sowohl lokal als auch global zeigt. Ähnlich wie Julia und Helena beschäftigen auch sie sich mit globalen Zusammenhängen und befürworten wie Sarah weltweite Vernetzungen. Sven vermutet, dass sich im Lokalen und Kleinen Bürger*innen besser für Themen sensibilisieren und für Aktionen motivieren lassen, sie später dann aber auch offen für globalere Themen sind. Diesen Typ von Aktivist*innen zeichnet ein weites Verständnis von Politik und politisch aus (vgl. ebd.).

„[…] so wie wir leben, richten wir im Ganzen Schaden an.“ (Sybille) – Global denken und Zusammenhänge erkennen

Für Sybille und Kilian sind es – ganz unabhängig von eventuellem lokalem Engagement – insb. die globalen Themen, die ihnen am Herzen liegen. Ähnlich wie schon Günter zuvor beschrieb, dass Klimawandel und Co. Themen seien, die uns zwangsläufig alle betreffen, sieht auch Kilian globale Zusammenhänge zwischen den Auswirkungen der Erderwärmung, verschiedenen Grundwasser- oder Luftproblemen und den lokalen Problemen, die sich in einzelnen Ländern ergeben. Er schätzt die Lage eher pessimistisch ein und sieht nicht, dass sich viele Menschen global engagieren und/oder dass es viele globale Projekte gäbe, die sich diesen großen Themen ganzheitlich annehmen.Footnote 107 Auch Sybille hält besonders die globalen Themen für wichtig und schätzt an Campact, dass sie nicht nur lokale Themen auf die Agenda setzen, sondern auch Gesamtzusammenhänge betrachten: „[…] ich finde gerade diese globalen Themen wichtig. Für viele andere muss es erstmal runtergebrochen werden, aber ich sehe das Ganze ja im Gesamtzusammenhang. Ich sehe ja, so wie wir leben, richten wir im Ganzen Schaden an. Also von daher müsste für mich Campact nicht lokaler werden. Es könnte sein, dass man dann schafft, andere Menschen anzusprechen. Aber gerade dieses Übergeordnete, wofür Campact so einsteht, also wo Campact dran arbeitet, das ist also total wichtig.“ (Sybille, Z. 868 ff.)

Kilian und Sybille betonen insb. die Wichtigkeit von globalen Themen und Zusammenhängen und sehen dabei verschiedene Auswirkungen – je nach lokalem Kontext. Auch diese Sichtweisen lassen sich dem Motto ‚think global, act local‘ zuordnen.

„[…] dass mich nationale Sachen einfach nicht so antörnen.“ (Felix) – Interesse an exotischen Themen

Andererseits vertreten einige Interview-Partner*innen die Position, dass es insb. die fernen und exotischen Themen sind, die Interesse wecken. Isabelle bspw. findet es spannend, etwas über andere Länder zu erfahren. Deswegen versucht sie neben den konventionellen Informationskanälen über alternative Medien an unabhängige Nachrichten zu gelangen.Footnote 108 Felix wiederum beobachtet zwar, dass er einen persönlichen Bezug braucht, um sich für bestimmte Themen zu interessieren, er erzählt jedoch auch, dass es besonders die internationalen Fragestellungen sind, die sein Interesse wecken. Nationale Belange findet er hingegen eher langweilig: „Sobald man irgendwie eine Art persönlichen Bezug findet – sei es, weil Freunde von einem da waren […]. Es ist vielleicht auch was Persönliches, dass mich nationale Sachen einfach nicht so antörnen. Wenn es um Steuer-Sachen geht oder so, das ist einfach langweilig.“ (Felix, Z. 1050 ff.)

Olaf beobachtet etwas Ähnliches – allerdings nicht bei sich selbst, sondern bei anderen Leuten: „Also, es gibt Leute, die finden so was Exotisches irgendwie interessant und dann sagen die halt: ‚Hey, das ist auch total wichtig, dass man sich gegen das Abroden der Regenwälder in Brasilien einsetzt!‘“ (Olaf, Z. 876 ff.) Julia wiederum findet lokale Themen zwar langweilig und engagiert sich weniger bei Streuobstwiesen und Co., geht bei der Themenwahl dann aber nicht in die Ferne oder sucht sich besonders exotische Problemfelder aus, sondern interessiert sich besonders für einen Bezug zu ihrem Lebensstil: „Z. B. finde ich so die BUND-Arbeit vor Ort, also Streuobstwiese pflegen oder Demo gegen eine Umgehungsstraße in der Regel ziemlich langweilig, während mich Themen, die mit meinem Lebensstil zu tun haben, also z. B. wie fahre ich in den Urlaub oder wie viel Plastik kaufe ich im Supermarkt, schon viel mehr interessieren. Also, ich glaube, am leichtesten interessiere ich mich für Themen, die bei mir persönlich ganz individuell klein anfangen und aber sehr weit Wellen schlagen.“ (Julia, Z. 887 ff.) Wie zuvor beschrieben, sind es besonders die Themen, die sich vom Kleinen bzw. Individuellen auf das Große bzw. Gesamtgesellschaftliche übertragen lassen.

Günter ist mit seinem Institut – im Gegensatz zum BUND – von vornherein auf Internationales angelegt, strebt Kooperationen mit internationalen Partnerprojekten an und reist häufig ins Ausland: „Also, für das IzN spielt diese Frage keine Rolle, weil wir international arbeiten und uns international organisieren. Und auch in Mexiko z. B. suchen wir dann Partner mit denen wir zusammen arbeiten.“ (Günter, Z. 685 ff.) Das Reisen und internationale Projekte machen einen Großteil seiner Arbeit aus.

Gegensätzlich zu oben genannten Positionen gibt es auch solche, die hauptsächlich global denken und sich von lokalen Themen weniger angesprochen fühlen. Olaf interessiert sich für „Exotisches“, Felix findet nationale Themen weniger „antörnend“ und Julia bezeichnet Streuobstwiesen und Umgehungsstraßen-Demos als „langweilig“. Doch auch bei Julia stoßen Themen insb. dann auf Interesse, wenn sie eine persönliche Bindung haben (vgl. Han 2009) und darüber hinaus sehr weitreichende Konsequenzen mit sich bringen. Hier zeigt sich eine ästhetische Komponente der Motive für Partizipation, die in bisheriger Literatur unterschätzt wird. Die Interview-Partner*innen beschreiben schöne, spannende, exotische und internationale Projekte als für sie ansprechender, als lokale Projekte vor der eigenen Haustür. Diese Form von Partizipation bringt es mit sich, auch etwas über andere Länder, Menschen und Kulturen zu lernen oder wie im Fall von Isabelle, durch eine alternative Mediennutzung die Perspektiven anderer Länder auf gewisse Entwicklungen oder Themen kennenzulernen. Die Neugier für das Fremde und Internationale dient hier genannten Bürger*innen als Motiv für Engagement und als Erweiterung ihrer (nationalen) Perspektive.

„Wenn das ganze System in Frage gestellt wird […].“ (Sybille) – Ungerechtigkeiten bekämpfen und ganzheitlichen Wandel herbeiführen

Für fünf der 18 Gesprächspartner*innen stellt es eine wichtige Motivation dar, gegen Ungerechtigkeiten, das bestehende System und endloses Wirtschaftswachstum vorzugehen und für einen ganzheitlichen, gesellschaftlichen Wandel einzustehen. Sybille kritisiert ausführlich das gegenwärtige Geld- und Wirtschaftssystem. Sie fordert ein Abwenden vom Streben nach stetigem Wirtschaftswachstum, befürchtet aber, dass es noch zu früh sei, um das ganze System in Frage zu stellen, da Menschen beim Thema Geld nicht offen für neue Denkansätze seien: „Ich würde mir das Geld- und Wirtschaftsthema auch noch wünschen. Aber vielleicht ist das auch noch zu früh, um das so rauszubringen. Das ist nämlich eigentlich letztlich irgendwo ein Thema, was ganz schön viel Widerstand hat. Also das ist eigentlich ein Tabu-Thema. Ja, bei Geld sind viele Menschen nicht mehr erreichbar, wenn darüber kritisch gesprochen wird. […] Kapital wächst exponentiell, die ganze Zeit und Wirtschaftswachstum kann gar nicht folgen. Wie denn auch? Produktion kann nicht exponentiell wachsen, also die menschliche Arbeitskraft zumindest nicht.“ (Sybille, Z. 360 ff.) Sybille hat kein Verständnis dafür, dass durch die Technisierung das Wirtschaftswachstum stetig gesteigert wird, während in ihren Augen dadurch die Arbeitslosigkeit zunimmt. Neben diesem Wandel im Wirtschafts- und Geldsystem fordert sie auch einen gesellschaftlichen Wandel, ein Wandel im Miteinander unter den Menschen und im Umgang mit natürlichen Ressourcen. Für Sybille bieten Transition Towns hier die richtige Antwort: Eine Verbindung von Umwelt- und Gesellschaftsfragen, eine Relokalisierung der Wirtschaft und ein Schwerpunkt auf die Vernetzung untereinander.Footnote 109

Sonja argumentiert in einer ähnlichen Richtung und fordert eine gerechtere Verteilung von Arbeit und Einkommen, sowie einen sparsameren Umgang mit vorhandenen Ressourcen: „Und dass wir eigentlich dringend, ganz dringend zurückrudern müssen und weniger verbrauchen und nicht mehr. Arbeit gerecht verteilen, Einkommen gerecht verteilen.“ (Sonja, Z. 72 ff.) Diese vorhandene Ungerechtigkeit beobachtet auch Mareike, die die momentane Arbeitsmarktsituation überspitzt mit Sklavenarbeit vergleicht.Footnote 110 Kilian beschreibt die gegenwärtige Situation hingegen aus einer positiven Perspektive, stellt einen hohen Lebensstandard, Freiheit und Reichtum fest und schlussfolgert daraus, dass es genug gäbe, um zu teilen und weiterzugeben. Das ist für ihn die richtige und gerechte Konsequenz und seine persönliche Hauptmotivation: „Und diese Freiheit, diesen Reichtum, den wir haben, würde ich gern erstmal teilen und weitergeben und das ist so die Hauptmotivation für mich.“ (Kilian, Z. 288 ff.)

Die Aussagen von Mareike, Kilian, Sonja und Sybille veranschaulichen Teskes (2009: 83 f.) Ergebnissen zu seinem Social-Change-Aktivist, der stark politisiert ist und fundamentale Veränderungen der Gesellschaft erwirken möchte, bspw. ein anderes Wirtschafts- und Arbeitsmarktsystem. Dieser Typ von Aktivist*in hat eine weitere Sicht auf die Dinge und die Welt als andere Bürger*innen. Wie oben bereits beschrieben, denken auch die hier zitierten Interview-Partner*innen in globalen Zusammenhängen. Sie haben Erfahrungen mit Ungleichheit, Ungerechtigkeit und moralischer Empörung gemacht und wollen ihr Umfeld verändern (vgl. Klandermans 2004: 362 ff.). Dies motiviert sie, sich zivilgesellschaftlich zu engagieren und ihre Reichtümer teilen zu wollen.

„Also muss ich sehen, dass ich meine Welt mir so schaffe, wie sie mir gefällt.“ (Daniela) – Im eigenen Umfeld und im größeren gesellschaftlichen Kontext Veränderungen bewirken

Mit vielen der bereits beschriebenen Motiven konform geht auch das Argument, zuerst zuhause aufzuräumen, bzw. dort anzufangen, wo man gerade ist. Jeder, der Vorstellungen von der Zukunft habe, müsse sich aktiv daran beteiligen, in die Gesellschaft hineinzuwirken und Zukunftsvorstellungen mit zu formen. Daniela nimmt die Dinge deswegen gern selbst in die Hand: „Ich bin immer der Meinung gewesen, ich kann mich auf andere nicht verlassen, mir die Welt zu schaffen, wie ich sie gerne möchte. Weil das ist ja Quatsch. Warum sollen sich andere mit den Belangen beschäftigen, die ich gerne möchte? Also muss ich sehen, dass ich meine Welt mir so schaffe, wie sie mir gefällt. Und dafür muss ich mich einbringen.“ (Daniela, Z. 313 ff.) Ihre logische Konsequenz daraus ist, dass sie sich selbst für ihre Interessen einbringen muss. Dem würde Günter wohl zustimmen, denn auch er ist der Meinung, dass sich jeder, der Vorstellungen über seine Zukunft hat, dafür einbringen müsse: „Ich sagte ja, es gibt verschiedenen Möglichkeiten, Dinge zu verändern oder weiterzubringen. Wenn du selbst irgendwelche Vorstellungen über deine Zukunft hast, dann musst du dich dafür auch engagieren. Die Gesellschaft als Ganzes bewegt sich in irgendeine Richtung.“ (Günter, Z. 429 ff.) Solche großen gesellschaftlichen Bezüge sieht auch Sarah, die selbstreflektiert die Frage stellt, wie für sie der richtige Weg ist, im privaten Bereich oder gesamtgesellschaftlich zu wirken. „Für mich war mehr so die Frage, was ist eigentlich der richtige Weg? Was ist wichtig? Wo setzt man die Prioritäten? Jetzt so in der Veränderung im eigenen Bereich oder in dem, dass man nochmal versucht, in die Gesellschaft hineinzuwirken?“ (Sarah, Z. 425 ff.) Sie hat sich dabei für eine Kombination aus beidem entschieden, setzt einerseits ihre Vorsätze privat um, nutzt bspw. ausschließlich öffentliche Verkehrsmittel, produziert selbst Honig und baut viel Obst und Gemüse an, andererseits will sie gleichzeitig aber auch in die Öffentlichkeit gehen und in Gesellschaft hineinwirken. Deswegen sei ihr die Arbeit beim BUND so wichtig, denn darüber könne man andere erreichen und informieren.Footnote 111 Trotz ihrer Überzeugung, dass Öffentlichkeitsarbeit zu einer Bewusstseinsveränderung führen kann, ist sie sich darüber bewusst, dass dieser Weg ein langer Weg ist.

Stefanie und Kilian betonen hingegen die Wichtigkeit davon, bei sich selbst anzufangen und zuhause aufzuräumen, bevor man anderen Menschen Vorschriften macht, wie sie sich zu verhalten haben. Für Stefanie hat dies auch den Grund, dass man in ihren Augen nicht glücklich sein kann, wenn man anderen Leuten Lebensweisen vorschreibt, die man selbst nicht einhält: „Das ist auch eine ganz große Überzeugung von mir. Dass man bei sich selbst zuhause erstmal aufräumt, bevor man anderen Leuten sagt, wie man es machen soll. Deswegen bin ich glaube ich auch kein unglücklicher Mensch. Weil man sonst glaube ich auch in dem Bereich zugrunde geht, auch mental.“ (Stefanie, Z. 1110 ff.) Kilian (Z. 114 ff.) ist ebenso der Ansicht, dass man dort wirken sollte, wo man gerade ist. Aus diesem Grund ist er bei sich an der Uni engagiert, denn hier kann er Veränderungen, die auf sein Handeln zurückgehen, greifbarer und direkter erfahren. Er will, ähnlich wie Stefanie, anderen nicht vorschreiben, wie sie sich zu verhalten haben, wünscht sich insb. mit Blick auf eine Generationengerechtigkeit jedoch, dass jeder Einzelne etwas mehr die größeren globalen Zusammenhänge berücksichtigen und bei sich selbst mit Veränderungen anfangen würde: „Und in meinem Sinne, den ich gerade beschrieben habe, Generationengerechtigkeit, wäre es natürlich toll, wenn jeder Einzelne das auch ein bisschen bedenkt, an den größeren globalen Zusammenhang, aber auch vielleicht – ich weiß nicht, ob die Merkel es sogar gesagt hat: ‚Die Energiewende beginnt bei dem Bürger selbst‘ oder so.“ (Kilian, Z. 306 ff.)

Für Isabelle und Julia sind insb. die größeren gesellschaftlichen Kontexte wichtig und beide wollen hier wirken, um Gesellschaft als Ganzes mitzugestalten. Isabelle findet sich deshalb im Begriff ‚gesellschaftspolitisch engagiert‘ wieder, denn ihr ist Parteipolitik zwar fern, doch sie findet es umso wichtiger auf verschiedenen Ebenen und durch verschiedene Akteure in die Zivilgesellschaft hineinzuwirken.Footnote 112 Dieser Aspekt wurde bereits in Abschnitt 5.2 mit Fokus auf Isabelles Bürgerschafts- und Selbstverständnis thematisiert.

Julia hat in der Vergangenheit ehrenamtlich in der Hausaufgabenbetreuung ihrer Schule ausgeholfen und Jugendfreizeiten als Teamerin unterstützt, dabei aber einen größeren gesellschaftlichen Kontext vermisst. Daraufhin hat sie sich mit der BUNDjugend und dessen Aktivitäten einen Umweltverband gesucht, der versucht auch gesamtgesellschaftlich zu wirken. Julia hofft, dadurch kleine Zeichen in einer ansonsten ihrem Verständnis nach sehr ignoranten Gesellschaft setzen zu können: „Dann so dieser gesellschaftliche Aspekt kommt glaube ich daher, dass ich insgesamt unsere Gesellschaft ziemlich ignorant finde, also ich bin da nicht zufrieden. Ich finde, dass viel ziemlich schlecht läuft. Ich verstehe nicht, wie man so anonymisiert leben kann, wie wir das in unseren Städten tun. […] aber ich denke mir, dass es eigentlich ziemlich einfach ist, so kleine Zeichen dagegen zu setzen. Und deshalb, ich glaube, das motiviert mich immer wieder, das so zu machen.“ (Julia, Z. 225 ff.)

Der u. a. von Stefanie angesprochene Aspekt, bei sich selbst vor der Haustür anzufangen und einen eigenen Beitrag zu gesamtgesellschaftlichem Wandel beizutragen, beschreibt bereits Teile einer „Identität“ (Klandermans 2004: 361) von Partizipation: Mit sich selbst im Reinen zu sein, mit der persönlichen Identität zufrieden zu sein und nicht Anderen zu sagen, wie man sich zu verhalten habe, während man selbst mit eben diesen Regeln bricht. Solch eine persönliche Identität ist immer auch Teil einer kollektiven Identität. Dieser Aspekt wird im weiteren Verlauf ausführlicher betrachtet. An dieser Stelle scheint zuerst jedoch interessant, dass eine wichtige Motivation für Engagement ist, mit sich selbst und den eigenen Aktivitäten zufrieden zu sein, die Aktivitäten für richtig und wichtig zu verstehen und eine ganzheitliche Lebensperspektive einzunehmen, die jeweils mit Veränderungen vor der eigenen Haustür beginnt (vgl. Teske 2009: 126). Affektive Bindungen (Goodwin/Jasper/Polletta 2004: 418) zum persönlichen Umfeld und Wohnort, wie bspw. von Julia beschrieben, verstärken diese Motive wiederum.

„Weil wenn ich mit zwei, drei netten Leuten […] für was kämpfe, von dem ich überzeugt bin, das ist doch toll!“ (Olaf) – Neue Leute kennenlernen und mit ähnlich Denkenden für die gleiche Sache einstehen

Eine weitere Motivation, die in Abschnitt 5.3.2 „Kollektive Identität und Mitgliedschaft“ nochmal genauer analysiert wird, stellt der Kontakt zu anderen Menschen dar: Entweder ähnlich denkende Menschen zu treffen und sich mit diesen auszutauschen oder über das Engagement explizit neue Leute kennenzulernen. Olaf, Franz und Sonja haben in den Interviews diese Aspekte besonders betont. Sonja hat, wie schon beschrieben, nach ihrem Umzug neue Kontakte gesucht und diese dann insb. durch die Anti-Fracking-Protestaktionen von Campact und dem BUND gefunden. Auch Franz lobt Campacts gemeinschaftliche Mitmachmöglichkeiten und sagt aus, darüber gleichdenkende Menschen zu treffen.Footnote 113 Olaf erfährt beim BUND ebenso eine Gemeinschaft von „netten Leuten“, dessen Gesellschaft er sehr zu schätzen weiß – da es seiner Erfahrung nach nicht in allen Bereichen immer freundlich und harmonisch zugeht. Und manchmal lernt er dabei auch neue Leute kennen: „Und es ist ja auch nicht so, dass man da alleine steht. Normalerweise macht man es mit mehreren und das sind meistens, muss ich sagen, ja auch wirklich nette Leute. Und das ist in anderen Bereichen oft anders, sehr anders, und insofern bin ich auch froh drum. Weil wenn ich mit zwei, drei netten Leuten, die ich sehr nett finde, da für was kämpfe, von dem ich überzeugt bin, das ist doch toll! […] am Ende ist es doch oft so, ich habe auf jeden Fall was dabei gelernt, ich habe vielleicht auch nette oder interessante Leute kennengelernt und vielleicht ist sogar was richtig Gutes bei rübergekommen.“ (Olaf, Z. 183 ff.)

Die von Franz und Olaf ausgeführten Aspekte der Gemeinschaftlichkeit und des Kennenlernens stärken die These von Goodwin/Jasper/Polletta (2004: 418), dass „affective bounds“ Individuen als Motiv für Partizipation dienen. Affektive Bindungen zu anderen Menschen, zu Orten und in Form von Loyalität gegenüber einer Gruppe steigern die Wahrscheinlichkeit für Engagement und zeigen an, wer oder was Individuen besonders wichtig ist. Auch die Untersuchungsergebnisse von McAdam (1989), dass das Level gegenwärtigen Engagements höher ist, wenn die Zahl bestehender Kontakte zu anderen Aktivist*innen hoch ist, lassen sich durch Olaf und Franz Aussagen veranschaulichen. Neben einer Kosten-Nutzen-Rechnung („Instrumentalität“) und einer gemeinsamen Ideologie beschreibt Klandermans (2004: 364 f.) als dritten ausschlaggebenden Aspekt für Partizipation die „Identität“. Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe und ihren anderen Teilnehmer*innen basierend u. a. auf empfundener Sympathie, motiviert Engagement und ist Teil einer kollektiven Identität. Der Aspekt der Gemeinschaft, das Zusammenkommen mit Gleichgesinnten und das Netzwerk von Freund*innen und Bekannten wird in Abschnitt 5.3.2 „Kollektive Identität und Mitgliedschaft“ anschließend detaillierter thematisiert.

„Weil mir so viel geschenkt wurde oder ermöglicht wurde durch diese Gesellschaft […].“ (Gerd) – Der Gesellschaft etwas zurückgeben

Eine ganz andere Motivation nennt Gerd, der nach eigener Aussage als Flüchtlingskind nach Deutschland kam. Die Familie hatte damals nicht viel und trotzdem wurden ihm viele Optionen ermöglicht. So ist er heute seiner Familie, aber auch der Gesellschaft und insb. Willy Brand mit seiner Bildungsoffensive sehr dankbar und möchte der Gesellschaft dafür etwas zurückgeben. „Ich habe so ein unendlich glückliches und engagiertes und rundes Leben gehabt und auch reiches Leben – so also reich im Sinne von vielen Möglichkeiten. Also, wenn ich bedenke, dass ich ein Flüchtlingskind bin und die hatten gar keine Chance hier. […] Und das ist so ein bisschen auch die Motivation. Weil mir so viel geschenkt wurde oder ermöglicht wurde durch diese Gesellschaft, dass ich denke, das wird nur möglich, wenn Menschen sich auch engagieren. […] dass man auch der Gesellschaft was zurückgeben muss, wenn man viel bekommen hat.“ (Gerd, Z. 196 ff.)

Ähnlich wie Olaf und Franz beschreibt auch Gerd affektive Bindungen und Loyalität zu einer Gruppe. In seinem Fall jedoch abstrakter und größer, indem er nicht nur von Gleichgesinnten und Mitstreiter*innen einer Organisation spricht, sondern der Gesellschaft als Ganzes etwas zurückgeben möchte. Nach Klandermans (2004: 364 f.) nehmen Individuen in ihrer Identitätsarbeit verschiedene Rollen an, je nach dem in welchem Kontext sie sich gerade befinden. Gerd hat nach eigenem Empfinden in der Vergangenheit viel Unterstützung von der Gesellschaft erhalten und besitzt heute ausreichend Ressourcen, um etwas zurückzugeben. Sein Engagement versteht er als persönlichen Beitrag zum Funktionieren der Gesellschaft und es motiviert ihn, dass er sein gegenwärtiges „reiches Leben“ mit anderen teilen kann.

„Und da haben mich die Kommentare von den Unterschreibenden, den Unterstützern total motiviert!“ (Stefanie) – Kommentare und Unterstützung durch andere als Motivation

Eine sehr spezifische Motivation für das Unterschreiben von Online-Petitionen nennt Stefanie, die selbst eine Online-Petition erstellt hatte. Sie unterzeichnet insb. auch solche Petitionen, dessen Ersteller*in zuvor ihre eigene Petition unterschrieben hat.Footnote 114 Bei der eigenen Online-Petition wurden Sonja und Stefanie insb. durch Kommentare der Unterstützer*innen motiviert. Nach Unterzeichnen einer Petition auf Change.org hat man die Möglichkeit, einen Kommentar mit einer Begründung für die Unterstützung zu hinterlassen. Diese Möglichkeit nehmen viele Unterstützer*innen wahr und Sonja und Stefanie waren dadurch motiviert weiter zu machen: „[…] und der [Förster] war immer ganz begeistert über die Kommentare, die die Leute geschrieben haben. Wenn die Leute dann geschrieben habe: ‚Als Kind habe ich immer im Wald gespielt‘, usw. Es ist dann auch wieder motivierend für einen, weiter zu machen.“ (Sonja, Z. 557 ff.) Stefanie hat es gleichermaßen empfunden und sich besonders in zähen Zeiten durch die Kommentare unterstützt gefühlt: „Und es war auch super spannend, diese ganzen Kommentare zu lesen. Das hat mich auch dann noch weiter motiviert. Als es dann nachher zum Schluss schon auch eher zäher wurde […]. Und da haben mich die Kommentare von den Unterschreibenden, den Unterstützern total motiviert!“ (Stefanie, Z. 524 ff.) Auch in diesem spezielleren Fall dient die Unterstützung durch eine Gemeinschaft und kollektive Identität über die Petitionsplattform als Motivation für das persönliche Engagement. Sonja und Stefanie finden Unterstützung in einer ausschließlich online existierenden Gemeinschaft. Über das Unterzeichnen von Online-Petitionen drücken sie u. a. Sympathie für andere Petent*innen aus und vernetzen sich untereinander.

„Das gibt mir irgendwo einen Sinn.“ (Franz) – Im Reinen mit sich sein und sich gut (dabei) fühlen

Vier der 18 Interview-Partner*innen berichten, dass ihnen das Engagement ein Gefühl von Sinn verleiht, sie sich deswegen wohl fühlen oder es ihnen ein tolles Gefühl gibt, etwas selbst gestalten zu können. Durch sein Engagement und insb. die Mitmachmöglichkeiten, die Campact bietet, fühlt sich Franz als Teil einer Bewegung und sagt ganz deutlich, dass ihm dies einen Sinn gäbe: „[…] speziell jetzt Campact: Die sind unheimlich aktiv und machen tolle Sachen. Das begeistert mich dann auch wieder! Da mitmachen zu können und irgendwie Teil dieser Bewegung zu sein. Das ist für mich schon von Bedeutung. Das gibt mir irgendwo einen Sinn.“ (Franz, Z. 106 ff.) Sybille beschreibt es als eine innere Balance und ein Gleichgewicht mit der Natur und mit anderen Menschen. Nur so kann sie im Einklang mit sich selbst leben.Footnote 115 Auch Helena möchte mit sich selbst im Reinen sein, würde sich nicht leiden können, wenn sie nicht aktiv wäre und entwickelt diese Ideen noch eine Ebene weiter und vergleicht dies mit dem Eintritt in den Himmel oder die Hölle. Sie schlussfolgert, dass sie sich (auch) einbringt, damit sie sich selbst gut fühlt: „Genau, ich könnte mich nicht mehr leiden! Ich sage dann auch immer noch, wenn ich vorm Herrgott irgendwann stehe, will ich da erhobenen Hauptes da reingehen und nicht ... Also, ich hätte wirklich ein schlechtes Gewissen und ich würde mich nicht gut fühlen. Ich mache es wirklich, damit ich mich gut fühle. Vielleicht damit andere sich auch noch gut fühlen, ist auch noch in Ordnung.“ (Helena, Z. 204 ff.)

Auch Teske (2009: 36) beschreibt, dass es für viele der Vollzeit-Aktivist*innen seines Samples wichtig ist, dass sie etwas tun, was ihren Werten entspricht. In den „Involvement Stories“ (ebd.: 51 ff.) seiner Untersuchungsteilnehmer*innen beobachtet Teske, dass persönliche Krisen und die Suche nach einem Sinn Ausgangspunkte und Motivation für Engagement sein können. Lebenslange Verpflichtungen, die auf Moralvorstellungen zurückgehen, sind Teil der Identitätskonstruktion der Individuen und begünstigen Aktivismus. Genau wie Helena beschreibt auch Teske (ebd.: 126) eine ganzheitliche Perspektive auf das Leben, bei der man am Ende beurteilen müsse, ob man mit dem eigenen Leben zufrieden sei oder nicht. Dieses Bedürfnis nach Ganzheitlichkeit muss nicht zwingend religiös sein, sondern drückt ein grundsätzliches Bedürfnis der Individuen aus, mit sich selbst im Reinen zu sein.

Einer der vier Typen von Emotionen und Affekten von Goodwin/Jasper/Polletta (2004: 421 f.) sind die „moral emotions“. Aus diesen moralischen Emotionen heraus entsteht eine normative Sicht auf die Welt und den eigenen Platz in dieser Welt. Das Individuum reflektiert das eigene Handeln und prüft, ob es im Einklang mit den eigenen Moralvorstellungen ist. Auch Franz, Sybille und Helena wollen mit sich selbst im Reinen sein und engagieren sich u. a., weil es ihre Moralvorstellungen erfordern. Bei ihnen breitet sich eine zufriedene Stimmung dadurch aus, dass sie gehandelt haben und Missstände nicht einfach kampflos hingenommen haben. Diese Aspekte sind auch Teil von Klandermans (2004: 365) Konzept einer „Ideologie“, in welcher Emotionen und Moralvorstellungen eine tragende Rolle spielen. Individuen wie Helena, Franz und Sybille wollen durch Aktivismus ihrer Welt eine Bedeutung geben und ihren Ansichten Ausdruck verleihen.

„Wir können nicht immer nur dagegen sein, wir müssen auch mal für etwas sein, nämlich für erneuerbare Energien.“ (Sonja) – Für etwas sein, anstatt immer nur dagegen

Die Motivation von Sonja und Günter für ihren Aktivismus ist positiv ausgerichtet: Anstatt immer nur gegen etwas zu sein, plädieren sie dafür, auch mal für etwas zu sein. In der Praxis sieht Sonja dies im Falle der Anti-AKW-Bewegung bzw. Erneuerbare-Energien-Bewegung erfüllt: „Und vor allem, die Anti-AKW-Bewegung hat ja gemündet in die Bewegung für Erneuerbare Energien. Weil halt da die Einsicht gekommen ist: Wir können nicht immer nur dagegen sein, wir müssen auch mal für etwas sein, nämlich für erneuerbare Energien. Und das ist einfach der entscheidende Punkt.“ (Sonja, Z. 65 ff.) Sie hält es für wichtig, sich auch mal für etwas auszusprechen, anstatt nur gegen etwas und auch das dazugewonnene Wissen würde die Forderung nach neuem Wirtschaften und neuer Energiegewinnung legitimieren. Günter (Z. 857 ff.) wendet diese Herangehensweise auf seine Organisation an und macht sich für das Thema Energieeffizienz stark. Es sei einfacher, die Vermeidung von Ressourcenverbrauch zu fördern, da jeder einsehe, dass sparen besser sei als verschwenden.

Diese Herangehensweise an Aktivismus, sich bewusst für etwas einzusetzen, anstatt gegen etwas, ist in der Partizipations- und Protestforschung bisher wenig berücksichtigt. Dass es für die Motivation der Bürger*innen förderlich sein könnte, positive Projekte und Ziele zu verfolgen, anstatt sich ausschließlich mit der Verhinderung von etwas zu beschäftigen, scheint jedoch vielversprechend. Dieser Aspekt wurde bereits in Abschnitt 5.2 „Bürgerschaftsverständnis“ mit Blick auf die Selbstdarstellung und Außenwirkung Sozialer Bewegungen thematisiert. An dieser Stelle und mit Fokus auf die expliziten Motive für Partizipation ist jedoch relevant, dass die Einstellung ‚für‘ etwas zu sein und insb., wenn es zukunftsorientierte Projekte wie im Bereich der erneuerbaren Energien sind, den Bürger*innen mit größerer Wahrscheinlichkeit ein Erfolgserlebnis in Aussicht stellt, als wenn immer nur versucht wird, etwas zu verhindern. Bei dieser positiv ausgerichteten Form von Aktivismus motiviert es, selbst etwas anzuregen und aufzubauen und die Zukunft nach den eigenen Vorstellungen mitzugestalten.

„[…] ein Muss für jeden, der ein bisschen Verstand hat, sich da einzusetzen.“ (Mareike) – Engagement als Muss

Ein weiteres wichtiges Motiv für persönliches Engagement ist die Begründung, dass es einfach gemacht werden müsse und dass man nicht nichts gemacht haben will. Hier spielen Moral und Verantwortungsbewusstsein eine tragende Rolle. Von den Interview-Partner*innen wird an den menschlichen Verstand appelliert, an das eigene Gewissen, an die Gesellschaft und an die Demokratie. Mareike hält es deswegen für ein Muss, sich einzusetzen: „Ja, also ich denke, wer da einfach so vor sich hinlebt und sich nicht einbringt, der kann auch nichts erreichen und ich denke, das ist eigentlich ein Muss für jeden, der ein bisschen Verstand hat, sich da einzusetzen.“ (Mareike, Z. 390 ff.) Auch Valeria beschäftigt sich mit der Frage, was man tun müsse und kommt zum Entschluss, dass sie ‚Masse‘ machen muss. Damit erhofft sie sich, auf bestehende Missstände aufmerksam zu machen und kritisiert diejenigen die die Missstände nur beklagen, aber selbst nicht aktiv werden. Ihr ist es wichtig, sich Gehör zu verschaffen und keine passive Haltung einzunehmen.Footnote 116 Dabei empfindet sie Straßendemonstrationen als passende Form. Für Isabelle wiederum ergibt sich das Muss daraus, dass wir alle Teil der Gesellschaft sind, welche mitgestaltet werden muss. Sie vergleicht gesellschaftliches Engagement mit demokratischen Wahlen, wo eine einzelne Stimme vielleicht nicht viel ausmache, sich am Ende aber wie ein Mosaik zu einem großen Ganzen zusammenfüge: „Weil es gemacht werden muss. Also, wir sind ja alle, jeder Einzelne ist ja ein Teil der Gesellschaft und gestaltet die mit. Das ist wie in der Demokratie: Eine einzige Wählerstimme, die verändert überhaupt nichts. Aber trotzdem, wenn alle zur Wahl gehen, dann steht am Ende ein Ergebnis und es kommt ein Bild dabei raus. […] Und genau das gleiche ist es auch beim politischen oder gesellschaftlichen Engagement: Dass jede kleine Veränderung oder jedes kleine Projekt, das ist nur ein winziger Teil vom Mosaik, aber es fügt sich dann zusammen.“ (Isabelle, Z. 165 ff.) Folglich macht für Isabelle jedes persönliche Engagement und jedes noch so kleine Projekt einen Unterschied. Denn würde man sich nicht einbringen, würden man denen den Gestaltungsspielraum überlassen, die vielleicht ganz gegensätzliche oder rein wirtschaftlich motivierte Interessen verfolgen.

In Konsequenz dessen beschreibt Helena, dass sie sich nicht wohl fühlen würde, wenn sie sich nicht einbringen würde. Deswegen versucht sie so zu leben, wie sie es auch von anderen erwarten würde: „Und, also das hat mir meine Tochter erklärt, dass das der kategorische Imperativ ist, dass ich eigentlich so leben will oder dass ich so lebe, wie ich gerne hätte, dass alle anderen Leute leben. Dass ich finde, […] ich könnte mich sonst nicht leiden. Es ist ein Stück weit, glaube ich auch, vielleicht Altruismus oder egoistisch, keine Ahnung, aber ich würde mich damit nicht wohl fühlen.“ (Helena, Z. 195 ff.) Schlussendlich ist sie nicht sicher, ob sie damit auch egoistischen oder altruistischen Zielen nachgehe. Der Argumentation von Teske (2009: 108 ff.) folgend, ist eine klare Unterscheidung zwischen Eigennutzen und Moral jedoch weder sinnvoll, noch sich gegenseitig ausschließend. Auch Sybille wäre unglücklich, wenn sie sich nicht einbringen würde, sie möchte später nicht auf die Vergangenheit zurückblicken und sich fragen müssen, wie etwas so geschehen konnte. Sie zieht sogar einen Vergleich zum Dritten Reich heran. Sybille betont die Wichtigkeit davon, etwas zu versuchen, selbst wenn nicht immer alles so gelingt, wie man es gerne hätte.Footnote 117

Wie von Goodwin/Jasper/Polletta (2004: 421) mit dem Begriff der „moods“ beschrieben, stellt sich bei vielen Bürger*innen bereits eine zufriedene Stimmung dadurch ein, überhaupt aktiv geworden zu sein und es probiert zu haben. Nicht immer müssen große, langfristige Ziele erreicht werden, manchmal reichen auch Zwischenziele und Kompromisse aus. Im Namen der späteren Generationen gehandelt zu haben und sich später keine Vorwürfe machen zu müssen, ruft bei einigen ein Gefühl der Zufriedenheit hervor. Oben zitierte Aussagen stützen auch das Konzept von Verba/Schlozman/Brady (1995: 391 f.) von „issue engagements“. Diese Komponente erklärt Partizipation mit den Moral- und Wertvorstellungen von Bürger*innen.

Aufbauend auf Isabelles Argument, dass zivilgesellschaftliches Engagement ähnlich wie bei Wahlen so funktioniere, dass sich viele kleine Teile zu etwas Großem zusammenfügen, folgern Daniela, Markus und Isabelle, dass Demokratie nicht ohne aktives Einbringen funktioniere. Laut Markus muss jeder ein Stück dazu beitragen: „Jeder muss sich engagieren, finde ich. Weil sonst die Demokratie nicht funktioniert. Die funktioniert nicht von alleine. Muss jeder ein Stück beitragen. […] Würde ich schon sagen, ist ein bisschen eine Pflicht, ja. Also, viele scheren sich nicht drum, aber ich würde es schon als eine Pflicht bezeichnen.“ (Markus, Z. 107 ff.) Für Daniela zählt aktiv zu werden, anstatt nur zu meckern. Neben der Straße, hätten Bürger*innen auch die Möglichkeiten, sich über das Netz einzubringen und da in einer Demokratie jeder diese Möglichkeiten habe, solle er sie auch nutzen, anstatt Demokratie nur einzufordern. „Weil man nicht immer nur meckern soll, sondern man soll tätig sein. Und wenn ich schon nicht auf die Straße gehen will, dann habe ich diese Möglichkeiten im Netz. Und jeder hat die Möglichkeit. Jeder sagt immer, ich will die Demokratie.“ (Daniela, Z. 553 ff.) Diese Argumente wurden bereits ausführlicher in Abschnitt 5.2 „Bürgerschaftsverständnis“ beleuchtet.

„Die Ziele sind mir einfach zu wichtig, ich nehme das halt in Kauf.“ (Olaf) – Die Dringlichkeit des Problems überwiegt den unangenehmen Aspekten des Aktivismus

Helena und Olaf beschreiben als persönliche Motivation auch das Wissen um die Dringlichkeit eines Problems. Olaf sind die Ziele seiner Aktionen so wichtig, dass er dafür auch die anstrengenden Seiten des Aktivismus – wie früh aufstehen oder im Kalten draußen stehen zu müssen – gerne in Kauf nimmt: „[…] ich meine, es ist ja auch nervig teilweise. Wenn man dann irgendwie weiß: Okay, am Wochenende haben wir eine Aktion, da muss ich sehr früh raus und die Materialien holen und es ist vielleicht kalt und ich bin müde und ich kriege auch nichts dafür gezahlt und vielleicht wird die Aktion ja auch gar nicht erfolgreich. […] Aber gut, ich habe halt immer bisher, dass ich überkompensiert bin, dadurch, dass ich sage: Die Ziele sind mir einfach zu wichtig, ich nehme das halt in Kauf.“ (Olaf, Z. 178 ff.) Für Helena wiederum gibt es einerseits Themen, die ihr persönlich besonders am Herzen liegen und andererseits solche, bei denen sie wegen der Dringlichkeit aktiv ist. Sowohl persönlicher Bezug als auch das Empfinden von Dringlichkeit führen bei ihr gleichermaßen dazu, dass sie sich engagiert.Footnote 118

Laut Olaf und Helena können die Kosten für Engagement durchaus hoch sein, doch der Nutzen des Aktivismus überbiete dies. Die Ziele sind ihnen zu wichtig, als dass sie sich von schlechtem Wetter oder frühem Aufstehen abschrecken lassen würden. Mit Klandermans (2004: 362 ff.) Begriff der „Instrumentalität“ lässt sich beschreiben, wie ausgehend von Unzufriedenheit die Nachfrage nach Wandel steigt und Teilnehmer*innen von Sozialen Bewegungen glauben, dass sie ihr politisches Umfeld zu ihren Vorteilen verändern können – und dies zu sich lohnenden Kosten.

„Es macht ja sonst keiner!“ (Franz) – Nicht bequem sein oder sich auf andere verlassen, sondern selbst anpacken

Ein weiteres von vielen Interview-Partner*innen genanntes Motiv für das eigene Engagement ist das Argument, dass es ja sonst keiner machen würde. Dem zugrunde liegt ein geringes Vertrauen in andere Bürger*innen und Mitmenschen, besser verlasse man sich nicht auf die anderen, sondern werde selbst aktiv. Stefanie hält es folglich für faule Ausreden, wenn Mitbürger*innen der Politik die Verantwortung zuschieben oder darauf warten, dass andere aktiv werden, anstatt selbst etwas zu unternehmen.Footnote 119 Franz und Sven haben ein ebenso negatives Bild von ihren Mitbürger*innen, ganz nach dem Motto: „Es macht ja sonst keiner!“ (Franz, Z. 95 ff.). Es sei wichtig, Flagge zu zeigen, sich einzubringen, auch mal aufzustehen und etwas zu sagen, wenn es unangenehm werde und sich in solchen Fällen auch nicht einschüchtern zu lassen. „Es ist wichtig, was zu tun und irgendein paar Leute müssen auf die Straße gehen, irgendwelche müssen Unterschriften mal mitmachen. Es macht ja sonst keiner! Oder was heißt ‚macht keiner‘ – es sind schon in der Summe viel, aber die Summe die nichts macht, ist deutlich größer.“ (Franz, Z. 95 ff.) Aus Franz Sicht gibt es zu viele Menschen, die sich nicht einbringen, die leben ohne darüber nachzudenken und keine Rücksicht auf ihre Mitmenschen nehmen. Sven hält es ebenso für wichtig, sich zu engagieren, „weil sonst alle machen, was sie wollen.“ (Sven, Z. 114 ff.)

Diese Einstellung steht gegensätzlich zur zweiten Komponente des CVM von Verba/Schlozman/Brady (1995: 345 ff.), dem „(psychological) engagement“, welches sich auf die Einstellung des Individuums zu anderen Bürger*innen und zu Politik bezieht. Verba/Schlozman/Brady (ebd.) stellen die These auf, dass sich Bürger*innen mit größerer Wahrscheinlichkeit engagieren, wenn sie ein hohes Vertrauen in andere Bürger*innen und Politiker*innen haben. Bei Sven und Franz ist es hingegen der Fall, dass ein niedriges Vertrauen in die Fähigkeiten und Bereitschaft der Mitbürger*innen dazu führt, dass sie lieber selbst aktiv werden, anstatt sich auf andere zu verlassen.

„Und deswegen brauchst du halt auch jemanden, der quasi für die Natur Lobbyarbeit macht.“ (Sarah) – Öffentlichkeitsarbeit für die Natur, Wissen verbreiten und Bildungsarbeit leisten

Zwei weitere Motivationen für das persönliche Engagement sind der Wunsch Lobbyarbeit für die Natur zu betreiben und Wissen zu verbreiten bzw. Umweltbildung zu fördern. Sarah will eine Bewusstseinsveränderung erreichen und macht mit diesem Ziel Öffentlichkeitsarbeit für den BUND. Da alle Lobby betreiben würden und die Natur selbst keine Lobby habe, sei für sie der BUND die Lobbyvertretung der Natur. Deswegen geht es für Sarah insb. darum, andere zu informieren, das persönliche Umfeld zu beeinflussen und BUND-nahe Themen in der Öffentlichkeit zu platzieren: „[…] der BUND ist die Lobby für die Natur, weil die Natur eben nicht für sich selbst sprechen kann. Die hat ja keine Lobby! Und alle machen Lobby. Und deswegen brauchst du halt auch jemanden, der quasi für die Natur Lobbyarbeit macht.“ (Sarah, Z. 469 ff.) Um etwas an den Strukturen zu verändern und Einfluss auf die Politik nehmen zu können, muss laut Sarah Lobbyismus betrieben werden. Sybille sieht das ähnlich, legt ihren Fokus aber insb. auf die Bildung und Erziehung junger Menschen. So hat sie sich zuerst auf die Familie und ihre Kinder konzentriert und später eine ähnliche Arbeit an der VHS fortgesetzt. Hier kombiniert sie nun Umweltschutzfragen mit Erziehung und Bildung.Footnote 120 Anders als in ihrem vorherigen Job als Biologin an der Universität, hatte Sybille in ihrer Familie und später an der VHS das Gefühl, sich ganzheitlich einbringen zu können, Beruf und Persönlichkeit besser miteinander verbinden zu können und schlussendlich auch Engagement und Beruf zu kombinieren. „Also, ich habe nicht von den Ideen gelassen, ich habe nur den Handlungsort gewechselt. Und das Besondere an Familie und Kindern ist eben – es war wirklich das Gefühl: Da kann ich mich mit allem, was ich bin, einbringen.“ (Sybille, Z. 23 ff.)

Die Ausführungen von Sarah und Sybille veranschaulichen sehr deutlich, was Goodwin/Jasper/Polletta (2004: 422) unter dem Begriff „moral emotions“ verstehen. Diese moralischen Emotionen beschreiben eine normative Sicht auf die Welt und den eigenen Platz in dieser Welt und reflektieren das eigene Handeln. Sowohl Sarah als auch Sybille haben im BUND bzw. in der Familie und der Arbeit an der VHS ihre persönliche Nische gefunden und sehen hier ihr stärkstes Wirkungsfeld. Dies wiederum motiviert sie für ihr individuelles Engagement.

„Campact hat eine ganz neue Art des Protests generiert.“ (Sarah) – Motivation für ein Engagement bei Campact

Im folgenden Abschnitt sollen nach den allgemeinen Motiven für Engagement nun noch einmal explizit die Motivationen für die Teilnahme an Campact- und/oder BUND-Aktionen beschrieben werden. Dabei steht bei Campact besonders die Vielzahl an kreativen Mitmachmöglichkeiten im Vordergrund und beim BUND der Fakt, dass er aus Sicht der Interview-Partner*innen unter den Umweltverbänden der politischste ist.

Für Sarah hat Campact eine ganz neue Art des Protests generiert, die sie als sehr professionell einschätzt. Ähnlich wie Günter reflektiert auch Sarah über die verschiedenen Mitmachmöglichkeiten auf politischer Ebene, die sich Bürger*innen bieten. Sie kommt dabei zu dem Schluss, dass für sie die NGO-Ebene die richtige Einflussmöglichkeit sei. Sarah schätzt insb. Campacts Internet-Affinität und ihre Themensetzung: „Campact hat eine ganz neue Art des Protests generiert. Also wirklich professionell und das schätze ich daran. […] die haben sich halt ne Nische gesucht, quasi nochmal Leute anders zu engagieren […]. Und dann haben sie halt diese ganze Internet-Geschichte aufgegriffen. […] Gut finde ich auch, dass sie schon auch weitere Themen als wie den Umweltbereich besetzen. Weil es eben ja auch faktisch andere gesellschaftliche Probleme gibt.“ (Sarah, Z. 772 ff.)

Auch Kilian lobt die Themenwahl von Campact. Für ihn war Campact die erste Organisation, die für ihn relevante Themen in der richtigen Form ansprach: „Es waren einfach die Ersten, die Themen angesprochen haben in Form von, ja sowas wo ich mich beteiligen kann. Und es waren auch die Themen. Also es gab Themen, die haben mich interessiert, wo ich dachte, da müsste man etwas tun. Und dann kam Campact als eigentlich erste Sache, die ich kannte, die genau darauf eingehen und dann die Politik ansprechen, dass sich da was ändert.“ (Kilian, Z. 488 ff.) Als zweiten Vorteil der Organisation nennt er das vielfältige Spektrum an Beteiligungsintensitäten. Neben der Teilnahme an Demos und anderen Aktionen, könne man auch nur die Petitionen unterschreiben oder sich viel Hintergrundinformation dazu durchlesen. Damit fängt Campact aus Kilians Sicht viele Leute auf, je nach individuellem (Zeit-)Kontingent: „Die bieten ja auch so ein Spektrum, sage ich mal, mit Beteiligungsintensität. Man kann einfach nur zu den Online-Petitionen kaum lesen, einfach auf unterschreiben drücken und dann ist man schon raus. Dann hat man nur eine Minute investiert und hat sich schon beteiligt. Natürlich kann man sich auch alles durchlesen, Hintergrundtexte und so, und dann halt unterschreiben. Man kann aber auch zu Aktionen gehen, man kann aber auch wahrscheinlich wirklich da mitarbeiten, da bei Demos helfen usw. […] wie viel ich machen will, kann ich da reingeben. Das fängt glaube ich viele Leute auf. Also, die sich viel engagieren wollen, die wenig Zeit haben und andere auch. Das finde ich super.“ (Kilian, Z. 504 ff.)

Für Franz wirkt Campact, wie oben bereits beschrieben, sinnstiftend. Er fühlt sich einer Bewegung zugehörig und schätzt insb. die generellen Einstiegsmöglichkeit für Engagement: „Die sind unheimlich aktiv und machen tolle Sachen. Das begeistert mich dann auch wieder! Da mitmachen zu können und irgendwie Teil dieser Bewegung zu sein. Das ist für mich schon von Bedeutung. Das gibt mir irgendwo einen Sinn. […] ich finde es schon mal schön, dass man überhaupt eine Ebene geboten kriegt, auf der man einsteigen kann oder wo man mitmachen kann, wo man sich zeigen kann.“ (Franz, Z. 106 ff.) Besonders das kleine Team mit seinen vielen und guten Aktionen beeindruckt Franz (Z. 298 ff.) sehr. Zielgerichtet und spontan würde Campact schnell auf aktuelle Geschehnisse reagieren und Themen direkt angehen. Das Engagement und die Arbeit der Mitarbeiter*innen von Campact beeindrucken auch Sybille und Valeria. Beide wollen mit Präsenz oder zumindest finanziell diese Arbeitsmoral anerkennen und erklären so ihre Motivation für Campact-Unterstützung.Footnote 121 Goodwin/Jasper/Polletta (2004: 419) beschreiben u. a. die Wichtigkeit von charismatischen Führungsfiguren von Organisationen als förderlich für affektive Bindungen. Bewunderung für diese und ihre Arbeit tragen zu einer höheren Identifikation mit einer Gruppe bei. So beschreibt es auch Valeria: „Ganz spontan kommt mir erstmal das persönliche Engagement von denen, die das anführen. Das macht mir großen Eindruck und ich möchte denen auch persönlich schon einfach eine Stütze sein und mit meiner Präsenz ihre Arbeit unterstützen.“ (Valeria, Z. 546 ff.) Das Engagement der Führungsfiguren von Campact motiviert Valeria, sich auch einzubringen und die Organisation zu fördern.

„[…] weil er umweltpolitisch ist und auch noch weltweit organisiert […].“ (Markus) – Motivation für ein Engagement beim BUND

Ihre Motivation für die Unterstützung des BUND sehen Markus und Julia insb. im Politischen des Verbandes. Beide betonen den politischen und umweltpolitischen Fokus des BUND und Julia stellt ihn damit über andere Umweltverbände. Markus lobt darüber hinaus die weltweite Vernetzung über Friends of the Earth: „Weil er politisch ist. Also, weil er umweltpolitisch ist und auch noch weltweit organisiert, mit Friends of the Earth. Und weil er eben tatsächlich umweltpolitisch ist und alles abdeckt, alles was mit Natur und Umwelt und Klimaentwicklung und Energieentwicklung […].“ (Markus, Z. 211 ff.) Auch Julia versteht den BUND als politisch und zieht ihn auch aus Gründen der Organisationsstruktur Greenpeace vor.Footnote 122 Ähnlich wie Markus die Breite der abgedeckten Themen lobt, finde auch Julia gut, dass sie in der BUNDjugend selbst Themen positionieren kann. Darüber haben sich für sie auch ganz neue Themenfelder eröffnet: „Beim BUND finde ich spannend, dass man in der Jugend da sehr gut und relativ niedrigschwellig seine eigenen Themen positionieren kann und irgendwie auch einfach super viele Einblicke erhält. Mir hat es total den Wissenszuwachs gegeben, mich mit der BUNDjugend auseinanderzusetzen. Und mit Leuten zu reden und irgendwie sind so ganz neue Themen auch für mich interessant geworden […].“ (Julia, Z. 157 ff.) Die von Julia beschriebenen Konsequenzen ihres Engagements beim BUND hat auch Teske (2009: 122 f.) bei seinen Interview-Partner*innen beobachtet: Aktivismus verändert Aktivist*innen und ihren Charakter. Sie lernen dazu, erhalten die Möglichkeit zu wachsen und profitieren von der Zusammenarbeit mit anderen Menschen. Laut Teske (ebd.: 123) führt Aktivismus folglich zu mehr Aktivismus. Am Beispiel von Julia lassen sich dafür mehrere Gründe finden: Laut ihrer Beschreibung wird sie mit ihren Anliegen und Interessensschwerpunkten bei der BUNDjugend ernst genommen und hat einen großen eigenen Gestaltungsspielraum. Julia beschreibt u. a., dass das eigene Positionieren von Themen auf niedrigem Level dazu führen kann, dass die Themen auch auf Bundesebene getragen und dort verhandelt werden. So geschah es laut Julia mit dem Thema Plastik, welches über eine Wasser-Kampagne auf Bundesebene gelangte.Footnote 123

Neben dem Aspekt, viele Mitgestaltungsmöglichkeiten zu haben, spielt bei Julia auch das Alter eine wichtige Rolle. Dass sie in ihrer Jugend und als junge Erwachsene das Gefühl vermittelt bekommt, ihre Interessen einbringen zu können und selbst Themen zu plazieren und bearbeiten, wird sie im weiteren Verlauf ihres Lebens prägen. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich auch später zivilgesellschaftlich einbringen wird. Denn wer positive Erfahrungen im Bezug auf sein Engagement macht – und das insb. im jungen Alter – wird auch langfristig aktiv bleiben. Diesen Nährboden für Aktivismus scheint die BUNDjugend Menschen wie Julia zu bieten.

Zusammenfassung

Auch bei der Analyse der Kategorie Motive deckt sich ein Großteil der Ergebnisse mit bisherigen Forschungen, während gleichzeitig einige zusätzliche Einflussfaktoren bestimmt werden können, die von den Interview-Partner*innen benannt werden. Die Erhaltung der menschlichen Lebensgrundlage und die Rücksicht auf spätere Generationen wird von vielen als einer der Hauptgründe für gegenwärtiges Engagement im Umweltschutz vorgetragen. Persönliche Betroffenheit und ein verstärktes Interesse an einzelnen Themen werden auch in der bisherigen Literatur häufig als Motiv für Partizipation genannt. Der konkrete Ortsbezug und wie bspw. im Fall von Berlin auch eine gewisse Nähe zum Politikgeschehen, sind jedoch bisher wenig erforschte Faktoren. Auch der Wunsch, einen starken Alltagsbezug zum entsprechenden Thema zu haben, so wie es von Stefanie zur Plastikthematik erläutert wird, konkretisiert noch einmal, was es bedeutet, wenn Menschen durch ein persönliches Interesse für Partizipation motiviert werden. Zwar beschreibt Teske (2009: 98) bereits, dass Bürger*innen als „action-takers“ insb. für Projekte engagiert sind, bei denen sie konkret etwas mitgestalten und anpacken können, einen neuen Aspekt liefert darüber hinaus jedoch auch die Möglichkeit, selbst eine Organisation zu gründen, dabei evtl. sogar die Leitung zu übernehmen und dadurch den persönlichen Handlungsspielraum deutlich zu erweitern (vgl. Abschnitt 5.2 „Bürgerschaftsverständnis“). Ein weiterer, in der bisherigen Forschung nicht berücksichtigter Faktor, ist die Einstellung zum und Außenwirkung vom entsprechenden Thema: Nicht immer nur gegen etwas sein, sondern auch mal für – bspw. nicht nur gegen Atomenergie mobilisieren, sondern auch für erneuerbare Energien. Solch eine positive Einstellung zum Aktivismus betont nochmal mehr die Erschaffung eigener Projekte und Mitgestaltung der Zukunft, anstatt nur die Verhinderung bestehender Dinge im Fokus zu haben. Einige Interview-Partner*innen nannten diesen durchaus wichtigen Unterschied als Motiv für ihr Engagement und reflektierten damit auch die Außenwirkung der Umweltschutz-Bewegung.

Insgesamt macht dieses Unterkapitel zu den konkreten Motiven der Bürger*innen deutlich, wie eng Identitätsbezüge und die Wichtigkeit einer kollektiven Identität mit den Motiven zusammenhängen. Viele der Aspekte stehen in Zusammenhang mit dem Kennenlernen anderer Menschen, dem Zeitverbringen mit Freund*innen und dem Zuspruch durch andere Bürger*innen und Unterstützer*innen. Ebenso eng verwoben ist die Kategorie Motive mit dem Bürgerschaftsverständnis einzelner Aktiver. Teils seit der Jugend etablierte Wert- und Moralvorstellungen oder der Wunsch mit sich selbst im Reinen zu sein, wird von vielen Interview-Partner*innen als Motiv für gegenwärtiges Engagement genannt. Darüber hinaus wird es als ‚Muss‘ bezeichnet, sich in einer Demokratie einzubringen und mitzugestalten. Oben genannte Aspekte werden entsprechend in den Abschnitten 5.2 „Bürgerschaftsverständnis“ und 5.3.2 „Kollektive Identität und Mitgliedschaft“ ausführlich analysiert, sind jedoch auch innerhalb der Kategorie Motive von großer Bedeutung und deshalb hier nennenswert.

Kategorie „Emotionen“

Der nun folgende Abschnitt untersucht die Kategorie Emotionen, welche insb. Spaß, Gemeinschaft und Nostalgie, aber auch Wut und Enttäuschung beinhaltet. Die Kategorie Spaß wird wiederum in mehrere Unterkategorien unterteilt und als erstes behandelt, bevor dann im Anschluss die anderen Emotionen folgen. Alle diese Emotionen können als Motivation für persönliches Engagement verstanden werden, weshalb diese Kategorien unter diesem Abschnitt 5.3.1 analysiert werden. Einzelne Aspekte wie z. B. der der Gemeinschaft und kollektiven Identität spielen später erneut eine wichtige Rolle und werden ausführlicher in Abschnitt 5.3.2 „Kollektive Identität und Mitgliedschaft“ untersucht.

„Das hat schon ganz klar auch Event-Charakter.“ (Sarah) – Protest als spaßiges Happening

Die in der Kategorie Spaß am häufigsten genannte Unterkategorie stellt der Event-Charakter – insb. von Straßendemos – dar. Sieben der 18 Interview-Partner*innen erzählen ausführlich von Verkleidung, Musik, Fröhlichkeit und Familienausflug und beschreiben Protest als Happening oder Ähnliches. Franz und Sybille erwähnen deshalb eine Assoziation mit Karneval, wenn sie an Protestaktionen denken, die sie in der Vergangenheit besucht haben. Besonders die Verkleidungen und großen Figuren beeindrucken die beiden: „Aber besonders beeindrucken mich ja dann schon so besondere Aktionen. Also, wie gesagt, diese Luftballon-Aktion oder auch, wenn da so Pappmaschee-Figuren gemacht werden, das finde ich auch eine tolle Idee. Da kann man mal aus dem Karneval was sinnvoll verwenden.“ (Sybille, Z. 583ff.) Neben Kostümen spielt auch Musik eine tragende Rolle. Franz ist selbst bei den Greenpeace-Trommlern aktiv und genießt es, bei großen Aktionen durch das Trommeln andere Leute mitzureißen: „Große Aktionen – ja gut, wenn man da Trommeln kann, das macht natürlich das nochmal was ganz anderes. Da reißt man Leute ganz anders mit, die tanzen da die ganze Strecke an einem vorbei. Ja, das macht natürlich auch viel Spaß.“ (Franz, Z. 266 ff.) Markus weiß diese Musik sehr zu schätzen und erzählt, dass ihm eine Straßendemo mit Musik immer mehr Spaß mache als ohne Musik.Footnote 124 Nimmt man Aspekte wie Verkleidung und Musik zusammen, so kommen Sarah, Sven und Gerd zur Beschreibung eines Event-Charakters oder zur Bezeichnung einer Demo als Happening. Angefangen bei der Anreise – mit oder ohne Familie – bis zu Infoständen, Essensständen und anderen Leuten vor Ort beschreiben sie eine Demo-Teilnahme als Erlebnis: „Und ja, das hat ein Stück weit natürlich auch immer Event-Charakter. Also, ich denke jetzt nochmal an so eine Demo, die wir da vor Biblis gemacht haben. Da waren dann in Biblis selbst im Ort auch ganz viele Infostände und so. Und dann geht man da rum und guckt sich an und kauft und so.“ (Sarah, Z. 1136 ff.) Ähnlich sieht das auch Sven: „Und die letzte große Demo auf dem Flughafen letztes Jahr, da ging es ja auch raus und da haben wir ja so ein Rundgang gemacht um den ganzen Block. Das hat Spaß gemacht. Man hat mit den Leuten gebabbelt, egal wen man da jetzt getroffen hat. Und da waren die Kinder dabei und das war ein Happening.“ (Sven, Z. 787 ff.) Während für einige Bürger*innen Straßendemonstrationen mit Krawall und Randale verbunden sind, klingen Sarahs Beschreibungen eher nach einem Straßenfest und Svens Erlebnisse nach einer geführten Flughafentour.

Gerd vergleicht den Protest früher mit heutigen Protestaktionen und kommt zum Schluss, dass es heute fröhlicher zugeht. Gleichzeitig würde auch die Verbissenheit der Aktivist*innen abnehmen, in Gerds Augen würden Teilnehmer*innen nicht wirklich erwarten, dass Angela Merkel daraufhin die Energiewende einleitet. Vielmehr gehe es um das Happening an sich: „Er ist fröhlicher geworden, er ist weniger verbissen, das denke ich. […] ich beobachte, dass die Menschen nicht mehr so hingehen mit der Zielsetzung: Wenn wir jetzt hier demonstriert haben, dann macht Merkel die große Energiewende oder so. Also, die Erwartung haben die Leute nicht. Die gehen einfach hin, weil es ein Happening ist, weil da auch viel Begleitgeschichten dabei sind, da kommen Gruppen, die dann auch quasi wie Theater da auftreten, die sich verkleiden und da mitmachen und die einfach dann witzige Geschichten machen.“ (Gerd, Z. 461 ff.) Doch auch Protestaktionen in der Vergangenheit, wie bspw. Brokdorf, waren für Gerd schon damals ein tolles Erlebnis und Happening. Obwohl er weiß, dass es auch andere Phasen mit Polizeigewalt gab, empfand er dort die Atmosphäre meist als friedlich und genoss das Begleitprogramm der Musik: „[…] das war eigentlich immer ein Happening. Also, da hat man dann viel am Rand gesessen, hat dann Gitarrenmusik gehört und gesungen und gemacht und getan und einfach nur blockiert.“ (Gerd, Z. 311 ff.)

Die oben ausgeführten Beschreibungen unterstützen Betz (2016) These, dass Spaß als eigenständiges Motiv für Protestpartizipation verstanden werden kann. Betz (ebd.: 11) betont den Eventcharakter von Aktivismus und schreibt diesem eine „Gemeinschaft und sinnstiftende Wirkung über den Protestinhalt“ hinaus zu. Franz, Markus, Sven und andere beschreiben das Hören oder Machen von Musik und das Aufeinandertreffen mit anderen Menschen als spaßig und motivierend. Wie auch von Brodde (2010) beobachtet, zeigt sich der Eventcharakter von Protest in Form positiver Emotionen auch in den Beschreibungen der hiesigen Interview-Partner*innen als Selbstzweck und Motiv von Partizipation.

„[…] die haben dieselbe Überzeugung, man kämpft für dieselbe Sache.“ (Kilian) – Zusammengehörigkeit und (neue) Kontakte als Spaßfaktor

Häufig genannt und unter dem Aspekt des Spaßes ebenso relevant ist auch das Zusammengehörigkeitsgefühl bei Protestaktionen. Gemeinsam für eine Sache kämpfen, neue Leute kennenlernen, Gruppenzusammenhalt stärken – dies alles sind Aspekte, die unter Abschnitt 5.3.2 „Kollektive Identität und Mitgliedschaft“ ausführlicher betrachtet werden, aber auch als Motive erwähnenswert sind. Gerd hält Spaß für die Grundvoraussetzung für Engagement im Freizeitbereich. Wer keinen Spaß habe, würde nicht mehr hingehen. Dazu gehört laut ihm auch das Miteinander zu stärken: „[…] ich glaube, das trifft für alle Formen des Engagements im Freizeitbereich zu. Auch das politische Engagement. Wenn das mir keinen Spaß macht, dann gehe ich da nicht mehr hin. Dann sage ich: ‚Ach, das können dann auch andere machen.‘ Aber unter Spaß meine ich damit dann auch, es werden Ergebnisse erzielt, man macht was miteinander und das Miteinander führt dazu, dass man sich wieder ein bisschen mehr vertraut oder sich näher kennenlernt und so.“ (Gerd, Z. 473 ff.) Dass zu Spaß auch gehört, sichtbare Ergebnisse zu erzielen und eigene Erfolge zu sehen, wurde bereits als eigenständiges Motiv beschrieben.

Olaf erlebt den meisten Spaß bei Straßen-Infoständen, weil er dort ins direkte Gespräch mit anderen Menschen kommt und versuchen kann, diese für sein Anliegen zu überzeugen. Dies wiederum vergleicht er mit einem Spiel oder Flirt, da er versucht, sich dabei von seiner besten Seite zu zeigen.Footnote 125 Den hohen Spaßanteil führt Olaf auf den BUND zurück und darauf, dass in der Organisation viele Leuten sind, die gut zu ihm passen: „Was halt immer ein Spaß ist, muss ich sagen und das ist auch toll, sind die Leute, die dabei sind. Also klar, manche mag man und manche nicht, wie überall. Aber ich sage mal, generell der Anteil der Leute, die zu mir passen, die ich mag, der ist beim BUND wesentlich höher als eben ... was weiß nicht ... irgendwo anders halt. Wenn ich in irgendeiner Firma arbeiten würde oder so.“ (Olaf, Z. 702 ff.) Olaf geht nicht davon aus, dass er außerhalb des Umweltverbandes auch so ein nettes Team haben könnte.

Dass die Zusammenarbeit mit Gleichgesinnten mehr Spaß macht, erfährt auch Kilian, der im Nachhaltigkeitsbüro seiner Uni mit Gleichaltrigen und Gleichgesinnten zu tun hat und deswegen dort sehr zufrieden ist: „Jetzt bei dem Nachhaltigkeitsbüro genieße ich doch auch sehr, dass wir das zusammen machen. Das sind einfach Leute in meinem Alter, die haben dieselbe Überzeugung, man kämpft für dieselbe Sache. Das ist schon sehr, sehr schön.“ (Kilian, Z. 938 ff.) Helena überträgt diese Ansicht auf die Protestform der Straßendemonstration und spitzt weiter zu: Dort seien selbst wildfremde Demonstrationsteilnehmer*innen „Brüder im Geiste“. „Das macht mir absolut Spaß und das ist auch so toll, die Leute, die da mitlaufen. Das sind wildfremde Leute und du bist absolut Brüder im Geiste.“ (Helena, Z. 666 ff.) Für Helena ist es wichtig, zu sehen, dass sie nicht die einzige mit ihren Ansichten ist. Auch Daniela schätzt den Zusammenhalt trotz Unbekanntheit auf Straßendemos: „Mit welcher Freude die diese Kundgebung gemacht haben, das finde ich so toll! Diese Gemeinschaft, dieser Zusammenhalt! Man kennt sich nicht und trotzdem gehört man zusammen.“ (Daniela, Z. 798 ff.)

Die Interview-Partner*innen beschreiben hier „affektive Bindungen“ (Goodwin/Jasper/Polletta 2004: 418), die deutlich machen, was und wer ihnen besonders wichtig ist. Sie verbringen gern Zeit mit Menschen, die sie bereits kennen und mit denen sie gemeinsam Spaß haben können und sie lernen gern neue Leute kennen. Affektive Bindungen können somit ein starkes Motiv für Partizipation schaffen. Diese und andere Aspekte, wie eine Bezugsgruppe zu haben oder sich für den eventuellen Fall einer Blockade über ein gemeinsames Vorgehen abzusprechen, werden ausführlicher im nächsten Unterkapitel thematisiert.

„[…] ich hatte diesen riesen Pappmaschee-Kopf auf […].“ (Felix) – Kreativ werden und selbst mitgestalten als Spaßfaktor

Einen anderen Aspekt der Kategorie Spaß stellt Kreativität dar. Olaf, Kilian, Sybille und Sonja geben an, dass es ihnen besonders viel Spaß macht, etwas selbst zu gestalten, umzusetzen oder Verantwortung zu übernehmen. Sybille und Sonja sprechen insb. kreative Slogan und Transparente an, die die Leute für ihre Demo-Teilnahmen vorbereiten. „Ja, ja, dieses Kreative, genau! Kreativ und – wie gesagt, das können auch Slogans sein, die waren echt gut! Wenn die so den Kern treffen und so dieses Persönliche.“ (Sybille, Z. 605 ff.) Bunte Transparente, Musik und Verkleidung machen für Sonja einen sehenswerten Demonstrationszug aus: „Und ich bin dann auch oft gern da und schaue einfach die Leute an und die Transparente, die sie gemalt haben und so, das finde ich einfach schön. Und ich war auch in Garmisch, da bei den G7-Protesten. Da war ich dann mit einer Samba-Gruppe unterwegs, das war auch sehr schön. Auch die, die sich als Clowns verkleiden usw.“ (Sonja, Z. 805 ff.) Auch Felix spricht diese Kreativität an, er selbst hat bei einem Media Stand von Campact bereits Sigmar Gabriel gespielt und sich mit einem Pappmaschee-Kopf verkleidet. Obwohl er dabei kalte Temperaturen aushalten musste und Probleme damit hatte, den „Kopf“ richtig zu balancieren, machen ihm solche kreativen Protestformen besonders viel Spaß. „Genau, ja ich hatte diesen riesen Pappmaschee-Kopf auf, der nicht richtig funktioniert hat und ich musste den auf so einem kleinen Stückchen Kopf balancieren. […] Und das war schwierig. Und dann bei gefühlten minus 20 Grad in dem Anzug und den Schuhen. Das hat halt im Endeffekt trotzdem Spaß gemacht, aber in dem Moment war es blöd.“ (Felix, Z. 681 ff.) In Konsequenz dessen fordert Felix mehr kreativen Protest, denn in seinen Augen würden das mehr Leute anziehen.Footnote 126

In der BUND-Ortsgruppe von Olaf geht Kreativität wiederum so weit, dass sich Interessierte in einem Seminar anmelden durften, in dem NGOs den professionellen Videoclip-Dreh für YouTube-Videos lernen konnten. Für Olaf (Z. 57 ff.) klang das nach Spaß und er meldete sich an. Für Kilian sind – anders als für Olaf – Infostände keine große Freude und er nimmt lieber an großen Demonstrationen teil oder bringt sich im Nachhaltigkeitsbüro seiner Uni ein. Dort kann er nach eigenen Aussagen mehr gestalten und Verantwortung übernehmen und das wiederum macht ihm am meisten Spaß.Footnote 127

Auch an diesen Beschreibungen von Aspekten der Kreativität und Möglichkeiten der direkten Mitgestaltung von Protestaktionen zeigt sich, dass Spaß und Kreativität als eigenständige Motivation für Protestpartizipation gelten können (vgl. Betz 2016) und nicht nur aus taktischen oder instrumentellen Gründen eingesetzt werden. Welche Praktiken einzelnen Bürger*innen am meisten Spaß machen, entscheidet mit darüber, an welcher Protestpraktik sie sich letztendlich beteiligen.

„Da habe ich das Gefühl, dass ich gut bin […].“ (Julia) – Erfolgserlebnisse und Bestätigungsgefühle steigern den Spaßfaktor

Julia und Günter empfinden Spaß, wenn sie bemerken, dass sie bei etwas gut sind, wenn sie gefordert sind und „ihr Ding“ machen können. Als Vorsitzender seines Institutes wird Günter regelmäßig als Experte für Nachhaltigkeit eingeladen und hält Vorträge. Hier erfährt er Selbstbestätigung und fühlt sich wohl: „Oder auch mein Wissen einzubringen, das ist auch eine Selbstbestätigung dadurch, dass man bestimmte Dinge weiß. Ich halte jetzt z. B. am Donnerstag einen Vortrag in Dublin auf so einem Workshop, da geht es auch um Gebäudesanierung und die Finanzierung von sowas. Da fühle ich mich wohl.“ (Günter, Z. 566 ff.) Auch, dass er trotz seines Alters nochmal gefordert wird, erfüllt Günter mit Zufriedenheit. Ähnlich ergeht es Julia, der es am meisten Spaß bereitet, wenn sie etwas machen kann, in dem sie gut ist – in ihrem Fall, Strukturen weiterentwickeln oder tief in Inhalte eintauchen.Footnote 128 Durch Lob von anderen Personen und das Gefühl, gut in etwas zu sein und dem Verband damit weiterzuhelfen, erfährt Julia eine positive Verstärkung, die sie zu ihrem Engagement motiviert. Auch Gerd wird durch Bestätigung von außen angetrieben und freut sich, wenn er bspw. als stellvertretender Landrat um eine erneute Kandidatur gebeten wird.Footnote 129 Stefanie hält Spaß für besonders wichtig, da Engagement in der Freizeit stattfindet und es dementsprechend wichtig sei, dass dieses Engagement auch wertgeschätzt wird. Andernfalls könne das sogar zum Burnout führen: „Das ist ja auch immer sozusagen die Freizeit. Und Idealismus kann auch ne Alternativwährung sein bis zu einem gewissen Grad. Irgendwann kann es dann aber auch zu einem Burnout führen, weil Leute sich einfach zu sehr engagieren und irgendwie gegen die Wand laufen.“ (Stefanie, Z. 993 ff.)

Diese Aussagen veranschaulichen die These von Bogerts (2015: 233), dass Optimismus eine mobilisierende Wirkung besitzt und durch die Selbstwahrnehmung von Handlungsfähigkeit und Visionen für Möglichkeiten eines politischen Wandels, Aktivismus von Individuen gestärkt wird. Gerd, Julia und Günter schätzen sich und ihre jeweiligen Fähigkeiten ein und empfinden Spaß und Motivation dabei, in etwas gut zu sein und gefordert zu werden. Dabei darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass Aktivismus in vielen Situationen auch eine hohe Frustrationstoleranz und/oder eine lange Ausdauer benötigen kann, weil er sonst zu Burnout-Symptomen führt.

„[…] das war für mich schon auch immer ein tolles Erleben, […] das ich auch gern weitergebe […].“ (Gerd) – Mit der Familie zusammen Spaß haben

Einen weiteren wichtigen Aspekt bzgl. Spaß stellt das Mitnehmen der Familie bzw. insb. der Kinder auf Straßendemonstrationen dar. Für Kilian steht dabei zwar das Politische im Vordergrund, doch auch der Spaß sollte nicht zu kurz kommen. In der Zukunft würde er Kinder deshalb definitiv mitnehmen und bemängelt, dass dies seine Eltern mit ihm nie gemacht hätten.Footnote 130 Sven und Gerd sind bereits Väter bzw. Großväter und haben ihre Kinder und Enkel schon auf Demos mitgenommen. Sven ist häufig mit Kindern bei den Samstagsdemonstrationen am Frankfurter Flughafen gewesen und Gerd hatte seinen Enkel bei der großen Energiewende-Demo in Berlin dabei. Er erinnert sich gern an Demo-Erlebnisse aus seiner Vergangenheit und möchte diese Erfahrung an seinen Enkel weitergeben „Und das war für mich schon auch immer ein tolles Erleben, muss ich sagen, das ich auch gern weiter gebe, an die – so an meinen Enkel. Der ist ja begeistert gewesen, in Berlin!“ (Gerd, Z. 313 ff.)

Auch diese Interviewpassagen stützen noch einmal die Argumentation von Goodwin/Jasper/Polletta (2004: 418), dass affektive Bindungen Motive für Partizipation darstellen. Zeit mit der Familie und geliebten Menschen zu verbringen, heißt für Gerd und Kilian auch gemeinsam an Straßendemonstrationen teilzunehmen. Darüber hinaus geben Sven und Gerd ihren Kindern und Enkelkindern durch diese Erfahrungen auch partizipative Wert- und Bürgerschaftsverständnisse weiter.

„Dass ich mit dem, was ich machen möchte, mein Geld verdienen kann […].“ (Felix) – Spaß und Beruf miteinander verbinden können

Den Idealfall – so beschreibt es Felix – stellt es dar, wenn Arbeit und Engagement bzw. Spaß miteinander einhergehen. So wäre es für Felix ein Traum, später für eine NGO arbeiten zu können und Geld mit etwas zu verdienen, das ihm Spaß macht: „Das wäre so der absolute Traum, sage ich mal. Dass ich mit dem, was ich machen möchte, mein Geld verdienen kann und so wie bei Campact: Das Engagement dort hat riesen Spaß gemacht. Das wäre natürlich das Optimum. Ich meine, jeder möchte natürlich gerne Geld verdienen mit dem, woran er Spaß hat.“ (Felix, Z. 200 ff.) Günter befindet sich wiederum in dieser von Felix angestrebten Situation, hat seine eigene Organisation, ist sein eigener Chef und arbeitet mit Engagement und Spaß in einer Teilzeitstelle an dem, was ihn interessiert: Erneuerbare Energien.Footnote 131 Helena hat sich aus genau diesen Gründen gegen eine Vollzeitstelle entschieden und will neben der Arbeit noch ausreichend Zeit für Engagement und Spaß haben: „Nie im Leben wollte ich so wie mein Chef 70 Stunden oder meine Kolleginnen 40 Stunden. […] Das ist nicht mein Lebensentwurf. Ich möchte wirklich Zeit haben, um mich außerhalb des Arbeitslebens noch zu engagieren. Zum einen, weil es mir Spaß macht, ich mache ganz klar wirklich nur Sachen, die mir Spaß machen, gebe ich zu.“ (Helena, Z. 333 ff.)

Ähnlich wie Felix haben auch einige der Vollzeit-Aktivist*innen aus Teskes (2009) Sample beschrieben, dass sie froh sind, etwas tun zu dürfen und dafür bezahlt zu werden, was ihren Werten entspreche. Wenn entweder wie bei Günter die entsprechenden finanziellen Ressourcen zur Verfügung stehen oder wie bei Helena die Überzeugung so groß ist, dass finanzielle Einbußen in Kauf genommen werden, lassen sich so Spaß und Beruf miteinander verbinden. Gleiches gilt auch für Mitarbeiter*innen von NGOs wie Campact oder dem BUND, die sich für ihre Überzeugungen engagieren und dies gleichzeitig ihren bezahlten Beruf nennen dürfen. Für Felix stellt das das „Optimum“ dar.

„Es ist immer gut für jemanden wie mich […] nochmal gefordert zu sein und Dinge zu machen.“ (Günter) – Nach der Berufstätigkeit nochmal gefordert sein

Einen letzten Aspekt in der Kategorie Spaß stellt es – wie oben schon angedeutet – dar, das Gefühl zu haben, nochmal gefordert zu sein. Da Günter schon aus dem Berufsleben ausgeschieden ist, von dort jedoch viel Wissen und auch Kontakte mitgenommen hat, freut es ihn sehr, wenn er heute als Vortragender dieses Wissen an anderen Orten wieder einbringen kann. „Oder auch mein Wissen einzubringen, das ist auch eine Selbstbestätigung dadurch, dass man bestimmte Dinge weiß. […] Es ist immer gut für jemanden wie mich, der eigentlich aus dem aktiven Berufsleben ausgeschieden ist, nochmal gefordert zu sein und Dinge zu machen.“ (Günter, Z. 566 ff.) Diese Form von Selbstbestätigung hält ihn fit. Zu ehrenamtlichem Engagement in der ‚zweiten Lebenshälfte‘ gibt es zwar bereits einige Studien (u. a. Künemund 2001, Gensicke/Picot/Geiss 2006), vor dem Hintergrund einer rückläufigen Geburtenrate, einer steigenden Lebenserwartung und folglich einer Alterung der Bevölkerung, verspricht dieser Bereich zukünftig aber noch größere Relevanz und sollte entsprechend intensiver untersucht werden.

Neben Spaß wirken auch andere Empfindungen als Motivation für das persönliche Engagement. Einerseits führen Wut, Enttäuschung oder Frustration dazu, gegen bestimmte Entwicklungen vorzugehen und Protestaktionen anzustoßen, andererseits treiben aber auch Nostalgie, Empathie oder Mitleid einige Bürger*innen zu Aktivitäten an.

„Irgendwie kocht es da in mir, da geht mir wirklich die Galle über.“ (Valeria) – Wut und Frust als Antrieb für Engagement

Valeria erzählt aufgebracht, wie ihr mangelnder Tier- und Naturschutz zusetzen. Sie kann nicht verstehen, wie Menschen die Erde so zerstören können, wie Großmästereien Tierrechte ignorieren oder wie mit dem Regenwald umgegangen wird: „[…] jetzt ist, finde ich, […] mal Stopp, denn dann können wir uns eine wunderschöne Erde erhalten. Und wenn da nicht Stopp gemacht wird, sondern weitergemacht wird, dann geht bei mir die Galle hoch. […] wenn es dann geht um Großmästereien, um Umgang mit Tieren, da ist dasselbe Gefühl von mir da. Irgendwie kocht es da in mir, da geht mir wirklich die Galle über. […] und so auch natürlich, wenn es dann um den Regenwald geht. Das ist etwas, das geht mir an die Nieren.“ (Valeria, Z. 693 ff.) Bezogen auf Politiker*innen entwickelt Valeria daraufhin eine Wut. Sie kann sich vorstellen, dass Politiker*innen sich nicht verstanden fühlen, aber nicht, dass diese von Protest und Widerstand kalt gelassen werden. Valeria vermutet, dass Politiker*innen sogar denken, sie hätten mit all dem nichts zu tun und könnten einfach machen, was sie wollen. Auch dies verursacht bei ihr Gefühle von Wut.Footnote 132 Sonja fühlt sich von Politiker*innen belogen und entwickelt Ärger gegen sie. Sie vermutet heimliche Machenschaften, wie bspw. die geheime Vergabe von Fracking-Lizenzen: „[…] einfach die Betroffenheit. Dass man jetzt denkt: ‚Ja, so eine Unverschämtheit.‘ Jetzt fangen die hier an und wollen den Wald abholzen und vergeben heimlich eine Fracking-Lizenz und machen dann dieses Gesetz und erzählen uns dann irgendwelche Lügen. Das ärgert einen. Das ist schon auch stark eine emotionale Sache, jedenfalls bei mir.“ (Sonja, Z. 415 ff.) Sie selbst bemerkt, dass sie bei diesen Anliegen sehr emotional reagiert. Diese Reaktion führt bei Sonja zu Aktivismus.

Wenn Valeria heute daran denkt, wie sie früher aktiv war und dass sie damals radikaler vorging bzw. radikalere Forderungen hatte, bemerkt sie, dass sie durch das Älterwerden ruhiger geworden ist. Trotzdem amüsiert sie sich noch heute über Antworten und Parolen der damaligen Student*innen und spricht von einem „RAF-Herz“ in ihr: „Ich wäre früher anders gewesen. Ja, also RAF-Zeit, das RAF-Herz in mir hätte da schon ordentlich, gib ihm ordentlich was, ja. Könnte mich auch köstlich amüsieren über Antworten, die damals hier in Berlin von Studenten gegeben worden sind, in der Opposition, vor der RAF-Zeit noch. […] Aber gut, wenn es dann unter die Gürtellinie geht, finde ich inzwischen so, dass ich sage, nee, das ist mein Älterwerden.“ (Valeria, Z. 374 ff.) Heute hat Valeria eine andere Schmerzgrenze – oder wie sie es nennt, ein Empfinden, ab wann etwas unter der Gürtellinie ist – und würde nicht mehr solche radikalen Forderungen stellen.

An dieser Stelle bietet sich ein Bezug zu zwei der vier Kategorien der Emotionen-Forschung von Goodwin/Jasper/Polletta (2004) an: „reflex emotions“ und „moral emotions“. Zu Ersteren, den Affekten, gehören u.  a. Gefühle wie Wut und Ekel – wie von Valeria eindrücklich beschrieben. Diese Gefühle treten plötzlich und unwillkürlich auf und können irrationales Verhalten auslösen. Goodwin/Jasper/Polletta (ebd.) betonen jedoch auch, dass diese Affekte den Fokus auf ein Problem zeitweilig erhöhen und damit die Wahrscheinlichkeit für Handlungen steigt. So auch in den Fällen von Sonja und Valeria. Deren Aussagen bieten zusätzlich auch Einblicke in ihre „moral emotions“ (ebd.: 422), über ihre normative Sicht auf die Welt und den eigenen Platz in dieser Welt. Sie empfinden Empörung über das Verhalten mancher Politiker*innen und rücksichtsloser Menschen, die sich nicht im gleichen Maße für Tier- und Umweltschutz interessieren. Empörung steht laut Goodwin/Jasper/Polletta (ebd.) im Zentrum vieler Sozialer Bewegungen, die durch entsprechende Narrative und Framing Menschen für ihre Anliegen mobilisieren.

„[…] von meinen Freunden bin ich, was das angeht, ehrlich gesagt regelmäßig enttäuscht.“ (Felix) – Enttäuschung über Freund*innen oder Protestverlauf mindern Motivation nicht

Weitere thematisierte Emotionen der Interview-Partner*innen sind Enttäuschung und Unzufriedenheit. Im Fall von Stefanie wegen der Übergabe ihrer Online-Petition, im Fall von Felix Enttäuschung über die eigenen Freund*innen und deren Inaktivität. Stefanie hat eine Online-Petition gemeinsam mit der DUH gestartet und war während der Laufzeit der Petition an häufige Absprachen mit der Organisation gebunden. Bei der Übergabe an den Staatssekretär konnte Stefanie aus terminlichen Gründen nicht selbst dabei sein. So erfolgte die Übergabe der Online-Petition ohne sie und durch den Geschäftsführer der DUH, der den Termin jedoch zum Händeschütteln und für generelle DUH-Interessen nutzte, anstatt die Petition selbst in den Mittelpunkt zu stellen. Stefanie empfindet darüber im Nachhinein Unzufriedenheit: „Ich war nicht bei der Übergabe dabei und habe nur Berichte gehört und war eher unzufrieden, wie das gelaufen ist. Weil es da auch sehr um Einzelinteressen, auch für die DUH, ging […] Ja, auch zu einem Nachteil der Petition. Ich finde, wenn das für einen ganz anderen Zweck genutzt wird, dieses Treffen. […] Der Geschäftsführer von der DUH war damals auch noch recht neu und hat im Sinne der DUH gehandelt, aber nicht wirklich im Sinne der Petition. […] Und es war natürlich eine gute Möglichkeit, da Hände zu schütteln.“ (Stefanie, Z. 607 ff.) Laut Stefanie empfanden auch die ebenso anwesenden Vertreter*innen von Change.org die Übergabe ähnlich. Der Termin habe eher wie eine NGO-Kampagne gewirkt, als eine private Unterschriftenübergabe.Footnote 133 Eine weitere Enttäuschung stellte für Stefanie (Z. 653 ff.) der Fakt dar, dass nicht die damalige Umweltministerin Hendricks selbst anwesend war, sondern nur der Staatssekretär. Diese Enttäuschungen haben Stefanie jedoch nicht davon abgehalten, weiter aktiv zu sein. Hier zeigt sich eine große Frustrationstoleranz ihrerseits. Trotz verschiedener Enttäuschungen, sowohl über den Kooperationspartner DUH, als auch über die damalige Umweltministerin als Adressatin der Online-Petition, hat Stefanie die Petition danach noch weiter betreut und vorangetrieben. Sie engagiert sich weiterhin aktiv im Bereich Umweltschutz, insb. beim Thema Plastikvermeidung. Sie erzählt aber auch, erstmal keine weitere Online-Petition erstellen zu wollen. Als Grund dafür gibt sie jedoch Zeitmangel an, nicht den Frust über enttäuschende Erfahrungen bei ihrer ersten Online-Petition.

Felix wiederum erfährt Enttäuschung in Bezug auf seine eigenen Freund*innen. Regelmäßig erfährt er, dass wegen zu gutem Wetter, zu schlechtem Wetter oder aus Zeitgründen keiner von ihnen mitkommt, wenn Felix zu einer Aktion fahren will. „Freunde – von meinen Freunden bin ich was das angeht ehrlich gesagt regelmäßig enttäuscht. Weil wenn ich denen was erkläre […] dann sind die immer total Feuer und Flamme […]. Und ich sag, ‚Da muss man doch was gegen machen!‘ – Und dann so, ‚Nee, dafür haben wir gerade keine Zeit. Das Wetter ist zu gut oder das Wetter ist zu schlecht.‘ Irgendwie so, keine Ahnung.“ (Felix, Z. 1164 ff.) Angeregte Konversationen zu einem strittigen Thema können sie im Freundeskreis führen, doch über Gespräche geht es selten hinaus, denn zu den Aktionen selbst wollen Felix Freund*innen nicht mitkommen. Ähnlich wie bei Stefanie, hält die Enttäuschung auch Felix nicht davon ab, an Protestaktionen zu partizipieren. An zwei bis drei Terminen im Jahr nimmt er an Straßendemos teil, häufig dann aber, weil er als ehemaliger Campact-Praktikant gefragt wurde, ob er bei der Aktion aushelfen könne. Darüber hinaus unterschreibt er auch regelmäßig Online-Petitionen und teilt politische Informationen z. B. auf Facebook. Auch hier erhält er wenig Feedback von Freund*innen, stellt diese Aktivitäten aber trotzdem nicht ein.

„[…] das war irgendwie toll! So eine Nostalgie auch.“ (Sonja) – Gefühl der Nostalgie in Erinnerung an Anti-AKW-Demos der 1980er

Die Teilnahme an Anti-AKW-Demos versetzt Sonja in Nostalgie und sie erinnert sich gerne an ihre Erlebnisse auf Straßendemonstrationen der 1980er Jahre: „Und ich muss schon sagen, wie ich dann das erste Mal wieder auf einer Anti-AKW-Demo war, das war irgendwie toll! So eine Nostalgie auch.“ (Sonja, Z. 803 ff.) Das Gefühl von Nostalgie findet in der Kategorisierung von Goodwin/Jasper/Polletta (2004) oder in anderen hier vorgestellten Theoriebezügen keine spezifische Erwähnung. Es könnte evtl. den „moral emotions“ zugeordnet werden, ähnlich wie das Gefühl von Stolz. Sonja erinnert sich gern an Protesterlebnisse der Vergangenheit. Dies stützt auch die These von McAdam (1989: 753), dass Aktivismus-Erfahrung aus der Vergangenheit die Wahrscheinlichkeit für Engagement in der Gegenwart erhöht.

„Ja, da ist schon so dieser Mitleidsfaktor […].“ (Helena) – Empathie und Mitleid als Verstärker

Empathie und Mitleid bestimmen bei Valeria und Helena teilweise die Themenrecherche oder Informationsbeschaffung. Helena unterscheidet zwischen Themen, für die sie sich engagiert, weil sie persönlich davon betroffen ist und solchen, die bei ihr Mitleid erregen. Bspw. das Thema Orang-Utan und der Erhalt derer Lebensräume: „Also, ich glaube dieses persönlich vor Ort, das ist meine direkte persönliche Betroffenheit. Aber wenn ich z. B. sehe, wie dann so ein armer Orang da auf diesen abgeholzten Dingern rumläuft, das berührt einen nochmal ganz anders. Insofern weiß ich nicht, vielleicht könntest du da jemand sogar noch eher für den Orang-Schutz aktivieren, als hier gegen Kernkraft oder so. […] da ist schon so dieser Mitleidsfaktor, glaube ich.“ (Helena, Z. 1181 ff.) Valeria hat die Angewohnheit, sich bei der Recherche häufig Themen sehr zu Herzen zu nehmen. Folglich passiert es ihr auch, dass sie während des Lesens weinen muss. Sie selbst schätzt es als Schwäche und Stärke zugleich ein, dass sie sich in Themen tief reinfühlt. Löst ein Thema bei ihr sehr großes Empfinden aus, führt das manchmal dazu, dass sie Information per E-Mail weiterleitet, weil sie das Dringlichkeitsbedürfnis hat, diese Information weiterzugeben.Footnote 134

In den Fällen von Helena und Valeria dienen Empathie und Mitleid als Verstärker für ihre Motivation aktiv zu werden. Ähnlich wie Scham oder Stolz kann auch Mitleid als „moral emotion“ (Goodwin/Jasper/Polletta 2004: 422) gelten. Es widerspricht Helenas Moralvorstellungen, dass Menschen den Lebensraum der Orang-Utans zerstören und dies wiederum bestärkt sie in ihrem Wunsch, sich zu engagieren. Bei Valeria sorgt ihr großes Empathie-Empfinden wiederum dazu, dass sie „ausnahmsweise“ Informationen per E-Mail weiterleitet. In beiden Fällen begünstigen Emotionen Partizipation.

„Vor Ort verwurzelt und emotional verbunden sein.“ (Sarah) – Emotionale Verbundenheit über lokalen Ortsbezug

Sarah beschreibt ihr stark emotionales Verbundenheitsgefühl mit Vereinen vor Ort und definiert ihr Mitgliedschaftsgefühl teilweise über diese lokale und emotionale Verbundenheit. Der Aspekt der Mitgliedschaft wird in Abschnitt 5.3.2 „Kollektive Identität und Mitgliedschaft“ genauer untersucht, das Hervorheben der emotionalen Komponenten von Sarah soll jedoch an dieser Stelle schon angemerkt werden: „Weil ich überlege jetzt auch so bei anderen Vereinen, z. B. da dieser Botanische Garten Gießen. Da merke ich so, da fühle ich mich emotional total stark verbunden, weil ich das nen kleinen Ort in Gießen finde. Ich habe da noch nie aktiv was in dem Verein gemacht, das hat dann auch zeitlich nicht gepasst. […] Ich sage mal, denen fühle ich mich verbunden. Das ist mehr eigentlich so was Emotionales.“ (Sarah, Z. 1205 ff.) Für Sarah spielt Zeit auch eine wichtige Rolle, wenn sie emotionale Bindung zu einem Verein oder einer Organisation aufbaut. Schon lange bei etwas dabei zu sein, bindet sie auch emotional an einen Verein. Auch für Sonja ist, wie bereits beschrieben, eine emotionale Verbindung zum Wohnort ein wichtiger Faktor, der mit Begründung einer ‚Verwurzelung‘ dazu beiträgt, sich vor der eigenen Haustür einzubringen: „Aber jetzt bin ich ja schon hier verwurzelt im BUND und finde das auch sehr wichtig, dass man vor der eigenen Haustür was macht.“ (Sonja, Z. 406 ff.)

Auch bei diesen Aussagen lassen sich „affektive Bindungen“ (Goodwin/Jasper/Polletta 2004: 418) als Grundlage von Motivation ausmachen. Sonja und Sarah fühlen eine starke emotionale Verbundenheit gegenüber einem Ort, den sie sehr schätzen oder gegenüber einer Organisation, bei der sie schon lange engagiert sind. Sich am langjährigen Wohnort einzubringen, kann als emotionale ‚Verwurzelung‘ wahrgenommen werden und macht Partizipation wahrscheinlicher.

Zusammenfassung

Die Analyse der Kategorie Emotionen zeigt eine deutliche Übereinstimmung mit Betz (2016) These, dass Spaß als eigenständiges Motiv für Partizipation anzuerkennen ist. Viele Interview-Partner*innen beschreiben ausführlich, dass sie Straßendemonstrationen u. a. besuchen, weil sie diese als Happening erleben, weil es dort Musik, Kostüme, kreative Plakate und vieles mehr gibt. Darüber hinaus sind Emotionen stark von affektiven Bindungen zu anderen Protestierenden, Freund*innen und Familie abhängig, was wiederum erneut die große Bedeutung kollektiver Identitäten unterstreicht. Gleiches gilt auch für starke emotionale Bindungen an Orte und Organisationen, die vor Ort verwurzelt sind. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Vereinbarkeit von Spaß und Beruf, die bei einigen Interview-Partner*innen den Wunsch aufkommen lässt, entweder einen Beruf zu finden, bei dem man in einem bezahlten Job dem Aktivismus nachgehen kann oder nur einen Teilzeitjob zu haben, der genügend Zeit für Spaß an Aktivismus zulässt. Die Forschung über Berufsaktivist*innen und Campaigner*innen ist in Deutschland noch unterrepräsentiert, könnte jedoch Interessante Erkenntnisse über die Vereinbarkeit von Spaß und Beruf in Form von Aktivismus hervorbringen. Ein anderer, in der Theorie bisher vernachlässigter Aspekt, den Interview-Partner*innen des vorliegenden Samples ansprechen, ist die Bedeutung von zivilgesellschaftlichem Engagement für Ruheständler*innen und Pensionierte. Nach der Berufstätigkeit nochmal gefordert zu sein und sich mit Wissen und Spaß für Umweltschutz einzubringen, dient einigen Bürger*innen als wichtiges Motiv für ihr Engagement.

Die Analyse bestätigt außerdem die These aus der Emotionsforschung von Goodwin/Jasper/Polletta (2004: 416 ff.), dass „reflex emotions“ wie Wut, Frust oder Angst den Fokus auf ein Problem zeitweilig erhöhen und damit zu Partizipation beitragen können. Wie im Fall von Sonja oder Valeria führt Ärger über Politiker*innen oder politische Entscheidungen dazu, sich zu engagieren. Hierbei zeigt sich erneut, wie eng verschiedene Motive für Partizipation miteinander verwoben sind, denn an Äußerungen wie denen von Sonja und Valeria lassen sich auch Aussagen über das Politik- und Bürgerschaftsverständnis ablesen.

Überraschend ist das Ergebnis, dass Enttäuschung über Teilnahme-Absagen von Freund*innen bei einzelnen Bürger*innen nicht dazu führen, dass auch sie selbst ihren Aktivismus einstellen. Mehrere Interview-Partner*innen beschreiben, dass sie trotz vergeblicher Mobilisierungsversuche bei Freund*innen auch alleine zu Aktionen fahren und ihre Motivation dadurch nicht verringert wird. Insgesamt spielt der Aspekt der Frustrationstoleranz bei der Motivation von Bürger*innen eine sehr hohe Bedeutung, wird von bisheriger Literatur jedoch nicht ausreichend beleuchtet. Wenn Individuen Frust erfahren, haben sie entweder die Möglichkeit, diesen Frust auszuhalten oder ihn durch andere Faktoren wie bspw. Spaß oder ein ausgeprägtes Gemeinschaftsgefühl zu kompensieren. In Folge von Niederlagen stellen sich bei einigen Interview-Partner*innen Ohnmachtsgefühle oder Burnout-Symptome ein. Sie empfinden Frust, wenn sie realisieren, was ihrer Meinung nach schief läuft und wie Umwelt zerstört wird. Ausbleibende Erfolge führen dazu, dass individuelle Ressourcen wie Zeit, Motivation und Kraft ausgeschöpft sind. Sowohl Helena als auch Franz erzählen aber, dass sie aus solchen Phasen des Burnouts immer wieder heraus finden. Trotzdem kann sich das Engagement dadurch verändern. Helena hat eine Zeit lang versucht, Freund*innen für die Teilnahme an Aktionen zu mobilisieren, dabei jedoch viele Absagen erhalten. Da sie mit diesen Absagen nur schlecht umgehen kann, hat sie aufgehört, andere auf Aktionen hinzuweisen.

Für die meisten Interview-Partner*innen ist es keine Option, sich wegen schlechter Erfolgsaussichten nicht zu engagieren. Sie wollen es zumindest versucht haben und folgen dem Motto „Die Hoffnung stirbt zuletzt.“ Dabei dienen Zwischenziele und realistischere Erfolgsaussichten als Motivation und erhalten eine hohe Frustrationstoleranz aufrecht. Dies kann bspw. am Fall von Castortransporten veranschaulicht werden, deren Ziel oft nicht die tatsächliche Verhinderung des Transports darstellt, sondern die Aktion für Polizei und Politik so teuer wie möglich zu machen. Neben der Formulierung von Zwischenzielen gibt es noch andere Formen der Kompensation für Frusterfahrungen: Das Protestevent an sich als Happening zu verstehen, für das alleine sich die Teilnahme schon lohnt, oder ein besonders ausgeprägter Idealismus, der dazu führt, auch langfristig gegen den Strom zu schwimmen und nach den eigenen Idealen zu leben, anstatt sich der Mehrheit zu beugen. So beschreibt Sarah z. B., dass sie mit ihrem Autoverzicht und der Entscheidung nur Rad zu fahren, eigentlich nur Platz für andere Autos gemacht hätte.

Weil Aktivismus – zumindest für die meisten Bürger*innen – in der Freizeit stattfindet, müsse er Spaß machen und Belohnungen enthalten, z. B. Erfolgserlebnisse oder die Bestätigung, dass man etwas gut kann. Deswegen motiviert es Renter*innen wie Günter, nochmal gefordert zu sein und sich einbringen zu können. Julia präferiert Engagementformen, in denen sie das Gefühl hat, gut zu sein und dem BUND zu nutzen. Sie bezeichnet Idealismus als Alternativwährung, die aber nur bis zu einem bestimmten Grad Aktivismus begünstigen könne, da bei jedem irgendwann die Ressourcen aufgebraucht seien und dies dann zu einem Burnout führe. Aktivismus benötigt folglich eine lange Ausdauer, viele Ressourcen und eine hohe Frustrationstoleranz.

5.3.2 Kollektive Identität und Mitgliedschaft

5.3.2.1 Theoretische Ansätze zu kollektiver Identität und Mitgliedschaftsverständnissen

Ein Fokus der Partizipationsforschung liegt auf der Individualisierung von Protestpraktiken und der Frage wie und warum Individuen zu einer Gruppe zusammenkommen und als Kollektiv agieren. In der Framing-Analyse bringen laut Snow/Benford (1992) „collective action frames“ Individuen zusammen, um als protestierendes Kollektiv aktiv zu werden. Neben politischen Gelegenheitsstrukturen und Ressourcen Modellen erklärt das Framing-Konzept laut Benford/Snow (2000: 612) zentrale Dynamiken in Sozialen Bewegungen. Bei Goffman (1974: 21) sind Frames „schemata of interpretation [which enable people] to locate, perceive, identify, and label“ Ereignisse in ihrem Leben. Frames können helfen, „to render events or occurrences meaningful and thereby function to organize experience and guide action. [...] collective action frames are action-orientated sets of beliefs and meanings that inspire and legitimate the activities and campaigns of a social movement organization“ (Benford/Snow 2000: 614). Solche Frames konstruieren folglich ein gemeinsames Verständnis von Problemen, Situationen und Verhältnissen, die in den Augen des Kollektivs verändert werden müssen. Des Weiteren werden Verantwortliche für die jeweilige Situation ausgemacht, die zur Rechenschaft gezogen werden sollen, es werden alternative Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt und es wird für bzw. gegen das jeweilige Problem mobilisiert. Laut Snow/Benford (1988) kann demnach zwischen „diagnostic framing“, „prognostic framing“ und „motivational framing“ unterschieden werden.

Eine erfolgreiche öffentliche Mobilisierung setzt voraus, dass ein bestimmtes Thema als Problem wahrgenommen wird, als etwas, das Veränderung erfordert. „Diagnostic framing involves identification of a problem and the attribution of blame or causality.“ (ebd.: 200) Selbst wenn ein Thema schon teilweise öffentlich diskutiert wurde, muss das Problem in einer weiterumfassenden gesamtheitlichen Öffentlichkeit als ein solches anerkannt werden. Das kann geschehen, wenn sogenannte ‚massenmediale Gatekeeper‘ wie bspw. Journalist*innen Aufmerksamkeit auf das entsprechende Thema lenken. In der Vielzahl der möglichen Themen bedarf dies jedoch einer gewissen Strategie: Die Verwendung von einprägsamen Schlagwörtern und Abkürzungen wie bspw. Globalisierung, Rassismus, Anti-AKW oder #metoo und die Verwendung von Bildern und Symbolen, die viele Menschen gut und lange erinnern werden – z. B. der Greenpeace Regenbogen oder der WWF-Panda (Baringhorst 1998: 331). Eine zweite Strategie für die Konstruktion eines Problems ist die normative Aufladung eines Themas. Dafür muss das Thema in einen größeren Wertekontext positioniert werden. Ein Weg, dies zu erreichen, ist die Beschreibung einer Situation einerseits, wie sie in einer perfekten Welt wäre und andererseits wie sie aktuell besteht. Der Erfolg einer jeden Framing-Strategie ist davon abhängig, für wie wichtig die potenzielle Zielgruppe den thematisierten Wert in ihrem eigenen Glaubenssystem hält. Werte wie Frieden und Gerechtigkeit sind Beispiele für Werte, die (größtenteils) einem universellen Wertesystem angehören. Gamson (1992) nennt dies die Konzeption von „injustice frames“. Die Sicherung des Überlebens geht mit solchen Werten einher. Wenn das Überleben von Menschen oder Tieren in Gefahr ist, ist die Chance auf eine Mobilisierung vieler Unterstützer*innen vergleichsweise hoch. Wut und Überlebensängste sind emotionale Gründe für Menschen für das entsprechende Thema aktiv zu werden (Baringhorst 2004: 79). Um die Dringlichkeit eines Problems zu unterstreichen, greifen viele Organisationen und Initiator*innen zu rhetorischen Mitteln wie der Übertreibung oder Zuspitzung basierend auf Worst-Case-Szenarien. Hier stellt sich die Frage, ob und wie sich Mobilisierung im Zuge der Digitalisierung verändert hat. Wie und durch wen wird mittlerweile Aufmerksamkeit auf ein Thema gelenkt und welche Rolle spielen digitale Medien dabei?

Benford/Snow (2000: 616) beschreiben „prognostic framing“ als zweite Framing-Form, welche einen Lösungsansatz oder -vorschlag beinhalten muss. Dies umfasst „the articulation of a proposed solution to the problem, or at least a plan of attack, and the strategies for carrying out the plan. In short, it addresses the Leninesque question of what is to be done, as well as the problem of consensus and action mobilization“ (ebd.). Strategien hierbei sind die Schuldzuweisung und das Ausmachen von Verantwortlichen. Gründe und verantwortliche Akteure zu nennen, ist ein wichtiger Schritt bei der Auswahl des Adressaten für die Lösung des entsprechenden Problems und beim Vorschlagen des benötigten Handlungsbedarfs und der Protestaktionen. Dabei kann wiederum zwischen politischen und moralischen Problemen unterschieden werden: Bei einem politischen Problem wird die Lösung durch einen staatlichen Akteur gefordert, bei einem moralischen Problem ist es die Verantwortung eines jeden Individuums und individuelles Engagement wird benötigt (Baringhorst 2004: 80).Footnote 135 Eine im Zuge der Digitalisierung entstandene häufige Form dieser öffentlichen Adressierung der Verantwortlichen, meist auch inkl. Formulierung eines Lösungsvorschlags für das entsprechende Problem, stellen Online-Petitionen dar. Wie im vorangegangenen Unterkapitel gezeigt wurde, fühlen sich die von den Ersteller*innen der Online-Petition adressierten Verantwortlichen jedoch nicht immer selbst angesprochen.

Das motivational framing wiederum soll Unterstützer*innen generieren und Motive zum Mitmachen wecken. Laut Benford/Snow (2000: 617) bietet es „a ‚call to arms‘ or rationale for engaging in ameliorative collective action, including the construction of appropriate vocabularies of motive“. Diese Framing-Form beinhaltet die Entwicklung von collective action frames, welche definiert werden können als „variable features, including problem identification and direction or focus of attribution; flexibility and rigidity; inclusivity and exclusivity; interpretive scope and influence; and degree of resonance.“ (ebd.: 618) Diese Frames variieren bzgl. ihrer Exklusivität/Inklusivität, Elastizität und Beschränktheit. Je inklusiver und flexibler sie sind, desto eher können sie als Master Frames fungieren. Solche master frames sind bspw. Ungerechtigkeit, Rechte, Klimagerechtigkeit oder kultureller Pluralismus.

Collective action frames schreiben Ereignissen oder Phänomenen Bedeutung zu, sie vereinfachen und organisieren dadurch Erfahrungen, immer mit dem Ziel zu mobilisieren. Wie sich diese Mobilisierung im Zuge der Digitalisierung verändert hat, gilt es im weiteren Verlauf dieser Arbeit noch zu klären. Frames entstehen und entwickeln sich durch drei überlappende Prozesse: Diskursive Prozesse, strategische Prozesse und Konflikte.Footnote 136

Sowohl Castells (1997) als auch Melucci (1996) bauen mit ihren Theorien auf die Arbeit von Touraine (1985) auf. Alle drei verstehen Soziale Bewegungen als Träger von gesellschaftlichen Veränderungsprozessen. Wie Touraine (1985) betrachtet auch Castells (1997) Prozesse kollektiver Identität im Rahmen einer allgemeinen Gesellschaftstheorie. Er versteht kollektive Identitäten als zentrale Sammelpunkte kollektiver Akteure. Nur der Rückbezug auf Identität(en) ermögliche überhaupt noch Politik. In Castells „Power of Identity“ (1997) beschreibt der Autor kollektive Identität als Krisen- und Zusammenbruchs-Phänomen. Die alte Ordnung des Nationalstaats verflüssige sich im Space of Flows und damit verlieren die alten Institutionen ihre integrierende Funktion. „Weil Interaktion zwischen gesellschaftlichen Akteuren aber nicht in diesem space of flows möglich ist, sondern auf nicht-virtuelle Orte angewiesen ist, bleibt diesen der kommunalistische Rückzug in Gemeinschaften, die als Gegenbilder der Netzwerkgesellschaft ganz im space of places aufzugehen versprechen.“ (Haunss 2004: 61 f.) Während der Identitätsbezug Sozialer Beziehungen eine Reaktion auf veränderte gesellschaftliche Herausforderungen darstellt, die den Akteuren neue Ankerpunkte in einem ansonsten schwammig gewordenen Terrain liefern, das durch den Zerfall legitimierender Identitäten geprägt ist, entstehen als Gegenbewegung gleichzeitig machtvolle Widerstandsidentitäten, die oft lokalistische Rückzüge darstellen. Castells (1997) beobachtet die Entstehung zweier widersprüchlicher Logiken: Globalisierung, Vernetzung und Flexibilisierung sowie die Krise der patriarchalen Familie einerseits – der Fokus auf Lokales und Kommunales andererseits. An dieser Stelle wäre zu fragen, ob der beschriebene Rückzug in lokale Gemeinschaften auch in Zeiten der Digitalisierung noch beobachtbar ist oder soziale Medien hier zu einer Veränderung geführt haben.

Während für Castells kollektive Identitäten in Sozialen Bewegungen eine Reaktion auf Veränderungen in der Gesellschaft sind, konzentriert sich Melucci (1996) mehr auf interne Dynamiken in den Sozialen Bewegungen selbst. Kollektive Identitäten sichern die Kontinuität der Bewegung und grenzen sich von ihrer Umwelt ab. Sie regulieren Partizipation, indem sie Zugangsbedingungen festlegen und ermöglichen es Aktiven sich als Teilnehmer*innen der gleichen Bewegung zu erkennen. Nach Melucci (ebd.) muss eine Theorie des kollektiven Handelns, die gesellschaftliche Veränderungen und die Rolle von Sozialen Bewegungen darin erklären möchte, drei Bedingungen erfüllen: „1. Sie muss kollektives Handeln als soziales Verhältnis erklären (nicht als Resultat von Natur oder Struktur). 2. Sie muss kollektives Handeln als den Punkt identifizieren, wo sich Strukturen, Systeme und Verhalten treffen. 3. Sie muss zwischen verschiedenen Formen des Handelns unterscheiden“ (Haunss 2004: 63). Alle Theorien zur Erklärung des kollektiven Handelns setzen dabei eine Theorie des Handelns und der Identität voraus. Interessant ist dabei vor allem, warum und wie sich die Individuen überhaupt erst zu einem kollektiven Akteur zusammenfinden und dabei kollektive Interessen bilden. An diesem Punkt setzt Meluccis Konzept der Kollektiven Identität an. Er will beschreiben, wie Einzelne erkennen und entscheiden, was sie gemeinsam haben und wie sie gemeinsam handeln können. Kollektive Identität definiert Melucci (1996: 67 ff.) dabei als: „an interactive process through which several individuals or groups define the meaning of their action and the field of opportunities and constraints for such an action. […] an interactive and shared definition produced by a number of individuals (or groups at a more complex level) concerning the orientations of their action and the field of opportunities and constraints in which such action is to take place.“ Der Prozess kollektiver Identität setzt sich aus drei Elementen zusammen. Es bedarf erstens einer Definition der Ziele, Mittel und des Aktionsfeldes. Zweitens verweist er auf ein Netzwerk aktiver Beziehungen zwischen den einzelnen Akteuren. Drittens bedarf es einer gewissen emotionalen Investition. Diese drei Elemente unterscheiden kollektive Identitäten wiederum von anderen Gemeinschafts- oder Gruppenkonstruktionen. Mit Blick auf das Forschungsinteresse dieser Arbeit, stellt sich hier die Frage, ob solche kollektiven Identitäten auch im Netz bzw. ausschließlich im Netz entstehen können. Wie im Anschluss gezeigt werden wird, vertreten die meisten Interview-Partner*innen hierzu eine klare Position.

Melucci (1996) versteht kollektive Identität in erster Linie als Prozess, nicht als Produkt. Hierbei spielen eine gemeinsame Sprache, Rituale, Praktiken und kulturelle Artefakte eine tragende Rolle. Die Akteure müssen dabei nicht zwangsläufig in allen Ideologien, Interessen oder Zielen komplett miteinander übereinstimmen, um für kollektive Aktionen zusammen zu kommen. Für Melucci bezieht sich kollektive Identität auf ein Netzwerk von aktiven Beziehungen, in denen emotionale Verwicklungen der Aktivist*innen eine tragende Rolle spielen. Konflikte bilden dabei die ‚beste‘ Basis für den Zusammenschluss von kollektiven Identitäten und für Solidarität. Diese kann durch zahlreiche Faktoren gesteigert werden: Eine gemeinsame und charismatische Führung, (formelle) Organisationen, Ideologien, Rituale und symbolische Ressourcen wie bspw. einheitliche Kleidung. Auch hier stellt sich erneut die Frage, ob Online-Aktivismus diese Aspekte bieten kann und/oder wie er sie kompensiert.

Kollektive Identität ist eng an kollektive Aktionen gebunden. Gemeinsam aktiv zu werden und sich im politischen Feld der entsprechenden Sozialen Bewegung zu bewegen, hat starke Einflüsse auf die kollektive Identität. Rucht (1995: 14) stellt diesbezüglich die These auf, dass der Charakter kollektiver Identitätsbildung jeweils von der Größe der Gruppe, die den jeweiligen Bezugspunkt für den Prozess kollektiver Identität bildet, abhängt. Für Aktivist*innen ist kollektive Identität, deren Bezugspunkt kleinere Gruppen sind, das Produkt einer unmittelbareren, gemeinsamen Handlungspraxis und damit verhältnismäßig sehr konkret. Kollektive Identität(en), deren Bezugspunkt nicht einzelne Gruppen, sondern ganze Bewegungen bilden, sind hingegen eher abstrakt. Denn sie rekurrieren auf Werte und Normen, Ereignisse und Erfahrungen, die über den Erlebnishorizont der einzelnen Aktivist*innen hinausgehen.

Viele Aspekte aus Meluccis Theorie wurden von zahlreichen anderen Wissenschaftler*innen aufgenommen und ausgeführt. Einige dieser Punkte sollen im Folgenden skizziert werden, da sie im Anschluss in der Analyse des empirischen Materials von Bedeutung sind. Viele Autor*innen betonen die Wichtigkeit von Emotionen und Bindungen von bzw. zwischen Aktivist*innen (Hunt & Benford 2004; Adams 2003; Jasper 1997). Laut Flesher Fominaya (2010, 2007) sind es positive emotionale Erfahrungen in der Bewegungspartizipation, die Aktivist*innen auch über Rückschläge, Misserfolge und Durststrecken hinaus motiviert und involviert halten. Emotionale Verbindungen zwischen den Aktiven können so negative Erfahrungen überbrücken. Die Bedeutung von Emotionen für kollektive Identität und die Motivation für Engagement wurden zu Beginn des Abschnitts 5.3 „Emotionen und Affekte“ bereits ausführlich dargelegt.

Wenn eine Gruppe definiert, was sie ist, definiert sie damit gleichzeitig auch immer, was sie nicht ist. Ein weiterer wichtiger Aspekt von kollektiver Identität ist folglich „boundary work, welches Unterschiede zu anderen Gruppen ausdrückt (vgl. Hunt/Benford 2004). Hunt/Benford (ebd.) unterscheiden dabei zwischen „protagonist framing“ und „antagonist framing“. Ersteres etabliert eine Gruppendefinition nach innen und nach außen, Zweiteres identifiziert und entwickelt Strategien im Umgang mit Gegenspieler*innen. Boundary work findet folglich zwischen Sozialen Bewegungen, innerhalb einer Sozialen Bewegung und zwischen einer Gruppe und ihrem Gegenspieler statt (bspw. einer Firma, dem Staat oder einem Politiker).

In Gefahr zu sein und Risiko zu erfahren, ist ein weiterer Faktor, der kollektive Identität prägt. „[…] public demonstration of commitment under conditions of risk help create solidarity and strengthen it: movement identity is central to willingness to undertake such risks“ (Gamson 1991:46). Auch diese Erfahrung wurde von mehreren Interview-Partner*innen beschrieben und wird im Anschluss ausführlicher thematisiert. Während bei Straßenprotest damit die körperliche Unversehrtheit gemeint ist, kann der Risiko-Aspekt im Zuge der Entstehung von Online-Aktivismus noch um Datenschutzbedenken ergänzt werden.

In vielen Sozialen Bewegungen kann eine sogenannte ‚multi-militancy‘ beobachtet werden. Personelle Überschneidungen sind ein häufiges Phänomen, in verschiedenen Netzwerken tauchen immer wieder die gleichen Aktivist*innen auf, die ‚üblichen Verdächtigen‘ sind meist in mehreren lokalen Organisationen oder Initiativen engagiert (vgl. Della Porta 2005). Dank solcher Überschneidungen ist die Wahrscheinlichkeit für nicht-kompatible Identitäten zwischen den verschiedenen Gruppen oft sehr gering (Goodwin/Jasper 2003). Aktivist*innen bauen ihre kollektiven Identitätskonstruktionen auf das auf, was sie gemeinsam haben, anstatt auf ihre Unterschiede.

Ein weiterer Aspekt ist die Frage, ob kollektive Identität die Grundlage oder das Ergebnis von gemeinsamen Protestaktivitäten ist (vgl. Polletta/Jasper 2001). Die gemeinsame Teilnahme an kollektiven Protestaktivitäten stärkt die Bindung unter den Aktiven und lässt eine gemeinsame Protestgeschichte, Erinnerungen und Verbindungen entstehen, die wiederum auch Phasen mit weniger Aktivismus überstehen können (Flesher 2007; Taylor 1989; Whittier 1995). Dieser Punkt wird im Anschluss mit Beispielen aus den Interviews veranschaulicht.

Während in Kapitel 2 „Wandel von Protestpartizipation im Zuge der Digitalisierung“ sowohl Bimber/Flangin/Stohl (2005, 2012) als auch Bennett/Segerberg (2012) und Haenfler/Johnson/Jones (2012) mit Blick auf ihre generellen Beiträge zur Partizipations- und Protestforschung im Zuge der Digitalisierung betrachtet wurden, sollen die Ansätze der Autor*innen an dieser Stelle noch einmal hinsichtlich ihres Beitrags zum Konzept der kollektiven Identität herangezogen werden. Bimber/Flanagin/Stohl (2005, 2012) untersuchen insb. kollektives Handeln, das die Grenze zwischen Privatheit und Öffentlichkeit verschwimmen lässt. Ein wichtiges Ergebnis ihrer Analysen rund um „collective action spaces“ ist, dass bei der Erklärung von Mitgliederbeteiligung individuelle Faktoren mindestens genauso wichtig sind wie organisationale und dass individuelle Ziele und Motive für Engagement bessere Voraussagen über die Wahrscheinlichkeit von Partizipation treffen können als Faktoren wie Alter, Bildung und andere traditionelle Einflussfaktoren (vgl. Bimber/Flanagin/Stohl 2012: 106 ff.). Damit geht die Bedeutung von kollektiven Identitäten grundsätzlich zurück.

Auch Bennett/Segerberg (2012) beschreiben in ihrer „logic of connective action“ Tendenzen einer zunehmenden Personalisierung und Individualisierung. Immer stärker verbreitete „digitally enabled action networks“ zeichnen sich den Autor*innen (2012: 742) nach insb. dadurch aus, dass Netzwerke von „issue advocacy organizations“ die Koordination im Hintergrund übernehmen und damit konventionelle Kollektive und deren starre Mitgliedschaftverständnisse ersetzen. Um besser beschreiben zu können, wie solche Netzwerke funktionieren, was sie zusammen hält und was ihre politischen Effekte sind, entwerfen Bennett/Segerberg (2012: 743) drei Idealtypen von politischen Aktionen, die zwei verschiedenen Logiken zuzuordnen sind: Der „logic of collective action“ und der „logic of connective action“. Grundlage dessen ist eine Unterscheidung zwischen „collective action frames“ einerseits und „personalized action formations“ andererseits. Letzteres zeichne sich durch einen Rückgang von Mitgliedschaften und Loyalität gegenüber Institutionen aus und führe zu veränderten Einstellungen der Bürger*innen. Menschen würden zwar noch an größeren Veranstaltungen teilnehmen, aber der Identitätsbezug entstehe eher durch diverse, inklusive persönliche Expressionen als über Kollektive. Besonders in jüngeren Generationen förderten individualisierte Orientierungen ein zivilgesellschaftliches Engagement als Ausdruck von persönlichen Hoffnungen, Lebensstilen und Missständen. Politische Identifikation basiere eher auf persönlichen Lebensstilen als auf Gruppenidentifikation oder Ideologien und entsprechend entstünden flexible soziale Netzwerke mit schwachen Bindungen (vgl. ebd.: 744). Collective action frames hingegen bauten auf eine stärkere Identifikation mit einer Organisation und Ideologie sowie auf ein Mitgliedschaftsverständnis mit starken Bindungen auf. Die Verbreitung einer kollektiven Identität erfordere jedoch typischerweise mehr Bildung, Druck und Sozialisation, was wiederum auf Seiten der Organisation mehr Ressourcen wie finanzielle Ausgaben für ein Büro, Öffentlichkeitsarbeit und professionelle Mitarbeiter*innen bedeute. Digitale Medien könnten dabei helfen, die Kosten für diese Prozesse zu senken. Sie bedeuteten auch für konventionelle Organisationen neue Möglichkeiten der Mobilisierung, Koordinierung und internen und externen Kommunikation, was jedoch nicht zwangsläufig zu einer personalisierten Interpretation von Themen oder zur Selbstorganisation von Aktionen führe.

Connective action networks hingegen kommen gänzlich ohne starke Kontrolle von Organisationen oder eine konstruierte kollektive Identität aus. Bennett/Segerberg (ebd.: 755 ff.) unterscheiden innerhalb dieses Typs wiederum nochmal zwischen Netzwerken, bei denen Organisationen keine zentrale Rolle spielen und Technologien als „important organizational agents“ verwendet werden und einem hybriden Typ, der zwar formal organisationale Akteure beinhaltet, diese aber keinen starken Einfluss auf die Agenda haben, keine kollektive Identität formen oder sich als Organisation selbst in den Vordergrund stellen wollen. Vielmehr werden hier Ressourcen der Organisation genutzt, um soziale Technologien voranzubringen und lose öffentliche Netzwerke um personalized action frames herum gebildet (vgl. ebd.: 757). Beispiel für diesen dritten hybriden Typ ist das Occupy Movement, das ein Netzwerk für die Organisation von Lebensmitteln, Geld und anderer Infrastruktur hatte, ohne dass sich eine formelle größere Organisation hinter den Aktionen der Bewegung verbarg.

Bennett/Segerberg (2012) verstehen den dritten Typ als Antwort auf die von Organisationen erfahrene Herausforderung der zurückgehenden Mitgliedschaften und auf den Druck, losere Beziehungen zu Unterstützer*innen einzugehen. Viele Organisationen entwickeln darüber hinaus auch lose Verbindungen zu anderen Organisationen, um ein großes (Online-)Netzwerk für eine gemeinsame Sache zu bilden. Für die einzelnen Bürger*innen bedeutet diese Entwicklung, dass Organisationen auf ihr Bedürfnis nach individuellen Mitmachmöglichkeiten eingehen, sie mehr in Entscheidungsprozesse eingebunden werden und sich ihre Beziehung zur Organisation in einigen Fällen mehr hin zu einer Geschäftsbeziehung entwickelt, anstatt auf starren Mitgliedschaftsverständnissen zu beharren.

Als Herzstück der Logic of Connective Action beschreiben Bennett/Segerberg (ebd.: 760) das Teilen von Information über soziale Netzwerke hinweg und betonen dabei die Wichtigkeit von Kommunikationstechnologien: „[…] connective action brings the action dynamics of recombinant networks into focus, a situation in which networks and communication become something more than mere preconditions and information. What we observe in these networks are applications of communication technologies that contribute an organizational principle that is different from notions of collective action based on core assumptions about the role of resources, networks, and collective identity. We call this different structuring principle the logic of connection action.“

Auch Haenfler/Johnson/Jones (2012) beschreiben in ihrer Forschung einen Rückgang der Bedeutung kollektiver Identitäten. Sie konzentrieren sich insb. auf einen von den Autor*innen ausgemachten blinden Fleck an der Schnittstelle von individueller und kollektiver Partizipation und persönlicher und kollektiver Identität und entwerfen dabei das Konzept der Lifestyle Movements. Eine der Charakteristika von Lifestyle Movements ist laut Haenfler/Johnson/Jones (ebd.) das Betreiben von Identitätsarbeit, indem sich eine moralisch vertretbare, persönlich bedeutungsvolle Identität im Kontext von kollektiver Identität kultiviert (vgl. dazu auch Teske 2009). Die persönliche Identität spielt eine tragende Rolle, weil Bürger*innen hierbei ihre eigene Identität mit der Identität der Bewegung in Einklang bringen. Folglich ist die Beziehung zwischen kollektiver und individueller Identität für Lifestyle Movements besonders wichtig: „[…] rather than simply being linked to an organization’s collective identity for purposes of political mobilization, personal identity becomes a site of social change in and of itself as adherent engage in identity work directed at crafting personal integrity and authenticity.“ (Haenfler/Johnson/Jones 2012: 8) Eine eindeutige Trennung zwischen kollektiver Identität und persönlicher Identität ist laut Haenfler/Johnson/Jones (2012: 8) jedoch nur schwer möglich, da Lifestyle Movements ihre Teilnehmer*innen häufig dazu auffordern, die Ziele der Bewegung kontinuierlich in viele Aspekte des Alltags einzubinden. Hier stellt sich die Frage, welche Rolle Digitalisierung und die Verbreitung sozialer Medien bei dieser Einbindung in den Alltag spielen. Darüber geben im weiteren Verlauf der Arbeit die konkreten Praktiken der Bürger*innen (Kapitel 6) und ihre Einstellungen zu Mediennutzung und Online-Aktivismus (Kapitel 7) Aufschluss.

Die Struktur der Lifestyle Movements ergibt sich eher aus informellen sozialen Netzwerken, Cultural Entrepreneurs und losen Kontakten zu formalen Organisationen als aus formellen und starren Mitgliedschaften. Diese informellen Organisationen bieten über persönliche Identitäten hinaus wiederum auch Anknüpfungspunkte für kollektive Identitäten: „LMOs, nonprofits, and businesses nevertheless structure these LMs as they organize and groom leaders, build a collective identity, refine movement ideology, organize public events and social networks, and mobilize adherents to spread movement ideology.“ (ebd.: 11) Eine interessante Frage hierzu wäre, auf welchen Kanälen diese informellen Organisationen wiederum solch lose Kontakte halten – online, offline oder durch Nutzung beider Möglichkeiten?

Haenfler/Johnson/Jones (ebd.: 9) verweisen auf das Trittbrettfahrerproblem und fragen, warum jemand bspw. mehr Geld für Bioprodukte oder faire Waren ausgeben sollte, wenn der Einzelne doch kaum einen Unterschied machen würde. Die Autor*innen bezeichnen Identität als Teil von Motivation vieler Bürger*innen, die sich selbst als guter und wertvoller Mensch fühlen wollen und einen Gegenpol zu denjenigen bilden wollen, die besonders materialistisch denken und nicht am Zustand der Natur oder anderer Mitmenschen interessiert sind. Mit Verweis auf Teske (2009), der ebenfalls die Spannung zwischen Eigennutzen und Altruismus thematisiert, beschreiben auch Haenfler/Johnson/Jones (2012: 9) wie Partizipation in Lifestyle Movements ein Weg „for constructing a desirable self“ sein kann.

Van Stekelenburg/Klandermans (2007) wiederum beschreiben vier Mechanismen, die zwischen kollektiver Identität und kollektiven Aktionen vermitteln: Soziale Identität, Erkenntnis, Emotionen und Motivation. Sie stützen ihre Ausführungen auf Meluccis (1996) Definition von kollektiver Identität und gehen davon aus, dass Individuen ihre kollektive Identität durch persönliche Wahrnehmung der Umwelt konstruieren und es sich folglich immer um eine vermeintliche Realität handelt. Van Stekelenburg/Klandermans (2007) halten Gruppenidentifikation für die fundamentalste Erklärung dafür, warum Menschen in kollektiven Aktionen partizipieren. Dabei muss Gruppenmitgliedschaft einen positiven Einfluss auf die positive Selbstbewertung haben. Gruppenidentifikation diene als Verbindung zwischen kollektiver und sozialer Identität: Kollektive Identität bezieht sich laut van Stekelenburg/Klandermans (2007) auf Erkenntnisse, die die Mitglieder einer Gruppe untereinander teilen, während der Begriff der sozialen Identität Erkenntnisse eines einzelnen Individuums über sich als Mitglied in der Gruppe umfasst. Die Gruppenidentifikation bilde dazwischen das Verbindungsstück. Nimmt jemand an kollektiven Aktionen teil, handelt er/sie damit als Repräsentant*in dieser Gruppe und ihrer Interessen und hat das Ziel, die Konditionen für die gesamte Gruppe zu verbessern. Dabei liegt die Annahme zugrunde, dass das Individuum weiß, wie die Konditionen der gesamten Gruppe sind. Laut van Stekelenburg/Klandermans (ebd.) ist dies ein Prozess der Erkenntnis über geteilte Missstände, der Schuldzuweisung an einen externen Feind und der Forderungen zur Wiedergutmachung. Die Erkenntnis, dass ein Missstand gemeinsam geteilt wird, ist somit der erste Schritt zu einer gemeinsamen Aktion. Mit Verweis auf Goodwin/Jasper/Polletta (2000, 2004) beschreiben auch van Stekelenburg/Klandermans (2007) die Wichtigkeit von Emotionen für Motivation, Identifikation und Partizipation. Neben der Kreierung eines Klimas der Empörung gehe es aber auch um einen Erfahrungsaustausch unter Aktivist*innen und das Loswerden persönlicher Geschichten und Gefühle (ebd.: 17). Wut diene als häufigster Grund für Proteste (ebd.: 21).

Die vier Elemente soziale Identität, Erkenntnis, Emotionen und Motivation seien miteinander verbunden und beeinflussten sich gegenseitig, so van Stekelenburg/Klandermans (ebd.: 22). Besonders Kombinationen aus den Elementen Identität/Emotionen, Identität/Bewusstsein und Bewusstsein/Emotionen bestimmten die Motivation für eine Teilnahme an kollektiven Aktionen. Nach dem Vorbild von Gamson (1991) sprechen sich auch van Stekelenburg/Klandermans (2007: 22 ff.) dafür aus ‚Bewusstsein‘ („consciousness“) als Konzept zu verwenden, welches individuelle und kollektive Prozesse verbindet und die oben genannten Elemente so zu einer motivierenden Konstellation zusammenbringt, die dazu führt, dass Menschen an kollektiven Aktionen teilnehmen. Die dabei zentralen Konzepte Instrumentalität, Identität und Ideologie wurden bereits im vorangegangenen Abschnitt 5.3.1 „Ursprung und Motivation“ beschrieben und bilden im Anschluss eine wichtige Grundlage der Analyse des Interviewmaterials.

Erneut stellt sich auch hier die Frage, ob eine solche von van Stekelenburg/Klandermans (ebd.) beschriebene Gruppenidentifikation auch online erfahrbar ist bzw. ob sich diese bei Praktiken des Online-Aktivismus bilden kann. Können kollektive Identitäten im Netz bzw. ausschließlich aus Netzaktivsmus heraus entstehen? Werden hier Ziele definiert, Mittel festgelegt und Aktionsfelder konzipiert? Kann im Internet von einem „Netzwerk aktiver Beziehungen“ und einer „gewissen emotionalen Investition“ (Melucci 1996) gesprochen werden? Wie kompensiert Online-Aktivismus Aspekte von Straßendemonstrationen wie eine einheitliche Kleidung oder charismatische Führungsfiguren? Fühlen sich Bürger*innen im Netz Gefahren ausgesetzt, so wie Straßenprotestler*innen sich bei Konfrontationen mit der Polizei in Gefahr sehen und dadurch ihr Gruppengefühl stärken? Diese und andere Fragen gilt es im Folgenden nun zu klären.

5.3.2.2 Brüder im Geiste“ – Die Wichtigkeit von kollektiver Identität und Mitgliedschaft für zivilgesellschaftliches Engagement

Für den Großteil der Interview-Partner*innen ist ein ausschlaggebendes Argument für Mitgliedschaft in einer Organisation oder für die generelle Teilnahme an Protestpraktiken außerhalb des Netzes das dort empfundene Zugehörigkeits- und Zusammengehörigkeits-gefühl. Zu sehen, dass sich noch andere Menschen für das gleiche Thema einsetzen, mit Gleichgesinnten zusammen zu kommen und sich als Gemeinschaft zu fühlen, motiviert viele Bürger*innen, sich zivilgesellschaftlich zu engagieren. Dabei bleibt die Straße weiterhin der Ort für Zusammenkünfte und der Vergewisserung der eigenen Werte.

Kategorie „Kollektive Identität“

„Das sind wildfremde Leute und du bist absolut Brüder im Geiste.“ (Helena) – Mit Gleichgesinnten über das Thema zusammenkommen

Für Helena sind die anderen Demoteilnehmer*innen deswegen „Brüder im Geiste“. Durch diese bemerkt sie, dass sie nicht die Einzige ist, der Engagement wichtig ist: „Das macht mir absolut Spaß und das ist auch so toll, die Leute, die da mitlaufen. Das sind wildfremde Leute und du bist absolut Brüder im Geiste. […] es tut mir einfach auch mal gut zu sehen, dass ich nicht der einzige Spinner bin, sondern dass es noch einen Haufen solcher Spinner gibt.“ (Helena, Z. 666 ff.) Helena beschreibt es als eine Form der Bestätigung, zu erfahren, dass sie nicht alleine mit ihrer Einstellung ist. Diese Erfahrung berührt sie und bekräftigt sie in dem, was sie tut. Auch Kilian erfährt diese Bestätigung bei seinem Engagement im Nachhaltigkeitsbüro seiner Uni. Dort kämpft er mit Gleichaltrigen aus Überzeugung für die gleiche Sache. Dies funktioniert seiner Meinung nach nur, weil sich die Gruppe untereinander stärkt.Footnote 137

Sarah bezeichnet es als Innenwirksamkeit mit Solidarisierungseffekt, wenn die Jugendlichen, die sie betreut, auf Demonstrationen sehen, dass sich noch viel mehr Menschen für das gleiche Thema einbringen: „Also, man hat natürlich eine Innenwirksamkeit, einen Solidarisierungseffekt, man sieht – also die Jugendlichen sehen auch: ‚Boah, das sind noch viel mehr Leute, die sich mit dem Thema beschäftigen.‘ Es sind auch Leute aus ganz anderen Kreisen.“ (Sarah, Z. 544 ff.) Eine solche Innenwirksamkeit in Form von Verbundenheit beschreibt auch Sonja, die durch den persönlichen Kontakt und die thematische Auseinandersetzung eine Zugehörigkeit und Mitgliedschaft empfindet: „Also für mich persönlich ist schon der persönliche Kontakt wichtig, um mich als Mitglied zu fühlen. Wenn man natürlich jetzt – sagen wir mal, man ist jetzt in Entscheidungen eingebunden, durch Abstimmungen und Befragungen – gut, bei Greenpeace fühle ich mich schon zugehörig, weil ich da die Ziele ganz stark auch teile. Also auch ohne dass ich jetzt da in der Gruppe dabei bin. […] Also, da ist schon ein Gefühl der Verbundenheit da. Wenn eben die Thematik einen ganz stark anspricht.“ (Sonja, Z. 897 ff.)

Ein ähnliches Zusammengehörigkeits- und Gemeinschaftsgefühl beschreibt Gerd. Frühere Demoteilnahmen seien für ihn immer wieder ein Happening gewesen, bei dem er mit Musik und Blockade viel Gemeinschaft erlebt habe. Diese Erlebnisse will er an seinen Enkel weitergeben, der schon ein sehr gutes Gespür für soziales Engagement und das Füreinander entwickelt hat.Footnote 138 Neben den freudigen, musikalischen und entspannten Momenten beschreibt Gerd jedoch auch Situationen des Unwohlseins, besonders wegen Polizeipräsenz, in denen er sich aber aufgrund von vielen anderen Teilnehmenden sicherer fühlte, weil er wusste, dass diese wegen der gleichen Sache dort waren wie er selbst. Die Menschen, die ihn unterstützten gaben ihm dabei mehr Rückhalt, als dass ihn diejenigen, die das Demonstrieren verhindern wollte, daran hätten hindern können. „[…] ich habe ja vorhin beschrieben, diese Situation als wir da in Bonn mit dieser Polizei waren. Da war das dann schon, für mich jedenfalls und das habe ich auch bei ganz vielen Teilnehmern gemerkt, eine gute Erfahrung, dass es da neben mir fünf Leute gab und vor mir fünf oder zehn oder so und hinter mir so viele, die der Sache wegen, derentwegen ich da war, waren. Und nicht diese drei Leute, die da links von mir liefen, die das verhindern wollten. Ich denke schon, also das kann ich vielleicht auch im Netz erfahren, aber nicht in dieser klassischen Form. Weil da gibt es ja auch nicht den Staat als das Gegenüber.“ (Gerd, Z. 566 ff.) Dieses Gemeinschaftsgefühl ist für Gerd etwas Straßenspezifisches, was er in dieser Form bei Netzprotest nicht erlebt. Dabei spielt es auch eine Rolle, dass er auf der Straße – hier in Form von der Polizei – fühlt, dass er den Staat als direktes Gegenüber hat. Diese direkte und situative Gegenüberstellung kann er im Netz nicht erleben. Darüber hinaus fühlt er sich in der beschriebenen Situation insb. auch aufgrund der körperlichen Präsenz anderer Demoteilnehmer*innen sicher. Auch das ist in dieser Form im Netz nicht möglich, hier fehlt jegliche körperliche Präsenz. Eine wichtige Rolle spielt für Gerd ebenfalls, dass er weiß, dass die anderen Protestierenden das gleiche Anliegen vertreten wie er.

Auch Helena, Kilian, Sonja und Co. kommen über ein gemeinsames Thema mit Gleichgesinnten zusammen und erleben diese Gemeinschaft als Motivation für ihr Engagement, weil sie sie in ihren Ansichten bestärkt. Mit Benford/Snows (2000: 616) Begriff des „prognostic framings“ gesprochen, sind sich die Engagierten einig darüber, wer Schuld an der gegenwärtigen Lage trägt und welcher Handlungsbedarf besteht. Als master frame dienen hierbei Klimagerechtigkeit und Umweltschutz. Die Ausführungen der Interview-Partner*innen veranschaulichen Meluccis (1996: 67 ff.) Konzept der kollektiven Identität. Bei Straßendemonstrationen und anderen gemeinschaftlichen Aktionen erkennen Einzelne, was sie mit anderen gemeinsam haben und wie sie gemeinsam handeln können. Das geteilte Interesse am selben Thema dient dazu, gemeinsame Ziele und Aktionsfelder zu definieren. Ein Netzwerk aktiver Beziehungen zu Gleichgesinnten und eine emotionale Investition beeinflussen die kollektive Identität ebenfalls. Haenfler/Johnson/Jones (2012) beschreiben mit ihrem Konzept der Lifestyle Movements wie Individuen Identitätsarbeit betreiben, indem sie eine moralisch vertretbare und persönlich bedeutungsvolle Identität im Kontext von kollektiver Identität kultivieren. Sich bei Demonstrationserfahrungen zu vergewissern, dass man nicht der einzige ‚Spinner‘ ist, sondern es noch viele andere mit den gleichen Ansichten gibt, gehört zu solch einer Identitätsarbeit dazu (vgl. Teske 2009). Hier werden sich Individuen darüber bewusst, dass sie Teil eines größeren Kollektivs sind. Die Aussagen der Interview-Partner*innen stimmen folglich auch mit van Stekelenburg/Klandermans (2007) überein, die Gruppenidentifikation als fundamentalste Erklärung für Partizipation an kollektiven Aktionen halten. Diese Identifikation erfahren Bürger*innen bei der gemeinsamen Teilnahme an Straßendemos und nennen dabei körperliche Präsenz explizit als wichtigen Faktor.

„[…] eine Erfahrung, die uns jetzt verbindet.“ (Sonja) – Zusammengehörigkeit durch gemeinsame Protestgeschichte

Gemeinsame Protestaktionen und gemeinsame Erfahrungen schweißen zusammen. Besonders Sarah, Sonja und Gerd haben erlebt, dass eine gemeinsame Geschichte (z. B. Protesterfahrung in den 1980er Jahren) bis in die Gegenwart verbindet und dass Gruppenerfahrungen Vertrauen aufbauen und stärken. Sonja arbeitet heute in ihrem Engagement häufig mit zwei Frauen zusammen, mit denen sie sich besonders verbunden fühlt, da diese beiden genau wie sie zu Zeiten der Tschernobyl-Katastrophe das erste Kind bekommen haben: „Und ich glaube, das ist auch eine Erfahrung, die uns jetzt verbindet. Also, in dem Kreis, in dem ich jetzt bin. Die Hilde und die Brigitte, die haben beide auch zu der Zeit ihr erstes Kind bekommen. Also, das ist schon eine prägende Erfahrung gewesen.“ (Sonja, Z. 219 ff.) Die drei Frauen verbindet eine gemeinsame Geschichte und ähnlich Erfahrungen, die sie zwar damals nicht zusammen erlebt haben, die sie aber in ihrem heutigen Engagement zusammenhält. Sonja bezeichnet es als eine „Synergie“, die sich aus dem gemeinsamen Kampf gegen die WAA ergibt und die bei ihr ein Gefühl der Verwurzelung hervorruft – obwohl sie noch nicht sehr lange an diesem Ort wohnt.Footnote 139 Einen weiteren Aspekt stellen frühere Gruppenübungen dar, in denen der gewaltlose Widerstand geprobt wurde und die für Sonja den Zusammenhalt in der Gruppe gestärkt haben. Aufeinander aufzupassen, in der Gruppe zusammen zu bleiben und im Konsens zu entscheiden, hat sie damals geübt und gelernt. Ähnlich wie Gerd beschreibt auch Sonja den Staat als Gegenüber, dem sie in Form von zivilem Ungehorsam Widerstand leisten musste: „Und diese Gruppe hat mich ja auch mitgeprägt. Da ging es halt auch um gewaltlosen Widerstand, wir haben dann so Übungen gemacht, wie man sich wegtragen lässt und dass man halt in der Gruppe immer zusammen bleibt, aufeinander aufpasst, dass man nur im Konsens etwas macht und solche Dinge. […] Also, dass man eben auch die Grenze des Legalen überschreitet und sagt, wenn das Unrecht so groß ist, dann riskiere ich auch was.“ (Sonja, Z. 241 ff.) Dabei ging Sonja so weit, dass sie auch eine Verhaftung in Kauf genommen hätte.

Sarah erlebte zu ihren WG-Zeiten Ähnliches, als sie sich gemeinsam mit ihren Mitbewohnerinnen schützend vor das Gartenhäuschen oder die Baggerschaufel stellte, um den Abriss von Gebäuden zu verhindern. Sie beschreibt den morgendlichen Ablauf der Räumungs- und Blockadeaktionen, den sie vor dem Gang zur Uni erlebte und wie sie diese Erfahrungen emotional aufwühlte und mit den Mitstreiterinnen zusammenschweißte: „Und das waren aber so Sachen, die... – sage ich mal Politisierung. Also, ist das richtig? Aber das schafft natürlich ganz viel emotionale Aufregung und man ist dann auch irgendwie so zusammengeschweißt.“ (Sarah, Z. 288 ff.) Obwohl sie den Abriss nicht verhindern konnten, empfand Sarah eine Politisierung und Zusammenhalt durch die gemeinsame Erfahrung.

Laut Benford/Snow (2000: 623 ff.) entstehen und entwickeln sich Frames u. a. durch strategische Prozesse, bei denen Frames miteinander verbunden werden. Dabei suchen sie oft Anschluss zu kulturellen Werten, Erzählungen usw. So auch im Fall der Umweltschutz-Bewegung, die auf eine gemeinsame Geschichte der 1980er Jahre zurückgreifen kann und damit das gegenwärtige Engagement bestärkt. Laut Melucci (1996) spielen bei der Bildung einer kollektiven Identität eine gemeinsame Sprache, gemeinsame Rituale und Praktiken und kulturelle Artefakte eine wichtige Rolle. Sonja und Sarah beziehen sich in ihren Erzählungen auf Protesterfahrungen aus der Vergangenheit, die kollektive Identitäten stärken und eine Grundlage für das heutige Engagement gebildet haben. Flesher Fominaya (2007) beschreibt, wie positive emotionale Erfahrungen in der Bewegungspartizipation die Aktivist*innen auch über Rückschläge und Durststrecken hinweg motiviert und involviert halten. Eine gemeinsame Teilnahme an kollektiven Protestereignissen, wie bspw. von Sarah beschrieben, stärkt die Bindung unter Aktiven und lässt eine gemeinsame Protestgeschichte, Erinnerungen und Verbindungen entstehen. Auch hier spielt, ähnlich wie im vorherigen Abschnitt, die körperliche Präsenz eine besondere Rolle. Eine gemeinsam erlebte Protestgeschichte mit Blockaden und Hausbesetzungen, welche bei Sarah zu einer „Politisierung“ geführt hat, ist ohne körperlichen Einsatz schlichtweg unmöglich.

„Es ist schon eine Familie.“ (Sven) – Aus Protesterfahrung wird Familie und Freundschaft

Viele Gesprächspartner*innen haben die Erfahrung gemacht, dass aus dem gemeinsamen Engagement, der Protest-Verbundenheit und dem Kreis der aktiven Mitstreiter*innen etwas Persönliches entstehen kann. Sven bezeichnet es sogar als Familie, wenn man gemeinsam auf einer Straßendemo marschiert, mit anderen ins Gespräch kommt, sich kennenlernt und Freundschaften entstehen: „Durch die ganze Arbeit hier gibt es neue Freunde und auch sehr enge Freunde. Und auch Leute, wie jetzt auf dem Kirchentag, wo ich ein paar kennengelernt habe, man sieht sich auf der Demo, man sagt sich freudig ‚Guten Tag, wie geht’s dir?‘, babbelt ein bisschen und kriegt dann bspw. auch so ein Plakat in die Hand gehängt […]. Es ist schon eine Familie.“ (Sven, Z. 811 ff.) Man kennt und sieht sich und es entsteht ein Verbundenheitsgefühl. Die Erfahrung hat auch Olaf gemacht, der im Gegensatz zur weltweiten Vernetzung auch schätzt, wenn man in der Nähe voneinander ist und sich treffen kann. Denn so kann für ihn etwas Persönliches entstehen.Footnote 140 Ist es dann soweit, dass die Mitstreiter*innen wiederum schon Freund*innen geworden sind – wie bspw. im Fall von Sonja – sind Aktivist*innen u. a. auch bei Aktionen dabei, weil sie dort Freund*innen treffen können. Für Sonja bedeutet das zivilgesellschaftliche Engagement gleichzeitig auch immer Zeit im Freundeskreis zu verbringen. „Weil wie gesagt, man ist ja auch aktiv, weil man sich da in seinem Freundeskreis bewegt und man möchte die anderen ja auch mal sehen.“ (Sonja, Z. 788 ff.)

Julia wiederum differenziert verschiedene Freundeskreise und hat solche, die nichts mit Aktivismus zu tun haben und solche, die sich über die BUNDjugend ergeben haben. Mit Zweiteren geht sie auch gemeinsam auf Straßendemos.Footnote 141 Julia spricht auch den Aspekt der längerfristigen Bindung und Mitgliedschaft an. Für sie ist es eine Sache, Menschen zum Mitmachen zu bewegen und eine andere, dass diese Leute dann wiederum auch dabei bleiben. Laut Julia machen es die anderen Mitstreiter*innen der BUNDjugend aus, mit denen sie gern Zeit verbringt, auch mal eine Flasche Wein trinkt und das Drumherum um das Engagement genießt. Daraus schöpft sie auch in stressigen Situationen neue Motivation für ihren Aktivismus. „Ich mag einfach total gerne die Leute, denen man begegnet. Also Menschen, die sich mit ähnlichen Themen beschäftigen. Mit denen kann man ja in der Regel auch mehr anfangen, als mit anderen. Und da bin ich einfach super coolen Leuten begegnet und habe voll schöne Nächte mit einer Flasche Rotwein verbracht oder so. Also, einfach so, dass was drumherum passiert. Ich glaube, das ist so das, was zum Bleiben anhält.“ (Julia, Z. 341 ff.)

Insbesondere Julias Ausführungen veranschaulichen den Prozess kollektiver Identitätsbildung, wie von Melucci (1996) anhand dreier Elemente skizziert: Erstens bedarf es gemeinsamer Ziele, Mittel und Aktionsfelder. Bei der BUNDjugend hat Julia Menschen gefunden, die sich gern mit ähnlichen Themen beschäftigen wie sie und mit denen sie an verschiedenen Protestaktivitäten teilnehmen kann. Als zweiten Aspekt nennt Melucci ein Netzwerk aktiver Beziehungen zwischen den Akteuren. Auch dieses findet Julia bei der BUNDjugend – ähnlich wie auch Sonja, Olaf und Sven Freundschaften und familienähnliche Gebilde in ihrem Engagement vorfinden. Damit einher geht das dritte von Melucci genannte Element: Emotionale Investitionen. Durch die persönlichen Beziehungen und die gemeinschaftlich als wichtig wahrgenommenen Themen sind Aktivist*innen motiviert zu partizipieren, was wiederum auch dabei hilft, schwierige oder erfolglose Phasen zu überkommen. Nicht immer besteht ein Netzwerk aktiver Beziehungen schon von Beginn an oder ist der Grund, warum jemand sich zum ersten Mal engagiert. In vielen Situationen entstehen solche Netzwerke mit der Zeit und durch gemeinsame Protesterfahrungen und sind dann ein Motiv dafür, sich weiter einzubringen. Dabei spielen Treffen in Person – egal ob auf einer Straßendemo oder bei einem Glas Wein – eine wichtige Rolle für die Bildung eines Gemeinschaftsgefühls unter Aktiven.

„[…] das waren schon immer bekannte Gesichter.“ (Sybille) – Die üblichen Verdächtigen und andere Bekannte

Doch es müssen nicht immer gleich Freund*innen sein, die man bei Protestaktionen oder in der lokalen Ortsgruppe trifft. Auch lose Bekanntschaften und nette Leute sind für viele ein Grund für die Teilnahme. Franz und Sybille gehen aus diesem Grund häufig alleine zu Straßenprotestaktionen, denn sie wissen, dass sie vor Ort immer nette Leute kennenlernen, mit denen sie sich unterhalten und austauschen können. Beide freuen sich jedoch auch über Begleitung und/oder haben schon versucht, verschiedene Freund*innen oder Bekannte zum Mitkommen zu mobilisieren. Doch alleine zu gehen hält sie nicht von einer Teilnahme ab. „Nee, ich gehe da alleine. Ich wohne alleine und ziehe dann alleine los. Und es ist ja fast so wie Freunde-Besuchen-gehen, wenn man da hingeht. Nee, da kommt keiner mit.“ (Franz, Z. 210 ff.) Auch Sybille geht meist alleine los, kennt vor Ort aber dann doch immer jemanden. Motivation ist für sie aber eher, dass etwas in der Nähe stattfindet und dass sie etwas interessiert bzw. sie es für wichtig hält: „Also, ich gehe eigentlich meistens alleine. Ja, weil wenn es hier im Raum ist ... Also, ich gehe wenn mich etwas interessiert und ich Zeit habe, gehe ich los, ganz egal wer sonst noch kommt. […] Ja, weil ich das mache, weil ich es selbst richtig und wichtig finde. Wenn ich da welche kenne, finde ich das toll oder auch wenn ich andere ansprechen kann – ‚Kommst du auch?‘ – finde ich das auch gut, aber das ist für mich nicht die Triebfeder.“ (Sybille, Z. 544 ff.) Sybille ist bei vielen verschiedenen Organisationen ihrer Stadt engagiert und kennt dort Leute, sodass sie häufig die gleichen üblichen Verdächtigen trifft, die sich bei den meisten Protestaktionen versammeln. Auch Franz hat die Erfahrung gemacht, dass es oft die gleichen Teilnehmer*innen sind und schätzt es, sich mit ihnen und neuen Bekanntschaften auszutauschen und zu unterhalten. Dadurch fühlt er sich zugehörig.Footnote 142

Daniela beschreibt ebenso eine vertraute Atmosphäre und Gemeinschaft, wenn sie für Protestaktionen draußen unterwegs ist. Egal, ob schon bei der Anreise im Zug oder auf der Straße selbst, sie kennt und trifft oft Bekannte: „Und das finde ich an diesen Straßendemos so schön. Nicht diese Brutalität, die mag ich nicht. Aber dieses: ‚Ach, bist du auch hier?‘ Oder man trifft sich schon im Zug. Man geht ja mal mit seinen … Und das finde ich so toll, also diese Gemeinschaft.“ (Daniela, Z. 804 ff.) Auch Gerd hat die Erfahrung gemacht, dass man bei Aktionen immer wieder die gleichen Leute trifft. Er ist in seiner Stadt als stellvertretender Landrat sehr gut vernetzt und beobachtet insb. bei den Grünen starke personelle Überschneidungen. Über die Ortsgruppen hinweg scheint der Kontakt dann jedoch weniger intensiv zu werden, was Gerd bemängelt.Footnote 143

Kilian geht ebenso meist alleine zu Straßenaktionen, seine Freund*innen seien in anderen Bereichen engagiert, sodass er daran gewöhnt sei, dass er niemanden zum Mitkommen mobilisieren könne. „Das ist eigentlich unwichtig, würde ich sagen. Ich freue mich natürlich, wenn jemand mitkommt. Wenn ich dann jemanden zum Erzählen habe und das einfach teilen kann, das Erlebnis. Das freut mich natürlich. Aber mein Engagement ist schon so oft so alleine gewesen. Also meine Freunde, die engagieren sich dann halt für was anderes.“ (Kilian, Z. 933 ff.) Auch für Olaf stellt es kein Problem dar, alleine loszuziehen. Er würde nie alleine dastehen und immer wirklich nette Leute treffen. Für Olaf ist es schon alleine der Bereich, in dem er sich engagiert, der ihm garantiert, dass die Leute nett sein müssten. Das reicht ihm als Motivation aus, um sich für etwas einzusetzen, von dem er überzeugt ist.Footnote 144

Ergänzend zu den bereits erwähnten Netzwerken aktiver Beziehungen und emotionalen Investitionen (Melucci 1996: 67 ff.) bietet sich an dieser Stelle auch ein Bezug zu einer „multi-militancy“ (Della Porta 2005) und zu „cross-cutting ties“ (Goodwin/Jasper 2003) an. In vielen Sozialen Bewegungen und so auch in der Umweltschutz-Bewegung ist es ein häufig vorkommendes Phänomen, dass in verschiedenen Netzwerken oft die gleichen Personen auftauchen und diese in vielen lokalen Initiativen engagiert sind. Dank solch übergreifender Verbindungen ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die Unterstützer*innen verschiedener Organisationen oft sehr gut miteinander auskommen und gemeinsame Interessen verfolgen würden. Wie von Olaf beschrieben ist für ihn der Bereich seines Aktivismus schon Garant dafür, dass er sich mit seinen Mitstreiter*innen gut verstehen wird. Auch Franz und Sybille finden bei Protestaktionen vor Ort immer Gleichgesinnte für Unterhaltungen und Austausch, ohne dass sie sich mit Freund*innen fest für die Teilnahme verabreden müssten. Hier wird erneut die Wichtigkeit von Face-to-face-Treffen, Konversationen und Austausch vor Ort deutlich. Dass man Freund*innen nicht für eine Demoteilnahme mobilisieren kann, wird durch andere nette Bekanntschaften vor Ort kompensiert.

„[…] dass man einfach auf Menschen trifft.“ (Gerd) – Neue Leute kennenlernen

Ein durchaus wichtiger Aspekt von Protestaktionen, der teilweise auch als Motivationsfaktor dient, ist neue Kontakte zu knüpfen und explizit neue Leute kennenzulernen. Sonja hat nach einem Umzug in ihrem neuen Wohnort erstmals durch eine Protestaktion die Leute vor Ort kennengelernt und dadurch neue Freundschaften geschlossen. Bis dahin kannte sie dort kaum Leute. „Es war die Campact-Aktion damals, zur Laufzeitverlängerung, in verschiedenen Orten. Und dadurch habe ich halt eigentlich auch die ganzen Leute, die hier im Ort, kennengelernt. Ich habe ja noch nicht so lange, na ja gut ein paar Jahre, hier gewohnt, aber ich hatte meine Freunde eigentlich weiter draußen auf dem Land. […] Und ich denke letztlich, welcher Organisation man sich anschließt, das hat viel damit zu tun, dass man einen Draht kriegt. Also, dass einem die Leute auch sympathisch sind.“ (Sonja, Z. 138 ff.) Die Mitstreiter*innen und Sympathie spielen für Sonja eine wichtige Rolle. Und so waren es die anderen Mitglieder, wegen denen sich Sonja in den Organisationen eingebracht hat, in denen sie noch bis heute aktiv ist. Auch Isabelle nimmt an Aktionen teil, um explizit neue Leute kennenzulernen. Durch das gemeinsame Handeln, Diskutieren und das Teilen von Vorstellungen erfährt sie eine Gemeinschaft, in der sie Gesellschaft gestalten möchte. Dabei motiviert es Isabelle, dass auch die anderen die Welt verändern wollen.Footnote 145

Bei großen Straßendemonstrationen mit tausenden von Menschen hat Gerd (Z. 418 ff.) die Erfahrung gemacht, dass in 95 % der Fälle aus flüchtigen Kontakten nichts entsteht. Trotzdem sind es nette Kontakte, interessante Unterhaltungen und gleichgesinnte Menschen. In wenigen Fällen ergibt sich aus kurzen Bekanntschaften jedoch auch mehr – und so hat Gerd durch eine Demoteilnahme Freund*innen kennengelernt, mit denen er sich bis heute über Radtouren regelmäßig gegenseitig besucht. Neue Leute kennen zu lernen ist auch für Valeria von Bedeutung und sie glaubt, dass dies einfacher ist, wenn man alleine unterwegs ist. Dadurch treffe sie mehr Leute, als wenn sie mit jemandem gemeinsam an einer Protestaktion teilnimmt und dadurch ihre Aufmerksamkeit auf der Begleitperson legen würde: „Und man trifft ja auch – wie wir sehen, wir haben uns ja getroffen – man trifft und das ist total spannend und interessant. Würde wahrscheinlich dann eben nicht so sein, wenn ich mit jemandem zusammen wäre, wo wir die Aufmerksamkeit einfach aufeinander haben.“ (Valeria, Z. 836 ff.)

Auch für verhältnismäßig anonyme Mitstreiter*innen gilt also, dass sie Protestierenden aufzeigen, dass man ein gemeinsames Verständnis von Problemen und Situationen hat. Im Prozess der kollektiven Identitätsbildung erkennen die Aktivist*innen, was sie gemeinsam haben und wie sie gemeinsam handeln können. Aus diesen Erfahrungen heraus können neue Freundschaften entstehen, die eine gemeinsame Protesterfahrung zur Grundlage haben. Dabei kann es auch das explizite Ziel sein, durch den Austausch von persönlichen Ansichten und gemeinsamen Protestteilnahmen neue Leute kennenzulernen und Freundschaften aufzubauen, bspw. nach einem Wohnortwechsel.

„Weil, die Leute müssen auch mal zusammenkommen.“ (Franz) – Die Wichtigkeit der Straße für das Zusammengehörigkeitsgefühl

Bei den bisher genannten Aspekten deutet sich schon an, welche entscheidende Rolle die Straße für das Zusammengehörigkeitsgefühl einnimmt. Denn die Argumente, man würde mit neuen Leuten in Kontakt kommen und mit Gleichgesinnten für die gleiche Sache kämpfen, bezogen sich bisher ausschließlich auf Straßenprotestaktionen und Engagement in Organisationen mit lokalen Gruppentreffen. Folglich ist der nächste Aspekt die Wichtigkeit der Straße für Gemeinschaftsgefühle, kollektive Identität und die Vergewisserung der geteilten Werte mit Mitstreiter*innen. Dieser Aspekt wird später ausführlich diskutiert, soll jedoch an dieser Stelle schon als Faktor des Zugehörigkeitsgefühls thematisiert werden.

Besonders im Vergleich zu Netzprotest schätzen Franz und Sybille den Gemeinschaftssinn beim Straßenprotest. Für Sybille sind es die direkte Resonanz und die erlebte Freude, die den Straßenprotest zu etwas Lebendigem machen, dass sich für sie von der Teilnahme an Online-Aktivismus unterscheidet. Auf der Straße sei man mit Gleichgesinnten in Bewegung und würde so anders lernen und aufnehmen: „Und auch weil ich für das Lebendige bin. Internet ist irgendwo auch virtuell und ich finde es überhaupt wichtig, zum Handeln zu kommen. Und das ist ein Unterschied, ob ich ein paar Knöpfe drücke oder ob ich mich da hinbewege oder auch andere Menschen da treffe. […] Und wenn es eben eine kreative Aktion ist – ich denke mir, die Freude! Die Freude und die Resonanz zu spüren. Und man ist in Bewegung, das macht nochmal was ganz anderes mit einem. Also, in Bewegung lernt man mehr, nimmt man anders auf.“ (Sybille, Z. 622 ff.) Sybille unterscheidet ganz deutlich zwischen dem bloßen „Knöpfe drücken“ und Straßenaktionen, bei denen sie körperlich präsent ist. Auch Franz schätzt das Zusammenkommen auf der Straße. Er beschreibt es als eine Gemeinschaft, die mehr Zusammengehörigkeit empfindet als der Einzelne bei einer Unterschriftenaktion. „Und ich sage, der Straßenprotest bleibt weiterhin wichtig. Weil, die Leute müssen auch mal zusammenkommen. Es nützt nichts, wenn ich eine Unterschrift mache, dann werde ich ja keine Gemeinschaft, sondern ich bin dann ein Einzelner, der was gemacht hat.“ (Franz, Z. 605 ff.) Unterstützer*innen von Online-Petitionen machen für Franz keine Gemeinschaft aus, er versteht das Unterzeichnen nur als einzelne Praktik einzelner Bürger*innen. Trotzdem unterschreibt Franz häufig Online-Petitionen.

Ähnlich wie Sybille beobachtet auch Daniela eine große Freude bei Straßendemos, die gerade bei der „Wir-haben-es-satt“-Demo mit Kreativität und Ideenvielfalt einhergeht. Sie freut sich besonders über die Teilnahme älterer Leute und empfindet trotz Unbekanntheit einen großen Zusammenhalt und Gemeinschaft.Footnote 146 Helena wiederum schätzt besonders die Teilnahme von so vielen verschiedenen – jungen und alten – Protestierenden. Zusammen etwas auf die Beine zu stellen beeindruckt sie sehr und macht für sie einen entscheidenden Unterschied im Vergleich zum Online-Aktivismus, bei dem man teils nur unterschreibt und weiter nichts macht. „Also, wir haben letztes Jahr z. B. bei dieser Kohle-Kette in der Neiße gestanden. Das war so klasse! Und auch zu sehen, wie viele junge und alte, völlig verschiedene Leute da stehen und was zusammen machen! Oder auch diese ‚Wir-haben-es-satt‘-Demo oder so. Das finde ich total toll. Und bei Avaaz, da unterschreibst du halt und ja ...“ (Helena, Z. 504 ff.)

In Einklang mit Castells (1997) Theorie, dass soziale Interaktionen weiterhin in einem „space of places“ stattfinden und kollektive Identitäten eine Art Ankerpunkt in einem ansonsten sehr schwammig gewordenen Terrain darstellen, beschreiben auch die oben genannten Aktivist*innen eine große Wichtigkeit der Straße für das Gemeinschaftsgefühl. Dies gilt weiterhin auch in Zeiten der Digitalisierung und Verbreitung von Online-Protestpraktiken. Die Zusammenkunft mit anderen Bürger*innen, das Spüren von Freude und Resonanz und die gemeinschaftliche Umsetzung konkreter Protestaktionen unterscheiden den Straßenprotest damit erheblich vom ‚Knöpfe drücken‘ oder virtuellen Unterzeichnen einer Petition. Auf der Straße erkennen die Beteiligten, was sie gemeinsam haben und gemeinsam bewirken können (Melucci 1996: 67 ff.). Hier werden gemeinsame Rituale etabliert und Praktiken vollzogen, die wiederum die Bildung einer kollektiven Identität fördern. Dies bestätigt erneut van Stekelenburg/Klandermans (2007) These, dass Gruppenidentifikation die fundamentalste Erklärung für Partizipation an kollektiven Aktivitäten sei. Oben genannte Zitate bestärken dies, denn für viele ist die Straße der Ort, an dem eine Identifikation mit der Gruppe stattfindet. Van Stekelenburg/Klandermans (ebd.) führen ihre Argumentation anhand der drei Begriffe Instrumentalität, Identität und Ideologie aus. ‚Identität‘ bezeichnet dabei den Wunsch, als Teil einer Gruppe zu agieren. Die deutliche Mehrheit der Interview-Partner*innen dieses Samples fühlt sich durch Partizipation an Straßenprotesten eher als Teil einer Gruppe als bei Netzaktivitäten. Gruppenidentifikation bleibt damit ein Offline-Phänomen.

„[…] da ist es halt ganz wichtig, dass man eine Bezugsgruppe hat.“ (Sarah) – Aufeinander aufpassen fördert die kollektive Identität

Einen anderen Aspekt, den besonders Sarah und Gerd betonen, stellt das gegenseitige Unterstützen und aufeinander aufpassen dar. Für Sarah ist es wichtig, dass die Jugendlichen, die sie in ihrer Gruppe betreut, auf ihren ersten Demonstrationen positive und friedliche Erfahrung machen und lernen, dass ein Gruppenbezug von Wichtigkeit ist. Egal ob Toilettensuche oder verknackster Fuß, gemeinsam unterwegs und nicht auf sich alleine gestellt zu sein, ist bei einer Straßendemonstration für Sarah von großem Vorteil: „Wichtig finde ich halt schon, dass man einen Bezug dazu hat, dass man in der Gruppe ist. Weil Demo schon, auch wenn es so eine friedliche Latsch-Demo ist, da kann immer mal was sein. Was weiß ich, ich verknacks mir den Fuß, ich habe ne volle Blase und finde kein Klo oder so. Da können ja Sachen auf einmal ganz existenziell werden […].“ (Sarah, Z. 1140 ff.) Bei anderen Protestformen wie bspw. einer Castor-Blockade sind wiederum Absprachen in der Gruppe wichtig, wenn es um die persönliche Bereitschaft und deren Grenzen geht. Was macht man mit und wozu ist man nicht bereit? Dies in der Bezugsgruppe vorher abzusprechen hält Sarah für sehr wichtig. Dabei stellt sie fest, dass solche Absprachen am einfachsten sind, wenn man sich untereinander kennt.Footnote 147

Dass man bei einer Straßendemonstration aufeinander achten sollte, hat auch Gerd erlebt und möchte diese wichtige Erkenntnis an seinen Enkel weitergeben. Bei einer gemeinsamen Demoerfahrung war ein Rollstuhlfahrer dabei, auf den die Gruppe besondere Rücksicht nahm. Stolz erzählt Gerd, wie sich sein Enkel um den Rollstuhlfahrer kümmerte und Rücksicht darauf nahm, wo die Gruppe mit Rollstuhl gut langlaufen konnte: „Und auch bei anderen Sachen, dass er dann also ganz gezielt dann irgendwo gucken geht und sagt: ‚Du, wir müssen jetzt da und da lang.‘ Weil er dachte, also er muss jetzt aufpassen. […] Aber das erlebe ich auch bei Mitdemonstranten. […] Da guckt man schon aufeinander.“ (Gerd, Z. 533 ff.) Abgesehen von seinem Enkel beobachtet Gerd auch ganz generell ein fürsorgliches aufeinander Achten und Rücksicht nehmen und in stressigen oder unsicheren Situationen ein gegenseitiges Beruhigen. Darüber hinaus achtet eine Gruppe auch besonders dann aufeinander, wenn sie sich einer Gefahr ausgesetzt fühlt. Wie von Gerd weiter oben bereits beschrieben können Polizeipräsenz oder grundsätzlich eine Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner dazu führen, dass sich Gruppen bilden und gegenseitig schützen.

Im Rahmen einer kollektiven Identität zu erkennen, was man gemeinsam miteinander hat (vgl. Melucci 1996) bedeutet folglich auch, sich in diesen Situationen darauf zu konzentrieren anstatt auf Unterschiede untereinander. So soll ein Rollstuhlfahrer, der vielleicht nicht jeden Weg einer Demoroute gut mitfahren kann, trotzdem an der kollektiven Protestaktion teilnehmen können, wie alle anderen Fußgänger*nnen. Ein Netzwerk von aktiven Beziehungen und emotionalen Verwicklungen sorgt dafür, dass aufeinander Rücksicht genommen wird und man sich hilft. Rucht (1995: 14) stellt die These auf, dass kollektive Identitätsbildung jeweils von der Gruppengröße beeinflusst wird. Je kleiner die Gruppe, umso stärker die Identifikation durch konkrete gemeinsame Aktionen. Bei einer Gruppe von Aktivist*innen, die sich gemeinschaftlich auf eine Protestaktion des zivilen Widerstands vorbereiten oder bei einer BUND-Ortsgruppe, die zusammen an einem Demonstrationszug partizipiert, ist die Identifikation mit der Gruppe entsprechend sehr hoch. Hunt/Benford (2004) sprechen hierbei von „boundary work“, welches einerseits die Entwicklung von Strategien im Umgang mit Gegenspieler*innen bezeichnet, andererseits jedoch auch Beziehungsarbeit innerhalb einer Sozialen Bewegung oder Gruppe selbst umfasst. Auch beim Thema Rücksichtnahme und aufeinander aufzupassen, erzählen die Interview-Partner*innen nur von Erfahrungen, die sie im Straßenprotest gemacht haben. Auch hier scheint das Netz eine untergeordnete bis keine Rolle zu spielen.

„[…] eine Erfahrung, die hilft dieses eigene Ohnmachtsgefühl wieder loszuwerden.“ (Gerd) – Einen Gegenpol zum Staat bilden

Wie schon erwähnt, kann die Gemeinschaft der Protestaktion auch dazu dienen, einen Gegenpol zum Staat darzustellen. Sich zu vergewissern, wie viele andere noch die eigene Position vertreten, stärkt das Gemeinschaftsgefühl. Dabei kann es von Vorteil sein, wenn man für die Forderungen ein konkretes Gegenüber benennen und diabolisieren kann. Gerd hilft diese Gemeinschaft dabei, sein Ohnmachtsgefühl loszuwerden. In einer friedlichen Gruppe am Lagerfeuer und mit Musik stärkt er sein Gruppengefühl und bemerkt, dass viele andere aus dem gleichen Grund da sind. Ihm waren Gesang und friedliche Demonstrationen in der Vergangenheit immer wichtiger als Gewalt. „Oder Brokdorf. Also, dass man diese staatliche Macht hat und man sitzt dann da zusammen. Also, der Staat mit Hubschraubern bedrückt den einzelnen Bürger und versucht ihn daran zu hindern, da teilzunehmen und dann trifft man sich, sagen wir mal 50 Meter weiter an einem Lagerfeuer, das dann da entzündet worden ist, da sitzen Leute mit Gitarre und dann singt man da irgendwelche Songs der Protestbewegung. Das finde ich unglaublich wichtig. So, und auch eine Erfahrung, die hilft dieses eigene Ohnmachtsgefühl wieder loszuwerden.“ (Gerd, Z. 576 ff.)

Gerds Beschreibungen veranschaulichen die oben genannte zweite Komponente von „boundary work“ (Hunt/Benford 2004): Die Abgrenzung zu einem Gegenspieler, im Fall der beschriebenen Demonstration, der Staat verkörpert durch Hubschrauber und Polizei. Laut Gamson (1991: 46) ist ein weiterer Faktor, der kollektive Identität prägt, Risiko zu erfahren und in Gefahr zu sein. Wie von Gerd beschrieben solidarisieren sich Protestierende untereinander und widersetzen sich dem Gegenspieler, während dieser versucht, die Protestierenden an ihrem Handeln zu hindern. Einen weiteren wichtigen Faktor für die Bildung einer kollektiven Identität stellt das Loswerden persönlicher Geschichten und Gefühle dar (van Stekelenburg/Klandermans 2007: 17). Unter dem Begriff „Ideologie“ beschreiben die Autor*innen, dass Individuen der Welt Bedeutung geben und durch Partizipation ihren Gefühlen und Ansichten Ausdruck verleihen wollen. Für Gerd geht es im beschriebenen Fall einer kollektiven Demonstrationsteilnahme um das Loswerden eines Ohnmachtsgefühls.

„Nö, das Netz ist unpersönlich.“ (Sven) – Fehlendes Gemeinschaftsgefühl bei Netzaktivismus

Im Einklang mit der Aussage, dass kollektive Identität bei Protestaktionen auf der Straße entsteht, steht die Aussage, dass online kein Gemeinschaftsgefühl aufkommt. Diese Meinung vertreten besonders Olaf, Sven und Gerd. Für Sven ist das Netz unpersönlich, ihm fehlt dort das direkte Gegenüberstehen und Miteinanderreden. Ohne direkten, persönlichen Kontakt entsteht für ihn kein Gemeinschaftsgefühl: „Nö, das Netz ist unpersönlich. Du musst gegenüberstehen. Und musst reden können, musst jemanden hören, sehen. Und anders geht das gar nicht. Im Netz? Nee. […] Und dieser Kontakt, dieser menschliche Kontakt, indem man sich gegenüber steht oder rumläuft, ist extrem wichtig und da kann das Netz nie irgendwas machen.“ (Sven, Z. 841 ff.) Ähnlich sieht das Olaf, der zwar über E-Mails und Ähnlichem mit anderen verbunden ist, aber betont, dass dabei immer zuerst der persönliche Kontakt bestanden habe. „Ein Gemeinschaftsgefühl ist bei mir nie entstanden, wenn ich im Netz großartig aktiv war. Es ist aber bei mir auch eigentlich immer andersrum gewesen: Ich habe Leute persönlich kennengelernt, wie auch immer, über den BUND oder was auch immer. Und dann haben wir halt gesagt: Okay, jetzt tauschen wir mal unsere E-Mail-Adressen oder was auch immer aus, machen irgendeine Skype-Konferenz und dann nutzen wir halt die modernen Medien da.“ (Olaf, Z. 744 f.) Er kritisiert insb. Facebook und das dort vermittelte Verständnis von Freundschaft, inklusive der Wertung von der Anzahl sogenannter ‚Freundschaften‘.Footnote 148

In Konsequenz dessen folgert Gerd, dass es heute gerade für junge Menschen schwieriger geworden sei, feste und langfristige Bindungen einzugehen. Durch die Vielzahl möglicher Kontakte, die das Internet ermöglicht und die weit über den früheren analogen Freundeskreis hinausgehen, verliert man in Gerds Augen die Bindung der Menschen. Dabei spielt es Gerds Meinung nach eine Rolle, dass viele das Gefühl haben, sie müssten sich zwischen der einen oder der anderen Organisation entscheiden und könnten nicht mehrfach aktiv sein. Eine andere Befürchtung ist, dass man sich mit bestimmtem politischem Engagement die Zukunft verbauen könne, dass politisches Engagement also – je nach Ort – nicht überall gern gesehen sein könnte.Footnote 149

Das von Melucci (1996) für die Bildung einer kollektiven Identität benötigte Netzwerk aktiver Beziehungen und emotionaler Verwicklungen lässt sich laut der oben genannten Interview-Partner im Netz nicht finden bzw. aufbauen. Gerds Argumente stützen die Thesen von Bennett/Segerberg (2012) einer zunehmenden Personalisierung und Individualisierung von Engagement. In „personalized action formations“ (ebd.: 744) wird ein Rückgang von Mitgliedschaften und Loyalitäten gegenüber Institutionen beobachtet. Auch Gerd vermutet, dass sich insb. junge Menschen nicht mehr verpflichtend an eine Organisation binden wollen, sondern sich eher sporadisch einbringen. Olaf und Sven widersprechen jedoch der von Bennett/Segerberg (ebd.) geäußerten These, dass das Teilen von Informationen und die Wichtigkeit der Telekommunikationsmedien dabei im Zentrum stehen würden. Vielmehr sind die Interview-Partner der Meinung, dass reale Begegnungen weiterhin die Grundlage für Engagement bilden.

„[…] da bleibt man dann doch in Kontakt […].“ (Mareike) – Zugehörigkeit im Netz

Einzig Mareike ist der Meinung, dass man übers Netz schnell Bekanntschaften schließt und sich dort als Kollektiv fühlt. Durch eigene Gruppen, sie meint dabei insb. Facebook, fühlt sie sich schnell zugehörig: „Also ich muss sagen, man schließt sehr schnell Bekanntschaften übers Netz und meistens finden sich Leute auch, wo es zusammenpasst. Und da fühlt man sich, dadurch dass man auch dann eine eigene Gruppe hat, geheim oder geschlossen oder offen, wie auch immer, fühlt man sich natürlich dazugehörig. Und auch recht schnell.“ (Mareike, Z. 1057 ff.) Durch das Netz entstehen und halten für Mareike Freundschaften, unabhängig von der ansonsten für Freundschaften relevanten Distanz bzw. Nähe. Durch neue ICTs sei es heute einfacher den Kontakt längerfristig zu halten oder die Zeit zwischen physischen Treffen, bspw. bei Demos, zu überbrücken: „Und es entstehen definitiv Freundschaften und auch längerfristig. Auch wenn man von weiter weg ist. Aber durch die E-Mail und so, auch Facebook, da bleibt man dann doch in Kontakt, hört öfter voneinander und so ist das Thema ‚Aus den Augen, aus dem Sinn‘ dann nicht mehr so präsent wie früher.“ (Mareike, Z. 1248 ff.)

Anders als von den restlichen Interview-Partner*innen beschrieben, lassen sich die von Melucci (1996) genannten Prozesse kollektiver Identitätsbildung durch Netzwerke aktiver Beziehungen laut Mareike auch im Internet finden und aufrechterhalten. Sie findet im Netz Gleichgesinnte und tauscht sich online aus. Durch offene und insb. durch geschlossene Facebook-Gruppen findet auch hier „boundary work“ (Hunt/Benford 2004) statt, welches Abgrenzung zu anderen Gruppen markiert und damit eine Innenwirksamkeit innerhalb der Gruppe erzeugt. Mareike würde Bennett/Segerbergs (2012) Argument bzgl. der Wichtigkeit von ICTs und dem Teilen von Informationen im Netz vermutlich zustimmen. Sie sieht viele Vorteile in der Nutzung digitaler Medien, insb. um räumliche Distanzen zu überwinden.

„[…] Aufgaben zu verteilen und sich das zu teilen und dann macht es auch mehr Spaß.“ (Stefanie) – Gemeinschaft durch Arbeitsteilung

Einen ganz anderen, bisher nicht berücksichtigten, aber wichtigen Aspekt von Gemeinschaft stellt es dar, sich Verantwortung, Last und Aufgaben untereinander zu teilen. Stefanie nennt die Vorteile davon, in einer Gruppe zu arbeiten: Gemeinsam Prioritäten setzen, Aufgaben verteilen, sich austauschen, Spaß haben und dadurch den Gemeinschaftssinn stärken. Sie betont insb. den Spaßfaktor und dass es hilfreich sei, auch mal lachen zu können, anstatt sich über etwas zu ärgern.Footnote 150 Isabelle findet Gemeinschaft großartig. Denn so könne man sich vernetzen und gemeinsam mehr schaffen, als alleine: „Man braucht Zeit, sich mit anderen Menschen zu vernetzen, weil man nicht alles selber machen kann und ja auch gar nicht will. Ich finde Gemeinschaften großartig, zusammen kriegt man immer viel mehr hin.“ (Isabelle, Z. 289 ff.) Isabelles Aussage verdeutlicht einen strukturellen Aspekt, der bereits in Abschnitt 5.1 „Ressourcen“ beschrieben wurde: Netzwerke dienen als wichtige Ressource, weil man alleine gar nicht alles schaffen könne. Von anderen Menschen, ihrem Wissen und ihren Fähigkeiten profitieren zu können, setzt ein aktives Netzwerk mit guten Kontakten voraus. Sybille wiederum beobachtet bei ihrem Gartenprojekt, dass sich bei mehreren Aktiven die Arbeit aufteilen lässt und somit weniger Last und Verantwortung auf den Schultern von Einzelnen lastet. So ist es in Konsequenz nicht schlimm, wenn einige wenige Personen (länger) ausfallen.Footnote 151

Diese Aussagen stützen Meluccis (1996) These, dass kollektive Identität eng an kollektive Aktionen gebunden ist. Gemeinsam aktiv zu werden, Teil einer (formellen) Organisation zu sein, evtl. mit festen Ritualen und Ressourcen – oder wie hier beschrieben auch mit Arbeitsteilung und bestimmten Aufgabenbereichen – stärkt kollektive Identität. Hunt/Benford (2004) führen aus, wie wichtig Emotionen und Bindungen innerhalb einer Gruppe für das Gemeinschaftsgefühl sind. In der Gruppe zu agieren, sich aufeinander zu verlassen, sich auszuhelfen und Arbeit und Verantwortung aufzuteilen, hat positive Effekte auf die kollektive Identitätsbildung innerhalb der Gruppe.

„Und auch dieses Gemeinsam-voneinander-Lernen […].“ (Sybille) – In der Gemeinschaft Wissen weitervermitteln

Wie im Fall von Gerd und seinem Enkel, dient die Gemeinschaft bei Protestaktionen auch dazu, voneinander zu lernen, Wissen weiterzugeben und Vorbildfunktion einzunehmen. Gerds Schwiegersohn starb früh und so ist es Gerd ein ganz besonderes Anliegen, seinem zehnjährigen Enkel eine Leitfigur zu sein, vielleicht ein Stückweit Vaterersatz zu sein und dem Enkel Vertrauen ins Leben zurückzugeben. Auf die Frage, ob es ihm wichtig sei, seine Familie bei Protestaktionen dabei zu haben, antwortet Gerd: „Also, ich finde es schon schön. Aber das hat was mit der Geschichte meines Enkels zu tun. Dass er seinen Vater verloren hat und so. Dass der so eine Leitfigur auch hat, der auch mal ganz was anderes macht. […] Ja, und ich merke auch, dadurch kriegen wir auch eine gute Nähe, wir zueinander. Und er auch wieder Vertrauen zum Leben.“ (Gerd, Z. 514 ff.)

Einen Lerneffekt beobachtet auch Sybille in ihrer Urban-Gardening-Gruppe. Zu lernen, wie man sich selbst ernährt, wie welche Pflanze aussieht und wie man sich in die Gruppe einbringen kann, sind nur einige Facetten, die sie am Gärtnern schätzt. Sybille betont insb. die Anschaulichkeit und schnelle Wirksamkeit auf den Menschen, die Gartenprojekte für sie besonders effektiv machen. „Also, gerade auch beim Gärtnern wird das ja deutlich: Dass so dieses selbst was zu essen anzubauen, ganz viele Facetten hat. […] Es hat was mit Lernen zu tun: Wie könnte ich mich selbst ernähren? Und was geht denn eigentlich? Viele wissen ja nicht mal, wie eine Bohnenpflanze aussieht. Also, das ist ein starker Lerneffekt. Und auch dieses Gemeinsam-voneinander-Lernen, diese Gemeinschaft und diese Freude […].“ (Sybille, Z. 848 ff.)

Auch Sybilles Ausführungen unterstreichen die Wichtigkeit von gemeinsamen Praktiken, Ritualen und kulturellen Artefakten, sowie die Bedeutung von emotionalen Verwicklungen und einem Netzwerk aktiver Beziehungen (Melucci 1996) für zivilgesellschaftliches Engagement. In der Gemeinschaft wird Wissen etabliert und weitervermittelt, es werden Rituale gegründet und weitergeführt und Vorbildfunktionen übernommen. Insbesondere Gerds Ausführungen veranschaulichen die These von Bimber/Flanagin/Stohl (2005, 2012), dass individuelle Faktoren mindestens genauso wichtig für Partizipation sind wie organisationale. Mit der Mitnahme seines Enkels auf Straßendemonstrationen und der Übernahme der Rolle als Vaterfigur betreibt Gerd aktiv Identitätsarbeit, indem er eine persönlich bedeutungsvolle Identität im Kontext der kollektiven Identität in der Umweltschutz-Bewegung kultiviert (vgl. Haenfler/Johnson/Jones 2012; Teske 2009). Van Stekelenburg/Klandermans (2007) nennen zwar den Erfahrungsaustausch unter Aktivist*innen als wichtigen Aspekt der Motivation für Partizipation, darüber hinaus ist der Bereich des Wissenstransfers jedoch wenig erforscht.

Zusammenfassung

Die Analyse der Kategorie Kollektive Identität zeigt deutliche Übereinstimmungen mit klassischen Ansätzen der Forschung wie bspw. von Melucci (1996) und van Stekelenburg/Klandermans (2007). Auch die Interview-Partner*innen beschreiben Zugehörigkeit und kollektive Identität als etwas, das sich aus gemeinsamen Protestaktionen, Praktiken, Zielen und auch aus der Erinnerung an gemeinsame Protesterfahrungen, z. B. aus den 1980er Jahren, heraus entwickelt. Auf der Straße und durch das gemeinsame Auftreten und sich als Gruppe Bewusstwerden, erkennen sie Gemeinsamkeiten und identifizieren sich mit anderen Protestierenden. Aus gemeinsamer Protesterfahrung können Freundschaften oder gar familienähnliche Gebilde entstehen und weil davon ausgegangen werden kann, dass man bei Aktionen oft auf die gleichen ‚üblichen Verdächtigen‘ trifft, sind viele Bürger*innen auch bereit, ohne Freund*innen oder feste Verabredungen mit anderen an Straßenaktionen teilzunehmen. Mit Ausnahme einer Interview-Partnerin beschreiben alle, dass sie kollektive Identität und Gemeinschaft in erster Linie bei Offline-Aktionen empfinden und es die gemeinsamen Praktiken sind, die zusammenschweißen. Dabei spielt auch eine Rolle, dass es bei größeren Aktionen wie Straßendemos oft nötig ist, aufeinander aufzupassen, sich eine Bezugsgruppe zu suchen und eventuell sogar einer Gefahr durch Staatsgewalt oder Gegendemonstrant*innen ausgesetzt zu sein.

In der bisherigen Forschung vernachlässigt, hier jedoch von Relevanz, ist die Teilnahme an Protestaktionen mit dem expliziten Ziel, neue Leute kennenzulernen. Sei es wegen eines Wohnortwechsels oder weil aus dem bisherigen Freundeskreis niemand Interesse an einer Demoteilnahme hat. Manche Interview-Partner*innen partizipieren bei Protestaktionen, weil sie davon ausgehen, dass sie aufgrund geteilter Interessen und Wertvorstellungen dort Gleichgesinnte kennenlernen können. Ein weiterer Faktor, der in der bisherigen Forschung zu kollektiver Identität wenig berücksichtigt wird, ist das Teilen von Arbeit und Verantwortung. Im Team lassen sich Aufgaben auf mehrere Schultern verteilen und ein zeitweiser Rückzug aus Aktivitäten, z. B. wegen Urlaub, Arbeit oder Studium, kann von anderen Personen der Gruppe aufgefangen werden. Während ein Erfahrungsaustausch unter Aktivist*innen zwar von van Stekelenburg/Klandermans (2007) als Aspekt der Motivation genannt wird, steht eine detailliertere Analyse der Bedeutung von Wissenstransfer und der (Weiter-)Entwicklung von Wissen in Protestgemeinschaften hingegen noch aus.

Eine von van Stekelenburg/Klandermans (ebd.) und anderen Autor*innen beschriebene Gruppenidentifikation ist, mit Ausnahme von Mareike, für die Interview-Partner*innen online nicht erfahrbar. Praktiken des Online-Aktivismus werden zwar von einigen Bürger*innen geschätzt und auch praktiziert, tragen jedoch nicht zu einer Gemeinschaftsbildung teil. Die Digitalisierung und die Verbreitung von Social Media haben daran nichts geändert. Auch schafft es Online-Aktivsmus nicht, Aspekte von Straßendemonstrationen und Arbeit in Verbänden wie das gemeinsame Erleben von Gefahr, Freude oder Arbeitsteilung zu kompensieren oder Pendants dazu zu erschaffen. Warum trotzdem ein Großteil der Interview-Partner*innen zahlreiche Vorteile im Netzaktivismus sieht und das Netz für vielerlei Aktivitäten nutzt, wird insb. im siebten Kapitel deutlich, wenn es um die Einstellungen zu Netzaktivismus und der Kritik des Clicktivism geht. Die Erfahrung einer kollektiven Identität ist jedenfalls nicht der Beweggrund für die Interview-Partner*innen, sich im Netz zu engagieren.

Kategorie „Mitgliedschaft“

„Mitarbeiten, selbst unterstützen, selbst Hand anlegen, selbst präsent sein. (Helena) – Mitgliedschaft als konkrete Praktik und aktive Mitarbeit

Für den Großteil der Interview-Partner*innen bedeutet Mitgliedschaft in erster Linie – aber nicht zwangsläufig ausschließlich – sich aktiv für etwas einzusetzen, einen aktiven Anteil zu haben, anzupacken und mitzuarbeiten. Dabei steht eine konkrete Handlung in Zusammenhang mit der entsprechenden Organisation im Mittelpunkt. Für Olaf ist es das Tun, das Mitgliedschaft ausmacht. Nur Geld zu zahlen, ist für ihn keine Mitgliedschaft: „Also ich denke generell, wenn ich irgendwo Mitglied werde, dann heißt das für mich auch, dass ich mich da persönlich engagiere. Also, dass ich da eben irgendwie was tue. Also nur irgendwie da das Geld abzudrücken im Jahr, das wäre mir jetzt eigentlich nicht genug.“ (Olaf, Z. 860 ff.) Sarah will einen aktiven Anteil an einer Organisation oder einem Verein haben, wenn sie sich dort Mitglied nennt. So versucht sie bspw. beim Verein zur Erhaltung der Nutzpflanzenvielfalt (VEN) immer Saat zum Tauschen mitzubringen.Footnote 152 Auch Sonja und Valeria halten es bei einer Mitgliedschaft für nötig, mitzuarbeiten. Auf die Frage, ab wann sie sich als Mitglied von etwas fühle, antwortet Sonja: „Ja, sobald ich halt in der Gruppe arbeite. Sobald ich da zu einer Gruppe dazugehöre, würde ich mal sagen.“ (Sonja, Z. 868 ff.) Valeria begründet ihre Aussage, bei Campact kein offizielles Mitglied zu sein, damit, dass sie nicht aktiv mitarbeiten würde, wie bspw. Flyer zu verteilen, aufzubauen oder anderweitig zu organisieren.Footnote 153 Helena wiederum nennt Mitgliedschaft, selbst Hand anzulegen und präsent zu sein. „Mitarbeiten, selbst unterstützen, selbst Hand anlegen, selbst präsent sein. […] Also, da merke ich jetzt gerade, dieses persönliche Tun und Machen, das ist für mich Mitglied.“ (Helena, Z. 1125 ff.) Auch Günter hält es bei einer Mitgliedschaft für nötig, aktiv zu partizipieren und beruft sich dabei grundsätzlich auf Vereinsversammlungen, bei denen für ihn Anwesenheit ein Muss ist, sobald er dort Mitglied ist: „Mitgliedschaft ist für mich immer aktive Mitgliedschaft. Also, wenn ich irgendeinem Verein beitrete, da gehe ich auch zur nächsten Jahresversammlung. Das gilt für den Turnverein genau wie für den BUND. Das ist für mich Mitgliedschaft. Ich würde mich nicht engagieren, ich würde nicht in einem Verein drin sein, wenn ich mich nicht auch tatsächlich dafür interessiere und da auch richtig was mitmache.“ (Günter, Z. 633 ff.) Felix nennt Mitgliedschaft ein Geben und Nehmen. Allein das Zahlen eines Beitrages oder das Erhalten einer Zeitschrift macht für ihn noch keine Mitgliedschaft aus. Er müsse aktiv etwas machen, um sich als Mitglied von etwas zu fühlen.Footnote 154

Auch ein eventueller Ortsbezug und persönliche Kontakte machen Mitgliedschaft aus. Für Olaf ist es von entscheidender Bedeutung, dass er bei einer Ortsgruppe vom BUND – anders als z. B. bei Greenpeace – echte Menschen vor sich hat, mit denen er zusammen arbeitet: „Weil eben der BUND jetzt im Gegensatz zu Greenpeace, was ja eine reine Kopforganisation ist, eben in den ganz vielen kleinen Orts- und Kreisverbänden usw. aktiv ist mit wirklich Menschen aus Fleisch und Blut vor Ort, die da irgendwas machen. Und bei Greenpeace ist es ja das Gegenteil, du hast ja eigentlich nur Professionelle und die sitzen da in Hamburg.“ (Olaf, Z. 814 ff.) Auch für Sonja und Stefanie sind es der persönliche Kontakt und die persönliche Präsenz, die Mitgliedschaft ausmachen: „Also für mich persönlich ist schon der persönliche Kontakt wichtig, um mich als Mitglied zu fühlen.“ (Sonja, Z. 897 ff.) Ähnlich formuliert es Stefanie: „Na ja, Mitgliedschaft ist so eine vage Definition. Ich würde es in erster Linie irgendwie mit einem Verein definieren. Also Vereinsmitglied – und das ist eben persönlich präsent. Und das ist für mich dann auch ein Mitglied.“ (Stefanie, Z. 1073 ff.)

Die oben ausgeführten Verständnisse von Mitgliedschaft als aktive Handlung vor Ort und mit anderen Menschen veranschaulichen Meluccis (1996: 67 ff.) Beschreibung von kollektiver Identität als Prozess, bei dem eine gemeinsame Sprache, Rituale, Praktiken und kulturelle Artefakte eine tragende Rolle spielen. Wie im Konzept der Collective Action Frames (Bennett/Segerberg 2012), bauen auch oben zitierte Interview-Partner*innen auf eine starke Identifikation mit der Organisation und vertreten ein Mitgliedschaftsverständnis mit starken Bindungen. Diese Bindungen bedeuten, sich an konkreten Handlungen zu beteiligen und aktiv mitzumachen. Damit stützt dieses Mitgliedschaftsverständnis van Stekelenburg/Klandermans (2007: 8) These, dass eine hohe Gruppenidentifikation die fundamentalste Erklärung dafür ist, warum Menschen an kollektiven Aktionen partizipieren. Nimmt jemand an Aktionen teil, agiert er/sie damit als Repräsentant*in dieser Gruppe und ihrer Interessen. Da die Interview-Partner*innen u. a. auch eine persönliche Präsenz und den lokalen Ortsbezug als Aspekte von Mitgliedschaft betonen, liegt diesem Mitgliedschaftsverständnis eindeutig ein Offline-Bezug zugrunde, bei dem Praktiken außerhalb des Internets im Mittelpunkt stehen.

„[…] da fühle ich mich emotional total stark verbunden […].“ (Sarah) – Mitgliedschaft als emotionale Verbundenheit

Wie unter dem Aspekt Emotionen schon beschrieben, geht für Sarah Mitgliedschaft sehr mit emotionalen Verbundenheitsgefühlen einher. Diese können mit der Zeit entstehen dadurch, dass man schon lange bei etwas dabei ist oder sich rein emotional entwickeln, bspw., weil jemandem ein Thema sehr am Herzen liegt. Alleine nur das Empfangen eines Newsletters und Zahlen eines Beitrages macht für Sarah in der Regel noch keine Mitgliedschaft aus, in manchen Fällen ist ihre emotionale Verbundenheit jedoch so stark, dass sie sich trotz bisher fehlendem aktivem Beitrag als Mitglied fühlt. Aus diesem Grund nimmt sie sich im Fall des Botanischen Gartens schon lange vor, einmal zur Mitgliederversammlung zu gehen: „Also, wenn ich einen Newsletter von einer Organisation krieg, würde ich nicht sagen, dass ich da Mitglied bin. Weil, ich überlege jetzt auch so bei anderen Vereinen, z. B. da dieser Botanische Garten Gießen. Da merke ich so, da fühle ich mich emotional total stark verbunden, weil ich das nen kleinen Ort in Gießen finde. […] Also, das geht dann ja schon übers Beitrag-Zahlen hinaus. Ich sage mal, denen fühle ich mich verbunden. Das ist mehr eigentlich so was Emotionales.“ (Sarah, Z. 1204 ff.) Im Falle des Verkehrsclub Deutschland empfindet Sarah eine emotionale Verbundenheit, die auf der Dauer ihres Engagements basiert. So würde sie sich alleine aufgrund der Zeit hier als Mitglied bezeichnen.Footnote 155

Für Isabelle und Helena ist Mitgliedschaft ein Gefühl von Zugehörigkeit. Laut Isabelle kann sich ein solches Gefühl nach einiger Zeit entwickeln dann fühlt sie sich als Mitglied oder eben ausbleiben und in Konsequenz dessen würde sie wieder Abstand von entsprechender Gruppe nehmen. Welchen formellen Organisationsgrad ein Zusammenschluss hat, ist für Isabelle dabei nicht von Relevanz.Footnote 156 Auch Helena definiert Mitgliedschaft über ein Zugehörigkeitsgefühl, was sie bspw. bei Campact, aber auch bei der Evangelischen Kirche empfindet: „Also, ich fühle mich schon dazugehörig. Es ist nicht so, dass ich jetzt sage: Das [Campact] ist eine Gruppe, die unterstütze ich – was weiß ich – wie – keine Ahnung – die Evangelische Kirche oder so, da bin ich auch. Aber da fühle ich mich wirklich mit drin.“ (Helena, Z. 1095 ff.)

Franz will Mitgliedschaft ganzkörperlich leben, für ihn bedeutet das, „mit Haut und Haaren dabei zu sein. Ein integraler Bestandteil.“ (Franz, Z. 451 ff.) Für ihn ist es – ebenso wie für Sarah, Isabelle und Helena „vielleicht so das Gefühl mit dazu zu gehören.“ Am Beispiel von Greenpeace erläutert er, dass er unsicher sei, ob er alleine durch den Mitgliedsbeitrag Mitglied sei oder nicht. Da er aber Teil der Trommelgruppe ist, fühle er sich über diesen Weg der Organisation zugehörig: „Das ist mir da jetzt gar nicht so richtig klar, was da bei Greenpeace Unterstützer ist. Ich zahle halt monatlich meinen Beitrag und kriege da irgendwie eine Quittung dafür. Ob ich damit jetzt Greenpeace-Mitglied oder nicht bin, weiß ich gar nicht, ehrlich gesagt. Aber ich fühle mich dazugehörig, weil ich ja in der Trommelgruppe bin und die Nähe reicht mir dann.“ (Franz, Z. 475 ff.)

Die Aussagen von Sarah stützen Meluccis (1996) These, dass kollektive Identität neben einer gemeinsamen Definition von Zielen, Mitteln und Aktionsfeldern und einem Netzwerk aktiver Beziehungen auch einer gewissen emotionalen Investition bedarf. Eine emotionale Verwicklung der Aktivist*innen spielt demnach eine tragende Rolle bei der Entscheidung für Engagement. Die Wichtigkeit von Emotionen und Bindungen betonen auch andere Autoren wie Hunt/Benford (2004) oder Jasper (1997). Flesher-Fominaya (2007) argumentiert, dass eine gemeinsame Teilnahme an Protestereignissen die Bindung unter Aktiven stärkt und eine gemeinsame Protestgeschichte entstehen lässt. Dies ist der Fall bei Sarah, die ihr Mitgliedschaftsgefühl u. a. darauf begründet, dass sie schon lange in einer bestimmten Gruppe engagiert ist. Gegensätzlich zu Bennett/Segerbergs (2012) These, dass die Loyalität gegenüber Organisationen zurückgeht und personalized action formations die collective action frames ablösen, zeichnen sich die hier zitierten Interview-Partner*innen durch eine verhältnismäßig hohe Identifikation mit Organisationen aus. Die Aussagen widersprechen auch den Beschreibungen von Haenfler/Johnson/Jones (2012), die ähnlich wie Bennett/Segerberg (2012) von losen Kontakten zu formalen Organisationen und informellen sozialen Netzwerken ausgehen. Sich über längere Zeit bei einer Organisation zu engagieren, kann ein Faktor sein, der emotionale Bindung verstärkt.

„[…] als nur finanzieller Unterstützer würde ich mich eigentlich nicht als Mitglied bezeichnen.“ (Kilian) – Das Verhältnis von Mitgliedschaft zu Beiträgen und Formularen

Beim Thema Geld gehen die Meinungen auseinander. Sechs Interview-Partner*innen sind der Meinung, dass finanzielle Unterstützung ein Aspekt von Mitgliedschaft sein kann und als Grundlage von Mitgliedschaft ausreicht. Begründet wird dieses Argument damit, dass finanzielle Unterstützung Wertschätzung für die Arbeit einer Organisation ausdrückt. Einige Gesprächspartner*innen gaben an, einen Verein oder eine Initiative zu unterstützen, weil sie wüssten, was die Arbeit der Organisation koste oder weil sie besonders gutes Infomaterial habe. Knapp die Hälfte der Interview-Partner*innen ist jedoch der Meinung, dass Spendengelder alleine keine Mitgliedschaft ausmachen.

Sarah weiß aus eigener Erfahrung beim BUND, dass ein solcher Verein immer auch von zahlenden Mitgliedern abhängig ist. Aktives Engagement sei zwar schön und wünschenswert, aber man brauche auch eine finanzielle Basis zur Grundlage der Arbeit. Deswegen betrachtet sie Mitgliedschaft auch als Solidarbeitrag für die Arbeit einer Organisation: „Ja, dass ich da halt eben Mitglied bin, also einen Beitrag, mit dem Mitgliedsbeitrag einfach hoffe, die Arbeit von dem Verein damit zu unterstützen. Ich kenne es ja halt vom BUND, da ist halt ganz wichtig, dass es viele Mitglieder gibt, die zahlen. Dass man da eine gewisse finanzielle Basis hat. Und wenn die sich dann auch engagieren, ist es natürlich noch schöner. Aber das Geld muss ja auch irgendwo herkommen. […] Zum Teil betrachte ich Mitgliedschaft als eine finanzielle Unterstützung sozusagen, dass ich da einfach einen Solidarbeitrag gebe. Weil ich die Themen gut finde, die da bearbeitet werden.“ (Sarah, Z. 35 ff.) Ähnlich sieht es auch Sven, der betont, dass Infomaterial, Plakate und Co. viel Geld kosten und der durch seine Mitgliedsbeiträge die Arbeit der Organisation unterstützen will.Footnote 157 Für Gerd ist eine Mitgliedschaft in Form finanzieller Unterstützung auch Ausdruck von Wertschätzung. So bspw. im Fall der Freiwilligen Feuerwehr: „Ich sage mal, ich bin z. B. Fördermitglied bei uns in der Freiwilligen Feuerwehr, aus dem einfachen Grunde, dass ich nie aktiven Feuerwehrdienst gemacht habe, weil ich da keine Zeit dazu hatte – ich ja aber weiß, dass es bei uns schlecht bestellt wäre, ohne Feuerwehr! Das heißt, da leiste ich meinen Förderbeitrag und unterstütze damit die Arbeit.“ (Gerd, Z. 905 ff.)

Julia und Daniela verstehen Mitgliedschaft vorneweg erst einmal nur als Überweisung eines Geldbetrags. Eine Identifikation mit der Organisation oder Mitarbeit sind für sie davon getrennt zu betrachten: „Also, für mich ist dieser Begriff Mitgliedschaft oder Mitglied-Sein tatsächlich nur mit dieser Überweisung vom Bankkonto verbunden. Das hat nichts weiter mit meiner Identifikation mit irgendeinem Verband zu tun. Also, ich wurde z. B. neulich spontan Mitglied bei den Maltesern, weil ich das gebraucht habe, um da das Praktikum machen zu können, worauf ich einfach Lust hatte. Also, das ist einfach: Der Zettel ist unterschrieben und sonst habe ich nichts weiter damit zu tun.“ (Julia, Z. 832 ff.) Und auch Markus versteht als Mitglied grundsätzlich zahlende Unterstützer*innen: „Also wie in jedem normalen Verein, dass man Beitrag zahlen muss, das sind eigentlich die richtigen Mitglieder.“ (Markus, Z. 685 ff.)

Kilian, Sonja und Stefanie hingegen würden sich als rein finanzielle Förderer nicht automatisch auch als Mitglieder einer Organisation verstehen. Auf die Frage, ob sie sich während der Spenden an Greenpeace auch als Mitglied der Organisation gefühlt hätte, antwortet Stefanie: „Nee, nicht. Weil ich mich nicht persönlich praktisch engagiert habe.“ (Stefanie, Z. 1064 ff.) Diese Interpretation von Mitgliedschaft passt zu einem Verständnis von Mitgliedschaft als aktive Mitarbeit. So sieht es auch Sonja, die sich nicht als Mitglied von PETA fühlt, weil sie nicht bei den Aktionen involviert ist.Footnote 158 Auch Kilian vertritt die Meinung, dass alleine finanzielle Unterstützung nicht mit Mitgliedschaft gleichzusetzen sei: „[…] also jetzt als nur finanzieller Unterstützer würde ich mich eigentlich nicht als Mitglied bezeichnen.“ (Kilian, Z. 1038 ff.)

Mit Blick auf Geld und Mitgliedsbeiträge lassen sich folglich grob drei Lager unterscheiden: Einige sind der Meinung, dass Mitgliedschaft ähnlich wie bspw. bei einem Sportverein nur mit Überweisung eines Geldbetrages gegeben ist. Andere halten finanzielle Unterstützung für ausreichend, betonen dabei jedoch besonders, dass Organisationen Ausgaben hätten und dass ihr Geldbeitrag auch Ausdruck von Wertschätzung sei. Fast die Hälfte der Interview-Partner*innen sagt jedoch aus, dass Mitgliedschaft mehr sei als nur ein finanzieller Beitrag. Dass Organisationen im Rahmen der collective action frames verstärkt Ressourcen einsetzen müssen, die hingegen bei neuartigen personalized action formations wegfallen, beschreiben auch Bennett/Segerberg (2012: 744 ff.). Finanzielle Ausgaben für ein Büro, Öffentlichkeitsarbeit und professionelle Mitarbeiter*innen bedeuten, dass Organisationen auf mehr Mitglieder und langfristige (finanzielle) Förderer angewiesen sind.

„Da gibt’s die Passiven und die Aktiven und dann eben die noch Aktiveren […]. (Markus) – Formen von Mitgliedschaft

In Konsequenz der verschiedenen Positionen in Bezug auf Mitgliedschaft, Fördermitglied und Ähnlichem schlagen einige Interview-Partner*innen eine begriffliche Unterscheidung zwischen aktivem und passivem Mitglied, Mitglied und Förderer oder Mitglied und Unterstützer*in vor. Im Prinzip haben alle Typisierungen gemeinsam, dass zwischen zwei Arten von Unterstützung unterschieden wird: Der aktiven Unterstützung durch Mitarbeit und solcher durch Geldspenden.

Am gängigsten ist die Unterscheidung in aktives und passives Mitglied. So formuliert es Olaf, der selbst beim BUND verschiedene Mitgliedschaften durchlaufen hat, abhängig von seinem Wohnort und zeitlichen Kapazitäten: „Ich war eigentlich durchgängig immer beim BUND. Und man muss sagen, unterbrochen im Prinzip durchs Studium, weil da war ich in Bochum. Da war ich nicht aktiv im BUND. Also ich war Mitglied weiterhin, habe gezahlt, aber war passiv. Und ich habe auch sechs Jahre in Budapest gelebt und da war ich auch nicht aktiv im BUND. Da war ich auch nur passives Mitglied.“ (Olaf, Z. 151 ff.) Olaf unterscheidet konsequent zwischen aktivem und passivem Mitglied, abhängig davon, ob er zu der entsprechenden Zeit nur gezahlt oder auch mitgearbeitet hat. Genauso sieht es Günter, der das Konzept der aktiven und passiven Mitglieder sowohl auf den BUND als auch auf seinen eigenen Verein überträgt. Im Vergleich zum BUND sieht er bei seinem Verein eine deutliche höhere Beteiligung der Mitglieder – bei Versammlungen und auch allgemein in der täglichen Arbeit.Footnote 159 Auf die Frage, was für ihn Mitgliedschaft ausmache, antwortet Markus, dass man dabei zwischen Aktiven und Passiven unterscheiden müsse. Dann benennt er noch zwei weitere Typen, zwei Steigerungsformen von Aktiven. Zur ersten Steigerungsform zählt er auch sich selbst: „Da gibt’s die Passiven und die Aktiven und dann eben die noch Aktiveren, so wie ich, und dann gibt’s welche, die noch aktiver sind.“ (Markus, Z. 661ff.) Danach gäbe es vier verschiedene Formen von Mitgliedschaft, wobei davon eine die passive Mitgliedschaft ist und die anderen drei im Bereich des Aktiven liegen. Julia (Z. 837 ff.), die alleine das Zahlen eines Mitgliedsbeitrags als Grundlage für Mitgliedschaft versteht, unterscheidet darauf aufbauend zwischen Mitgliedern und aktiven Mitgliedern. Ein mehrmaliges Einbringen oder die Teilnahmen an Veranstaltungen machen für Julia eine aktive Mitgliedschaft aus.

Stefanie und Valeria bringen wiederum den Begriff des Förderers ins Spiel. Beide unterscheiden zwischen Mitgliedschaft als aktives Einbringen und Förderer als zahlende Unterstützer*innen – oder auch passives Mitglied, wie Stefanie noch hinzufügt. Ihrem Verständnis liegt eine klassische Vereinsmitgliedschaft – wie bspw. beim Sportverein – zugrunde.Footnote 160 Das alleinige Zahlen von Geld versteht Valeria als Förderung: „Ja, wollen wir mal sagen, wenn ich […] da monatlich also was geben würde, dann wäre ich Förderer.“ (Valeria, Z. 775ff.)

Isabelle bringt weitere Begrifflichkeiten ein, eine Unterscheidung in Mitglieder erster und zweiter Klasse. Denn alleine durch das Zahlen eines Mitgliedsbeitrags sei man ihrer Meinung nach nicht mehr komplett unabhängig von einer Organisation, sondern zumindest in irgendeiner Form mit dieser verbunden. Darüber hinaus gibt es noch diejenigen, die sich engagieren und regelmäßig dabei sind: „Ja, man muss da vielleicht ein bisschen differenzieren. Man ist irgendwie schon Mitglied, weil man ist ja niemand mehr, der daneben steht und überhaupt nichts damit zu tun hat. Also man gehört schon irgendwie dazu, ist schon irgendwie Mitglied, aber es ist natürlich schon noch mal was anderes, schon nochmal ein Unterschied zu denjenigen, die sich da engagieren und regelmäßig dabei sind. Also so ein bisschen Mitglied erster und zweiter Klasse, ohne das jetzt vielleicht so abwertend zu verstehen, wie es im ersten Moment klingt.“ (Isabelle, Z. 597ff.) Helena unterscheidet wiederum zwischen Mitglied als jemand, der sich aktiv einbringt, und Mitläufer oder Unterstützer als jemand, der nur finanziell unterstützt. Sie versteht sich als Mitglied beim BUND und Campact und als Mitläufer bzw. Unterstützer von NABU und Rettet den Regenwald.Footnote 161 Dem widerspricht Sarah, in dessen Verständnis man bei Campact generell nicht Mitglied sein kann. Jedoch versteht sie sich dort als Fördermitglied. „Na ja, bei Campact kann man gar nicht Mitglied sein, aber da bin ich Fördermitglied.“ (Sarah, Z. 48ff.) Auf das Mitgliedschaftsverständnis beim BUND und Campact wird am Ende dieses Kapitels nochmal explizit eingegangen.

Wie sich gezeigt hat, verwenden die Interview-Partner*innen ganz unterschiedliche Bezeichnungen für verschiedene Formen von Unterstützung und Aktivität. Diese basieren u. a. häufig auch auf dem individuellen Verhältnis zu finanzieller Unterstützung, der Dauer des Engagements und Geldbeträgen, sowie insb. auf dem Level der konkreten, persönlichen Aktivität.

„[…] dieser fachliche Austausch, der ist mir wichtig.“ (Sarah) – Mitgliedschaft als fachlicher Austausch und inhaltliche Auseinandersetzung

Ein weiterer Aspekt von Mitgliedschaft ist der fachliche Austausch bzw. eine Verbundenheit mit anderen über ein bestimmtes Thema. So empfindet Sonja bspw. eine Verbundenheit und Zugehörigkeit für Greenpeace, obwohl sie noch nicht lange dabei ist und sich in der Gruppe eigentlich auch kaum aktiv einbringt. Aber alleine die Thematik und das Teilen gemeinsamer Ziele macht für sie hier Mitgliedschaft aus: „Gut, bei Greenpeace fühle ich mich schon zugehörig, weil ich da die Ziele ganz stark auch teile. Also auch, ohne dass ich jetzt da in der Gruppe dabei bin. Also unsere Gruppe gibt’s ja noch nicht so lange und ich werde mich da auch nicht stärker engagieren, weil ich einfach ausgelastet bin. Also, da ist schon ein Gefühl der Verbundenheit da. Wenn eben die Thematik einen ganz stark anspricht.“ (Sonja, Z. 899 ff.) Sich aktiv mit den Inhalten auseinanderzusetzen ist auch für Gerd Grundlage von Mitgliedschaft und der Grund, warum er sich nicht als Mitglied von Campact fühlt: „Also für mich bedeutete das mindestens, dass ich mich aktiv mit den Inhalten auseinandersetze. Also anders, als ich das bei Campact tue.“ (Gerd, Z. 904 ff.) Gerd unterstützt zwar einige Online-Petitionen von Campact durch eine Unterschrift, fühlt sich als Mitglied einer Organisation jedoch nur, wenn er sich intensiv mit den Inhalten beschäftigt – was bei Campact nicht der Fall ist. Hier unterzeichnet er häufig basierend auf Empfehlung und Weiterleitung einer Online-Petition durch Bekannte. Auch Sarah empfindet den fachlichen Austausch als wichtige Komponente von Mitgliedschaft. Für sie ist der Rückhalt, den sie dadurch erfährt, auch eine Motivation, sich bei einem Verein zu engagieren. So ist es bspw. beim Imkerverein der Fall: „Ich bin da jetzt auch erstmal rein, um da auch für mich einen Rückhalt zu kriegen, so fachlich. Weil das ja jetzt auch neue Gebiete waren, die ich mir so erobert habe, also rein praktisch halt auch. Da merke ich schon auch gerade beim Imkerverein, dieser fachliche Austausch, der ist mir wichtig.“ (Sarah, Z. 1188 ff.)

Ähnlich wie unter dem Aspekt der kollektiven Identität bereits analysiert, steht auch bei diesem Mitgliedschaftsverständnis das gemeinsame Interesse an einem bestimmten Thema im Mittelpunkt. Die Beschreibungen decken sich mit Meluccis (1996: 67 ff.) Verständnis von „kollektiver Identität“, welches besagt, dass Einzelne bei gemeinschaftlichen Aktionen erkennen, was sie mit anderen gemeinsam haben und wie sie gemeinsam handeln können. Das geteilte Interesse am selben Thema und der inhaltliche Austausch dienen dazu, gemeinsame Ziele und Aktionsfelder zu definieren. Dies führt wiederum dazu, sich als Mitglied von einer Organisation zu fühlen.Footnote 162 Obwohl Sarah mit dem Imkerverein ein sehr praxisorientiertes Beispiel gibt, muss sich intensiver inhaltlicher und fachlicher Austausch nicht zwangsläufig nur auf Offline-Praktiken beschränken. Denkbar ist auch, dass sich Bürger*innen online tief in ein Thema einlesen und sich aufgrund der Thematik und der gleichen Ziele dann einer Organisation verbunden fühlen. Wie von Sonja beschrieben, ist auch ohne Teilnahme an Gruppentreffen ein inhaltliches Verbundenheitsgefühl ausreichend, um sich als Mitglied zu fühlen.

„[…] ich glaube einfach, dass meine Aufgabe woanders liegt.“ (Isabelle) – Keine Mitgliedschaft gewünscht

Isabelle hingegen fällt mit ihrer Position zu Mitgliedschaft im Vergleich zu den anderen Interview-Partner*innen auf. Sie selbst hat für sich entschieden, nicht Mitglied von etwas sein zu wollen, sondern stattdessen lieber neue Projekte aufzubauen, andere Menschen zum Umdenken anzuregen und ihre Prinzipien ganzheitlich auf ihren persönlichen Alltag anzuwenden. Sie sieht ihre Aufgabe außerhalb von Organisationen wie dem BUND oder Greenpeace und antwortet auf die Frage nach dem Warum: „Ich finde es gut, dass es die gibt und ich finde die Arbeit gut, die die machen, aber ich glaube einfach, dass meine Aufgabe woanders liegt. Und dass es das Schöne an einer pluralen Gesellschaft ist, dass es so viele verschiedene Möglichkeiten gibt und für ganz unterschiedliche Menschen, aber mir sind eben wichtig, die Projekte, wo ich selber mit anpacken kann und vor allem auch Projekte, die Menschen zum Nachdenken oder zum Umdenken anregen und Menschen zeigen, dass es auch anders geht.“ (Isabelle, Z. 210 ff.) Für Isabelle sind es die privaten und alltäglichen Entscheidungen, die einen nachhaltigen Lebensstil ausmachen und durch die sie wirken möchte. Gleichzeitig schätzt sie das vielseitige Angebot, wie sich Menschen in einer Gesellschaft einbringen können. Doch u. a. auch der fehlende Zugang zu Organisationen wie dem BUND, hat bewirkt, dass sie zur Zeit keiner Mitgliedschaft nachgeht: „Also, ich war einfach noch nie irgendwie in einer großen Partei oder Organisation drin. Vielleicht hätte ich mich da auch gut eingefunden, aber da habe ich einfach nie den Zugang zu gefunden. Es gab in meinem Freundeskreis nie jemanden, der gesagt hätte, komme doch mal mit zu einem Treffen. Ja, sondern ich habe tatsächlich immer lieber Projekte, die ich selber mit aufbauen kann.“ (Isabelle, Z. 247 ff.)

Isabelles Ausführungen bestätigen teilweise die These von Verba/Schlozman/Brady (1995: 269), dass einer der Gründe für Inaktivität einer Person sein kann, dass sie nie von jemandem gefragt wurde, ob sie sich einbringen möchte. Sich außerhalb von Freundes- und Bekanntenkreisen zu befinden, die zur Rekrutierung für eine Organisation oder Protestaktion beitragen könnten, hat zur Folge, dass die Person inaktiv bleibt. Im Falle von Isabelle, hat sie sich jedoch eigene Möglichkeiten des Engagements gesucht, bei denen sie unabhängig von Organisationen agieren kann. Dies stützt die These von Bennett/Segerberg (2012), dass einer logic of connective action folgend Tendenzen der Personalisierung und Individualisierung von Engagement beobachtet werden können und damit ein Rückgang von Mitgliedschaften und Loyalität gegenüber Organisationen einhergeht. Anders als in der Theorie von Bennett/Segerberg (ebd.) angenommen, spielen jedoch bei Isabelle digitale Medien und Kommunikationstechnologien nur eine eingeschränkte Rolle. Sie bewegt sich insgesamt vergleichsweise wenig ‚online‘ und legt ihren Fokus auf praktische Alltagshandlungen. Isabelles Ausführungen veranschaulichen die These von Haenfler/Johnson/Jones (2012), die ein Betreiben von Identitätsarbeit beschreiben, bei dem eine moralisch vertretbare, persönlich bedeutungsvolle Identität im Kontext kollektiver Identitäten kultiviert wird. Für Isabelle ist es wichtig, ganzheitlich zu handeln und mit sich und ihren Handlungen im Reinen zu sein, sowie ihren eigenen Platz in einer pluralen Gesellschaft gefunden zu haben. Dieser Einstellung liegen persönliche Wertvorstellungen und Prinzipien zugrunde, die auf Ganzheitlichkeit und Immaterialität beruhen. Wie in Abschnitt 5.2 „Bürgerschaftsverständnis“ beschrieben, lässt sich an Isabelles Aussagen auch ihr Rollenverständnis in der Gesellschaft ablesen. Dieses basiert darauf, dass Bürger*innen für sich im Alltag und ganzheitlich wirken und nicht zwangsläufig an formale Organisationen gebunden sind.

„[…] ich fühle mich als Campactler“ (Helena) – Mitgliedschaft bei Campact

Abschließend für diesen Abschnitt zum Thema Mitgliedschaft liegt nun der Fokus explizit auf Mitgliedschaften beim BUND und bei Campact. Helena und Felix fühlen sich als Campact-Mitglied, viele andere Interview-Partner*innen beschreiben jedoch, dass sie kein Mitgliedschaftsgefühl für Campact empfinden. Helena unterstützt Campact häufig bei Aktionen, die in Frankfurt stattfinden. Sie hatte bereits Campaignerinnen bei sich zu Hause über Nacht zu Besuch und ist bei Straßenaktionen helfend vor Ort. Helena zahlt keine Fördergelder an Campact, fühlt sich mit den Mitarbeiter*innen und bei Campact-Aktionen aber wohl und dazugehörig: „Ich fühle mich als Campactler. Ich tue das so ein Stück weit auch vom BUND trennen. Also, ich sage jetzt mal, vielleicht ist Campact so für mich diese politische Plattform und die Möglichkeit, die Politik auszuleben. Ich sehe mich schon als Mitglied, auch wenn ich keinen ... Na ja gut, ich unterstützte die bei Aktionen und letztendlich ist das auch wie ein Mitgliedsbeitrag.“ (Helena, Z. 1086 ff.) An dieser Stelle zeigt sich erneut die Wichtigkeit von aktiven Beziehungen und emotionalen Verwicklungen unter den Aktivist*innen (Melucci 1996). Diese ergeben sich für Helena durch gemeinsame Praktiken und sind wichtiger als die finanzielle Unterstützung einer Organisation in Form von Spenden oder Mitgliedsbeiträgen.

Felix hat eingeschränkt Verständnis für die frühere Mitgliederdefinition von Campact, nach der alle Newsletter-Empfänger*innen als Mitglied gezählt wurden. Er kann es aus Sicht der Organisation verstehen und würde es bei einer eigenen Organisation genauso machen, hält es jedoch grundsätzlich für irreführend und falsch: „Und trotzdem glaube ich, um Spenden zu generieren, macht es aus Sicht der Organisation Sinn, das so zu handhaben. Weil sich die Leute, glaube ich, mehr für eine Organisation engagieren, von der sie glauben, dass sie mehr Mitglieder hat. Und wenn man die Mitgliederdefinition so handhabt, wie Campact das tut, alleine das Newsletter-Ding, was ... Also, ich finde es eigentlich sogar fast unangebracht, das so zu handhaben. Aber trotzdem: Wäre es meine Organisation, würde ich es trotzdem genauso machen. […] Aber, da sind wir bei Clicktivismus. Das ist eine von ganz vielen fragwürdigen Sachen an Online-Aktivismus.“ (Felix, Z. 828 ff.) Mit Blick auf die Clicktivism-Debatte führt Felix Kritikpunkte am Online-Aktivismus u.  a. auch mit einem veränderten Mitgliedschaftsverständnis zusammen.

Sarah und Sybille erklären, warum sie sich nicht als Campact-Mitglieder verstehen. Für Sarah ist Campact ähnlich wie Greenpeace eine durch wenige Personen zentral gelenkte Organisation mit elitärem Charakter. Obwohl sie die Straßenaktionen und auch die Ideenwerkstatt zu schätzen weiß, hat sie nicht den Eindruck viel mitwirken oder beeinflussen zu können. Durch mehr Einblicke hinter die Kulissen könnte sich Sarah jedoch vorstellen, mehr Verbundenheit zu empfinden.Footnote 163 Auch Sybille würde sich nur als Mitglied fühlen, wenn sie bei Campact aktiv beteiligt wäre und meint damit auch die Erstellung von Petitionen. Sie sieht zwar, dass Impulse von außen aufgenommen und Themen abgefragt werden, fühlt sich aber nur als Unterstützerin und nicht Mitglied. „Also, als Mitglied würde ich mich fühlen, wenn ich da aktiv beteiligt wäre, auch an der Erstellung dieser Fragen, dieser Petitionen usw. Das tue ich ja nicht. Also, ich bin eigentlich wirklich nur Unterstützerin.“ (Sybille, Z. 507 ff.)

„[…] auch ein bisschen gefordert, sich so kreativ einzubringen […].“ (Julia) – Mitgliedschaft beim BUND und der BUNDjugend

Olaf schätzt die Quote der Aktiven im Verhältnis zu den Inaktiven, die nur finanziell unterstützen, beim BUND im Vergleich zu anderen Organisationen als relativ hoch ein und hält dies für eine wichtige Auszeichnung des BUND. Das Zahlen des Mitgliedsbeitrags versteht er als ausreichende Grundlage für Mitgliedschaft beim BUND, er hebt den hohen Anteil an Aktiven jedoch stolz hervor.Footnote 164 Dies könnte eine Konsequenz aus ‚erfolgreicher‘ Jugendverbandsarbeit sein. Denn das Besondere an einer BUNDjugend-Mitgliedschaft ist für Julia, dass man dabei kaum nur passiv sein kann und sich fast immer irgendwie kreativ einbringen muss. Nach ihrer Definition von Mitgliedschaft, muss man mehr als einmal an einer Veranstaltung teilnehmen und in Konsequenz bedeutet das für Julia, dass der Großteil der BUNDjugend-Mitglieder gleichzeitig auch Aktive sind: „Also bei der BUNDjugend kann man fast nicht an irgendwas teilnehmen, ohne sich auch selbst irgendwie einzubringen. Also, es gibt wenig, wo man sich einfach hinsetzt und nur konsumiert, also nur zuhört oder passieren lässt, also nur Teilnehmer ist, sondern in der Regel ist man schon auch ein bisschen gefordert, sich so kreativ einzubringen, in irgendeiner Weise.“ (Julia, Z. 841 ff.) Für Helena sind die Unterschiede zwischen ihrer BUND- und Campact-Unterstützung nicht sehr groß. Sie erzählt, sich bei jeder Organisation jeweils etwas für sie Nützliches abzuholen und auf ihre Art und Weise davon zu profitieren. Inhaltlich und thematisch seien sich die Organisationen ähnlich: „Das ist für mich eigentlich das Gleiche. […] es ist eigentlich kein großer Unterschied. Es sind unterschiedliche Betätigungsfelder aber letztendlich, die große Richtung ist die gleiche und es sind die gleichen Themen, die ich besetze.“ (Helena, Z. 1103 ff.) Hier zeigt sich, dass Campact und der BUND einem gemeinsamen „master frame“ (Benford/Snow 2000: 618) nachgehen, dem der Klimagerechtigkeit, und es deshalb für Helena manchmal keinen Unterschied macht, ob sie nun für den BUND oder für Campact agiert. Bei beiden Organisationen schätzt sie verschiedene Protestpraktiken und kämpft dabei für die gleiche Sache. Die „große Richtung“ und „gleiche Themen“ bieten erfolgreich passende Identifikationsmöglichkeiten für Helena und andere Bürger*innen. Während beim BUND und der BUNDjugend hauptsächlich Umweltthemen im Mittelpunkt der Arbeit stehen, bedient Campact grundsätzlich das links-progressive Spektrum und ist damit thematisch breiter aufgestellt. Laut Helena geht das Engagement beider Organisationen aber in die gleiche „Richtung“ und bietet damit gemeinsame Identifikationsmöglichkeiten.

Zusammenfassung

Eine Mehrzahl der Interview-Partner*innen versteht Mitgliedschaft als aktive Handlung und fühlt sich einer Gruppe erst dann zugehörig, wenn er/sie vor Ort mit anpackt, an Gruppentreffen teilnimmt und Einfluss auf die Ausgestaltung der Aktionen einer Organisation oder Gruppe genommen werden kann. Ebenso wichtig für das Mitgliedschaftsverständnis ist eine gewisse emotionale Verbundenheit zu einer Gruppe, die sich oft durch Freundschaften mit anderen Aktiven entwickelt oder dadurch, dass man in einer Gruppe schon über einen längeren Zeitraum hinweg engagiert ist. Während Bennett/Segerberg (2012) argumentieren, dass Loyalität gegenüber Organisationen zurückgeht und sich verstärkt „personalized action formations“ bilden, trifft das auf die meisten der Interview-Partner*innen nicht zu. Viele von ihnen pflegen mehrere aktive Mitgliedschaften in verschiedenen Organisationen und besitzen eine hohe Loyalität gegenüber diesen. Einzig Isabelle lehnt Mitgliedschaften in Organisationen grundsätzlich ab und bewegt sich im Sinne der „lifestyle movements“ (Haenfler/Johnson/Jones 2012) in informellen, sozialen Netzwerken und losen Kontakten zu Organisationen. Identitätsarbeit ist Teil Isabelles Motivation, die sich selbst als wertvoller Mensch fühlen und ganzheitlich handeln möchte, indem sie einen Gegenpol zu materialistisch denkenden Menschen bildet. Für sie steht das individuelle Alltagshandeln im Vordergrund – unabhängig von etwaigen Mitgliedschaften.

Eine Auseinandersetzung mit verschiedenen Begrifflichkeiten und Verständnissen von Mitgliedschaft und Unterstützung für Organisationen steht (im deutschen Kontext der Partizipations- und Protestforschung) noch aus. Hier könnte weitergehende Forschung insb. für die Organisationen selbst hilfreiche Erkenntnisse bringen, z. B darüber, ob die Unterstützer*innen einer Organisation als „Mitglieder“ oder lieber als „Förderer“ angesprochen werden möchten oder mit einem ganz anderen Terminus. Die Interview-Partner*innen machen zu den Begrifflichkeiten eine Reihe von Vorschlägen für mögliche Kategorisierungen, meist basierend auf dem Unterschied, ob sich jemand aktiv an Aktionen einer Organisation beteiligt oder nicht. Für eine reine Mitgliedschaft auf dem Papier ist ähnlich einer Sportverein-Mitgliedschaft für einige Interview-Partner*innen jedoch schon die einfache Zahlung eines Mitgliedsbeitrags ausreichend. U. a. auch, weil der Einsatz von Ressourcen und die Arbeit der Organisationen unterstützt und wertgeschätzt werden sollen.

Die Analyse der Interviews macht deutlich, dass es schwierig ist, hier allgemeingültige Aussagen zu treffen, da das individuelle Mitgliedschaftsverständnis auf Faktor wie Dauer des Engagements, dem Verhältnis zu Geldbeträgen, Mitgliedschaftsanträgen, aktiver Mitarbeit und auch emotionalen Aspekten beruht. Es lässt sich jedoch festhalten, dass für einen Großteil der Bürger*innen aktive Mitarbeit und körperliche Präsenz wichtige Elemente von Mitgliedschaft sind. Die Digitalisierung scheint an diesem Verständnis nichts bzw. nicht viel verändert zu haben. Lediglich für diejenigen, die Mitgliedschaft über inhaltliche Auseinandersetzungen und einen starken Themenbezug definieren, ist durch das Internet der Zugang zu eben solchen Informationen leichter geworden. Organisationen wie Campact machen dabei bspw. mit der „5-Minuten-Info“ attraktive Angebote, die Bürger*innen das Gefühl vermitteln bzw. vermitteln sollen, sich ausreichend mit einem Thema beschäftigt zu haben, um sich für oder gegen eine Unterstützung entscheiden zu können.

5.4 Zwischenfazit

Ressourcen

In der Analyse der Kategorie Ressourcen zeigen sich große Übereinstimmungen mit dem CVM von Verba/Schlozman/Brady (1995). Auch ein Großteil der Interview-Partner*innen nennt die Faktoren Zeit und Geld als ausschlaggebende Ressourcen für zivilgesellschaftliches Engagement. Sich einzubringen kostet Zeit und kann – zumindest in den meisten Fällen – nicht während der Arbeitszeit erledigt werden. Zeit und Geld beeinflussen sich als Ressourcen gegenseitig: Wer Zeit mit Engagement verbringt, kann währenddessen kein Geld verdienen und nur wer über ausreichende finanzielle Mittel verfügt, kann Zeit für Engagement aufbringen. Laut einiger Interview-Partner*innen könnten mehr Festangestellte in Organisationen die Ehrenamtlichen entlasten und damit einen Motivationsschub unter den Freiwilligen auslösen. Damit würde sich der Handlungsspielraum der Organisation erweitern. Um mehr festes Personal einstellen zu können, müssten die Organisationen jedoch über höhere finanzielle Ressourcen verfügen oder bereit sein, mehr davon für Festangestellte auszugeben. Über die wertvolle Ressource Zeit verfügen insb. die Bürger*innen, die freiberuflich sind, vor Beginn ihrer Berufstätigkeit stehen oder diese bereits geleistet haben. Neben Zeit haben Rentner*innen durch ihre Rente einen gewissen Geldbetrag zur Verfügung, den sie ohne Gegenleistung einer Arbeit erhalten. Daraus folgt, dass ein Großteil der Aktiven (z. B. beim BUND) im Rentenalter, freiberuflich oder studierend ist und die freie Zeit für zivilgesellschaftliches Engagement nutzt. Um ausreichend Zeit für zivilgesellschaftliches Engagement zu finden, haben einige Interview-Partner*innen die bewusste Entscheidung getroffen, nur in Teilzeit zu arbeiten oder das Studium nicht in Regelstudienzeit zu beenden.

Das CVM von Verba/Schlozman/Brady (1995: 294 f.) berücksichtig (Zeit)-Ressourcen im Kontext eines Zusammenspiels von bezahltem Job und Engagement und beschreibt, dass Engagement deutlich schwerer ist, wenn kleine Kinder im Haushalt leben. In diesen Familien bleibt neben dem Job und der Versorgung der Kinder oft kaum Zeit für zivilgesellschaftliches Engagement. Bei einer Einschätzung zur Vereinbarkeit von Engagement mit Familie und/oder Beruf variieren die Meinungen der Interview-Partner*innen. Nur wenige halten die verschiedenen Lebensreiche für kompatibel. Für sie sind Zeit und Geld auch bei der Frage nach Familie, Beruf und Ehrenamt einflussreiche Faktoren. Drei jüngere Interview-Partner*innen fordern sogar ein neues Arbeitszeitmodell, welches Arbeit gerechter verteilt und explizit Zeit für Engagement vorsieht. Sie schlagen vor, Zeit grundsätzlich in die drei Bereiche Arbeit, Freizeit und Ehrenamt zu unterteilen und damit zivilgesellschaftliches Engagement als eigenständiges Element anzuerkennen, das nicht mit Freizeit gleichzusetzen sei. Durch die Digitalisierung und technischen Fortschritt könne menschliche Arbeitskraft eingespart werden und dies wiederum solle dazu führen, dass Menschen diese frei gewordene Zeit anders und sinnvoll nutzen, bspw. um sich für die Gemeinschaft einzubringen, selbst zu gärtnern und anzubauen, Dinge zu reparieren oder ähnliches. Die Aussagen der Interview-Partner*innen zur Vereinbarkeit verschiedener Lebensbereiche bestätigen Bourdieus (1983: 197) These, dass die Umwandlung von ökonomischem in soziales Kapital immer Arbeit voraussetze und folglich die aufgebrachte Zeit das beste Maß für soziales Kapital sei. Die individuelle Möglichkeit, diese Zeit aufzubringen, hänge wiederum vom ökonomischen Kapital ab. Zeit und Geld bleiben damit bei der Frage nach Ehrenamt einflussreiche Faktoren.

Ein weder von Verba/Schlozman/Brady (1995) ausgeführter, noch in anderer Literatur ausreichend berücksichtigter Aspekt, der laut Analyse aber relevant scheint, ist die Überlastung durch Aktivismus. Einige Interview-Partner*innen übernehmen sich und sprechen von Erschöpfungserscheinungen und Burnout, sowie von Ohnmachtsgefühlen bei ausbleibenden Erfolgserlebnissen. Egal ob sie über viele oder wenige Ressourcen verfügen, einige Aktive im Umweltschutz neigen dazu, sich über ihre individuellen Ressourcen hinaus zu verausgaben und mehr zu machen als vorgenommen. Dies kann den Grund haben, dass schon aktive Bürger*innen häufiger angesprochen werden, ob sie nicht hier oder da noch bei einem Projekt aushelfen könnten oder dass jemand sich trotz schon ausgeschöpfter Kraft engagiert, weil ihm/ihr das Thema so wichtig erscheint. Einige Interview-Partner*innen beschreiben, wie sie nach Misserfolgen in ein emotionales Loch fallen, für eine kurze Zeit deprimiert sind, dann aber wieder neue Kraft schöpfen und sich weiter engagieren. Spaß und Gemeinschaft können dabei in vielen Sitationen als Kompensation für Frust und Erschöpfung dienen. Betroffene Bürger*innen wünschen sich eine persönliche Strategie für eine gesunde Balance zwischen Aktivismus und Auszeit.

Laut CVM dienen Organisations- und Kommunikations-Skills als positive Einflussfaktoren für Engagement, denn wer sich und andere Bürger*innen zu organisieren weiß, kann sich mit weniger Aufwand einbringen (vgl. Verba/Schlozman/Brady 1995: 304 ff.). Diese These wird durch das Interviewmaterial gestützt, kann jedoch um die Komponente Fachwissen ergänzt werden. Viele Interview-Partner*innen können in ihrem Engagement von ihrem Job, Nebenjob oder Studium profitieren, welche ihnen als Quelle für Fachwissen dienen. Mehr als die Hälfte der Interview-Partner*innen hatte oder hat ein Studium oder einen Beruf in einem Bereich, der mit dem Thema Umwelt(-schutz) zu tun hat, bspw. Umweltwissenschaft, Biologie, Naturressourcen-Management oder auch Politikwissenschaft. Mit Bezug auf Bourdieu (1983: 187) kann hier von „inkorporiertem Kapital“ gesprochen werden, welches sich die Interview-Partner*innen über Jahre angeeignet haben bzw. derzeit aneignen.

Neben den im CVM genannten Organisations- und Kommunikations-Skills beschreiben die Bürger*innen dieser Analyse auch technisches Know-how und Social-Media-Skills als weitere wichtige Ressourcen. Dabei wird sowohl das Vorhandensein als auch das Fehlen von technischen Fähigkeiten thematisiert. Zwei Interview-Partner, die ohne das Internet aufgewachsen sind, haben in ihrer Organisation bzw. Ortsgruppe sogar explizite Social-Media-Schulungen eingefordert und erhalten. Eine ebenfalls ältere Interview-Partnerin hat sich sogar als Social-Media-Managerin selbstständig gemacht, nachdem sie sich u. a. über VHS-Kurse entsprechende Internet- und Programmier-Skills angeeignet hatte. Hier zeigt sich, dass das CVM von 1995 (Verba/Schlozman/Brady 1995) eine Überarbeitung hinsichtlich technischer Entwicklungen und der Digitalisierung von Protestpartizipation benötigen würde. Neben schon genannten Ressourcen ist auch der Zugang zu Informationen ein wichtiger Faktor, ohne den die anderen Ressourcen nahezu nutzlos sind. Denn wer keinen Zugang zu Informationen hat, braucht weder Zeit, noch Geld, noch Skills, um mit dieser Information weiter agieren zu können. Von vielen Bürger*innen wird Informiertheit entsprechend als Grundlage für Engagement beschrieben. Für viele Interview-Partner*innen spielt bzgl. ihrer Ressourcen auch der Ortsbezug eine wichtige Rolle. Denn sich vor Ort einbringen zu können, bedeutet weniger Zeit (und Geld) investieren zu müssen, als bspw. für die Anreise zu einer weit entfernten Straßendemonstration. An dieser Stelle werden einige Konsequenzen der Digitalisierung für Protestpartizipation deutlich: Das Internet senkt die benötigten Ressourcen für Bürger*innen, sich Informationen zu beschaffen oder diese zu teilen. In einer schier unendlichen Massen von zugänglichen Informationen, dienen Organisationen wie Campact mit ihrer „5-Minuten-Info“ und komprimiert zusammengefassten Blogeinträgen zu verschiedenen Themen als Orientierungspunkt und Hilfestellung. Aber auch Hinweise und weitergeleitete Berichte von Freund*innen und Bekannten, helfen den Interview-Partner*innen dabei, wichtige und vertrauenswürdige Information zu finden. Auch das Weiterleiten und Verbreiten von Informationen wird vielen Menschen bspw. durch E-Mails und Newsletter erleichtert. Sowohl auf Individual- als auch Organisationsebene können an dieser Stelle Kosten- und Zeiteinsparungen beobachtet werden.

Bezüglich der im CVM genannten Komponente Rekrutierung zeigen sich in der Analyse der Interviews starke Übereinstimmungen. Netzwerke bestehend aus Arbeitskolleg*innen, Freund*innen und/oder Bekannten werden auch von den Interview-Partner*innen als Ressource verstanden. Sie dienen ihnen mit Expertenwissen und Vernetzungsmöglichkeiten als Bereicherung für das Engagement. Diese Bürger*innen finden in ihrem direkten Umfeld Ansprechpartner*innen oder Gleichgesinnte und können so auf kurzem Weg ihre Anliegen einbringen. Auch berufliche Kontakte dienen den Interview-Partner*innen in ihrem Engagement als Vorteil. Nach Meinung einiger lassen sich Bürger*innen für Anliegen vor Ort leichter mobilisieren, als für Projekte, die in weiter Ferne liegen.

Demokratie und Bürgerschaftsverständnis

Ein Großteil der Interview-Partner*innen vertritt die These, dass sich eine ‚gute‘ Demokratie durch Deliberation und Debatten auszeichne und dass in einer deliberativen Demokratie alle Bürger*innen die Möglichkeit haben sollten, sich und ihre Stimmen über Debatten und Kommunikation auf Augenhöhe einzubringen. Dies stimmt auch mit Barber (1994) überein, dass Uneinigkeit als Antrieb für Transformation gelte und man folglich nur in der Debatte mit Andersdenkenden weiterkomme. Werden Diskussionen angestoßen, Informationen verbreitet, Menschen zu bestimmten Themen aufgeklärt und damit in die Lage versetzt, am politischen Entscheidungsfindungsprozess teilzunehmen, kann dies als Stärkung einer Demokratie gewertet werden. Laut einiger Interview-Partner*innen sorgt deshalb insb. eine hohe mediale Präsenz für mehr Wirksamkeit einer Protestaktion. Auch Kompromisse, die aus einem deliberativen Prozess hervorgehen, stärken Demokratie. Denn einige Gesprächspartner*innen beschreiben, dass oft nicht das deklarierte Ziel das wirkliche Ziel sei, sondern Zwischenziele oder Kompromisse ebenso ein Erfolg seien. Schaffen es Bilder oder Bewegtbilder in die Medien und erhält eine Aktion dadurch größere Aufmerksamkeit, wird dies von vielen Aktiven als Erfolg eines Protests verstanden. Digitale Medien können hierbei eine tragende Rolle spielen, denn sie bewirken, dass neben den klassischen Medienakteuren auch viele Bürger*innen zu Autor*innen und Produzent*innen von Medieninhalten werden können.

Einige Interview-Partner*innen kritisieren, dass Bürger*innen häufig gar nicht in der Lage seien, autonome Entscheidungen zu treffen, da ihnen das Verständnis für komplexe politische Zusammenhänge fehle. Grundlage hierbei ist einerseits ein geringes Vertrauen in andere Bürger*innen, andererseits aber auch die Beobachtung bei sich selbst, politische Prozesse nicht verstehen zu können. Auch laut Dalton (2008) müssen Bürger*innen ausreichend informiert sein, um in einer Demokratie eine partizipierende Rolle einnehmen zu können. Etwa die Hälfte der Interview-Partner*innen vertritt ein Bürgerschaftsverständnis, das es als Pflicht und Selbstverständlichkeit ansieht, sich zu engagieren. Jeder mit Verstand müsse sich einsetzen, es sei jedermanns Verantwortung, aktiv zu werden und der Gesellschaft etwas zurückzugeben oder es sei sogar eine Bürgerpflicht, dies zu tun. Darüber hinaus sind einige der Meinung, dass man damit bei sich selbst anfangen müsse, dass Veränderungen in der eigenen Welt stattfänden und es um die einzelnen Beiträge eines Jeden gehe. Diese Ansicht stimmt mit Barber (1994) insofern überein, als sie Demokratie als Lebensform versteht und sich auf ein starkes Eingebundensein der Bürger*innen beruft. Auch Deweys (1988) Konzept einer Kreativen Demokratie, welches Demokratie als Lebensstil versteht, stützt diese Ansicht der Interview-Partner*innen. Prüft man die Aussagen mit Blick auf Bennetts (2008) Typologie einer „actualizing“ und „dutiful citizenship“, zeigt sich nur eine teilweise Übereinstimmung. Denn die befragten Bürger*innen übertragen die Pflicht bei Wahlbeteiligung auch auf andere Bereiche und Formen der Partizipation. Mit Blick auf Bennetts (ebd.) Theorie ergibt sich daraus bei den Interview-Partner*innen sozusagen eine Art ‚dutiful actualizing citizenship‘.

Einige kritische Äußerungen stehen im Einklang mit Uppendahls (1981) Repräsentationstyp des Delegierten, der sich bei seinen Entscheidungen am Wählerwillen zu orientieren hat und das eigene Urteilsvermögen zurückstellen muss. Diese Sorgen veranschaulichen Crouchs (2008) Thesen, der einen großen Einfluss von Marktwirtschaft und Lobbygruppen und ein Verfolgen von rein ökonomischen Interessen beschreibt. Einige Interview-Partner*innen sind ebenfalls der Meinung, dass Geld, Macht und Konzerne die Politik beeinflussen und häufig Wirtschaftsinteressen über den Interessen des Allgemeinwohls stehen.

Ein Interview-Partner hat in seinem Freundeskreis die Erfahrung gemacht, dass viele junge Menschen nicht wählen gehen und hofft, über anderweitiges politisches Engagement wieder Interesse für politische Partizipation wecken zu können. Diese Aussage stimmt mit Dalton (2008) überein, der einen Rückgang von Wahlbeteiligung beobachtet, da jüngere Bürger*innen vermehrt ein Model einer „engaged citizenship“ vertreten und nicht dem „citizen duty“ zuzuordnen seien.

Ein motivierender Aspekt für Engagement ist das Gefühl, etwas bewirken zu können und die Einflussnahme direkt sichtbar werden zu lassen. Etwa die Hälfte der Gesprächspartner*innen ist der Meinung, direkten Einfluss zu nehmen, meinungsbildend zu agieren und/oder kann Positivbeispiele für Veränderungen nennen. Andere benennen ihr Engagement wie z. B. das Gärtnern als eine Form der direkten Sichtbarmachung von Aktivismus. An dieser Stelle wird deutlich, dass alle diese Beschreibungen sich auf Offline-Aktivitäten beziehen und Bürger*innen das Gefühl, etwas bewirken und ihren Einfluss sichtbar machen zu können, folglich insb. außerhalb des Internets verspüren. Die Aussagen stehen in Übereinstimmung mit Deweys (1988) Konzept einer Demokratie als Lebensstil, die täglich vollzogen werden muss, und mit Bennetts (2008) Bürgerschaftsverständnis einer „actualizing citizenship“, die neue Partizipationsformen beschreibt, welche alltäglich, individuell, direkt und gut sichtbar sind.

Bezüglich der Wirksamkeit und Nachhaltigkeit von Engagement, ist diese Meinung am übereinstimmendsten dahingehend, dass die Größe des Einflusses oft von Faktoren wie Macht, Thema und Reichweite des Problems abhängig sei. Dabei verfolgen einige Interview-Partner*innen die Theorie: Je kleiner das Problem, desto mehr Einfluss können wir nehmen. Die „external efficacy“ (Campbell et al. 1954; Verba/Schlozman/Brady 1995: 346 f.) – die wahrgenommene Offenheit des politischen Systems für individuelle Beeinflussung – hängt folglich vom jeweiligen Thema ab. Einige Interview-Partner*innen schätzen ihren Einfluss hier jedoch auch grundsätzlich als eher gering ein. Von manchen Bürger*innen werden Straßendemos und Proteste zwar als „Hilfestellung“ für Politiker*innen verstanden, die damit mitgeteilt bekommen würden, welche Themen Bürger*innen wichtig seien und wie sie sich dazu positionieren, Online-Petitionen werden hingegen als wenig einflussreich eingeschätzt. Viele Interview-Partner*innen vermuten, dass Politiker*innen gar nicht die Kapazitäten hätten, sich alle Petitionen in Ruhe anzuschauen und zu bearbeitet und/oder dass die Masse an eingehenden Online-Petitionen zu Abstumpfung führen könnte. Andere wiederum nehmen das Unterzeichnen von Online-Petition als Abgabe eines persönlichen Statements wahr und sind dankbar für neue, digitale und unkomplizierte Einflussmöglichkeiten.

Individuelle Verständnisse der „internal efficacy“ und „external efficacy“ (Campbell et al. 1954) erlauben zwar Aussagen bzgl. des persönlichen Bürgerschaftsverständnisses, wenn es um Aktivitäten einer größeren Gruppe geht, sind Aussagen zur tatsächlichen politischen Wirksamkeit (Verba/Schlozman/Brady 1995: 346 f.) eines Individuums jedoch schwer zu treffen. Für einige Bürger*innen wirft das Engagement in einer größeren Gruppe folglich persönliche Fragen auf, denn eine Konsequenz davon, dass man alleine wenig bewirken kann, in der Masse jedoch viel, ist es, dass sich die Wirksamkeit des Einzelnen innerhalb dieser Masse schwer nachvollziehen lässt. Einige Interview-Partner*innen verknüpfen ihre „internal efficacy“ (Campbell et al. 1954, Verba/Schlozman/Brady 1995: 346 f.) – die wahrgenommene Fähigkeit, das politische System zu beeinflussen – auch mit Aspekten des Spaßes und der Motivation. Wenn man gut in etwas ist und damit direkten Einfluss nehmen kann, macht Engagement Spaß und dies motiviert wiederum sich mit seinen Stärken und Fähigkeiten weiter einzubringen. Für den Großteil der Interview-Partner*innen hat die Frage der Wirksamkeit des eigenen Engagements jedoch gar keine besondere Bedeutung, da für sie Engagement ein Muss ist und die Meinung vorherrscht, dass man etwas machen müsse, weil ansonsten ‚die anderen‘ schon gewonnen hätten.

Während sich Konzepte politischer Wirksamkeit (Campbell et al. 1954; Verba/Schlozman/Brady 1995) mit wahrgenommenen Einflussmöglichkeiten der Bürger*innen auf das politische System und ihren persönlichen Fähigkeiten befassen, könnten solche Konzepte noch um den Aspekt des Einflusses auf die Gesellschaft und andere Bürger*innen erweitert werden. Einige Interview-Partner*innen beschreiben den Einfluss ihrer persönlichen Aktivitäten auf die Gesellschaft, nicht auf das politische System als solches. Das CVM von Verba/Schlozman/Brady (1995) befasst sich zwar mit Aspekten der Rekrutierung von anderen Bürger*innen aus dem Umfeld von Freund*innen, Familie, Arbeitskolleg*innen usw., lässt jedoch die gesamtgesellschaftliche Wirksamkeit außer Acht.

Ein Großteil der bestehenden Konzepte und Theorien kann durch das Interview-Material folglich bestätigt werden, jedoch ergibt die Analyse auch, dass in der Protestforschung einige Aspekte bisher noch nicht ausreichend erforscht und berücksichtigt wurden. Für viele Interview-Partner*innen ist ein ganzheitliches Handeln so wichtig, dass sie bezahlten Beruf und Engagement miteinander verbinden möchten und/oder sich bewusst für eine Teilzeitstelle entschieden haben, um zusätzlich noch ausreichend Zeit für persönliches Engagement zu haben. Hier fehlt es in der Partizipationsforschung derzeit noch an Literatur, die sich explizit mit Ressourcen und Motiven von Bürger*innen beschäftigt, die sich bewusst gegen eine Vollzeitanstellung entschieden haben und ihr Engagement als zweiten Job verstehen.

Ein weiterer interessanter Aspekt ist das Abwerten des eigenen Engagements. Auch dieser Bereich wird in der Literatur der Partizipations- und Protestforschung bisher wenig beachtet. Wichtig für das Selbstverständnis der Aktiven und für die Nachhaltigkeit von Engagement ist die Positionierung, ‚für‘ etwas zu sein, anstatt immer nur ‚dagegen‘. Einige Interview-Partner*innen betonen diese Herangehensweise und beziehen sich dabei auf die Energiewende, Energieeffizienz und die Anti-Atom-Bewegung. Die von Crouch (2008) beschriebene Apathie unter Bürger*innen gegenüber der Politik, kann laut einiger Interview-Partner*innen auch auf Bewegungsarbeit und zivilgesellschaftliches Engagement übertragen werden. Dabei werden neue Strategien zur Motivation entwickelt, um ein positiveres Bild ohne Verzichtsszenarien zu zeichnen und ein Abstumpfen der Bürger*innen zu verhindern.

Ursprung und Entstehung von Engagementbereitschaft und persönliche Motivation

Eltern, Lehrer*innen und andere Vorbilder prägten viele Interview-Partner*innen schon früh und legten damit den Grundstein für ein Interesse an Umweltschutz und/oder Protestpartizipation. Die am ausführlichsten beschriebene Kategorie stellt der Einfluss der Eltern, Großeltern und eine naturverbundene Kindheit dar. 13 oder 18 Interview-Partner*innen erzählen, dass sie in ihrer Kindheit stark durch die (Groß-)Eltern und deren Einstellung zu Natur, Umweltschutz oder Protest beeinflusst wurden. Dies unterstreicht Teskes (2009) Untersuchungsergebnisse, der in den Involvement Stories das Empfinden einer sogenannten ‚lebenslangen Verpflichtung‘ nennt. Dabei beschreibt Teske (ebd.) eine Kontinuität in der Identität des Individuums und ein lebenslanges Beibehalten persönlicher Werte, basierend auf Einflüssen der Eltern und Großeltern. Der von den Interview-Partner*innen beschriebene Einfluss von Eltern deckt sich auch mit McAdams (1999: 130 f.) Forschungsergebnissen, welche einen starken Einfluss einer links-liberalen Mutter belegen. Neben (Groß-)Eltern prägen auch Lehrkräfte und die Schule einige Interview-Partner*innen so sehr, dass sie diese heute als Ursprung für ihr persönliches Engagement angeben.

Weitergehend lassen sich in den Interviews viele Bezüge zu „reflex emotions“ (Goodwin/Jasper/Polletta 2004: 416 ff.) herstellen. Die Interview-Partner*innen beschreiben eine große Sorge und Angst um die Natur und ihre Unversehrtheit. Aufbauend auf diese Gefühle beschreibt der Begriff der „Instrumentalität“ bei Klandermans (2004: 361ff.), dass Bürger*innen partizipieren, weil sie ihre Lebensumstände verändern wollen. Durch das Empfinden von Ungerechtigkeit, Mangel und Empörung in Bezug auf Natur sind sie motiviert, sich in der Umweltschutz-Bewegung zu engagieren.

Auch explizite Auslöser-Momente wie Kriege und Katastrophen spielen eine Rolle bei der Entscheidung für Aktivismus im Umweltschutzbereich. Bei Ersterem lassen sich recht deutliche geschlechtsspezifische Unterschiede feststellen. Bei drei Frauen spielten eine Schwangerschaft bzw. eine Schwangerschaft während der Tschernobyl-Katastrophe eine Rolle bei der Entwicklung des persönlichen Engagements, bei den Männern wurde zwei Mal der Vietnamkrieg als Ursprung einer Politisierung genannt. Die emotionale Beschreibung einer Schwangerschaft während der Tschernobyl-Katastrophe lässt sich mit Bezug auf Jaspers (2011: 289) „moral shock“ einordnen. Dieser Begriff steht für einen Aha-Moment und das darauf folgende Gefühl, welches dem Individuum zeigt, dass die Welt nicht (mehr) das ist, was sie vorher war. Daraus folgt ein Überdenken der bisherigen Prinzipien und des eigenen Handelns. Teske (2009: 55) nennt dieses Phänomen eine „moralische Entdeckung“, welche bspw. durch einen Film, ein Buch oder auch durch einen Krieg oder persönliche Betroffenheit ausgelöst werden kann – welche wiederum z. B. durch eigene Kinder und die Sorge um dessen Zukunft empfunden werden kann. Han (2009: 92 ff.) bezeichnet diese Entwicklung als „Trigger Moment“, der Politik personalisiert. Die gleichen theoretischen Bezüge können für einige männliche Interview-Partner wiederum durch Trigger-Momente wie den Vietnamkrieg und persönliche Betroffenheit wie ein drohender Einzug zum Wehrdienst hergestellt werden.

Insbesondere die Interview-Partner*innen 50+ sind häufig auch von früheren Sozialen Bewegungen beeinflusst worden. Die Anti-AKW-Bewegung der 1980er Jahre, die Friedensbewegung und die Bildungsmisere werden von sechs Bürger*innen als ursprüngliche Einflussfaktoren für ihr heutiges Engagement beschrieben. Dass frühere Protest-Erfahrungen bis in die Gegenwart eine Grundlage für Aktivismus bilden, zeigten schon Untersuchungen von McAdam (1989: 751 ff.), der in seiner Studie aufzeigt, wie Aktivismus in den 1960er Jahren Engagement in den 1980er Jahren beeinflusst hat. Neben (früheren) Sozialen Bewegungen spielen für drei Interview-Partner*innen auch Parteien bzw. Jugendorganisationen von Parteien eine Rolle bei der Entwicklung oder Intensivierung von Protest-Aktivitäten. Dieses Ergebnis stimmt mit dem CVM von Verba/Schlozman/Brady (1995: 348) überein, welches besagt, dass eine hohe Identifikation mit einer Partei zivilgesellschaftliches Engagement wahrscheinlicher macht.

Wie von verschiedenen Autor*innen beschrieben und auch hier durch das Interview-Material belegt, fördern persönliche Betroffenheit und moralische Wertvorstellungen Partizipation. Bei moralischen Entdeckungen (Teske 2009: 27 ff.) wirken externe Faktoren auf das Individuum ein. Der Punkt des Bewusstwerdens über eine Unmoral in der Welt gilt hierbei als Wendepunkt hin zum Aktivismus. Persönliche Betroffenheit wie bspw. im Fall von Lärmbelästigung, kann Bürger*innen als Ursprungsmoment für Aktivismus dienen. Auch Han (2009: 48 ff.) beschreibt in ihrem Model von „Issue Publics“, dass Menschen sich verschieden intensiv für unterschiedliche Themen interessieren und vielmehr politische Spezialisten als Generalisten sind. Eine persönliche Bindung zu einem Thema macht laut Han (ebd.: 72 ff.) Partizipation wahrscheinlicher.

In der bisherigen Forschung wenig beachtet, hier jedoch als Ursprungsmomente genannt, sind konkrete Medien wie Bücher, Filme usw. als Auslöser für Engagement oder der Einfluss von Spiritualität und Meditation. Dies wurde von verschiedenen Interview-Partner*innen als Ursprung ihres Engagements bezeichnet und könnte bei tiefergehender Forschung vielversprechende Erkenntnisse liefern. Die Beschreibungen veranschaulichen die Bedeutung von Jaspers (2011) Begriff des „moral shock“ – ein Aha-Moment (während des Lesens eines Buches oder Schauens einer Doku), der dem Individuum zeigt, dass die Welt nicht ist, wofür es sie gehalten hat.

Auch Auslandsaufenthalte können als „moral shocks“ (ebd.) verstanden werden: Momente, die eine neue Seite der Welt zeigen und bisheriges in Frage stellen. Teske (2009) und Han (2009) benennen Auslandsaufenthalte und Reisen in fremde Länder ebenfalls als moralische Entdeckung und Trigger-Momente, die Aktivismus begünstigen können. Dabei werden sich Bürger*innen über Ungerechtigkeit in der Welt bewusst und überdenken ihr Handeln.

Abgesehen von Situationen, in denen jemand z. B. beim Surfen im Netz auf ein interessantes Buch oder eine neue Doku gestoßen ist oder wenn jemand online von einer anderen Person einen Hinweis auf etwas erhalten hat, finden diese Aha-Momente größtenteils offline statt. Netzbasierte Auslöser erfahren Bürger*innen evtl. bei der Informations- und Themenrecherche online, ein Großteil der Triggermomente, insb. wenn diese in der weiteren Vergangenheit liegen, sind jedoch außerhalb des Internets zu lokalisieren.

Ein ebenso in bisheriger Forschung vernachlässigter Faktor ist der Zusammenhang zwischen Studium und Aktivismus. Einige Interview-Partner*innen absolvierten ein Studium in einem für den Aktivismus relevanten Fach, z. B. Politikwissenschaft oder Umweltwissenschaften. Wissenschaftliche Auseinandersetzungen haben bei ihnen im Sinne einer „moralischen Entdeckung“ (Teske 2009: 55) dazu geführt, dass sie sich intensiver mit umweltrelevanten Themen auseinandersetzen.

Während im CVM von Verba/Schlozman/Brady (1995: 369 ff.) Religion und Glauben zwar in Form von Mitgliedschaft in Glaubensgemeinschaften berücksichtigt werden, wurden Spiritualität und Mediation im Kontext zivilgesellschaftlicher Partizipation bisher wenig beachtet. Im Fall einer Interview-Partnerin hat ein Achtsamkeitskurs zu einem Reset geführt und damit Aktivismus begünstigt.

Auch bei der Analyse der Kategorie Motive deckt sich ein Großteil der Ergebnisse mit bisherigen Forschungen, während gleichzeitig einige zusätzliche Einflussfaktoren bestimmt werden können, die von den Interview-Partner*innen benannt werden. Die am häufigsten genannte (zehn von 18) und mit viel Nachdruck beschriebene Motivation für gegenwärtiges Engagement stellt der Erhalt der Lebensgrundlage dar. Die Einsicht, dass Naturschutz auch Schutz menschlicher Lebensräume bedeute, treibt viele Aktive in ihrem täglichen Tun an. Genauso die Befürchtung, dass die Welt verloren sei, wenn man nichts unternehme und dass der Erhalt der Lebensgrundlage insb. für nächste Generationen von enormer Bedeutung sei. Dieses Ergebnis veranschaulicht auch Teskes (2009: 86) Beschreibungen der Umweltschutz-Aktivist*innen. Sie denken an zukünftige Generationen und wissen, dass die Zeit knapp ist, um eine Umweltkatastrophe noch zu verhindern. Entsprechend stark sind ihre moralische Empörung und das Gefühl von Ungerechtigkeit gegenüber zukünftigen Generationen (vgl. Klandermans 2004: 362 ff.). Die Aktiven glauben, dass sie ihr politisches Umfeld zu ihren Vorteilen verändern können und rechnen den Nutzen dessen höher an als die dafür notwendigen Kosten. Was bei Klandermans (ebd.) allerdings unbeachtet bleibt, ist der Fall, dass eine Generation die gegenwärtigen Kosten bspw. in Form von strengeren Umweltschutzgesetzen tragen müsste, damit eine andere Generation in Zukunft einen Nutzen davon hat. Oder im umgekehrten Fall: Dass zukünftige Generationen die Kosten dafür tragen werden, wenn gegenwärtige Generationen nicht ausreichend konsequent handeln.

Persönliche Betroffenheit und ein verstärktes Interesse an einzelnen Themen werden auch in der bisherigen Literatur häufig als Motiv für Partizipation genannt. Ähnlich wie die Umweltschutz-Aktivist*innen in Teskes (2009: 86) Sample, sorgen sich auch die Interview-Partner*innen der vorliegenden Untersuchung um die Erhaltung des Lebensraumes und fühlen sich durch persönliche Betroffenheit und einen Ortsbezug motiviert. Teils ist es explizit die Betroffenheit, mit dem Ziel einen bestimmten Missstand oder eine Störung zu beheben, teils ist es die Hoffnung, dass jeder etwas vor Ort bei sich tut und damit überall auf der Welt Menschen aktiv werden. Dieses Verhalten wird auch bei Han (2009) beschrieben, die empirisch belegt, dass eine persönliche Bindung Engagement wahrscheinlicher macht.

Der konkrete Ortsbezug und wie bspw. im Fall von Berlin auch eine gewisse Nähe zum Politikgeschehen, sind jedoch bisher wenig erforscht. Eine hohe Motivation für Engagementformen, bei denen eine direkte Sichtbarkeit und Ergebnisse wahrscheinlich sind und eine Einflussnahme leichter ist als bei fernen Themen, stimmt mit den Forschungsergebnissen von Teske (2009: 98) überein, der beschreibt, wie viele seiner Interview-Partner*innen sich als Anpacker*innen inszenieren. Auch der Wunsch, einen starken Alltagsbezug zum entsprechenden Thema zu haben, so wie es von Stefanie zur Plastikthematik erläutert wird, konkretisiert noch einmal, was es bedeutet, wenn Menschen durch ein persönliches Interesse für Partizipation motiviert werden.

Teske (ebd.) beschreibt zwar bereits, dass Bürger*innen als „action-takers“ insb. für Projekte engagiert sind, bei denen sie konkret etwas mitgestalten und anpacken können, einen neuen Aspekt liefert darüber hinaus jedoch die Möglichkeit, selbst eine Organisation zu gründen, dabei evtl. sogar die Leitung zu übernehmen und dadurch den persönlichen Handlungsspielraum deutlich zu erweitern.

Einerseits für lokale Themen engagiert zu sein, andererseits aber auch über den Tellerrand zu blicken und größere Zusammenhänge zu betrachten, lässt sich unter dem Slogan ‚think global, act local‘ zusammenfassen. Einige Interview-Partner*innen vermuten, dass Bürger*innen im Lokalen besser für Themen sensibilisiert und Aktionen motiviert werden können, sie später aber auch offen für globalere Themen sind. Gegensätzlich zu diesen Positionen gibt es jedoch auch Gesprächspartner*innen, die hauptsächlich global denken und sich von lokalen Themen weniger angesprochen fühlen. Hier zeigen sich deutlich Konsequenzen der Digitalisierung und eines dadurch erweiterten Informationsraumes. Mit Hilfe des Internets können Informationen zu fernen Ländern und globalen Themen schneller und leichter recherchiert werden, alternative Medienformate genutzt und auch selbst Informationen ins Netz eingespeist werden. Das Internet ermöglicht einen kostengünstigen und schnellen Informationsfluss, der auch geografisch fern liegende Themen aus anderen Ländern sichtbarer macht, bei globalen Themen eine Vernetzung untereinander fördert und durch diese Präsenz einige Bürger*innen für Engagement motiviert.

Sich lokal zu engagieren geht auch mit dem Argument konform, zuerst zuhause aufzuräumen, bzw. dort anzufangen, wo man gerade ist. Jeder, der Vorstellungen von der Zukunft habe, müsse seinen eigenen Beitrag zu einem gesamtgesellschaftlichen Wandel beitragen. Diese Einstellung beschreibt bereits Teile einer „Identität“ (Klandermans 2004: 361) von Partizipation: Mit sich selbst im Reinen und mit der persönlichen Identität zufrieden zu sein. Diese persönliche Identität ist jedoch immer auch Teil einer kollektiven Identität. Affektive Bindungen (Goodwin/Jasper/Polletta 2004: 418) zum persönlichen Umfeld und Wohnort verstärken diese Motive wiederum.

Ein weiteres, in der bisherigen Forschung jedoch nicht berücksichtigtes Motiv, ist die Einstellung zum jeweiligen Protestthema inkl. seiner Außenwirkung: Nicht immer nur gegen etwas sein, sondern auch mal für – bspw. nicht nur gegen Atomenergie, sondern auch für erneuerbare Energien. Einige Interview-Partner*innen nennen diesen Unterschied als Motiv für ihr Engagement und reflektieren damit die Außenwirksamkeit der Umweltschutz-Bewegung. Die Herangehensweise, sich bewusst für etwas einzusetzen, anstatt gegen, ist in der Partizipations- und Protestforschung bisher nicht untersucht worden. Dass es für die Motivation förderlich sein könnte, positive Projekte und Ziele zu verfolgen, anstatt sich ausschließlich mit der Verhinderung von Projekten zu beschäftigen, scheint basierend auf den Interviews jedoch vielversprechende Erkenntnisse liefern zu können.

Für knapp ein Drittel der Gesprächspartner*innen stellt es eine wichtige Motivation dar, gegen Ungerechtigkeiten, das bestehende System und endloses Wirtschaftswachstum vorzugehen und einen ganzheitlichen, gesellschaftlichen Wandel einzufordern. Diese Positionen veranschaulichen Teskes (2009: 83 f.) Ergebnisse zum Social-Change-Aktivist, der stark politisiert ist und fundamentale Veränderungen der Gesellschaft erwirken möchte. Dieser Typ von Aktivist*in hat eine weitere Sicht auf die Dinge und Politik als andere Bürger*innen.

Insgesamt macht das Unterkapitel zu den konkreten Motiven der Bürger*innen deutlich, wie eng Identitätsbezüge und die Wichtigkeit einer kollektiven Identität mit Motiven für Engagement zusammenhängen. Viele Argumente stehen in Zusammenhang mit dem Kennenlernen anderer Menschen und dem Zeitverbringen mit Freund*innen. Die von den Interview-Partner*innen beschriebenen Aspekte unterstreichen die These von Goodwin/Jasper/Polletta (2004: 418), dass „affective bounds“ Individuen als Motiv für Partizipation dienen. Affektive Bindungen zu anderen Menschen, zu Orten und in Form von Loyalität gegenüber einer Gruppe steigern die Wahrscheinlichkeit für Engagement. Auch das Ergebnis von McAdam (1989), dass das Level gegenwärtigen Engagements höher ist, wenn die Zahl bestehender Kontakte zu anderen Aktivist*innen hoch ist, lässt sich durch Interview-Passagen bestätigen.

Die Kategorie Motive ist auch eng mit dem Bürgerschaftsverständnis verknüpft. Einer der vier Typen von Emotionen und Affekten bei Goodwin/Jasper/Polletta (2004: 421 f.) sind „moral emotions“. Basierend auf diesen moralischen Emotionen entsteht eine normative Sicht auf die Welt und den eigenen Platz darin. Einige Interview-Partner*innen reflektieren das eigene Handeln und prüfen, ob es im Einklang mit den eigenen Moralvorstellungen ist. Sie wollen mit sich selbst im Reinen sein und engagieren sich u. a., weil es ihre Moralvorstellungen erfordern. Auch Teske (2009: 36) beschreibt, dass es für viele Vollzeit-Aktivist*innen wichtig ist, dass sie etwas tun, was ihren Werten entspricht. In den „Involvement Stories“ (ebd.: 51 ff.) seiner Untersuchungsteilnehmer*innen beobachtet Teske, dass persönliche Krisen und die Suche nach einem Sinn Ausgangspunkte und Motivation für Engagement sein können. Ähnliches beschreiben auch die Interview-Partner*innen der vorliegenden Arbeit.

Wie von Goodwin/Jasper/Polletta (2004: 421) mit dem Begriff der „moods“ beschrieben, stellt sich bei vielen Bürger*innen eine zufriedene Stimmung bereits dadurch ein, überhaupt aktiv geworden zu sein und es versucht zu haben. Manchmal reichen auch Zwischenziele und Kompromisse aus. Im Namen der späteren Generationen gehandelt zu haben und sich später keine Vorwürfe machen zu müssen, ruft bei einigen ein Gefühl von Zufriedenheit hervor. Diese Beschreibungen stützen das Konzept von Verba/Schlozman/Brady (1995: 391 f.) von „issue engagements“, welches Partizipation mit den Moral- und Wertvorstellungen von Bürger*innen erklärt. Ein weiteres häufig genanntes Motiv für Engagement ist das Argument, dass es ja sonst keiner machen würde. Dem zugrunde liegt ein geringes Vertrauen in andere Bürger*innen. Diese Einstellung steht gegensätzlich zur zweiten Komponente des CVM von Verba/Schlozman/Brady (ebd.: 345 ff.), dem „(psychological) engagement“. Die Autoren (ebd.) stellen die These auf, dass sich Bürger*innen mit größerer Wahrscheinlichkeit engagieren, wenn sie ein hohes Vertrauen in andere Bürger*innen und Politiker*innen haben. Bei einigen Bürger*innen dieses Samples ist es hingegen der Fall, dass ein niedriges Vertrauen in die Fähigkeiten der Mitbürger*innen dazu führt, dass sie lieber selbst aktiv werden, anstatt sich auf andere zu verlassen.

Die Analyse der Kategorie Emotionen zeigt deutliche Übereinstimmungen mit Betz (2016) These, dass Spaß als eigenständiges Motiv für Engagement anzuerkennen sei. Viele Interview-Partner*innen beschreiben, dass sie Straßendemonstrationen u. a. besuchen, weil sie diese als Happening erleben, weil es dort Musik, Kostüme, kreative Plakate und vieles mehr gibt. Wie auch von Brodde (2010) beobachtet, zeigt sich der Eventcharakter von Protest in Form positiver Emotionen auch in den Beschreibungen der hiesigen Interview-Partner*innen als Selbstzweck und Motiv von Partizipation.

Darüber hinaus sind Emotionen stark von „affektive Bindungen“ (Goodwin/Jasper/Polletta 2004: 418) zu anderen Protestierenden, Freund*innen und Familie abhängig, was wiederum erneut die große Bedeutung kollektiver Identitäten unterstreicht. Sie verbringen gern Zeit mit Menschen, die sie bereits kennen und mit denen sie gemeinsam Spaß haben können und sie lernen gern neue Leute kennen. Gleiches gilt auch für starke emotionale Bindungen an Orte und Organisationen, die vor Ort verwurzelt sind. Abgesehen von einer Interview-Partnerin beschreiben alle anderen, diese emotionalen Bindungen ausschließlich im Offline-Bereich zu verspüren.

Einige Interview-Partner*innen erzählen, dass sie besonderen Spaß an Protestformen haben, bei denen sie das Gefühl haben, dass sie sich mit ihren Fähigkeiten bestmöglich einbringen können. Diese Aussagen stützen die These von Bogerts (2015: 233), dass Optimismus eine mobilisierende Wirkung besitzt und durch die positive Selbstwahrnehmung von Handlungsfähigkeit und Visionen für Möglichkeiten eines politischen Wandels, Aktivismus von Bürger*innen gestärkt wird.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Vereinbarkeit von Spaß und Beruf. Einige Interview-Partner*innen äußern den Wunsch, entweder einen Beruf zu finden, bei dem man in einem bezahlten Job Aktivismus nachgehen kann oder nur einen Teilzeitjob zu haben, der genügend Zeit für Aktivismus zulässt. Die bisherige Forschung über Berufsaktivist*innen ist in Deutschland noch unterrepräsentiert, könnte jedoch Interessante Erkenntnisse über die Vereinbarkeit von Spaß und Beruf in Form von Aktivismus bringen. Ein anderer, bisher vernachlässigter Aspekt, den Interview-Partner*innen ansprechen, ist die Bedeutung von zivilgesellschaftlichem Engagement für Ruheständler*innen und Pensionierte. Nach der Berufstätigkeit nochmal gefordert zu sein und sich mit Wissen und Spaß einzubringen, dient einigen als Motiv für Engagement. Hier spielt insb. die ausreichend verfügbare Ressource Zeit eine wichtige Rolle, darüber hinaus aber auch das Gefühl, gut in etwas zu sein, Wissen weitergeben und/oder der Gesellschaft etwas zurückgeben zu können.

Die Analyse bestätigt außerdem die These von Goodwin/Jasper/Polletta (2004: 416 ff.), dass „reflex emotions“ wie Wut, Frust oder Angst den Fokus auf ein Problem zeitweilig erhöhen und damit zu Partizipation beitragen können. Einerseits führen Gefühle wie Wut dazu, Protestaktionen anzustoßen, andererseits treiben aber auch Nostalgie, Empathie oder Mitleid die Akteure zu Aktivitäten an. Einige Interview-Partner*innen empfinden Empörung über das Verhalten mancher Politiker*innen und rücksichtsloser Menschen, die sich nicht im gleichen Sinne für Umweltschutz interessieren. Empörung bildet laut Goodwin/Jasper/Polletta (ebd.: 422) oft das Zentrum Sozialer Bewegungen, die durch entsprechende Narrative Menschen für ihre Anliegen mobilisieren. Ähnlich wie Scham oder Stolz kann auch Mitleid als „moral emotion“ (ebd.) gelten. Es widerspricht den Moralvorstellungen der Interview-Partner*innen, dass Menschen den Lebensraum mancher Tiere zerstören und dies wiederum verstärkt den Wunsch, sich zu engagieren.

Überraschend ist das Ergebnis der Analyse, dass Enttäuschung über Teilnahme-Absagen von Freund*innen bei einzelnen Bürger*innen nicht dazu führen, dass auch sie ihren Aktivismus einstellen oder reduzieren. Mehrere Interview-Partner*innen beschreiben, dass sie trotz vergeblicher Mobilisierungsversuche von Anderen auch alleine Aktionen unterstützen und ihre Motivation dadurch nicht verringert wird. Hier und an anderen Stellen zeigt sich die hohe Frustrationstoleranz zahlreicher Interview-Partner*innen. Ob Absage der Freund*innen, ausbleibender Protesterfolg, Burnout-Symptome durch Überarbeitung, Unsicherheiten bzgl. der individuellen Wirkungskraft oder das Gefühl, als konsequente Radfahrerin mache man am Ende doch nur Platz für mehr Autos – all das hält sie nicht von weiterem Engagement ab. In Situationen, in denen die Interview-Partner*innen Frust erfahren, halten sie diesen Frust aus und/oder kompensieren ihn durch andere Faktoren wie bspw. Spaß, Idealismus oder ein ausgeprägtes Gemeinschaftsgefühl. Auch das Setzen von kleinen Zwischenzielen wird als Strategie gegen Frusterfahrungen genannt.

Kollektive Identität und Mitgliedschaft

Die Analyse der Kategorie Kollektive Identität zeigt zahlreiche Übereinstimmungen mit klassischen Ansätzen der Forschung wie von Melucci (1996) und van Stekelenburg/Klandermans (2007). Fast alle Interview-Partner*innen beschreiben Zugehörigkeit als etwas, das sich aus gemeinsamen Protestaktionen, Praktiken, Zielen und häufig auch aus der Erinnerung an gemeinsame Protesterfahrungen, z. B. aus den 1980er Jahren, entwickelt. Zu sehen, dass sich auch andere Bürger*innen für das gleiche Thema einsetzen, mit Gleichgesinnten zusammen zu kommen und sich als Gemeinschaft zu fühlen, motiviert viele Bürger*innen, sich zivilgesellschaftlich zu engagieren. Auf der Straße und durch das gemeinsame Auftreten, erkennen sie Gemeinsamkeiten und identifizieren sich mit anderen Protestierenden.

Viele Interview-Partner*innen kommen über ein gemeinsames Thema mit Gleichgesinnten zusammen und erleben Gemeinschaft als Motivation für ihre Partizipation, weil sie sich dadurch in ihren Ansichten bestärkt fühlen. Mit Benford/Snows (2000: 616) Begriff des „prognostic framings“ gesprochen, sind sich die Aktiven einig darüber, wer Schuld an der Misere trägt und welcher Handlungsbedarf besteht. Als Master Frame dienen dabei ‚Klimagerechtigkeit‘ und ‚Umweltschutz‘.

Ein Netzwerk aktiver Beziehungen zu Gleichdenkenden und eine emotionale Investition beeinflussen kollektive Identität ebenfalls. Haenfler/Johnson/Jones (2012) beschreiben mit „Lifestyle Movements“ wie Individuen Identitätsarbeit betreiben, indem sie eine moralisch vertretbare und persönlich wichtige Identität im Kontext einer kollektiven Identität kultivieren. Teil dieser Identitätsarbeit ist es u. a., sich bei Protestaktionen zu vergewissern, dass man nicht der/die Einzige mit seinen Ansichten ist, sondern viele andere Bürger*innen gleiche Positionen vertreten. Zahlreiche Aussagen der Interview-Partner*innen unterstreichen die Thesen von van Stekelenburg/Klandermans (2007), die Gruppenidentifikation als fundamentalste Erklärung für Partizipation an kollektiven Aktionen halten.

Laut Benford/Snow (2000: 623 ff.) suchen Frames oft Anschluss zu kulturellen Werten, Erzählungen usw. Auch die Umweltschutz-Bewegung greift auf eine gemeinsame Geschichte der 1980er Jahre zurück und bestärkt damit gegenwärtiges Engagement. Laut Melucci (1996) spielen bei der Bildung kollektiver Identitäten Faktoren wie eine gemeinsame Sprache, gemeinsame Rituale und Praktiken eine wichtige Rolle. Einige Interview-Partner*innen verweisen in ihren Erzählungen auf Protesterfahrungen aus der Vergangenheit, die kollektive Identitäten formen und eine wichtige Grundlage für heutiges Engagement gebildet haben. Auch Flesher Fominaya (2007) beschreibt, wie positive emotionale Erfahrungen in der Bewegungspartizipation die Aktivist*innen auch über Durststrecken hinweg motiviert halten.

In vielen Sozialen Bewegungen und auch in der Umweltschutz-Bewegung lässt sich häufig beobachten, dass in verschiedenen Netzwerken und lokalen Initiativen oft die gleichen Menschen engagiert sind. Dank solch übergreifender „multi-militancy“ (Della Porta 2005) und „cross-cutting ties“ (Goodwin/Jasper 2003) ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass Unterstützer*innen verschiedener Organisationen gut miteinander auskommen. Wie von einem Interview-Partner beschrieben ist für ihn der Bereich seines Aktivismus schon Garantie dafür, dass er mit den Anderen gut auskommt. Auch andere Interview-Partner*innen beschreiben, dass sie bei Protestaktionen vor Ort immer Gleichgesinnte finden, ohne dass sie sich verbindlich mit jemandem für die Protestaktion verabreden müssten. Aus solchen Aktionen können neue Freundschaften entstehen, die eine gemeinsame Protesterfahrung zur Grundlage haben. Darüber hinaus kann es auch das explizite Ziel sein, durch gemeinsame Protestaktionen neue Leute kennenzulernen, bspw. nach einem Wohnortwechsel oder weil der Freundeskreis andere Interessen verfolgt. Dieser Aspekt ist in der bisherigen Forschung erst wenig berücksichtig worden, scheint der Interview-Analyse nach aber eine große Relevanz zu haben.

Abgesehen von einer Interview-Partnerin – die im Bereich Social Media arbeitet – beschreiben alle anderen Aktiven, dass sie kollektive Identität und Gemeinschaft in erster Linie auf der Straße empfinden und es gemeinsame Praktiken seien, die Zusammenhalt stärken. Dabei ist auch relevant, dass es bei größeren Aktionen wie Straßendemos oft nötig ist, in Form einer Bezugsgruppe aufeinander aufzupassen oder eventuell sogar einer Gefahr durch Staatsgewalt oder Gegendemonstrant*innen ausgesetzt zu sein. Die Betonung der Wichtigkeit der Straße für ein Gemeinschaftsgefühl steht in Einklang mit Castells (1997) Theorie, dass soziale Interaktionen weiterhin in einem „space of places“ stattfinden und kollektive Identitäten eine Art Ankerpunkt in einem ansonsten sehr schwammig gewordenen Terrain darstellen. Das Zusammentreffen mit Anderen, das Spüren von Resonanz und die gemeinschaftliche Umsetzung von Protestpraktiken unterscheiden Straßenprotest damit erheblich von Online-Protestpraktiken wie dem virtuellen Unterzeichnen einer Petition.

Rucht (1995: 14) stellt die These auf, dass kollektive Identitätsbildung vom Faktor Gruppengröße beeinflusst wird. Je kleiner die Gruppe, desto stärker eine Identifikation durch gemeinsame Aktionen. Bei einer BUND-Ortsgruppe, die gemeinsam an einer Demo partizipiert, ist die Gruppen-Identifikation entsprechend sehr hoch. Hunt/Benford (2004) sprechen hierbei von „boundary work“, welches entweder die Entwicklung von Strategien im Umgang mit Gegenspieler*innen bezeichnet oder die Beziehungsarbeit innerhalb einer Sozialen Bewegung. Einige Interview-Partner*innen beschreiben Protesterfahrungen, bei denen sie den Staat – verkörpert durch Polizei oder Hubschrauber – als konkreten Gegenspieler erlebt und sich teilweise Risikosituationen ausgeliefert gefühlt haben.

Die These, dass sich eine kollektive Identität im Netz nicht finden bzw. aufbauen lasse, stützen entsprechende Interview-Partner*innen bspw. auf die Beobachtung, dass sich insb. junge Menschen nicht mehr verpflichtend an eine Organisation binden wollen, sondern sich eher sporadisch einbringen. Aussagen wie diese stehen im Einklang mit Bennett/Segerberg (2012), die eine zunehmende Personalisierung und Individualisierung von Engagement beobachten. Einige Interview-Partner*innen widersprechen jedoch der von Bennett/Segerberg (ebd.) geäußerten Behauptung, dass das Teilen von Informationen und die Wichtigkeit der Telekommunikationsmedien dabei im Zentrum stehen. Vielmehr vertreten sie die Meinung, dass reale Begegnungen außerhalb des Netzes weiterhin die Grundlage für Engagement bilden. Einzig eine Interview-Partnerin erzählt, im Netz Gleichgesinnte zu finden und hier ein Gemeinschaftsgefühl zu empfinden.

Ein Faktor, der in bisherigen Forschungen zu kollektiver Identität kaum berücksichtigt wird, ist das Teilen von Arbeit und Verantwortung. Einige Interview-Partner*innen beschreiben, wie sich im Team Aufgaben besser auf mehrere Schultern verteilen lassen, wie man gemeinsam Prioritäten setzen und sich austauschen kann und durch Spaß der Gemeinschaftssinn gestärkt wird. Thematisiert wird auch, wie in der Gemeinschaft durch gemeinsame Praktiken Wissen etabliert und weiterentwickelt wird. Während ein Erfahrungsaustausch unter Aktivist*innen von van Stekelenburg/Klandermans (2007) zwar als Aspekt von Motivation genannt wird, steht eine detailliertere Analyse der Bedeutung von Wissenstransfer und der (Weiter-)Entwicklung von Wissen in Protestgemeinschaften noch aus.

Der Großteil der Interview-Partner*innen versteht Mitgliedschaft als aktive Handlung und fühlt sich einer Gemeinschaft erst dann zugehörig, wenn er/sie vor Ort mit anpackt, sich aktiv für etwas einsetzt, an Gruppentreffen teilnimmt und Einfluss auf die Ausgestaltung der Aktionen einer Organisation nimmt. Hierbei steht die konkrete Praktik im Mittelpunkt. Übereinstimmend mit „collective action frames“ (Bennett/Segerberg 2012), bauen die Interview-Partner*innen auf eine starke Identifikation mit der Organisation und vertreten ein Mitgliedschaftsverständnis mit ausgeprägten Bindungen.

Ebenfalls wichtig für das Mitgliedschaftsverständnis der Interview-Partner*innen ist eine emotionale Verbundenheit zur Gruppe, die sich häufig durch Freundschaften mit anderen Aktivist*innen entwickelt oder aber auch dadurch, dass man schon eine lange Zeit in einer Gruppe engagiert ist. Diese Aussagen bestätigen Meluccis (1996) These, dass kollektive Identität neben einer geteilten Definition von Zielen, Mitteln und Aktionsfeldern und einem aktiven Netzwerk von Beziehungen auch einer emotionalen Investition bedarf.

Während Bennett/Segerberg (2012) argumentieren, dass Loyalität gegenüber Organisationen zurückgehe und sich verstärkt „personalized action formations“ bilden würden, die vorherige „collective action frames“ ablösen, lässt sich dieses Verhalten bei den meisten Interview-Partner*innen nicht beobachten. Viele von ihnen berichten von mehreren aktiven Mitgliedschaften in verschiedenen Organisationen und zeichnen sich durch eine hohe Identifikation mit diesen aus. Damit widersprechen die Ergebnisse dieser Arbeit auch einigen Thesen von Haenfler/Johnson/Jones (2012), die ähnlich wie Bennett/Segerberg (2012) von losen Kontakten zu Organisationen und eher informellen sozialen Netzwerken ausgehen.

Einzig eine Interview-Partnerin lehnt Mitgliedschaften in Organisationen grundsätzlich ab und bewegt sich im Sinne der „lifestyle movements“ (Haenfler/Johnson/Jones 2012) in informellen, sozialen Netzwerken. Ihre Erzählungen bestätigen zum Teil die These von Verba/Schlozman/Brady (1995: 269), dass einer der Gründe für Inaktivität sein kann, dass jemand nie gefragt wurde, ob er/sie sich einbringen möchte. Sich außerhalb von Personen zu befinden, die zur Rekrutierung für eine Organisation beitragen könnten, hat Inaktivität zur Folge. Im Falle dieser Interview-Partnerin wurden jedoch eigene Möglichkeiten des Engagements gesucht, bei denen unabhängig von Organisationen agiert werden kann. Dies stützt die These von Bennett/Segerberg (2012), dass einer „logic of connective action“ folgend Tendenzen einer Personalisierung und Individualisierung von Engagement beobachtet werden können und damit auch ein Rückgang von Mitgliedschaften. Anders als bei Bennett/Segerberg (ebd.) angenommen, spielen in dem vorliegenden Fall digitale Medien jedoch nur eine eingeschränkte Rolle.

Bezüglich eines Mitgliedsbeitrags gehen die Meinungen der Interview-Partner*innen auseinander. Sechs Personen vertreten die Meinung, dass finanzielle Unterstützung ein Aspekt von Mitgliedschaft sei und als Grundlage für Mitgliedschaft ausreiche. Begründet wird dies damit, dass Geld Wertschätzung für die Arbeit einer Organisation ausdrücke und/oder dass man wisse, was die Arbeit der Organisation koste. Knapp die Hälfte der Aktiven ist jedoch der Meinung, dass allein das Zahlen des Mitgliedsbeitrags keine Mitgliedschaft ausmache.

Basierend auf den verschiedenen Positionen schlagen einige Interview-Partner*innen eine begriffliche Unterscheidung vor: Aktives und passives Mitglied, Mitglied und Förderer oder Mitglied und Unterstützer*in. Alle Begriffspaare haben gemeinsam, dass zwischen zwei Arten von Unterstützung unterschieden wird – der aktiven Unterstützung durch Mitarbeit einerseits und solcher durch Geldspenden andererseits. Eine Auseinandersetzung mit verschiedenen Begrifflichkeiten und Verständnissen von Mitgliedschaft und auch der Unterstützung für Organisationen steht (im Kontext deutscher Partizipations- und Protestforschung) noch aus.