Im nun folgenden Kapitel wird die methodische Herangehensweise dieser Arbeit erläutert. Dazu werden zuerst der Mixed-Method-Ansatz vorgestellt und die einzelnen Schritte des Feldzugangs sowie der Materialerhebung beschrieben. In Anlehnung an die Grounded Theory Methode (GTM) wurde hierbei mit einem explorativen und qualitativen Ansatz gearbeitet. Anschließend werden die Faktoren für die Sample-Zusammensetzung erläutert und die Interview-Partner*innen jeweils mit einem Kurzprofil vorgestellt. Danach folgen eine Darstellung der Kategorienbildung nach der inhaltlich strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse und eine Ausführung zur Typenbildung. Ziel dieses Kapitels ist es, das methodische Vorgehen der Arbeit nachvollziehbar zu machen.

3.1 Erläuterungen zum Mixed-Method-Ansatz und zum Vorgehen im Feld

In der vorliegenden Arbeit wurde mit einem Methoden-Mix gearbeitet. Um den Feldzugang zu ermöglichen, wurden teilnehmende Beobachtungen auf Straßendemonstrationen der Umweltschutz-Bewegung durchgeführt, Kontakte geknüpft und schließlich 18 leitfadengestützte Interviews mit Aktivist*innen geführt. In Anlehnung an die Methode der Grounded Theory nach Glaser/Strauss (1967) und Strauss/Corbin (1996) und die inhaltlich strukturierende qualitative Inhaltsanalyse (vgl. Kuckartz 2018) wurde ein ausführliches Kategoriensystem ausgearbeitet. Dieses Kategoriensystem besteht einerseits aus Kodes, die sich aus bisheriger Literatur bereits vorab ableiten ließen, von denen angenommen wurde, dass sie auch in den Interviews mit Bürger*innen der Umweltschutz-Bewegung relevant sein werden und die entsprechend bereits im Leitfaden der Interviews berücksichtigt wurden (Kuckartz 2018: 64, 72 ff.). Andererseits konnte das Kategoriensystem um zahlreiche neue Kodes, wie bspw. den der Frustrationstoleranz, ergänzt werden. Während zwar bestimmte Annahmen aus der bisherigen Literatur der Protest- und Partizipationsforschung mit in die Arbeit und insb. die Erstellung des Leitfadens eingingen, stand jedoch jederzeit das erhobene Material selbst im Mittelpunkt der Forschung. Somit wurde sowohl induktiv als auch deduktiv vorgegangen. Laut Brosius/Koschel/Haas (2009: 157 ff.) kann nur ein Prozess der Kategorienbildung, der sowohl induktiv als auch deduktiv abläuft, ein vollständiges Erfassen des Gegenstandsbereichs gewährleisten. Dieser These schließt sich die Autorin der vorliegenden Arbeit an. Auch Kuckartz (2018: 72) beschreibt ein solches Vorgehen bei einer deduktiv-induktiven Kategorienbildung als gängig: „Wenn bei der Datenerhebung strukturierende Mittel, bspw. ein Interviewleitfaden bei offenen Interviews, eingesetzt werden, wird häufig so vorgegangen, dass für die erste Phase der qualitativen Inhaltsanalyse Kategorien direkt aus dem Interviewleitfaden abgeleitet werden, d. h. mit deduktiven Kategorien begonnen wird. Die Weiterentwicklung der Kategorien und die Bildung von sogenannten Subkategorien erfolgt dann unmittelbar am Material.“

Der Arbeit liegt die Annahme zugrunde, dass sich im Zuge der Digitalisierung u. a. auch im Bereich der Protestpartizipation Veränderungen ergeben und wir es mit einer neuen Form von Protestpartizipation zu tun haben, die es nun detaillierter zu erforschen gilt. Einen solchen angenommenen Wandel von Protestpartizipation kann diese Arbeit (rückblickend) nicht empirisch belegen, denn es wird nicht Interviewmaterial aus verschiedenen Jahrzehnten miteinander verglichen. Ziel ist es vielmehr, durch Biografien und Narrative der Interview-Partner*innen einen solchen Wandel von Protestpartizipation und Motive für verschiedene Protestpraktiken zu beschreiben.

Zu Beginn der Feldforschung wurden verschiedene Schwerpunktsetzungen für die Arbeit abgewogen und die Entscheidung getroffen, eine auf individuelle Subjekte und nicht auf Organisationen zentrierte Perspektive einzunehmen und sich auf die aktiven Bürger*innen selbst, auf ihre Motivationen, Einstellungen und Praktiken zu konzentrieren. Welche Protestpraktiken praktizieren diese Bürger*innen in den verschiedenen Protesträumen und warum? Die Dissertation soll insb. einen Beitrag zur Clicktivism-Debatte leisten und u. a. Erklärungsansätze dazu liefern, unter welchen Bedingungen sich Bürger*innen sowohl online engagieren als auch die Zeit und den Aufwand aufbringen Straßenprotest mitzugestalten.

Die Entscheidung für die Umweltschutz-Bewegung als Untersuchungsgegenstand basiert auf der Annahme, dass eine schon länger bestehende Soziale Bewegung einen möglichst ergiebigen Vergleich verschiedener Protestformen und der jeweiligen Motive der Protestaktiven ermöglicht. Denn bei der Umweltschutz-Bewegung handelt es sich um eine klassische Offline-Bewegung, die insb. in den 1980er Jahren und nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1985 Tausende Menschen auf die Straße trieb. Somit scheint sich die gegenwärtige Umweltschutz-Bewegung sehr gut für einen Vergleich verschiedener Protestformen zu eignen. Denn sie umfasst gegenwärtig auch Aktivist*innen, die schon in den 1980er Jahren auf die Straße gegangen sind und die eine Protestkultur ohne das Internet erlebt haben. Hier stellt sich die Frage, wie diese Bürger*innen auf ein um Online-Protestformen erweitertes Repertoire reagieren, nachdem sie in den vergangenen Jahrzehnten ihres Engagements ‚nur‘ Offline-Möglichkeiten zur Verfügung hatten. Zusätzlich sind in der gegenwärtigen Umweltschutz-Bewegung auch sogenannte Digital Natives engagiert, sodass sich Vergleiche in den verschiedenen Untersuchungsdimensionen (Alter des Subjekts, Ort des Protests, Grad der Organisiertheit, Intensität des Engagements; Details siehe unten) anbieten bzw. interessante Ergebnisse versprechen.

Um u. a. die verschiedenen Organisationsgrade untersuchen zu können, in denen politisch aktive Bürger*innen organisiert sind, wurde bei der Interviewpartner*innen-Akquise der vergleichende Fokus besonders auf die beiden Organisationen Campact und BUND gelegt. Damit ließe sich – so die Vermutung – auch ein eventuell unterschiedliches Mitgliedschaftsverständnis der Unterstützer*innen verschiedener Organisationen untersuchen. Denn der BUND verfolgt ein eher klassisches Mitgliedschaftsmodell mit beitragszahlenden Unterstützer*innen, während Campact von einem offenen und fluiden Mitgliedschaftsverständnis ausgeht. Alle Faktoren der Samplezusammensetzung werden im Abschnitt 3.3 genauer beschrieben.

Feldzugang und Datenerhebung

Am 22. März 2014 fand die erste explorative Feldforschung und teilnehmende Beobachtung auf der Energiewende-Demonstration in Düsseldorf statt, welche in einem breiten Demobündnis u. a. von Campact organisiert wurde. Bei dieser teilnehmenden Beobachtung wurden erste Protestpraktiken der Aktivist*innen auf der Demo dokumentiert und Gespräche mit einigen Demonstrierenden geführt. Hierbei ergaben sich die ersten beiden Interviewkontakte: Felix und Sybille. Unter einer teilnehmenden Beobachtung wird hier „die persönliche Teilnahme des Sozialforschenden bzw. der Sozialforscherin an der Praxis derjenigen, über deren Handeln und Denken er bzw. sie Daten erzeugen möchten“ (Lüders 2003: 151), verstanden. Ziel war es nicht, alleinig durch die teilnehmende Beobachtung Daten zur Auswertung zu erheben. Vielmehr diente die teilnehmende Beobachtung im Fall der vorliegenden Arbeit dazu, den Feldzugang zu ermöglichen, Kontakte für Interviews zu knüpfen und durch Beobachtungen auf Straßendemos das Protestrepertoire der Teilnehmenden kennenzulernen.

Am 10. Mai 2014 folgte die große Energiewende-Demonstration in Berlin, auf der erneut eine teilnehmende Beobachtung durchgeführt wurde. Hier wurden zahlreiche Gespräche mit Demonstrierenden geführt und weitere vier Interview-Kontakte hergestellt (die später zu verschiedenen Zeitpunkten und an verschiedenen Orten stattfanden): Kilian, Valeria, Gerd und Franz.

Im Februar 2015 wurde dann eine kurze Online-Umfrage auf der Webseite www.umfrage-online.de erstelltFootnote 1, die das Ziel hatte, dadurch in Kontakt mit möglichen Online-Aktivist*innen zu gelangen. Nach einer Probephase wurde der Link zur Online-Umfrage über Facebook, die Uni-Siegen Gruppe auf Facebook und beim BUND Frankfurt über den Newsletter der Ortsgruppe des BUND Frankfurt gestreut. Es wurden verschiedene BUND Gruppen bzw. deren Sprecher*innen mit der Bitte um Distribution angeschrieben, so z. B. auch der BUND NRW, jedoch mit nur wenigen Rückmeldungen. Nachdem ca. 60 Personen an der Online-Umfrage teilgenommen hatten, wurde eine zweite Offensive gestartet und via persönlichem Facebook-Account ein Aufruf zur Teilnahme an der Umfrage auf den Facebook-Seiten folgender Organisationen gepostet: Köln stellt sich quer, Netzfrauen, Mal schnell die Welt retten, Amnesty International Hochschulgruppe Köln und Düsseldorf, Atomkraft? Nein Danke!, Energiewende Demo 2014, Anti Atom Track, 100-Gute-Gründe, Mehr Demokratie e. V., contrAtom, WWF Jugend, NABU, Avaaz Deutschland, Campact und BUND. Insgesamt ergaben sich – besonders durch den BUND-Newsletter – kurz darauf einige Interviewgespräche (Olaf, Sven, Sarah, Markus, Helena und Isabelle) innerhalb von Hessen und aus diesen Gesprächen in einem Fall wiederum ein neuer Kontakt für ein weiteres Interview (Julia) per Telefon.

Mit den potentiellen Interview-Partner*innen der Online-Umfrage wurde vorab jeweils ein kurzes Telefongespräch geführt, um einige Rückfragen zu stellen und einen Termin für ein Treffen zu vereinbaren. Etwa zeitgleich wurde begonnen, über die Petitionsplattform Change.org mit einem kurzen Anschreiben an Petent*innen (Ersteller*innen von Online-Petitionen) heranzutreten. Nachdem über Mitarbeiter*innen von Campact oder Change.org aus Datenschutzgründen kein direkter Kontakt hergestellt werden konnten, erschien dieser Weg als der einzig mögliche. Daraus ergaben sich zwei weitere Interviewmöglichkeiten (Stefanie und Sonja). Über die Aufrufe auf Facebook entstand ein Kontakt zur Gründerin einer informellen Online-Organisation (Daniela). Im März und April 2015 konnte daraufhin eine Vielzahl von Interviews im Raum Frankfurt und Umgebung, Gießen und Umgebung und Essen durchgeführt werden. Die Rückmeldungen der beiden Online-Petent*innen führten u. a. dazu, dass das Sample um netzaktivere Interview-Partner*innen ergänzt wurde. Aus dem Interview mit der Organisations-Gründerin ergab sich wiederum ein zweiter Kontakt (Mareike), während ein anderer Gesprächspartner (Günter) über das persönliche Umfeld gefunden wurde. Abgesehen von einem Interview (Julia) wurden alle Gespräche persönlich geführt. Die Ausnahme war ein Gespräch per Telefon, da Julia das verabredete Treffen kurzfristig absagen musste und kein weiterer Termin gefunden werden konnte. Alle 18 Interviews wurden mit dem EinverständnisFootnote 2 der Gesprächspartner*innen aufgezeichnet und anschließend eigenhändig transkribiert. Die Interviews dauerten jeweils zwischen 50 und 120 Minuten, wobei die deutliche Mehrheit zwischen 90 und 120 Minuten lang war, und fanden bei den Interviewpartner*innen Zuhause, in Cafés oder öffentlichen Parks statt.

Nach 18 durchgeführten Interviews wurde die Datenerhebung abgeschlossen und das Sample für diese Zwecke als gesättigt erklärt. In Anlehnung an die Methode der Grounded Theory und ihr theoretisches Sampling (mehr dazu im nächsten Unterkapitel), gab es einen „Verzicht auf einen vorab bestimmten Auswahlplan zugunsten einer schrittweisen Entwicklung des Samples, orientiert an der im Forschungsprozess iterativ entwickelten Theorie“ (Strübing 2003: 154). So wurde im Rahmen des Forschungsprozesses in einem ständigen Abwägen zwischen Empirie und Theorie das Sample sukzessive zusammengesetzt. Dieser Prozess gilt als beendet, „wenn die theoretische Sättigung erreicht ist, d. h. wenn im Zuge weiterer Vergleichsprozesse keine neuen Einsichten erfolgen und Modifikationen nur noch zur Verbesserung der internen Konsistenz nötig sind.“ (Mey/Mruck 2011: 29) Basierend auf den teilnehmenden Beobachtungen und der Feldforschung schienen nach 18 Interviews die wichtigsten im Feld beobachteten Protestpraktiken im Sample abgebildet. Während es zunächst schwierig war, insb. online aktive Bürger*innen für das Sample zu gewinnen – diese Form von Protestengagement jedoch als existent vermutet wurde – konnte diese Lücke u. a. durch die Interviews mit Sonja, Stefanie, Daniela und Mareike geschlossen werden. Die Faktoren für die Zusammensetzung des Samples wurden durch die 18 Interview-Partner*innen in verschiedenen Ausprägungen und Kombinationen als erfüllt betrachtet.

Interviewleitfaden

Alle Interviews wurden mit Hilfe eines Leitfadens geführt. Damit können die Gespräche als teilstrukturierte Interviewsituationen (vgl. Schnell/Hill/Esser 2005: 322 ff.) bezeichnet werden. Bei solchen können zwar die Reihenfolge der Fragen und ihre konkrete Ausformulierung je nach Verlauf des Gesprächs angepasst werden, die interviewende Person ist jedoch dazu angehalten, den gesamten Fragenkatalog abzuarbeiten. Befragungen wie diese eignen sich besonders gut für die Datenerhebung, wenn es um die Ermittlung von Einstellungen, Meinungen oder Bewertungen sozialwissenschaftlicher Phänomene oder auch um das Verhalten der Befragten geht. Andere Formen mündlicher Befragungen, wie bspw. Gruppeninterviews, Gruppendiskussionen oder auch stark strukturierte Einzelbefragungen oder ein narratives InterviewFootnote 3 wurden als weniger passend empfunden.

Um sowohl der Vielzahl von Einflussfaktoren auf Protestpartizipation als auch den individuellen Motiven der Befragten gerecht werden zu können, wurde der InterviewleitfadenFootnote 4 im Laufe der Datenerhebung immer wieder überarbeitet und basierend auf telefonischen oder persönlichen kurzen Vorgesprächen oder der ausgefüllten Online-Umfrage jeweils auf den/die Interview-Partner*in zugeschnitten. Der Interviewleitfaden umfasst mehrere größere Themenblöcke, wie bspw. Fragen zum Ursprung und zur Entstehung der Engagementbereitschaft, zur gegenwärtigen Motivation, zur Einstellung zum Thema Netzaktivismus und auch zu den eigenen Protestpraktiken, deren Reihenfolge je nach Interview variable abgehandelt wurde. Diese Themenblöcke hatten zu späterem Zeitpunkt Einfluss auf die Bildung der Schlüsselkategorien (vgl. Kuckartz 2018: 101 f.) Aufgrund einiger inhaltlicher Überschneidungen (z. B. der Frage nach den selbst praktizierten Protestformen einerseits und den persönlichen Einstellungen zur Wirksamkeit möglicher Protestpraktiken andererseits), ergaben sich teils Situationen, in denen ein Themenblock kurz angeschnitten wurde, dann aber auf später vertagt werden musste. Insgesamt verliefen die Interviews in ausgesprochen freundlicher Atmosphäre, mit Ausnahme eines Interviews, in dem die Gesprächspartnerin zuerst ausschweifend biografischen Erzählungen nachging und dann nach einem Blick auf die Uhr feststellte, dass sie nun nicht mehr viel länger Zeit habe. In dieser Situation wurden die restlichen Fragen des Leitfadens mit einem gewissen Zeitdruck abgearbeitet.

Besondere Herausforderungen

Eine methodische Schwierigkeit, die sich im Rahmen der Feldforschung und Datenerhebung ergab, war das Kontaktieren von Umweltschutz-Aktivist*innen, die größtenteils nur im Netz aktiv sind und kaum bis gar nicht auf der Straße. Vermutlich füllen aufgrund sozialer Erwünschtheit (vgl. Schnell/Hill/Esser 2005: 355 ff.) solche Personen eine Online-Umfrage zum Thema „Straßen- und Netzprotest“ tendenziell seltener aus und reagieren zurückhaltend auf Kontaktversuche.Footnote 5 Eine weitere Vermutung wäre, dass es nicht so viele Personen gibt, die – wie die Kritik des Clicktivism behauptet – nur im Netz aktiv sind und sich für keinerlei Partizipation außerhalb dessen aktivieren lassen. Eine weitere methodische Herausforderung war die eigenständige Transkription aller Interviews. Um eine sehr intensive Auseinandersetzung mit dem Interviewmaterial zu ermöglichen, wurden alle Gespräche eigenständig transkribiert und das Material zuerst händisch auf Papier und dann ein zweites Mal mit MAXQDA kodiert (vgl. Kuckartz 2018: 56 f.). So konnten sowohl Doppelkodierungen übersichtlich erfasst, als auch die Kodierungen mehrfach überprüft und angepasst werden. Wie im Anhang ersichtlich ergab sich aus dem umfangreichen Interviewmaterial ein detailliertes Kategoriensystem mit über 200 unterschiedliche Subkategorien (Ausprägungen von Kategorien).

3.2 Explorativer, offener und qualitativer Ansatz in Anlehnung an die Grounded Theory Methode (GTM)

Die Grounded Theory Methode (GTM) wird im hier verwendeten Mixed-Method-Ansatz als wichtiges Element verstanden, da sie sich insb. für noch unerforschte Themen eignet. Laut Corbin (2003: 70) ist sie „eine qualitative Forschungsmethodologie, deren Endzweck die Theoriebildung auf der Basis von empirischen Daten ist.“ Diese qualitative Methode erlaubt es, in einem Zusammenspiel von Erarbeitung der Theorie und Erhebung des empirischen Materials immer wieder das eine mit dem anderen abzugleichen. Datenerhebung, -kodierung und -auswertung finden im sogenannten theoretischen Sampling gleichzeitig statt. Diese „sukzessive Auswahl von im Zuge der Theorieentwicklung sich als relevant erweisenden, neu zu erhebenden Daten“ (Mey/Mruck 2011: 15) wird als einer der größten Vorteile der GTM verstanden. Da mit den Auswahlfaktoren Grad bzw. Art der Organisiertheit, Alter bzw. Dauer des Engagements, Ort des Protests und Intensität des Engagements bereits vorab die Annahme bestand, dass hier interessante Unterschiede gefunden werden könnten, war es in der Feldforschung von erheblichem Vorteil, das Sample Interview für Interview zusammensetzen zu können, bis verschiedenste Ausprägungen der oben genannten Auswahlfaktoren durch die Interviews abgedeckt waren. Nach 18 Interviews wurde das Sample als gesättigt erachtet und die verschiedenen, aufgrund der Feldforschung vermuteten, Typen von Aktivist*innen bzw. Formen von Protestpraktiken waren in ihrer Bandbreite im Sample enthalten.

Qualitative Methoden eignen sich grundsätzlich besser als quantitative, wenn es darum geht, ein neues und noch zu erschließendes Feld zu erforschen. So kann das Phänomen besser in seiner komplexen Gesamtheit beschrieben und erste Vermutungen und Theorien über dieses Feld erstellt werden. Mit ihrem theoretischen Sampling erlaubt die GTM genau diese Offenheit bei der Datenerhebung und -analyse. Detaillierte Beschreibungen, individuelle Motive und eine Analyse, wer sich warum wie verhält, sind das Herzstück der GTM (vgl. Brosius/Haas/Koschel 2009: 20). Andererseits eignen sich quantitative Methoden besser, wenn „empirische Beobachtungen über wenige, ausgesuchte Merkmale systematisch mit Zahlenwerten belegt und auf einer zahlenmäßig breiten Basis gesammelt werden“ (ebd.: 19) sollen. Dies ist in der vorliegenden Arbeit nicht der Fall. Stattdessen soll das komplexe und vergleichsweise neue Feld des Handlungs- und Wirkungszusammenhangs von Netzprotest und Straßen-Aktivismus im Detail beschrieben und erschlossen, und damit eine Forschungslücke in der bisherigen Protestforschung geschlossen werden.

Eine detaillierte Analyse des Materials, die generelle Offenheit gegenüber der Datenerhebung und die Möglichkeit, Theorien anpassen und gegebenenfalls modifizieren zu können, sind Stärken einer Arbeit mit der GTM. Im Falle der vorliegenden Arbeit geht es einerseits um die empirische Überprüfung der Kritik des Clicktivism in Form einer detaillierten Analyse der individuellen Motive von politisch aktiven Bürger*innen im Feld des Netz- und Straßenprotest am Beispiel der Umweltschutz-Bewegung und andererseits um die Erstellung einer Typologie verschiedener Protest-Aktivist*innen unter Berücksichtigung der Faktoren Organisationsgrad, Ort des Protests und Dauer und Intensität des Engagements.

Die GTM versteht sich nicht nur als Auswertungsmethode empirischer Daten, sondern vielmehr als eigenständiger Forschungsstil, „der sich deutlich von jenem traditionellen sequentiellen Vorgehen unterscheidet, in dem Planung, Datenerhebung, Datenanalyse (und Theoriebildung) als getrennte Arbeitsphasen aufgefasst werden“ (Mey/Mruck 2011: 23). Sie ist auf die Entwicklung oder Überprüfung einer Theorie gerichtet, ohne an spezielle theoretische Interessen gebunden zu sein. Der Begriff Grounded Theory drückt vielmehr zwei Charakteristika aus: „[…] den Prozesscharakter der Generierung einer Theorie und die Verankerung der gewonnenen Theorie in empirischen Daten.“ (Badawia 2002: 51) Die Eingebundenheit in die empirischen Daten und der Prozesscharakter der Datenerhebung stehen hier folglich im Vordergrund. So beschreiben es auch Glaser/Strauss (2005: 19): „Eine Theorie auf der Grundlage von Daten zu generieren, heißt, dass die meisten Hypothesen und Konzepte nicht nur aus den Daten stammen, sondern im Laufe der Forschung systematisch mit Bezug auf die Daten ausgearbeitet werden. Theorie zu generieren, ist ein Prozess.“ Dieser Prozess und das Sammeln von Daten sind der wichtigste Arbeitsabschnitt in der Arbeit mit der GTM. Demzufolge bietet die Methode einen alternativen Umgang mit bzw. ein alternatives Verständnis von Theorie: Theorie wird basierend auf dem Material generiert und Hypothesen und Konzepte entstehen nicht nur aus dem Material heraus, sondern im Prozess der Forschung und damit auch im Prozess der Datenerhebung.Footnote 6

Eine wichtige Rolle in diesem Prozess der Theoriebildung spielt das Kodieren. In der GTM gibt es drei Basistypen des Kodierens: Das offene, das axiale und das selektive Kodieren.Footnote 7 Diese drei Typen tendieren dazu, fluide zu sein und sich im Gebrauch gegenseitig zu überlappen (vgl. Corbin 2003: 73). Strauss (1991) und Strauss/Corbin (1996) beginnen mit dem offenen Kodieren als eine Art Öffnung des Texts. Hier werden u. a. verschiedene W-Fragen gestellt: Worum geht es? Wer ist beteiligt? Wie werden die Aspekte des Phänomens behandelt? Warum wird etwas gemacht? Dabei spielen auch Vergleiche eine wichtige Rolle, um sich Zugang zu allen Bereichen des Phänomens zu verschaffen und um in Form einer Bildung von Dimensionen Subkategorien bzw. Ausprägungen der Kategorien benennen zu können. Im Rahmen des axialen Kodierens wird das Auswerten dann immer präziser und es werden Beziehungen zwischen den einzelnen Konzepten erstellt. Beim selektiven Kodieren werden wiederum Kernkategorien gebildet. So entsteht schließlich ein System mit Kategorien, verschiedenen Ausprägungen und übergeordneten Schlüsselkategorien.

3.3 Faktoren für die Sample-Zusammensetzung

Da es in der vorliegenden Arbeit insb. um einen Vergleich der Motive für eine Teilnahme am Netz- bzw. Straßenprotest geht, war u. a. der Auswahl-Faktor ‚Ort des Protests‘ ein entscheidender Aspekt bei der Zusammensetzung des Samples. Jedoch stellte sich schnell heraus, dass diese beiden Protesträume nur schwer voneinander zu trennen sind bzw. sich häufig vermischen, da z. B. auch Teilnehmende von Straßenprotest mit Smartphones parallel zur Demonstrations-Teilnahme im Netz unterwegs sein können (z. B. wenn ein Tweet von der Demo abgesendet oder ein Foto des Protests auf Facebook geteilt wird). Folglich ist die hier getroffene Unterscheidung zwischen Netz- und Straßenprotest gemeint als: Die Person ist ‚überwiegend im Netz‘ oder ‚überwiegend auf der Straße‘ politisch aktiv. Keiner der Interview-Partner*innen verweigert sich gewissen Vorteilen des Internets gänzlich, es lassen sich jedoch – insb. mit Blick auf die Freizügigkeit im Umgang mit persönlichen Daten – erhebliche Unterschiede bei der Bereitschaft zum Unterzeichnen von Online-Petitionen feststellen. Umgekehrt sind auch diejenigen, die insb. im Netz aktiv sind, in irgendeiner Form (Organisation, Verein oder lokale Initiative) zumindest partiell auch offline aktiv.

Insbesondere mit Blick auf ein eventuell unterschiedliches Verständnis von Mitgliedschaft und einem Verbundenheitsgefühl gegenüber Organisationen wurde der Faktor ‚Grad bzw. Art der Organisiertheit‘ für die Sample-Auswahl berücksichtigt. Wie zuvor erwähnt, galten dabei die Organisationen Campact und BUND als Ausgangspunkt, da sie auf unterschiedlichen Mitgliedschaftsverständnissen basieren und diese entsprechend nach außen kommunizieren: Beim BUND ist Mitglied, wer einen Antrag unterschrieben hat und den Mitgliedsbeitrag überweist – Campact hingegen geht von einem sehr fluiden Mitgliedschaftsverständnis aus.Footnote 8 Hier wurde neben den Unterscheidungen ‚hochgradig‘, ‚mittel‘ und ‚gering organisiert‘ auch die Ausprägung ‚selbst organisiert‘ hinzugezogen, da auch solche Aktivist*innen einbezogen wurden, die bspw. ihre eigene Organisation oder ihren eigenen Verein gegründet haben. Während die ersten drei Unterscheidungen sich gegenseitig ausschließen, wird die vierte als Zusatz verstanden. Jemand kann also bspw. ‚hochgradig‘ und gleichzeitig ‚selbst organisiert‘ sein, jedoch nicht gleichzeitig ‚mittel- und hochgradig organisiert‘.

Da es in der Analyse des Interviewmaterials u. a. auch eine Rolle spielt, ob eine Person schon lange engagiert ist und nun mit den Möglichkeiten neuer ICTs ihren Aktivismus erweitert oder nicht, oder ob eine Person erst durch die Möglichkeiten neuer ICTs aktiv wird, ist der dritte Auswahlfaktor das Alter bzw. die Dauer des Engagements. Von diesem Faktor werden sich Erkenntnisse über eventuelle Unterschiede zwischen dem Engagement von Digital Natives und Digital Immigrants erhofft. Zusätzlich wird viertens die Intensität des Engagements berücksichtigt, um die Berechtigung der Kritik des sogenannten Clicktivism genauer beurteilen zu können. Als weiterer Faktor, welcher bei der Erhebung berücksichtigt wurde, ergab sich eine nahezu ausgeglichene Verteilung auf die Geschlechter weiblich und männlich (10 Frauen und 8 Männer), wobei jedoch vorab keine Annahmen über geschlechterspezifische Unterschiede im Engagement auf der Straße und im Netz formuliert wurden.

An dieser Stelle folgt nun eine Beschreibung dessen, wie die Ausprägungen der Faktoren für die Sample-Zusammensetzung im Detail definiert worden sind (Abbildung 3.1):

Abbildung 3.1
figure 1

Faktoren der Sample-Zusammensetzung

3.4 Sample-Zusammensetzung

3.4.1 Kurzbeschreibung der Interview-Partner*innen

FelixFootnote 9 ist 24 Jahre alt, männlich und Student der Politikwissenschaft. Er absolvierte bei Campact ein mehrmonatiges Praktikum und ist auch danach immer wieder auf Demos eingeteilt, u. a. um Campact-Plakate zu verteilen. Er ist besonders an den Themen Energiewende und TTIP interessiert und recherchiert viel im Internet. Felix teilt seine politische Meinung auch online auf Social Media und unterzeichnet sehr selektiv Online-Petitionen, zu denen er sich zuerst ausreichend informiert haben möchte. Auf Straßendemos ist er eher alleine unterwegs, als dass er gemeinsam mit Freund*innen teilnehmen würde.

Sybille ist 60 Jahre alt, weiblich und als Biologin an einer Volkshochschule tätig. Sie unterstützt Campact Straßenaktionen in ihrer Heimatstadt, unterzeichnet häufig Online-Petitionen und ist darüber hinaus bei Transition Town und einem Urban Gardening Projekt aktiv. Für Sybille spielen Umweltbildung und Kindererziehung eine sehr wichtige Rolle. Sie nutzt keine Social-Media-Kanäle, jedoch ausgiebig die Möglichkeit, sich durch Recherchen und Newsletter online zu informieren.

Franz ist 62 Jahre alt, männlich und bereits Rentner. Er unterstützt nahezu jede Campact-Straßenaktion in Berlin und auch viele der Online-Petitionen. Franz nutzt kein Social Media, aber unterschreibt sehr aktiv Online-Petitionen, obwohl er ihnen kaum eine Wirkung zuschreibt. Bei Greenpeace ist er als Trommler aktiv und in dieser Rolle auch häufig auf Straßendemos. Er verfügt über ausgeprägte finanzielle Ressourcen und unterstützt viele verschiedene Organisationen u. a. durch Spenden.

Valeria ist 70 Jahre alt, weiblich und ebenfalls Rentnerin. Sie bezeichnet sich als Deutsch-Brasilianerin und sieht viele Ursprünge ihres Engagements u. a. in ihrer in Brasilien verbrachten Jugend. Valeria nimmt häufig an Campact Aktionen in Berlin teil, selektiert dabei aber auch Themen aus. Während sie zwar häufig Online-Petitionen unterzeichnet, versteht sie es – insb. als Rentnerin – auch als Pflicht, sich bei Straßenprotesten zu beteiligen. Sie hat ein großes Interesse an sozialer Gerechtigkeit und Wohlstand für alle sowie für das Thema Energiewende. Valeria beschreibt eine ausgeprägte Sympathie zur Roten Armee Fraktion (RAF) und eine Tendenz dazu, grundsätzlich Opposition zu betreiben.

Kilian ist 23 Jahre alt, männlich und Student der Fächer Mathematik und Psychologie. Er unterstützt Campact online und offline, verteilt bspw. auf Demos Flaggen von Campact und unterzeichnet Online-Petitionen. Insgesamt unterschreibt er nahezu täglich Online-Petitionen und nutzt das Netz auch, um politische Informationen zu recherchieren und zu teilen. Social Media verwendet Kilian dazu jedoch nicht (mehr). Darüber hinaus ist er auch offline in lokalen Organisationen engagiert. Er studiert seit drei Semestern absichtlich weniger als es der Regelstudienplan vorsieht, um mehr Zeit für politisches Engagement zu haben.

Gerd ist 67 Jahre alt, männlich und Rentner. Er ist stellvertretender Landrat, im Vorstand eines Wasserverbandes, im Aufsichtsrat einer Energiegenossenschaft und bei Bündnis 90/Die Grünen aktiv. Gerd partizipiert häufig an Straßendemos und nimmt dabei gern auch seinen 8-jährigen Enkel mit. Er nutzt Social Media um politische Inhalte zu teilen und unterschreibt häufig Online-Petitionen – insb., wenn er diese von Bekannten weitergeleitet bekommen hat. Den BUND und viele andere Organisationen unterstützt er mit Spenden. Eines seiner Motive für das Engagement ist, dass er der Gesellschaft etwas zurückgeben möchte, nachdem er als Kind mit Fluchterfahrung in Deutschland so viel ermöglicht bekommen hat.

Günter ist 66 Jahre alt, männlich und ebenfalls Rentner. Als studierter Wirtschaftsingenieur hat er ein eigenes Institut für Nachhaltigkeit gegründet, in dessen Vorstand er sitzt. Er ist beim BUND aktives Mitglied im Kreis und Ortsvorstand und blickt auf eine lange Geschichte in der Umweltschutz-Bewegung zurück. Günter war bereits in den 1960er Jahren gegen den Vietnamkrieg und in den 1980er Jahren gegen Atomkraft auf der Straße. Er praktiziert keinen Online-Aktivismus und begründet dies insb. mit Datenschutzbedenken. Günter verfügt über viele Ressourcen (finanziell, zeitlich und mit Blick auf Wissen und Vernetzung) und versteht Engagement als Muss.

Daniela ist 53 Jahre alt, weiblich und betreibt als Vollzeittätigkeit eine Webseite zum Thema Frauenrechte und Umweltschutz. Sie erzählt, Occupy Germany mitgegründet zu haben, ist seit vielen Jahren für ihre informelle Organisation aktiv und beliefert u. a. den WDR und SWR regelmäßig mit ihren Recherchen, die man dem Bereich investigativer Journalismus zurechnen könnte. Daniela ist bereits seit Anfang der 1990er Jahre online, hat zuvor 30 Jahre als Bankerin gearbeitet und ist seit dem 14. Lebensjahr politisch aktiv. Sie unterstützt die Umweltschutz-Bewegung durch Teilnahmen an Straßendemos und E-Mail-Aktionen. Online-Petitionen unterzeichnet sie nicht, findet Campact intransparent und äußert Datenschutzbedenken.

Olaf ist 43 Jahre alt, männlich und arbeitet als Referent bei einer Landtagsabgeordneten der Grünen. Er engagiert sich sehr für den BUND, sowohl in verschiedenen AGs, als auch im Kreisverband und bei Infoständen. Olaf nimmt an Straßendemos teil und hält diese für wichtiger als Netzaktivismus. Trotzdem unterschreibt er ausgewählte Online-Petitionen und nutzt Twitter für politische Zwecke. Darüber hinaus ist er Social Media gegenüber skeptisch. Olaf ist studierter Biologe und hat sich explizit für eine Teilzeitstelle entschieden, um mehr Zeit für politisches Engagement zu haben.

Sven ist 62 Jahre alt, männlich und arbeitet als selbstständiger Software-Entwickler, größtenteils im Homeoffice. In seinem BUND-Ortsverband ist er Sprecher und lokal sehr aktiv. Darüber hinaus unterstützt er Lobby-Control, das Umweltinstitut München, Campact und eine Bürgerinitiative gegen Fluglärm. Er unterzeichnet häufig Online-Petitionen, beteiligt sich jedoch gleichermaßen auch an Straßendemos und Infoständen. Sven ist der Meinung, dass man insb. vor Ort hartnäckig an Problemen dranbleiben und selbst mitgestalten muss. Er verbindet Straßendemos mit viel Freude und Zusammenhalt und versteht solche Aktionen auch als Zeit mit der Familie und Freund*innen.

Sarah ist 51 Jahre alt, weiblich und arbeitet mit einer 50 % Stelle bei einem Landesverband der BUNDjugend. Ihre restliche Zeit investiert sie insb. in die Imkerei, den Obst- und Gemüseanbau und weitere Ehrenämter. Sarah ist Mitglied im Vorstand des Imkervereins und im Sprechteam ihres BUND-Kreisverbands. Neben aktiver Teilnahme an BUND-Aktionen, unterstützt sie Attac, Campact, den VCD, den VEN und einen lokalen botanischen Garten finanziell. Neben vielseitigem Engagement auf der Straße unterzeichnet sie auch häufig Online-Petitionen. Social Media nutzt Sarah hingegen nicht.

Markus ist 71 Jahre alt, männlich und Rentner. Er engagiert sich seit dessen Gründung sehr für den BUND und ist dort in vielen AGs und verschiedenen Funktionen, u. a. als Vorstand, tätig. Martin bezeichnet sich selbst als „68er“, der auf der Straße bereits gegen den Vietnamkrieg und Atomenergie protestierte und versteht Engagement als Muss. Er äußert sich sehr kritisch gegenüber Avaaz, unterzeichnet aber ab und zu Online-Petitionen auf verschiedenen Plattformen, sowie auf der BUND Webseite. Markus nutzt ausgiebig Recherchemöglichkeiten im Internet, liest und verschickt dort viele Berichte und Newsletter und organisiert sich über E-Mail-Kommunikation. In seinem Engagement profitiert er u. a. von seiner früheren Berufstätigkeit in der Wirtschaftsentwicklung mit Fokus auf erneuerbare Energien und von einem ausgezeichneten Netzwerk, das ihn gegenwärtig als Berater bis in den Landtag hinein Einfluss nehmen lässt.

Helena ist 62 Jahre alt, weiblich und arbeitet mit einer halben Stelle als Apothekerin. Ihr Ehrenamt für den BUND – mit vielen lokalen Aktionen zum Anpacken sowie als Vorstand ihres Ortsverbandes – versteht sie als zweite Teilzeitstelle und hat sich bewusst für diese Zeiteinteilung entschieden. Darüber hinaus unterstützt sie Campact, sowohl bei Straßenaktionen in ihrer Nähe als auch durch Unterzeichnung von Online-Petitionen. Auch das Umweltinstitut München, der WWF, LobbyControl, foodwatch und andere Organisationen werden von Helena aktiv oder finanziell gefördert. Sie nutzt kein Social Media, aber unterzeichnet häufig Online-Petitionen und vernetzt sich intensiv über E-Mails. Helena beschreibt ausführlich die von ihr empfundene Gemeinschaft bei Straßendemos und wie sie durch die Schwangerschaft bzw. ihre Kinder für Umweltschutz-Themen sensibilisiert wurde.

Isabelle ist 27 Jahre alt, weiblich und Studentin des Masterstudiengangs Sustainability, Economics and Management. Sie ist weder Mitglied einer Partei, noch einer Organisation. Isabelle engagiert sich in lokalen und eher informellen Initiativen wie Repair Cafés oder Urban Gardening Projekten, will Dinge selbst anpacken und direkt mitgestalten. Sie versteht Nachhaltigkeit ganzheitlich und möchte ihren kompletten Alltag danach ausrichten. Isabelle nutzt kein Social Media und verbringt – trotz ihres Alters – insgesamt sehr wenig Zeit im Internet. Stattdessen lässt sie sich lieber über Freund*innen oder alternative Medien informieren. Sie partizipiert selten bei Straßendemos, hält es aber für nötig, sich über Wahlen hinaus zivilgesellschaftlich einzubringen und Gesellschaft aktiv mitzugestalten.

Stefanie ist 28 Jahre alt, weiblich und Studentin der Umweltwissenschaft. Sie betreibt einen eigenen Blog zum Thema Upcycling, nutzt aktiv verschiedene Social-Media-Kanäle und hat gemeinsam mit der DUH auf Change.org eine Online-Petition zum Thema Plastikvermeidung erstellt. Stefanie unterzeichnet auf verschiedenen Plattformen Online-Petitionen und beschreibt eine ausgeprägte Nähe zum Medium Internet. In Zusammenarbeit mit lokalen Initiativen hat sie bereits verschiedene Aktionen wie Infostände und Tüten-tausch-Tage organisiert. Stefanie meidet Straßendemos, u. a. weil sie sich in großen Menschenmassen unwohl fühlt. Reisen in sogenannte Entwicklungsländer und ein Meditationskurs haben sie neben anderen Faktoren zu mehr Engagement bewogen.

Sonja ist 56, weiblich und arbeitet als selbstständige Übersetzerin. Die Arbeit an einem Buch von Naomi Klein hat bei Sonja nach einer längeren Familienpause erneut den Wunsch nach Aktivismus geweckt. Sie ist Mitbegründerin einer lokalen Bürgerinitiative gegen Fracking, Vorsitzende einer BUND-Ortsgruppe und Mitglied bei den Grünen. Sonja nutzt aktiv Social Media, recherchiert und teilt Informationen im Internet. Sie unterzeichnet sehr häufig Online-Petitionen auf verschiedensten Plattformen und hat selbst eine Online-Petition gegen Fracking gestartet. Dabei wurde sie aktiv von Change.org unterstützt. Sonja organisiert oft Straßenaktionen, partizipiert an großen Demos und unterstützt Organisationen wie PETA finanziell. Sie nennt ihre Schwangerschaft während der Tschernobyl-Katastrophe als einschneidendes Erlebnis, das sie politisiert habe und beschreibt insgesamt ein sehr geringes Vertrauen in Politiker*innen. Sonja setzt sich für mehr direktdemokratische Mitbestimmungsmöglichkeiten ein.

Mareike ist 49, weiblich und Beraterin für Social Media. Sie zeichnet sich durch sehr ausgeprägte Online-Praktiken aus, unterschreibt häufig Online-Petitionen, nutzt Social Media sehr intensiv – insb. auch zur Verbreitung politischer Inhalte – und recherchiert Informationen, die sie in ihrem Blog zu internetrelevanten Themen veröffentlicht. Mareike rät Privatpersonen, im Netz sehr vorsichtig mit ihren Daten umzugehen, sieht grundsätzlich aber zahlreiche Vorteile im Internet und ist die einzige Interview-Partnerin, die online ein Gemeinschaftsgefühl empfindet. Außerhalb des Internets ist sie eher in Initiativen aktiv, die nicht zum Umweltschutz zählen, aber von denen sie persönlich betroffen ist oder zu denen sie einen lokalen Bezug hat. Mareike wurde schon in ihrer Kindheit durch sozialistische Jugendfreizeiten politisiert und beschreibt gegenwärtig ein sehr geringes Vertrauen in Politiker*innen. Sie sucht entsprechend explizit alternative Einflussmöglichkeiten über das Internet.

Julia ist 22 Jahre alt, weiblich und studiert Psychologie. Sie ist im Landesvorstand der BUNDjugend und investiert viel Zeit für ihr Engagement für den BUND. Julia unterschreibt Online-Petitionen bei Campact, Change.org und auf der Webseite des BUND – jedoch nur, wenn sie sich mit dem entsprechenden Thema gut auskennt. Sie beschreibt, bereits in der Kindheit mit ihren Eltern bei Demos und Castorblockaden mitgewirkt zu haben, und versteht es als Verantwortung eines jeden, sich einzusetzen. Julia nimmt zwar gelegentlich an Straßendemos teil, jedoch lieber privat als im T-Shirt ihres Verbandes. Sie reflektiert ausführlich die Vorteile des Internets für Organisationen wie die BUNDjugend und benennt gegenwärtige Herausforderungen in der Arbeit mit Ehrenämtler*innen.

3.4.2 Übersicht über Interview-Partner*innen nach Auswahlfaktoren

Die folgende Tabelle bietet noch einmal eine Übersicht über die Auswahlfaktoren der Sample-Zusammensetzung und die einzelnen Ausprägungen bei allen 18 Interview-Partner*innen. Bereits an dieser Stelle wird deutlich, dass sich ein Großteil der Gesprächspartner*innen sowohl im Netz als auch auf der Straße engagiert. Die anderen Faktoren zeigen größtenteils eine gewisse Ausgewogenheit, jedoch mit leichter Tendenz zu einer mittleren bis hohen Intensität des Engagements und einer mittelmäßigen bis hochgradigen Organisiertheit (Abbildung 3.2).

Abbildung 3.2
figure 2

Sample-Auswahlfaktoren bei den Interview-Partner*innen

3.5 Kategorienbildung nach der inhaltlich strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse

Während der Analyse des Datensatzes bestehend aus 18 Interviews wurde ein umfangreiches Kategoriensystem gebildet. Dieses Kategoriensystem besteht einerseits aus Kategorien, die schon vor Erhebung der Daten (d. h. Durchführung der Interviews) aus der bisherigen Literatur heraus abgeleitet und im Leitfaden der Interviews berücksichtigt wurden (z. B. Ressourcen, Ursprung und Entstehung von Engagementbereitschaft, Motive für Engagement, Emotionen oder kollektive Identität) und andererseits aus weiteren Kategorien, die aus dem erhobenen Material selbst abgeleitet wurden (z. B. Ortsbezug, Selbstverständnis, Nachhaltigkeit und Effizienz von Engagement, Position zu Straßenprotest, Position zu Netzprotest und Clicktivism). Die vorliegende Arbeit folgt damit der Kategorienbildung der inhaltlich strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse nach Kuckartz (2018). Hierbei werden Hauptthemen bereits von den Forschungsfragen abgeleitet und bei der Datenerhebung im Leitfaden der Interviews berücksichtigt (ebd.: 101). Häufig entsprechen einzelne Kodiereinheiten dann den Antworten auf bestimmte Fragen des Leitfadens (vgl. ebd.: 104). Neben dieser deduktiven Kategorienbildung werden jedoch auch induktiv im laufenden Verfahren der Inhaltsanalyse weitere Kategorien gebildet und alle Kategorien ständig weiterentwickelt. Insbesondere die Subkategorien (hier „Ausprägungen“) basieren auf einer induktiven Kategorienbildung (vgl. ebd.: 72, 95 f.).

Die 14 in dieser Arbeit deduktiv-induktiv gebildeten Kategorien werden fünf verschiedenen Schlüsselkategorien zugeordnet, die sich schlussendlich auch in der Gliederung dieser Arbeit in Form von Unterkapiteln wiederfinden. Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über das Kategoriensystem mit seinen Schlüsselkategorien, Kategorien und jeweils einem Beispiel für eine mögliche Ausprägung sowie dem dazugehörigen Kürzel. Die komplette Übersicht aller Ausprägungen befindet sich im Anhang dieser Arbeit (Abbildung 3.3).

Abbildung 3.3
figure 3

Übersicht Kategoriensystem

Um die Kategorienbildung detaillierter zu veranschaulichen, folgt nun ein Beispiel für eine Kategorie, inkl. Zuordnung zur Schlüsselkategorie, Definition der Kategorie und einem Beispiel aus der Empirie, welches dieser Kategorie zugeordnet wurde. Eine Übersicht über alle Kategorien inkl. Definitionen und Beispielen befindet sich ebenfalls im Anhang dieser Arbeit.

Kategorie: „Ressourcen“ (Schlüsselkategorie: RI)

Definition:

Aussagen darüber, welche Ressourcen die Interviewten für ihr zivilgesellschaftliches Engagement zur Verfügung haben, in der Vergangenheit hatten oder in der Zukunft gerne hätten und darüber, welche Ressourcen generell nötig sind, um sich zivilgesellschaftlich einzubringen. Beinhaltet auch Information über Ausbildung, Studium, Berufserfahrung und Ähnliches, egal ob fachlich oder fachfremd.

Beispiel:

„Na ja, es gibt ja zwei wichtige Ebenen – oder es gibt wahrscheinlich auch mehr. Also, die eine wichtige ist natürlich überhaupt die Zeit und dann die finanzielle. Das heißt, wenn ich mich ehrenamtlich engagiere, kriege ich ja kein Geld dafür. Und vielleicht könnte ich ja sonst eben mehr für Geld arbeiten und dann hätte ich im Monat mehr in der Tasche. Das ist natürlich eine Sache, die sich alle Leute überlegen müssen, die ehrenamtlich tätig sind. Weil sie das eben als Zusatzbelastung haben, zeitlich und eben auch körperlich, psychisch, wie auch immer.“ (Olaf, Z. 284 ff.)

3.6 Typenbildung

Für die in Kapitel 8 „Typen von Protest-Aktivist*innen“ erläuterte Typisierung wurden alle Aspekte des Kategoriensystems zusammengefügt und basierend auf diesen Faktoren drei Typen von Protest-Aktivist*innen skizziert. Jeder Typ zeichnet sich wiederum nochmal durch zwei Abstufungen aus. Die Typen unterscheiden sich insb. bzgl. der ausgeübten Protestpraktiken und darin, wie intensiv sie das Netz in ihr Engagement einbindenFootnote 10 und sind als jeweilige Steigerung zueinander zu verstehen. Vom ersten Typ bis zum dritten Typ nehmen sowohl die Bandbreite an Praktiken als auch die Extensität des Engagements zu. Für die Typenbildung wurden entsprechend alle 18 Interview-Partner*innen auf diese beiden Faktoren geprüft und anschließend diejenigen Personen ausgewählt, die neben einer prototypischen Steigerung der Bandbreite und Extensität in der Kombination dieser sechs Bürger*innen gleichzeitig auch eine möglichst vielfältige Abbildung anderer, das Engagement beeinträchtigender, Faktoren – u. a. aus den Kategorien Ressourcen, Motive oder Mitgliedschaft – ermöglichten. Dafür wurde eine umfangreiche Fallübersicht erstellt (vgl. Kuckartz 2018: 115 f.), die die Typenbildung und Zusammensetzung der verschiedenen Fälle für die Veranschaulichung der Typen ermöglichte.Footnote 11 Mit der Darstellung dieser ausgewählten sechs Fallbeispiele sollen sowohl eine möglichst große Vielfalt an Engagement-unterstützenden oder -verhindernden Faktoren abgebildet werden, als auch die Steigerung der Vielfalt und Extensität von Protestpraktiken veranschaulicht werden.