Die Fragen der Anschlagsopfer sind psychosoziale Bedürfnisse. Die Straftat war eine von Ohnmacht und Kontrollverlust geprägte Erfahrung, die einerseits Fragen nach dem Warum und Warum ich aufwirft und andererseits Handlungen erfordert, um Balance und Normalität wiederzufinden. Dazu bedarf es der Interaktion und der Kommunikation. Eine der Empfänger/innen der Fragen sind Strafverfolgungsbehörden bzw. Strafjustiz. Opfer suchen nach der Wahrheit und der Feststellung von Verantwortung. Sie wünschen sich Anerkennung als Opfer und des damit verbundenen Leids, Gehör, Beteiligung, verständliche Informationen und eine respektvolle Behandlung als Experte/Expertin für den individuellen Fall. Diese Bedürfnisse sind für Opfer terroristischer Anschläge und Opfer schwerer Gewalttaten identisch. Gemessen an diesen Erwartungen scheinen die Ziele der Opfer und die des Strafprozesses zunächst in ihren Zwecken – wie der Suche nach Wahrheit, Gerechtigkeit und Rechtsfrieden – nicht wesentlich voneinander abzuweichen.

Um Opfer in ihrer Doppelrolle als Zeuge/Zeugin und Verletzte/r vor einer weiteren Viktimisierung durch das Verfahren zu bewahren, erfolgte in den vergangenen Jahrzehnten die Normierung von Beteiligungs-, Informations-, Partizipations- und Schutzrechten in der Strafprozessordnung. Wie vorstehende Untersuchung aufgezeigt hat, sind diese bis auf geringfügige Modifikationen grundsätzlich geeignet und erforderlich, um Opferzeugen/Opferzeuginnen eines Anschlags zu schützen und ihre Interessen zu wahren. Ihre Begrenzung erfahren die Opferrechte dort, wo sich psychosoziale Bedürfnisse aufgrund des normativen Charakters der Rechtswissenschaft und rechtsstaatlicher Grundsätze zum Schutz des Angeklagten/der Angeklagten nicht in die Systemlogik des Strafverfahrens übertragen lassen. Dies mag zu Enttäuschungen führen, beim Opfer selbst oder anderen Unterstützungssystemen. Enttäuschungen sind allerdings keine erneuten Viktimisierungen. Bringt eine Hauptverhandlung aufgrund des Schweigens eines/einer Angeklagten bspw. kein Motiv der Tat zutage, müssen Betroffene differente Möglichkeiten finden, um innerlich abschließen zu können.

Dennoch hat auch das Verfahren auf dem Weg zu einem Urteil einen ‚Eigenwert‘: Um trotz offener Fragen und Begrenzungen des Gerichts bei der Wahrheitssuche ein Verfahren als gerecht wahrnehmen zu können, bedarf es weiterer informeller Zugänge. Dies können Elemente aus der „interactional“ und „therapeutical justice“, wie in Kapitel 3 dargestellt, oder neue Konzepte, wie das der Opferstaatsanwältinnen/Opferstaatsanwälte, sein. Gleichwohl sind die Wirkungen dieser Konzepte weiterhin ungeklärt, sodass es empfehlenswert ist, die empirische viktimologische Forschung, die in Deutschland nahezu zum Stillstand gekommen zu sein scheint, erneut aufzunehmen. Ausgehend von den Erkenntnissen der vorliegenden Arbeit konnte ein Mangel an aktuellen Studien zur Verfahrensgerechtigkeit und zu potenziellen Wirkungen neuer Konzepte wie interactional justice, insbesondere bei psychisch schwer belasteten Opfern, festgestellt werden. Ebenso sind potenzielle Unterschiede in der Bewältigungserfahrung zwischen Hinterbliebenen und Überlebenden, der Täter-Opfer-Status-Wechsel bei (terroristischen) Anschlägen sowie die gesellschaftlichen Bewältigungsdynamiken nach einem Anschlag bisher unerforscht. Gleichermaßen bedarf es der wissenschaftlichen Begleitung und Evaluation von angewandten Konzepten (Opferstaatsanwaltschaft). Diese Erkenntnisse können dazu dienen, eine vulnerable Opfergruppe vor Reviktimisierungen präventiv zu schützen.

Von einer Annahme der grundsätzlichen potenziellen Schädigung durch ein Strafverfahren kann sich im Falle von Anschlagsopfern verabschiedet werden: Die Schädigung scheint in diesen Fällen erheblicher, wenn ein Gerichtsverfahren nicht stattfinden kann.

Anschlagsopfer weisen neben ähnlichen Bedürfnissen wie Opfer anderer schwerer Gewalttaten den besonderen Wunsch nach öffentlicher Anerkennung als Opfer einer politischen Tat auf. Dies gilt sowohl für Hinterbliebene von Getöteten und als auch für überlebende Verletzte. Beide Gruppen sind gleichermaßen psychisch betroffen; rechtlich sind sie ebenso gemäß § 397b StPO gleichgestellt. Generell tragen Anschlagsopfer ein höheres Risiko, schwerer und dauerhafter an posttraumatischen Folgestörungen zu erkranken als andere Opfer. Des Weiteren bedienen sich Politik, Medien und Gesellschaft insbesondere bei terroristischen Anschlägen der privaten Tragödie der Überlebenden und Hinterbliebenen. Diese sich vielfach überlagernden Instrumentalisierungen verlängern Viktimisierungserleben und Erholungsprozesse: mithin sind Anschlagsopfer als besonders schutzbedürftig i. S. § 48a StPO anzusehen. Prozessrechtlich sind sie daher überwiegend privilegiert: Sie können sich in zahlreichen Fällen ohne Kostenrisiko anwaltlicher Hilfe oder psychosozialer Beistände bedienen. Angesichts der geringen Bedeutung ihrer Zeugenaussage für den Erkenntnisgewinn sind die Opferrechte zudem weitgehend ausschöpfbar, ohne dass die Rechte Angeklagter tangiert sind. Die minimierte Viktimisierungsgefahr im Verfahren ermöglicht für Anschlagsopfer die Fokussierung auf ihre eigene Antwortsuche. Gleichzeitig beinhaltet das Gerichtsverfahren durch Anhörung der Verletzten die für diese bedeutsame öffentliche Anerkennung als Opfer einer politischen Tat. Wie ReemtsmaFootnote 1 bemerkt, ist das Gericht nicht der Ort der Therapie, in diesen Fällen aber auch nicht der Ort, an dem sich der eingetretene Schaden vergrößert.