6.1 Ausgangslage

Nachfolgend soll untersucht werden, inwieweit die festgestellten Bedürfnisse eine Passung zu den Opferrechten in der Strafprozessordnung aufweisen. Hier sind folgende Aspekte zu berücksichtigen: Die ermittelten und an das Strafjustizsystem gerichteten Bedarfe sind überwiegend psychosozialer Natur. Die Rechtswissenschaft hat dagegen normativen Charakter. Eine Übersetzung der psychosozialen Bedürfnisse in strafprozessuale Opferrechte muss somit dort ihre Grenze finden, wo rechtsstaatliche Grundsätze tangiert sein könnten.

Auf gesellschaftlicher Ebene, die bei terroristischen Anschlägen besonders tangiert ist, kommt die Problematik der Systemlogiken sämtlicher beteiligter gesellschaftlicher Funktionssysteme hinzu, die auf die Betreuung der Betroffenen ihre eigene Systemlogik und dominante Kodierung anwenden. Diese Systeme greifen die psychosozialen Bedürfnisse der Betroffenen lediglich partiell auf. Die medizinische Versorgung konzentriert sich zunächst auf lebenserhaltende Maßnahmen, für die Polizei sind Betroffene Zeugen/Zeuginnen und Informationsträger/innen, für das politische System stellvertretende Opfer und für die Medien Nachrichtenobjekte.Footnote 1 Das Rechtssystem und die damit verbundene Opferhilfe referenziert Betroffene als in ihren Rechtsgütern verletzte Menschen, als Zeugen/Zeuginnen im Strafverfahren, aber auch Träger/innen von strafprozessualen Opferrechten und Ansprüchen auf finanzielle Entschädigungsleistungen wie Härteleistungen des Bundes oder nach OEG. Nachstehende Untersuchung muss ebenfalls dieser Einschränkung folgen und bezieht sich auf die Systemlogik des Ermittlungs- und Strafverfahrens.

Im Folgenden gilt es zu prüfen, welche Rechte ein von einem Anschlagsgeschehen betroffener Verletzter i. S. § 373b StPO für sich in Anspruch nehmen könnte. Dabei beziehen sich diverse Rechte auf die Feststellung des Status als vulnerables Opfer, sodass zu klären ist, ob der genannte Personenkreis hierunter subsumiert werden könnte und folglich als besonders schutzbedürftig einzuordnen ist.

6.2 Verletzte i. S. § 373b StPO

Wie in den Kapiteln 2 und 4 thematisiert, wurde durch die Schaffung des § 373b StPO in Umsetzung der EU-Opferschutzrichtlinie eine Legaldefinition für den Begriff des Verletzten eingeführt. Für Verletzte sollen u. a. die Rechte und Schutzansprüche nach § 48 a, § 68a Abs. 2, § 69 Abs. 2 S. 2, § 111 l, § 111nFootnote 2, § 155a, § 158, § 171, § 172, § 255a Abs. 2, § 268 Abs. 2 S. 3 und §§ 406d bis 406k StPO Anwendung finden.Footnote 3

Im Falle von Anschlagstaten mit einer Vielzahl getöteter Menschen ist insbesondere die Gleichstellung der Hinterbliebenen als Verletzte relevant.Footnote 4 Die neue Vorschrift greift dabei die Rechtswirklichkeit durch Berücksichtigung von Lebensgefährten/Lebensgefährtinnen auf und fasst den Kreis der Verletzten weit, da alle Angehörigen in gerader Linie – von Urgroßeltern zu Urenkel/innen – gemeint sein sollen. Die Geschwister der Getöteten zählen ebenfalls zum Kreis der Verletzten hinzu.Footnote 5

Unter Lebensgefährten/Lebensgefährtinnen werden Personen verstanden, die mit dem Opfer in einem Haushalt zusammengelebt haben, ohne in Lebenspartnerschaft verbunden oder verheiratet gewesen zu sein. Der Gesetzgeber geht hier über die Anforderungen der EU-OpferschutzrichtlinieFootnote 6 zulässigerweise hinaus und hat das dortige Kriterium der „intimen Lebensgemeinschaft“ nicht übernommen. Begründet wird die Erweiterung mit der Schutzbedürftigkeit der Betroffenen, da Nachfragen der Behörden zur Ausgestaltung der Beziehung kurz nach der Todesnachricht als unangemessen und seelisch belastend empfunden werden könnten. Zudem wird der Ermittlungsaufwand als zu hoch angenommen und auf den geringen Anteil von 0,1 % der Straftaten gegen das Leben in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) hingewiesen.Footnote 7 Von dem weiteren Kriterium der Opferschutzrichtlinie, das eine Schädigung durch den Tod von Angehörigen voraussetzt, wurde abgesehen, da eine seelische Beeinträchtigung durch die Tötung einer nahestehenden Person in der Regel naheliege und folglich unterstellt werden könne.Footnote 8 Soweit in Vorschriften der StPO die Rechte von Hinterbliebenen bereits erfasst sind, sollen diese unberührt bleiben, was insbesondere hinsichtlich der Vorschriften der §§ 395 und 397a StPO gelten solle.Footnote 9 Der Gesetzgeber hat Stiefkinder und -eltern nicht erwähnt, diese könnten jedoch unter Lebensgefährten/Lebensgefährtinnen subsumiert werden, sofern sie im gemeinsamen Haushalt leben. Zudem hat der Gesetzgeber in seiner Definition der Verletzten die gesellschaftliche Lebenswirklichkeit im 21. Jahrhundert berücksichtigt: Dazu zählen auch „Patchwork-Familien“. Es sind schließlich keine Gründe ersichtlich, diesem Personenkreis angesichts zu schützender familienähnlicher Lebensverhältnisse die Verletztenrechte nicht zuzugestehen.Footnote 10

Die Vorschrift enthält das Kriterium der unmittelbaren Betroffenheit durch die Tat und die Verletzung eines Individualrechtsgutes oder eines unmittelbaren sonstigenFootnote 11 Schadens.Footnote 12 Als strafrechtlich geschützte Rechtsgüter werden Leib, Leben, Freiheit, sexuelle Selbstbestimmung und Vermögen angeführt.Footnote 13 Somit unterscheidet sich der rechtliche Verletztenbegriff von dem in Abschnitt 5.2 dargestellten Begriff der psychischen Betroffenheit bei einem Anschlagsgeschehen, auf den die psychotraumatologische Systemlogik hinsichtlich der Bedürfnisse und erforderlichen Reaktionen Anwendung findet. Ersthelfende, Rettungs- und Einsatzkräfte und die Bevölkerung sind unter Umständen zwar betroffen, jedoch lediglich mittelbar, wenn sie bspw. durch die Versorgung von Verletzten, den Anblick von getöteten Menschen oder den Medienkonsum einer ggf. gefilmten TatFootnote 14 posttraumatische Folgestörungen erleiden.Footnote 15 Auch dieser Personenkreis mag ein Informationsbedürfnis hinsichtlich der Ermittlungen haben, als mittelbar Betroffene stehen ihnen jedoch diesbezüglich keine strafprozessualen Rechte zu.

Zu den geschützten Rechtsgütern zählt außerdem das Vermögen. Verletzte im Sinne der neuen Vorschrift und damit Berechtigte der Opferschutzvorschriften können daher z. B. Ladeneigentümer/innen oder Kioskpächter/innen sein, wenn das Geschäftslokal durch den Anschlag beschädigt wurde.Footnote 16

6.3 Anschlagsopfer: vulnerable Opfer im Sinne von § 48a Abs. 1 StPO?

Die Vorschrift des § 48a Abs. 1 StPO gilt als zentrale Norm für die Prüfung der besonderen Schutzbedürftigkeit eines Verletzten. Generell ist festzuhalten, dass die Vorschrift deklaratorische Wirkung hat und somit kein eigenes Opferschutzrecht begründet.Footnote 17 Ihrer Einführung, zunächst in die Vorgängervorschrift des § 48 Abs. 3 StPO, liegen Artikel 18 und 22 der EU-Opferschutzrichtlinie zugrunde.Footnote 18 Wird eine Schutzbedürftigkeit bejaht, leiten sich daraus etwaige Schutzmaßnahmen ab. Diese sind exemplarisch in § 48a Abs. 1 S. 2 StPO benannt, wobei die Aufzählung nicht abschließend ist („insbesondere“). Nach § 48a Abs. 1 S. 3 StPO soll die Einschätzung der Schutzbedürftigkeit möglichst in einem frühen Verfahrensstadium erfolgen und richtet sich nach den persönlichen Verhältnissen sowie der Art und den Umständen der Straftat, infolgedessen erfolgt die Prüfung individualisiert. Opfergruppen sind daher in der Vorschrift – bis auf minderjährige Personen – nicht genannt. Unter Art und Umstände der Straftat lässt sich in europarechtskonformer Auslegung eine terroristische Straftat subsumieren. Demnach betont die Mitteilung der Kommission zur Stärke der Opferrechte in der EU vom 18.05.2011Footnote 19 die Öffentlichkeitswirksamkeit einer terroristischen Tat und den gesteigerten Bedarf nach sozialer Anerkennung. Daneben bezeichnet Artikel 22 Abs. 3 der Opferschutzrichtlinie explizit Opfer von Terrorismus als „gebührend zu berücksichtigenFootnote 20. Ergänzend belegen lassen sich diese Einschätzungen aus den Erkenntnissen aus Kapitel 5, wonach sich Opfer eines terroristischen Anschlags von anderen Straftatenopfern unterscheiden, weil sie ein erhöhtes Risiko für eine Traumafolgestörung tragen, sie medialer Aufmerksamkeit ausgesetzt sind und sich mit gesellschaftlichen und politischen Instrumentalisierungen konfrontiert sehen. Diese Faktoren resultieren in lang andauernden Unterstützungs- und Erholungsprozessen, sodass eine Besonderheit in Art und Umständen der Straftat zu bejahen ist. Dies gilt sowohl für überlebende Verletzte als auch für Hinterbliebene, da der Gesetzgeber davon ausgeht, dass Hinterbliebene aufgrund des schwerwiegenden Verlusts den gleichen Grad der Schutzbedürftigkeit aufweisen wie die durch die Tat Verletzten selbst. Das Leben sei ein besonders wertvolles Rechtsgut und die Auswirkungen des Verlustes auf die Familienangehörigen erheblich. Zudem seien die Hinterbliebenen die einzigen Personen, die im Verfahren stellvertretend für das Tatopfer auftreten können.Footnote 21

Für Überlebende und Hinterbliebene einer Anschlags, die Verletzte i. S. d. § 373b StPO sind, kann daher die besondere Schutzbedürftigkeit angenommen und damit die Anwendung der entsprechenden Vorschriften bejaht werden. Diese Vorgehensweise entspricht dem in Kapitel 2 festgestellten allgemeinen Bedürfnis von Opfern im Strafverfahren, frühzeitig als solches anerkannt zu werden und vom Druck, die Opferstellung ‚nachweisen‘ zu müssen, entlastet zu sein.Footnote 22 Opfer terroristischer Anschläge haben darüber hinaus das Interesse, als Opfer einer politischen Straftat anerkannt zu werden, was somit ebenfalls eine Entsprechung findet. Dabei ist anzumerken, dass es für Anschlagsopfer im Regelfall unkompliziert sein dürfte, frühzeitig als Opfer anerkannt zu werden, da sie die Opferstellung zu dem Zeitpunkt als legitimiert ansehen können, an dem sie auf den von der Polizei geführten sog. Betroffenenlisten eines Anschlags aufgeführt sind. Der Opferstatus unterliegt daher in der Regel nicht der viktimisierungsbehafteten Infragestellung der Rolle als Opfer. Gleichzeitig reduziert sich die Bedeutung der Rolle von Überlebenden als Zeuge/Zeugin, da anlässlich eines Anschlags im öffentlichen Raum oft weitere Beweismittel, wie Videoaufnahmen durch Überwachungskameras, Aufnahmen des Täters/der Täterin oder private Smartphone-Aufnahmen, vorliegen. Unter den Gesichtspunkten der frühzeitigen und unkomplizierten Legitimation der Opferstellung, der geringeren Bedeutung der Zeugenaussagen für die Wahrheitsermittlung und der Anerkennung einer besonderen Schutzbedürftigkeit i. S. v. § 48a Abs. 1 StPO minimieren sich für Anschlagsopfer folglich potenzielle Belastungsfaktoren des Strafverfahrens.

Da Gesetzgeber hat – bis auf minderjährige Personen – auf die Aufzählung von Opfergruppen verzichtet, wobei bei Minderjährigen nach § 48a Abs. 2 StPO als Besonderheit ein Beschleunigungsgebot gelten soll.Footnote 23 Dennoch wird ein Handlungsbedarf hinsichtlich der Normierung von weiteren Opfergruppen nicht befürwortet, da die Kriterien zur Definition eines vulnerablen Opfers ausreichend sind und entsprechenden Spielraum lassen, einer individuellen Situation eines/einer Verletzten gerecht zu werden. Die Benennung einzelner Opfergruppen mag darüber hinaus die Gefahr bergen, Formen von Opferhierarchien zu konstituieren und Raum für vorurteilsgeprägte Wertungen zu eröffnen. Ist es für ein Opfer einerseits hilfreich, frühzeitig in der besonderen Schutzbedürftigkeit anerkannt zu werden, könnte andererseits mit einer gesetzlichen Normierung die individuelle Resilienz als zu gering eingeschätzt werden.Footnote 24 Dritte Personen könnten auf die vermeintliche Besserstellung mit Abwehr und negativen Reaktionen antworten, was eine Sekundärviktimisierung evozieren könnteFootnote 25. Kinder als einzige Opfergruppe gesetzlich als besonders schutzbedürftig anzusehen, dürfte dagegen gesellschaftlicher Konsens sein. Zudem könnte eine gesetzliche Definition von Opfergruppen einen Vergleich und eine Bewertung der Schwere von Leid implizieren, was ebenfalls Viktimisierungspotenzial enthält. Gesetzgeberisches Handeln zur Schaffung von Opferkategorien in der Vorschrift des § 48a StPO kann und sollte daher unterbleiben.

6.4 Allgemeine Rechte

Nachfolgend werden exemplarisch diverse Vorschriften erläutert, die für Anschlagsopfer – gemessen an ihren Bedürfnissen – von Bedeutung sein könnten. Sofern nicht kenntlich gemacht, erfasst der Begriff Opfer/Verletzte die beiden Opfergruppen der Familienangehörigen der Getöteten und der überlebenden Verletzten.

6.4.1 Schutzmaßnahmen nach § 48a Abs. 1 S. 2 StPO

Zunächst gilt es, die Vorschriften zu untersuchen, auf die § 48a StPO verweist:

Wenn gemäß § 48a Abs. 1 Nr. 1 StPO die dringende Gefahr eines schwerwiegenden Nachteils für das Wohl des Zeugen besteht, können Maßnahmen nach § 168e StPO (Vernehmung von Zeugen getrennt von Anwesenheitsberechtigten) oder § 247a StPO (Anordnung einer audiovisuellen Vernehmung von Zeugen) realisiert werden. Nach § 48a Abs. 1 Nr. 2 StPO soll geprüft werden, ob der Ausschluss der Öffentlichkeit gemäß § 171b GVG notwendig ist, während nach § 48a Abs. 1 Nr. 3 StPO Fragen, die zum persönlichen Lebensbereich gehören, nach § 68 a Abs. 1 StPO nur gestellt werden sollen, wenn sie unerlässlich sind.

Die Vorschrift des § 68a StPO gilt für alle Zeugen und schränkt das Fragerecht der Prozessbeteiligten im Hinblick auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Zeugen ein. Fragen, die den guten Ruf einer Person anzweifeln oder zum persönlichen Lebensbereich gehören, dürfen nur gestellt werden, wenn sie zur Erforschung der Wahrheit vonnöten sind. Nach Vorstrafen soll gemäß § 68 a Abs. 2 StPO nur zur Glaubwürdigkeitsbeurteilung gefragt werden. Bedeutung hat diese Vorschrift überwiegend im Bereich der Sexualstraftaten.Footnote 26 Im Falle von Zeugen/Zeuginnen, die über Anschläge aussagen, sind kaum Konstellationen vorstellbar, die entsprechende Fragen aus der Privatsphäre notwendig machen könnten. Aus ähnlichen Gründen wird ein Ausschluss der Öffentlichkeit i. d. R. nicht in Betracht kommen, da § 171b GVG ebenfalls auf Wahrung sensibler Informationen aus dem Bereich der Privatsphäre abzielt.

Bei Anschlagsopfern ergeben sich keine Anhaltspunkte, die die Anwendung von § 168e StPO nahelegen und die damit verbundene Einschränkung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes rechtfertigen könnten. Gericht und Zeuge/Zeugin würden sich hier zur Vernehmung in einem gesonderten Raum aufhalten und die Vernehmung würde gemäß § 168e Abs. 1 S. 2 StPO in Bild und Ton zu den übrigen Anwesenheitsberechtigten übertragen werden. Ein schwerwiegender Nachteil für das Wohl der zu Vernehmenden ist nicht anzunehmen, da diese und der/die Angeklagte im Regelfall in keiner Beziehung zueinander oder in keinem sonstigen Näheverhältnis stehen und keine Beeinträchtigung zu erwarten ist, wenn sich die Verfahrensbeteiligten in einem Raum aufhalten.

Bei Anschlagsopfern relevant werden kann die Vorschrift des § 247a Abs. 1 StPO. Es handelt sich hier um eine Ermessensentscheidung des Gerichts, die audiovisuelle Vernehmung eines Zeugen anzuordnen, wenn eine dringende Gefahr eines schwerwiegenden Nachteils für dessen Wohl besteht. Auch in diesem Kontext erfolgt die Einschränkung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes, wenn sich ein Zeuge/eine Zeugin an einem anderen Ort aufhält und die Vernehmung per Video in den Sitzungssaal übertragen wird. Die Verfahrensbeteiligten sehen dabei den Zeugen/die Zeugin und möglicherweise anwesende Personen wie die psychosoziale Prozessbegleitung und können ihre prozessualen Befugnisse wie das Fragerecht uneingeschränkt ausüben. Für die Zeugen/Zeuginnen muss ebenfalls ermöglicht werden, den Sitzungssaal und die fragende Person direkt zu sehen.Footnote 27 Hinsichtlich der Voraussetzungen für die audiovisuelle Vernehmung verweist § 247a Abs. 1 S. 1 Hs. 2 StPO auf § 251 Abs. 2 StPO. Eine Anwendbarkeit ist dann gegeben, wenn der körperlichen Anwesenheit des Zeugen ein Hindernis entgegensteht (§ 251 Abs. 2 Nr. 1 StPO), die Anreise unzumutbar ist (§ 251 Abs. 2 Nr. 2 StPO) oder Staatsanwaltschaft, Verteidigung und Angeklagte damit einverstanden sind (§ 251 Abs. 2 Nr. 3 StPO). Daraus folgt, dass bspw. Vernehmungen von Zeugen aus dem Ausland unter bestimmten Voraussetzungen ebenfalls zulässig sind.Footnote 28 Relevant werden kann diese Vorschrift bei Anschlägen, da sich die Taten oft an touristischen Orten oder Reiseknotenpunkten ereignen und die Betroffenen somit in ihre Heimatorte zurückreisen. Die Belastung einer Anreise zur Gerichtsverhandlung am Tatort mag nicht im Aufeinandertreffen mit der Person des/der Angeklagten liegen, sondern könnte vielmehr mit Schwierigkeiten der Anreise aufgrund erheblicher psychischer und physischer Tatfolgen und mit belastenden Erinnerungen an den Tatort verknüpft sein. Den Ort des Anschlags respektive die Stadt nicht mehr aufsuchen zu können, wäre aus Opferperspektive durchaus nachvollziehbar. Entsprechende Fallkonstellationen könnten somit das Hindernis oder die geforderte Unzumutbarkeit der Anreise begründen. Eine videogestützte Vernehmung von Zeugen/Zeuginnen am Gericht des Wohnortes könnte somit Opferbedürfnissen entsprechen. Da die Vernehmung in der vorstehend genannten Form durchgeführt wird, sind allenfalls medientypische Fehlerquellen oder Verzerrungen durch die elektronisch vermittelte Vernehmung zu beachten.Footnote 29 Eine derartige Fallkonstellation ist den Medien hinsichtlich der islamistisch motivierten Straftat in Dresden zu entnehmen. Der überlebende Zeuge wurde in diesem Fall aus dem Landgericht an seinem Wohnort Köln in den Gerichtssaal nach Dresden ‚übertragen‘Footnote 30.

Vorstehend wurden die Vorschriften erläutert, auf die § 48 a StPO bei Annahme der besonderen Schutzbedürftigkeit explizit hinweist. Nachfolgend soll ein Schlaglicht auf die Vorschriften geworfen werden, die der Gesetzgeber bei Schaffung des § 373b StPO in Anlehnung an die Opferschutzrichtlinie im Blick hatte.Footnote 31

6.4.2 Ausgewählte Informations- und Partizipationsrechte

Nach § 158 Abs. 1 S. 3 StPO ist dem/der Verletzten auf Antrag der Eingang der Strafanzeige zu bestätigen und nach § 158 Abs. 1 S. 4 StPO sollen die Angaben des Verletzten zu Tatzeit, Tatort und angezeigter Tat kurz zusammengefasst werden. Dies scheint für Anschlagsopfer entbehrlich, da in diesen Fällen das Ermittlungsverfahren von Amts wegen eingeleitet werden wird. Die Legitimation, Betroffener eines bestimmten Geschehens zu sein, die gegenüber Leistungserbringenden wie der Versorgungsverwaltung nach OEG nachzuweisen ist, erfolgt in diesen Fällen nicht über die Vorlage einer Bestätigung der Strafanzeige. Aufgrund der öffentlichen Bekanntheit des Verfahrens genügt in der Regel der Hinweis auf das Aktenzeichen des Verfahrens und ggf. die Einwilligung in die Beiziehung der Ermittlungsakten. Für Anschlagsopfer dürfte insoweit kein Informationsbedarf auf Grundlage dieser Vorschrift vorliegen.

Relevant für das Informations- und Partizipationsbedürfnis dürften wiederum die Vorschriften §§ 171, 172 StPO sein. Stellt die Staatsanwaltschaft das Verfahren gemäß § 170 Abs. 2 StPO ein, so hat sie dem Verletzten gemäß §§ 171 Abs. 1 S. 2 und 3 StPO i. V. m. § 187 Abs. 2 GVG einen begründeten Bescheid zu erteilen, diesen ggf. in die Muttersprache des Verletzten zu übersetzen und über die Anfechtungsmöglichkeit gemäß § 172 StPO zu belehren. Bei Anschlagsgeschehen ist eine Beschwerde in den Konstellationen denkbar, wenn sich ein Tatverdacht gegenüber Mitbeschuldigten nicht bestätigt oder ein Haupttäter/eine Haupttäterin tot ist und sich nach Durchführung der Ermittlungen keine ausreichenden Anhaltspunkte für die Beteiligung weiterer Personen an der Tat ergeben, jedoch die Verletzten anderer Ansicht sind.

Sollte tatsächlich auf Beschwerde hin eine Anklageerhebung erfolgen, was bei umfangreich ermittelten Anschlagsgeschehen eher unwahrscheinlich sein dürfte, eröffnet sich für diejenigen Hinterbliebenen, die nicht zu dem nach § 395 Abs. 2 Z. 1 StPO berechtigten Personenkreis gehören, nach § 395 Abs. 2 Z. 2 StPO die Befugnis, sich der Nebenklage anzuschließen. Dies gilt bspw. für Lebensgefährten/Lebensgefährtinnen von Getöteten, die der Gesetzgeber zwar in den Kreis der Verletzten aufgenommen, jedoch bei den Nebenklageberechtigten bewusst nicht berücksichtigt hat.Footnote 32

Diese Vorschriften tragen durch Erteilung eines begründeten Bescheids, ggf. in die zutreffende Sprache übersetzt, dem Informationsbedürfnis Rechnung. Ob die Informationen verstanden werden, ist mittels einer schriftlichen Übersendung nicht sicherzustellen. Das Ermittlungsergebnis kann bei einem komplexen Anschlag und rechtlichen Wertungen zum fehlenden hinreichenden Tatverdacht aus Sicht fachfremder Personen schwer nachzuvollziehen sein.Footnote 33 Hier wären flankierende Maßnahmen, wie anwaltlicher Beistand oder ein Gespräch mit der Staatsanwaltschaft, empfehlenswert. Das Rechtsmittel, auch wenn es in vorliegender Fallkonstellation eher wenig Erfolgsaussichten haben dürfte, ist zumindest Ausdruck des Partizipationsbedürfnisses. Wie Sautner in ihrer Studie festgestellt hat, kann bereits die Möglichkeit, „mehr Partizipationsrechte zu haben als diese tatsächlich auszuübenFootnote 34“ für die Opfer die Bewältigungsfunktion der Selbststabilisierung durch einen status activus in Gang setzen.

Als weitere Vorschrift wird vollständigkeitshalber § 255a Abs. 2 StPO erwähnt, der die Vorführung einer richterlichen Videovernehmung anstelle einer Vernehmung im Hauptverhandlungstermin für minderjährige Verletzte ermöglicht. Bei der ebenfalls ergänzend zu nennenden Vorschrift des § 268 Abs. 2 S. 3 StPO zur Urteilsverkündung handelt es sich um eine Vorschrift zum Schutz nicht nur von Verletzten, sondern auch von Zeugen und Prozessbeteiligten. Demzufolge soll das Gericht unter dem Schutzgedanken prüfen, ob die Urteilsgründe verlesen oder die wesentlichen Inhalte mündlich mitgeteilt werden. Dabei liegt ein Vorteil in der Option für das Gericht, sich situativ auf die Belange der Verfahrensbeteiligten einstellen zu können.

Im vierten Abschnitt der StPO sind unter den §§ 406d bis 406k StPO die „sonstigen Befugnisse des Verletzten“ erfasst. Nach § 406d StPO kann der Verletzte auf Antrag bestimmte Auskünfte zum Verfahrensstand erhalten wie Zeit und Ort des Hauptverhandlungstermins, den Ausgang des gerichtlichen Verfahrens, ausgesprochene Kontaktverbote oder die Flucht eines Verurteilten aus der Haft. Über diese Informationsrechte hat eine Belehrung zu erfolgen (§ 406d Abs. 3 StPO). Im Falle der Auskünfte nach § 406d Abs. 2 StPO, wie Informationen über Vollzugslockerungen und Hafturlaub, hat eine Abwägung zwischen den berechtigten Interessen des Verletzten und den schutzwürdigen Interessen des Verurteilten zu erfolgen.

Die Vorschrift § 406 f. StPO dient wiederum den Schutzinteressen der Verletzten und eröffnet für diese die Option, sich bereits während des Ermittlungsverfahrens anwaltlich vertreten und bei Vernehmungen anwaltlich begleiten zu lassen.Footnote 35 Nach § 406 f. Abs. 2 StPO besteht darüber hinaus die Möglichkeit, eine private Vertrauensperson zur Vernehmung mitzubringen. Entstehende Kosten tragen die Verletzten selbst.Footnote 36

Der § 406i StPO enthält wiederum die Verpflichtung, Verletzte möglichst früh und in schriftlicher Form sowie ggf. in eine dem Verletzten verständliche Sprache übersetzt, über die Befugnisse im Strafverfahren zu unterrichten. Hier wird insbesondere auf die Möglichkeiten der Nebenklage und des Adhäsionsverfahrens verwiesen. Der § 406i Abs. 2 StPO bezieht sich außerdem auf die besonders schutzbedürftigen Verletzten: diese Personengruppe soll auf ihre besonderen Schutzrechte nach § 48a StPO ausdrücklich hingewiesen werden. Nach § 406j StPO sollen ferner die Befugnisse außerhalb des Strafverfahrens erwähnt werden. Das sind z. B. Anordnungen nach GwSchG, Ansprüche nach OEG oder die Inanspruchnahme von Opferhilfeeinrichtungen. Der § 406k StPO weist darauf hin, dass zu den vorstehenden Angeboten konkrete Kontaktmöglichkeiten zu nennen sind, während § 406 l StPO klarstellt, dass die vorstehenden Vorschriften grundsätzlich auch für Angehörige und Erben von Verletzten gelten sollen. Es handelt sich dabei um Soll-Vorschriften; ein Verstoß bleibt ohne Folgen. Kommt folglich für überlebende Verletzte oder Hinterbliebene eines Anschlags die Vernehmung als Zeuge/Zeugin im Hauptverhandlungstermin in Betracht, wäre bspw. nach § 406i Abs. 2 StPO – auch ohne Antrag – auf die vorstehend erörterte Möglichkeit der Videovernehmung nach § 247a StPO hinzuweisen.

Die Option, über den Verfahrensstand informiert zu werden, entspricht dem Bedürfnis der Verletzten, Informationen zu erhalten und damit eine Form der durch die Straftat verlorenen Kontrolle und das persönliche Gleichgewicht wiederzuerlangen.Footnote 37 Im Gesetz sind jedoch nur wenige Auskünfte vorgesehen. Fraglich ist, ob gesetzgeberischer Handlungsbedarf für weitere Informationen gegeben sein könnte.

6.4.3 Von § 406 d StPO zu MyVictim Case?

In den Niederlanden steht Opfern einer Straftat seit dem 01.02.2020 ein Serviceangebot (MyVictim Case) zu, bei dem sie den Verlauf und den aktuellen Status ihres Falls auf einem zentralen Informationsportal im Internet aufrufen können.Footnote 38 Dazu bedarf es persönlicher Zugangsdaten, die online angefordert werden können. Nach dem Einloggen mittels DigiD lassen sich die aktuellen Informationen zu dem Fall sowie die Korrespondenz mit den beteiligten Organisationen (Polizei, Staatsanwaltschaft, Entschädigungsfonds für Gewaltverbrechen, Opferhilfe Niederlande, zentrale gerichtliche Inkassostelle) und allgemeine Informationen über die Rechte als Opfer sowie Hilfsangebote und Dienstleistungen der beteiligten Stellen aufrufen. Darüber hinaus ermöglicht die Plattform eine unmittelbare Kontaktaufnahme zu jenen Stellen, die die Informationen dort hinterlegt haben.

Ohne auf die möglicherweise bestehende Datenschutzproblematik und die fehlende Umsetzung der elektronischen Akte bei deutschen Staatsanwaltschaften einzugehen, bestehen Bedenken hinsichtlich einer ähnlichen Umsetzung in Deutschland. Es ist fraglich, ob durch ein digitales Informationsportal tatsächlich Opferbedürfnissen entsprochen wird. Zwar ist die Informationserteilung bedeutsam, der Inhalt der abgerufenen Informationen sollte jedoch auch verstanden werden. Es könnte in diesem Kontext eingewandt werden, dass den Opfern schwerer Gewalttaten in den Niederlanden Ansprechpartner/innen bei der Polizei und bei den StaatsanwaltschaftenFootnote 39 zur Verfügung stehen, die die Bedürfnisse der Kommunikation und Interaktion abdecken. Es fragt sich jedoch, welche Informationen Opfer tatsächlich benötigen, um das der Gesundheit förderliche Gefühl der Kontrolle zu erhalten. Bisher sind keine ausreichenden empirischen Untersuchungen hinsichtlich der Frage existent, wieviel und welche Arten von Informationen aus dem Ermittlungsverfahren hilfreich sein könnten. Infolgedessen ist vorstellbar, dass sich ein ‚Zuviel‘ an Information durch die Vielzahl oder die konstante Online-Zugriffsmöglichkeit kontraproduktiv auswirken könnte. Die tägliche Beschäftigung mit dem eigenen Fall in der digitalen Welt, ohne persönlichen Kontakt mit Fachpersonen, die dabei helfen, Informationen einzuordnen und zu bewerten, könnte für traumabelastete Menschen psychisch eher riskant sein und HilflosigkeitsgefühleFootnote 40 auslösen und damit eine Depressionsgefahr eher verstärken. Ferner fragt sich, was daraus folgen soll, wenn Opfer Unzufriedenheit mit ihrer Fallbearbeitung empfinden, z. B. die Bearbeitung als zu langsam wahrnehmen. Es kann nicht eingeschätzt werden, ob dies mit einem Risiko für einen erneuten Kontrollverlust einhergeht, wenn keine ‚Beschwerdemöglichkeit‘ besteht oder die Ressourcen der Strafverfolgungsbehörden für tägliche Anfragen über das Online-Portal nicht ausreichen. Die Verfahrensgerechtigkeitsforschung hat sich bis dato noch nicht damit auseinandergesetzt, welchen Einfluss eine digitale Interaktion auf das Empfinden von respektvoller Behandlung, der Bildung von sozialer Identität und der darauf beruhenden Verfahrensakzeptanz hat. Es darf allerdings bezweifelt werden, dass eine digitale Interaktion im vorliegenden Kontext eines straftatbedingten Machtungleichgewichtes die Wahrnehmung von Gerechtigkeit fördern könnte.

Die Auskünfte nach § 406d StPO sind eng gefasst. In einem ‚Großverfahren‘ kann es Monate bis Jahre dauern, bis die Ermittlungen abgeschlossen sind, Anklage erhoben ist und ein Urteil gesprochen wird. Ein Verletzter hört unter Umständen nur in Fällen der Zeugenladung von dem Verfahren, wenn kein Antrag nach § 406d StPO gestellt wurde. Begründete Erklärungen über sämtliche ProzessschritteFootnote 41 mögen zu weitgehend im Sinne des Opferbedürfnisses sein und zudem die Ressourcen der Strafverfolgungsbehörden übersteigen. Vorstellbar wäre jedoch, die Vorschrift des § 406d StPO, um die Möglichkeit einer schriftlichen Sachstandsnachricht in sechsmonatigen Abständen zu ergänzen. Die Informationen sollten dabei allgemein gehalten sein,Footnote 42 können dennoch dem Opfer signalisieren, nicht ‚vergessen‘ worden zu sein und bieten möglichst wenig Raum für Fehlinterpretationen. Auch diese Option sollte an eine Antragstellung geknüpft werden, da es Verletzte geben mag, die möglichst wenig an das Verfahren erinnert werden möchten. Anhaltspunkte für eine Einschränkung der Rechte der beschuldigten Person sind hierbei nicht erkennbar.

6.4.4 Psychosoziale Prozessbegleitung

Diese durch das dritte Opferrechtsreformgesetz zum 01.01.2017 eingeführte Vorschrift zählt zu den Beistandsrechten und soll eine Lücke zu der rechtlichen Betreuung und der privaten Betreuung durch eine Vertrauensperson schließen.Footnote 43 Der § 2 Abs. 1 PsychPbG stellt klar, dass es sich um eine nichtrechtliche Begleitung im Strafverfahren handelt. Durch besonders qualifizierte Personen sollen einem Opfer Informationen vermittelt, es in der Hauptverhandlung begleitet und somit eine Stabilisierung erreicht werden. Dabei sind die Prozessbegleiter/innen zur Neutralität verpflichtet. Die Vorschrift hat in der Literatur entsprechende Kritik erfahren, da unklare Abgrenzungen der rechtlichen von den sozialen Tätigkeitsfeldern sowie unzulässige Beeinflussungen der zu Betreuenden und damit eine Verfälschung von deren Zeugenaussage befürchtet wurden.Footnote 44 Diese Diskussion kann angesichts des Umfangs dieser Arbeit nicht vertieft werden. Es ist jedoch fraglich, ob die Einführung der psychosozialen Prozessbegleitung notwendig war und die Ziele nicht durch die bei Gericht angesiedelten professionellen Zeugenbetreuungen, die jahrzehntelange Erfahrung auf diesem Gebiet haben, hätten erreicht werden können. Die Vorschrift wurde allerdings drei Jahre nach dem Inkrafttreten evaluiert: Dem Bericht vom 02.02.2021 an den nationalen Normenkontrollrat ist zu entnehmen, dass eine Wirksamkeit für den Opferschutz – insbesondere bei schweren Gewalt- und Sexualstraftaten – bejaht wurde. Dennoch sind die Beiordnungszahlen hinter den Erwartungen zurückgeblieben, daher soll Öffentlichkeitsarbeit das Institut der psychosozialen Prozessbegleitung bekannter machen.Footnote 45

Überlebende Verletzte und Hinterbliebene von Anschlagsopfern haben einen Anspruch nach § 406g Abs. 1 S. 1 StPO auf psychosoziale Prozessbegleitung. Für die Kosten müssen sie selbst aufkommen. Im Falle einer Beiordnung wäre gemäß § 406g Abs. 3 S. 3 StPO Kostenfreiheit gegeben. Gemäß § 406g Abs. 3 S. 3 StPO können beide Opfergruppen, da sie von einer Straftat gegen das Leben betroffen sind, einen Antrag auf Beiordnung stellen und müssten hierzu eine besondere Schutzbedürftigkeit darlegen. Dies kann eine zusätzliche Belastung bedeuten. Hinsichtlich der Argumentation für die Schutzbedürftigkeit wird auf die Ausführungen zu § 48a StPO Bezug genommen. Zudem mag die finanzielle Belastung Betroffene von einer Inanspruchnahme abhalten, weil z. B. eine lange Arbeitsunfähigkeit aufgrund der körperlichen und seelischen Folgen besteht oder der/die Hauptverdiener/in der Familie getötet wurde. Eine Änderung der Vorschrift § 406g Abs. 3 S. 1 StPO auf sämtliche Fälle im Sinne des § 397a Abs. 1 StPO wäre daher begrüßenswert.

6.4.5 Akteneinsicht

Die Vorschrift § 406e StPO normiert ein Akteneinsichtsrecht und gehört zu den Informationsrechten. Dabei darf die rechtsanwaltliche Vertretung eines/einer Verletzten bei berechtigtem Interesse Einsicht in die Akte nehmen (§ 406e Abs. 1 S. 1 StPO); bei Nebenklageberechtigung muss kein berechtigtes Interesse nachgewiesen werden (§ 406e Abs. 1 S. 2 StPO). Eine Versagung ist möglich, wenn schutzwürdige Interessen des Beschuldigten oder anderer Personen überwiegen (§ 406e Abs. 2 S. 1 StPO) oder das Verfahren erheblich verzögert werden würde. Letzteres Argument gilt für Nebenklageberechtigte nur bis zum Abschluss der Ermittlungen, danach ist ihnen die Akte zugänglich zu machen, wenn schutzwürdige andere Interessen nicht vorliegen (§ 406e Abs. 1 S. 2 und 3 StPO). Unter denselben Voraussetzungen kann ein Verletzter ohne Anwalt/Anwältin die Akte unter Aufsicht einsehen oder Kopien aus der Akte erhalten (§ 406e Abs. 3 S. 1 und 2 StPO). In Rechtsprechung und Literatur wird umfassend diskutiert, ob sich durch die Kenntnis des Akteninhaltes die Aussage als Zeuge verfälscht und folglich die Wahrheitsermittlung erschwert wird.Footnote 46 Eine dahingehende generalisierte Annahme ist nicht vertretbar; Zeugen/Zeuginnen können sich ansonsten in der freien Entscheidung, ob Akteneinsicht erfolgen soll, beeinflusst fühlen.Footnote 47 Die Entscheidung, ob Akteneinsicht gewährt oder nach § 406 Abs. 2 S. 2 StPO wegen Gefährdung des Untersuchungszwecks versagt wird, ist daher individuell zu treffen. Die aussagepsychologische Forschung beschreibt den Effekt, der durch den Erhalt von nachträglichen Informationen zustande kommt, als Form der Quellenverwechslung. Demnach kann ein Mensch nach mehreren Interaktionen nicht mehr sicher zuordnen, welche Informationen auf eigener Wahrnehmung beruhen und welche aus anderen Quellen stammen. Weitere Quellen können Gespräche mit anderen Betroffenen oder Therapeuten/Therapeutinnen und die Medienberichterstattung sein.Footnote 48 Die Aussage von Zeugen/Zeuginnen im Ermittlungsverfahren sollte daher möglichst frühzeitig erfolgen, wobei Akteneinsicht vor diesem Zeitpunkt folglich nicht gewährt werden sollte. Als Kriterium für eine nachfolgende Akteneinsicht gilt es, die Bedeutung der Aussage für die Wahrheitsermittlung im Verfahren abzuwägen.Footnote 49 Dabei hat eine Aussage-gegen-Aussage-Konstellation die stärkste Bedeutung. Hinsichtlich eines Anschlags steht im Regelfall eine Vielzahl von Beweismitteln zur VerfügungFootnote 50. Nachinformationseffekte dürften ohnehin hoch sein, aufgrund der medialen Berichterstattung über einen Anschlag und der Inanspruchnahme von seelsorgerischer, therapeutischer oder privater Hilfe. Da bei Verletzten eines Anschlags die Aussage einen geringeren Bedeutungsgehalt für die Wahrheitsermittlung hat und Quellenverwechslungen in Erwägung zu ziehen sind, ergeben sich keine durchgreifenden Gründe der Verweigerung einer Akteneinsicht nach erfolgter Erstvernehmung. Gleichwohl bestehen Bedenken, ob die Vielzahl der in der Ermittlungsakte enthaltenen Informationen das Opferbedürfnis nach Information übersteigen und ggf. sogar sekundärtraumatisierende Effekte auslösen könnten. Nimmt der/die Verletzte nicht persönlich Akteneinsicht, wird ihm/ihr die Akte durch den Anwalt/die Anwältin zur Verfügung gestellt. Welche Informationen zu welchem Zweck eine Bedeutung für Verletzte haben könnten, ist bisher nicht bekannt. Indes ist die Informationsgewinnung zur Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen vorstellbar, gleichwohl wird bei Anschlagsgeschehen in einigen dieser Fälle der Verweis auf das Ermittlungsverfahren an Leistungserbringende, wie Unfallkassen oder Versorgungsämter, ausreichen, da z. B. Körperschaften des öffentlichen Rechts gleichermaßen zur Akteneinsicht berechtigt sind. Demgegenüber dürfte das ungefilterte Lesen von Obduktionsberichten, Auffindesituationen und Angaben darüber, wie lange eine nahestehende Person nach der Verletzung bis zum Versterben gelitten hat, dem seelischen Befinden in der Regel abträglich sein. Zu bedenken ist ebenfalls, dass der Zweck der Vorschrift in der Information der betroffenen Personen liegt und nicht die Weitergabe an die Medien oder sonstige dritte Personen umfasst. In der Gewährung von umfassender Akteneinsicht liegt somit das Risiko, dass schützenswerte Informationen über eine Vielzahl von Personen einem unberechtigten Empfängerkreis zur Kenntnis gelangen könnten.Footnote 51 Daher ist zu überlegen, ob den Informationsbedürfnissen der Opfer nicht mit anderen Maßnahmen genüge getan werden kann, so durch eine inhaltliche Erweiterung von § 406d StPO oder durch eine Form von begleiteter Akteneinsicht vor Ort.Footnote 52

6.4.6 Nebenklage

Die Nebenklage nach § 395 ff. StPO eröffnet den Berechtigten umfassende Möglichkeiten der Beteiligung am Strafverfahren, die sich aus § 397 Abs. 1 StPO ergeben. Dies beinhaltet die Anwesenheit in der gesamten Hauptverhandlung, die Befugnis, Richter/Richterinnen oder Sachverständige abzulehnen, das Fragerecht, das Recht zur Beanstandung von Anordnungen des/der Vorsitzenden und von Fragen, das Beweisantragsrecht und das Recht, Erklärungen abzugeben. Ebenso ist eine Vertretung durch einen Rechtsanwalt/eine Rechtsanwältin möglich, der/die ebenfalls zur Anwesenheit in der Hauptverhandlung berechtigt ist (§ 397 Abs. 2 StPO). Zur Nebenklage berechtigt ist der in § 395 Abs. 1 StPO benannte Personenkreis und damit gemäß § 395 Abs. 1 Z. 2 StPO auch überlebende Verletzte, zu deren Nachteil ein versuchtes Delikt gegen das Leben nach § 211, 212 StGB begangen wurde. Über § 395 Abs. 2 StPO gilt dies auch für Kinder, Eltern, Geschwister, Ehegatten oder Lebenspartner eines durch eine rechtwidrige Tat Getöteten. Gemäß § 397a Abs. 1 S. 2 StPO kann eine Beiordnung für eine anwaltliche Vertretung erfolgen, sodass kein Kostenrisiko für die Nebenkläger entsteht. Eine gemeinschaftliche Nebenklagevertretung ist gemäß § 397b Abs. 1 StPO zulässig. Der Gesetzgeber hat bewusst den Verletztenkreis nach § 373b StPO nicht auf den vorgenannten Personenkreis erstrecktFootnote 53, sodass ein im gemeinsamen Haushalt lebender Lebensgefährte, Unterhaltsberechtigte und Teile der Verwandte in gerader Linie, wie Großeltern und Enkelkinder, nicht zur Nebenklage berechtigt sind. Gleiches gilt für Stiefeltern und -kinder. Dies bedeutet, dass für diese Personengruppe die Verletztenrechte „an der Saaltür des Gerichts mit Beginn der Hauptverhandlung endenFootnote 54. Sie sind infolgedessen lediglich Zeuge/Zeugin, ggf. Zuschauer/in oder Adhäsionsantragsteller/in oder in einer theoretischen Fallkonstellation über ein Klageerzwingungsverfahren gemäß § 395 Abs. 2 Nr. 2 StPO mit der Nebenklageberechtigung versehen.

Es kann nicht nachvollzogen werden, weshalb der Gesetzgeber mit dem erweiterten Verletztenbegriff die gesellschaftliche Lebenswirklichkeit berücksichtigt, eine Anwendung auf die Nebenklage jedoch ablehnt. Ähnlich zur Argumentation des Gesetzgebers bei der Einführung des Verletztenbegriffs könnte im Falle von Lebensgefährten/Lebensgefährtinnen mit der nicht erheblichen Anzahl von Straftaten gegen das Leben in Deutschland und somit einer überschaubaren Anzahl von zu erwartenden Fällen argumentiert werden. Ein weiteres Argument lässt sich daraus ableiten, dass die Regelung des § 395 Abs. 2 Nr. 1 StPO zeitlich älter als die Opferschutzrichtlinie der EU von 2012 ist, die eine „intime Lebensgemeinschaft“ zulässt. Folglich könnte bei europarechtskonformer Auslegung, zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen und der Einheitlichkeit der Rechtsordnung wegen im Einzelfall § 395 Abs. 2 Nr.1 StPO über den Wortlaut hinaus angewendet werden.Footnote 55 Als Argument für die Einheitlichkeit der Rechtsordnung kann das am 22.07.2017 in Kraft getretene Gesetz zur Einführung eines Anspruchs auf Hinterbliebenengeld herangezogen werden. Zur Anerkennung des seelischen Leids und der erlittenen Trauer durch eine fremdverursachte Tötung steht Hinterbliebenen demzufolge eine angemessene Entschädigung gegen eine/einen Verursacher/in zu. Dabei greift das Gesetz die Lebenswirklichkeit auf und stellt auf ein besonderes persönliches Näheverhältnis ab, das die Anspruchstellenden nachweisen müssen, wenn diese nicht zum direkten Kreis von Ehegatten, Lebenspartnern, Kindern oder Eltern gehören. Dazu muss die Beziehung eine Intensität aufweisen, wie sie bei der vorgenannten Gruppe üblich ist. Erfolgt dieser Nachweis, kann der Anspruch auch Lebensgefährten/Lebensgefährtinnen, Stief- und Pflegekindern und Verlobten zustehen.Footnote 56 Dennoch wäre eine entsprechende Ergänzung der Vorschrift des § 395 StPO um den Personenkreis der Verletzten i. S. des § 373b StPO begrüßenswert, um diesen Personen Rechtssicherheit zu geben, sie nicht zu benachteiligen und nicht zusätzlich mit einem Kostenrisiko zu belasten.

Die vorstehend befürwortete gesetzliche Erweiterung sollte folgerichtig auf die Vorschrift des § 406h StPO angewandt werden, die regelt, dass sich nebenklageberechtigte Verletzte bereits im Ermittlungsverfahren anwaltlich vertreten lassen können. Ein Kostenrisiko tragen nebenklageberechtigte Opfer von Anschlägen dabei nicht, da eine Beiordnung nach § 406h Abs. 3 Z. 1 i. V. m. § 397a StPO möglich ist. Dieses Recht besteht unabhängig von der Zulassung als Nebenkläger/in. Der anwaltliche Beistand ist berechtigt, an allen außerhalb der Hauptverhandlung stattfindenden Vernehmungen und am Augenschein teilzunehmen.Footnote 57 Konträr zu § 406 f. StPO dient § 406h StPO nicht nur dem Schutz von Verletzten, sondern hat auch partizipatorische Zwecke. Nach § 406h Abs. 2 S. 4 StPO ist der Rechtsanwalt/die Rechtsanwältin deshalb berechtigt, bei richterlichen Vernehmungen Erklärungen abzugeben oder die vernommene Person zu befragen. Anregungen zur Beweisermittlung oder Beweisanträge umfasst das Frage- und Erklärungsrecht allerdings nicht.Footnote 58 Darüber hinaus wäre neben einer Erstreckung des Kreises der Berechtigten auf die Verletzten nach § 373b StPO diskussionswürdig, ob das Beweisantragsrecht, das den nebenklagebefugten Verletzten ab der Hauptverhandlung zusteht, bereits in der Ermittlungsphase eingeräumt werden sollte. Wird ein Beweisantragsrecht in diesem Verfahrensstadium als zu weitgehend betrachtet, könnte alternativ ggf. die Befugnis, Beweiserhebungen anzuregen, dem Partizipationsbedarf Genüge tun.Footnote 59

Der Vorschrift des § 406h StPO kommt für Überlebende und Hinterbliebene eine entsprechende Bedeutung zu, wenn sie anwaltlichen Beistand im Ermittlungsverfahren benötigen. Denn auch wenn absehbar ist, dass wegen Tod der/des Beschuldigten keine Hauptverhandlung stattfinden wird, werden ggf. weitere Ermittlungen gegen etwaige Mitbeschuldigte geführt. Auf diese Weise erhalten Betroffene dennoch Schutz und Partizipation.

6.5 Äußerungsrechte zu den Tatfolgen – Victim Impact Statement?

Opfer haben das Bedürfnis, gehört zu werden („voice“). In Kapitel 3 wurde die Bedeutung der Anhörung im Kontext von wahrgenommener Verfahrensgerechtigkeit, dem Konzept von therapeutic justice und den damit verbundenen Erwartungen an eine ‚Heilung‘ des Opfers erörtert. Ungeachtet der Schwierigkeit, solche Effekte messen zu können und der differenzierten Einordnung in der Studie von Lens et al.Footnote 60 ist zu fragen, ob und welche Entsprechungen sich im deutschen Strafprozessrecht finden.

Zunächst eröffnet sich über § 46 Abs. 2 StGB die Möglichkeit, in der Zeugenvernehmung nach den Auswirkungen der Tat zu fragen. Dabei können die Folgen der Tat in die Strafzumessung einfließen. Durch das STORMGFootnote 61 vom 14.03.2013 wurde § 69 Abs. 2 S. 2 StPO eingefügt, wonach Verletzten die Gelegenheit einzuräumen ist, sich zu den Auswirkungen der Tat zu äußern. Diese Vorschrift hat angesichts des existierenden § 46 Abs. 2 StGB lediglich klarstellenden Charakter und soll die Praxis daran erinnern, das Gehör von Verletzten umzusetzen. Die Angaben eines/einer verletzten Zeugen/Zeugin sind begrenzt durch § 244 Abs. 2 StPO.Footnote 62 Gehen die Angaben von Zeugen über die Auswirkungen der Tat hinaus, z. B. durch Äußerungen zu Strafwünschen, ist es Aufgabe des Gerichts, diese Angaben in Ausübung der Sachleitungsbefugnis nach § 238 Abs. 1 StPO zu begrenzen. Dabei gilt die Vorschrift für alle richterlichen Vernehmungen und über § 161a Abs. 1 S. 2 StPO und § 163 Abs. 3 S. 1 StPO auch in staatsanwaltschaftlichen und polizeilichen Vernehmungen. Im Regelfall wird ein Verletzter/eine Verletzte nicht nur zur Vernehmung im Ermittlungsverfahren, sondern auch zum Hauptverhandlungstermin zu laden sein. Ob ein Zeuge/eine Zeugin für die Wahrheitsermittlung tatsächlich benötigt wird, entscheidet jedoch das Gericht. Eine Verpflichtung zur Ladung eines Zeugen/einer Zeugin, um das Äußerungsrecht umzusetzen, besteht nicht.Footnote 63

Sofern Nebenkläger/innen nicht als Zeuge/Zeugin gehört werden, besteht für diese nach §§ 397 Abs. 1 S. 4 und 258 Abs. 1 StPO eine weitere Möglichkeit zur Äußerung im Rahmen des Schlussvortrags. Die Gestaltung dieser Vorträge sind an keine bestimmte Form gebunden; inhaltlich dürfen sie sich nur auf das beziehen, was Gegenstand der Hauptverhandlung war.Footnote 64 Die Kommentarliteratur räumt in diesem Fall Nebenkläger/innen die Möglichkeit ein, sich auch zu den Rechtsfolgen erklären zu dürfen, dem Gericht Anregungen im Hinblick auf eine Auslösung der Aufklärungspflicht zu geben und i. S. d. VIS die Auswirkungen der Tat auf das eigene Leben darzustellen.Footnote 65 Eine derart weitgehende Gestaltung des Schlusswortes begegnet jedoch Bedenken, da der Gesetzgeber sich in den zuvor diskutierten Vorschriften explizit auf die Tatfolgen bezieht.

Folglich kann resümiert werden, dass in mehreren Verfahrensstadien Möglichkeiten bestehen, sich zu den Folgen der Tat zu äußern. Dieser Aspekt ist dem niederländischen Modell des VISFootnote 66 nicht unähnlich, abgesehen davon, dass es keinen durchsetzbaren Anspruch gibt, gehört zu werden. Zudem ist eine schriftliche Äußerungsmöglichkeit nicht vorgesehen. Wird jedoch auf eine Zeugenladung verzichtet, besteht lediglich für Nebenkläger/innen eine Möglichkeit zur Äußerung im Rahmen des Schlussvortrags. Das Rechtsinstitut der Nebenklage wird unter etlichen Aspekten, wie der Verschiebung der Waffengleichheit, der problematischen Doppelrolle als Partei und zugleich als Zeuge, der Ermöglichung von vergeltungsorientiertem Handeln und einer Beeinflussung der richterlichen Strafzumessung zu Ungunsten des/der Angeklagten kritisiert. Dabei wird eine potenzielle Erhöhung der Strafe auf emotionale Einflüsse wie Mitleid mit den Opfern zurückgeführt.Footnote 67 Einer aktuellen deutschen Studie zufolge ist kein entsprechender Zusammenhang nachweisbar. Im Rahmen der Studie wurden 325 Juristen/Juristinnen befragt, die angaben, häufig durch die Aussage von Nebenkläger/innen emotional betroffen gewesen zu sein. Sie seien sich dessen jedoch bewusst gewesen und die Strafzumessungsentscheidung sei daher besonders rational orientiert getroffen worden.Footnote 68 Bedenken, dass die dargestellten Äußerungsrechte die Rechte von Beschuldigten bzw. Angeklagten durch eine Emotionalisierung des Verfahrens einschränken, greifen daher nicht. Gleichwohl wird ein Bedarf für eine gesetzliche Implementierung eines VIS-Modells – analog zu den Niederlanden – nicht befürwortet, da hervorgehoben werden konnte, dass die existierenden Vorschriften im Ermittlungs- und Hauptverfahren ausreichend Optionen zur Äußerung über die Tatfolgen bieten. Ergänzend können Tatfolgen über Gerichtshilfeberichte in das Verfahren eingebracht werden, was in Abschnitt 6.8 vorgestellt wird.

6.6 Zwischenergebnis

Die überlebenden Verletzten und die Angehörigen von Getöteten eines terroristischen Anschlags nehmen eine prozessuale Doppelrolle als Verletzte i. S. d. § 373b StPO und als Zeugen/Zeuginnen ein. Ihr viktimologischer Status als Opfer wird in einem frühen Verfahrensstadium anerkannt und unterliegt in der Regel keiner Infragestellung. Zudem kommt ihrer Zeugenaussage für die Wahrheitsermittlung angesichts weiterer Beweismittel keine erhebliche Rolle zu. Folglich sind die Rechte des/der Beschuldigten in der Abwägung der Gewährung der strafprozessualen Opferrechte weniger als bei anderen Straftaten tangiert. Die prozessuale Ausgangssituation stellt sich für Anschlagsopfer somit in diesen Punkten entgegenkommender dar als für differente Opfergruppen und minimiert Ansatzpunkte für verfahrensinduzierte Sekundärtraumatisierungen. Eine weitere Privilegierung ergibt sich aus der Anerkennung der besonderen Schutzbedürftigkeit von Opfern terroristischer Anschläge nach § 48 Abs. 1 StPO aufgrund der Art und Umstände der Straftat. Begrüßenswert ist zudem die zum 01.07.2021 erfolgte Einführung einer Verletztendefinition in der StPO, die Opfern mehr Rechtssicherheit als die bisherige Ausgestaltung durch die Rechtsprechung gibt und zugleich die erforderliche Anpassung an das EU-Recht umsetzt. Der vorstehende Überblick hat aufgezeigt, dass die bestehende Gesetzgebung die Informations- und Partizipationsbedarfe von Anschlagsopfern überwiegend erfasst und keine eklatanten Schutzlücken festgestellt werden konnten. Somit lässt sich zumindest für Anschlagsopfer keine Notwendigkeit für eine weitere Implementierung von Opferschutzrechten konstatieren. Einzig die partielle Benachteiligung von Lebensgefährten/Lebensgefährtinnen entspricht nicht mehr der Lebenswirklichkeit im 21. Jahrhundert. Gleichwohl sollten aufgrund obiger Ausführungen diverse Nachbesserungen vorgenommen werden:

  • Ergänzung des § 406d Abs. 1 StPO um das Recht, im Sechs-Monats-Turnus auf Antrag eine Mitteilung über den Verfahrensstand zu erhalten,

  • Wegfall der besonderen Schutzbedürftigkeit in § 406 Abs. 3 S. 2 StPO, sodass für Anschlagsopfer die psychosoziale Prozessbegleitung, die ihnen bereits zusteht, kostenfrei wird,

  • Änderung von § 406e StPO dahingehend, dass eine Akteneinsicht in Großverfahren für den Verletzten auch bei anwaltlicher Vertretung in der Regel ausschließlich persönlich bei der aktenführenden Stelle erfolgt, sofern dem Informationsbedürfnis nicht durch Übersendung von Kopien bestimmter Aktenbestandteile Rechnung getragen werden kann. Die gewünschten Aktenteile wären dabei exakt zu bezeichnen, während das individuelle Interesse darzulegen wäre.Footnote 69

  • Den § 395 Abs. 2 S. 1 StPO ersetzen durch: Verletzte im Sinne § 373b Abs. 2 StPO. Damit stünden Lebensgefährten/Lebensgefährtinnen und weiteren Verwandten in gerader Linie die Befugnis zur Nebenklage zu. Daraus resultiert die Möglichkeit zur Beiordnung eines Beistands nach § 406h Abs. 1 StPO.

  • Ergänzung von § 406h Abs. 2 S. 4 StPO um …oder Beweiserhebungen anzuregen.

Der Fokus sollte nicht nur auf rechtlichen Maßnahmen liegen, sondern auch etwaige Formen von Unterstützung in Betracht ziehen. Die Ergänzung eines bestehenden Konzepts wird unter Punkt 6.8 erörtert.

6.7 Rechtsstaatliche Grenzen

Nicht unerwähnt bleiben sollen Opferbedürfnisse, die kritisch zu betrachten sind. Zurückgehend auf die Restorative-Justice-Bewegung und deren Begründer Howard Zehr wird häufig die Relevanz einer Entschuldigung für den Heilungsprozess betont.Footnote 70 Neuere psychologische Forschung bestätigt, dass selbst eine nicht freiwillig ausgesprochene Entschuldigung bei Opfern von Straftaten Stress senkt, den sozialen Status wiederherstellt und den Heilungsprozess durch Anerkennung, Wertschätzung und einem Abschließen mit der Straftat unterstützt. Obwohl Menschen eine ernsthafte Entschuldigung präferieren, akzeptieren sie selbst dann eine Entschuldigung, wenn sie an deren Ernsthaftigkeit zweifeln.Footnote 71 Wenn ein Angeklagter das intrinsische Bedürfnis hat, sich zu entschuldigen, kann er dies jederzeit und bis zum letzten Wort im Hauptverhandlungstermin tun. Dies mag sich dann strafmildernd auswirken. Nicht statthaft sollte es dagegen sein, auf Entschuldigungen hinzuwirken oder diesbezügliche Formen gesetzlich implementieren zu wollen. Geeraets und VeraartFootnote 72 weisen in diesem Kontext zu Recht auf den Umstand hin, dass psychologische Forschung nicht ohne Beachtung grundlegender Prinzipien des Rechtssystems in dieses übertragen werden sollte. Die Forschung zur Bedeutung der Entschuldigung hat vornehmlich die positiven Effekte analysiert, jedoch nicht, weshalb eine unfreiwillig hervorgebrachte Entschuldigung als hilfreich eingeschätzt wurde. Die beiden Forscher, Geeraets und Veraart, führen den Wert der wiederhergestellten Würde des Opfers darauf zurück, dass in einer forcierten Entschuldigung beschämende Elemente enthalten seien und die durch die Straftat erfahrene Demütigung somit zurückgegeben werde. Erzwungene öffentliche Geständnisse und die damit verknüpfte öffentliche Demütigung seien insbesondere aus totalitären Staaten bekannt. Erwachsene Menschen zu einer Entschuldigung zu zwingen und sie damit auf einen infantilen Status zu degradieren, gelte bereits seit Kolonialzeiten und der Sklaverei als bewusste Form der Demütigung.Footnote 73 Den beiden Forschern ist zuzustimmen, dass sie den Vorschlag aus der psychologischen Forschung, das Rechtssystem solle dem pädagogischen Beispiel der Eltern folgen, entschieden zurückweisen.Footnote 74 Hier wäre in der Tat die Würde eines Angeklagten und damit die Fairness des Verfahrens infrage gestellt. Auch gut gemeinte Anregungen der Prozessbeteiligten in Richtung einer Entschuldigung sollten folglich unterbleiben. Sofern ein Angeklagter nicht das intrinsische Bedürfnis verspürt, sich im Hauptverhandlungstermin zu entschuldigen, sollen Entschuldigungen eher außerhalb der Strukturen des Strafgesetzes auf freiwilliger Basis stattfinden.

Während der Verteidiger als der einzige Freund des Angeklagten im Gerichtssaal gilt, hat der Nebenkläger viele Freunde.“Footnote 75 Eine Folge der erweiterten Opferrechte ist die Vielzahl der Menschen, die sich im Gericht an der Seite des Opfers einfinden können. Werden alle zur Verfügung stehenden Optionen in Anspruch genommen, können private Vertrauenspersonen, mehrere Nebenklageanwälte/Nebenklageanwältinnen, die psychosoziale Prozessbegleitung und die Zeugenbetreuungsstelle des Gerichts dem Opfer im Termin ‚beistehen‘. Handelt es sich um ein Großverfahren mit zahlreichen Nebenklageberechtigten, dürfte der Grundsatz der Waffengleichheit zulasten der Angeklagten stark tangiert sein, wodurch das Gericht organisatorisch an die Grenzen stößt. Es ist jedoch zu bezweifeln, dass es sich für die meisten Opfern als hilfreich erweist, wenn sich jede/r, der darf, am Verfahren beteiligt. In diesem Zuge sind individuellere Lösungen gefragt, die sich an den Bedürfnissen der Opfer orientieren. Während für einige der rechtliche Beistand am bedeutsamsten sein kann, genügt für andere die gerichtliche Zeugenbetreuung. Ein erster rechtlicher Schritt ist die eingeführte Gruppenvertretung bei der Nebenklage. Hier ist weiterer Diskussionsbedarf für einen gezielteren Beistand der Zeugen gegeben. Zudem sollte berücksichtigt werden, dass bei Menschen, die eine schwere Traumafolgestörung erlitten haben, möglicherweise keine Form der Opferrechte das Belastungsempfinden durch das Verfahren mindern kann. Es gilt folglich zu prüfen, wem welche Maßnahme bestmöglich hilft oder zumindest nicht schadet – weder den Opfern noch den Angeklagten.

6.8 Das Modell der Opferstaatsanwältinnen/Opferstaatsanwälte

Nachfolgend sollen konzeptuelle Entwürfe zur Flankierung der im vorherigen Kapitel diskutierten Opferrechte erörtert werden. Als Grundlage dient die Einrichtung einer Arbeitsgruppe Opferstaatsanwältinnen/Opferstaatsanwälte „Task Force“ beim Generalbundesanwalt (GBA).Footnote 76 Diese wurde eingerichtet, um Defiziten zu begegnen, die sich in der Unterstützung der Opfer nach dem Anschlag am Breitscheidplatz in Berlin am 19.12.2016 gezeigt hatten. Einer der Kernpunkte der Kritik war das Fehlen einer zentralen Ansprechperson für Betroffene.Footnote 77 Organisatorisch werden bei einem Großschadensereignis zwei Teams von Opferstaatsanwältinnen/Opferstaatsanwälten tätig – eine Einheit am Ereignissort und eine am Dienstsitz des GBA. Letztere hat die Aufgabe, die Zusammenarbeit mit dem Ermittlungsteam und dem Krisenreaktionszentrum im Auswärtigen Amt zu koordinieren. Das Team vor Ort wird im Einsatzabschnitt Betreuung der Polizei mit dem Ziel tätig, schnellstmöglich Informationserhebungen zu Geschädigten und zu deren Aufenthaltsort zu veranlassen, diese zu verifizieren und die Erstellung der sog. ‚Opferlisten‘ zu koordinieren. Dabei ist das Gesamtteam alleiniger Ansprechpartner („single point of contact“) für sämtliche strafprozessualen Opferbelange. Sie entscheiden über die Freigabe der Ermittlungsergebnisse an Angehörige, Opfer und ggf. weitere Berechtigte und sind u. a. für Obduktionsanordnungen, Leichenfreigaben und Bestattungsgenehmigungen zuständig. Nach der Akutphase entscheidet das Team bspw. über die Rückgabe von Gegenständen der Opfer, Akteneinsichtsgesuche bzw. über die Freigabe von Ermittlungsergebnissen, über Nebenklageberechtigungen und hält Kontakt zu den Opferbeauftragten von Bundes- und Landesregierung, Ministerien sowie den anwaltlichen Vertretungen der Opfer. Dabei soll der Fokus in der Akutphase und der folgenden prozessualen Phase auf den Opfern und deren Informationsinteressen liegen.Footnote 78 Im Bewusstsein des Spannungsfeldes von sich widerstreitenden Rechten und Interessen wird ein pragmatischer Zugang nach „…Herstellung einer praktischen Konkordanz von staatsanwaltlichen Ermittlungen und den Informationsbedürfnissen der Opfer in dieser speziellen FallkonstellationFootnote 79 gewählt.

Dieses Modell ist zu begrüßen. Die alleinige Zuständigkeit als Ansprechstelle – bereits in der Akutphase – verhindert Zeit- und Reibungsverluste in Zuständigkeitsabgrenzungen mit den örtlichen Staatsanwaltschaften und Polizeien. Wenn Angehörige über Stunden oder Tage keine Auskunft erhalten können, wo sich eine verletzte oder getötete Person befindet, verschlimmert dies eine ohnehin belastende Situation umso mehr. Gleiches gilt für Möglichkeiten, Abschied von Verstorbenen zu nehmen oder diese bestatten zu können. Dem Informationsbedürfnis der Betroffenen wird daher Rechnung getragen. Ferner wird durch eine frühzeitige Koordination der Opferlisten und deren Verifizierung die Statusanerkennung als Opfer hergestellt und damit die Möglichkeit, Zugang zu den Hilfsangeboten zu erhalten. Neben dem Informationsbedürfnis ist diesbezüglich der Schutzzweck relevant, wonach das Risiko der Betroffenen vor Sekundärviktimisierungen durch inadäquate Reaktionen der Behörden minimiert werden soll.

Nach dem Anschlag in Hanau wurden den Anwältinnen/Anwälten der Opfer drei Monate nach der Tat Teile der Ermittlungsergebnisse als Schreiben in elektronischer Form übermittelt (sog. ‚teilweise Akteneinsicht‘). Darüber hinaus wurden den Hinterbliebenenfamilien jeweils Informationsgespräche in einem privaten Rahmen angeboten.Footnote 80 Mit einem derartigen Vorgehen eröffnet sich eine zielführende Option, dafür Sorge zu tragen, dass die Informationen nicht nur übermittelt, sondern auch verstanden werden. Gleichzeitig wird hier eine Botschaft der Anerkennung des Leids transportiert. Dem Bedürfnis nach Interaktion und Kommunikation wird somit Rechnung getragen. Wird diese staatliche Herangehensweise als respektvoll wahrgenommen und damit Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft signalisiert, mag ein Beitrag zur Verfahrensgerechtigkeit erfolgt sein.Footnote 81 Im günstigsten Fall erfolgt im Zuge dessen die Förderung der Akzeptanz des Ermittlungsverfahrens, sodass verfahrensimmanente – individuelle – Belastungsfaktoren zu reduzieren sind. Dies kann sich insbesondere bei Opfern mit diskriminierenden Vorerfahrungen als entlastend auswirken. Zudem handelt es sich bei den Informationsgesprächen um ein freiwilliges Angebot, sodass die Betroffenen bedürfnisorientiert über die Annahme autonom entscheiden, wodurch sie die – durch die Straftat verlorene – Kontrolle behalten. Ferner ist in vorgenanntem Vorgehen keine Beeinträchtigung der prozessualen Rechte von Beschuldigten zu erkennen. Möglichen Interessenskonflikten oder emotionalen Einflüssen wird durch die Trennung von Opferzuständigkeit und Ermittlungszuständigkeit begegnet. Sofern es zu keiner Hauptverhandlung kommt, könnte ein persönliches Gespräch wenigstens in Teilaspekten, dem Wunsch gehört zu werden (Voice), gerecht werden. Ferner wäre hier Gelegenheit, Anregungen zu weiteren Beweiserhebungen anzubringen. In diesem Fall scheint sich eine pragmatische Option abzubilden, die Fragen der Opfer durch die Strafjustiz zu beantworten – sowohl die tatsächlichen verfahrensorientierten Fragen als auch die dahinterliegenden sozialpsychologischen Anliegen. In Großverfahren dauern die Ermittlungen oft lange an, bis es zu einer Einstellungsverfügung oder einer Anklageerhebung kommt. Betroffene können sich zu diesem Zeitpunkt in der „Phase der Desillusionierung“Footnote 82 befinden. Zudem sind Helfende erschöpft und möchten in die Normalität zurückkehren, wodurch für die Betroffenen u. U. das Unterstützungssystem und die zur Stabilisierung essenzielle Einbindung in die soziale Gemeinschaft wegfällt. Dieser Problematik sollte sich auch die Strafjustiz bewusst und dafür sensibilisiert sein. Diesbezüglich ist ebenfalls vorstellbar, dass kommunikative Maßnahmen stützend sein könnten. Wünschenswert wäre eine Evaluation des Konzepts der Opfer-Task-Force, um feststellen zu können, welche Maßnahmen aus welchen Gründen greifen und welche ineffektiv sind.

Das Konzept der Opferstaatsanwältinnen/Opferstaatsanwälte sieht eine Präsenz am Ereignisort und eine vorbereitende Tätigkeit vor, bis die formelle Übernahme des Verfahrens durch den GBA erfolgt ist. Das Team ist dann sofort handlungsfähig.Footnote 83 Eine Schutzlücke entsteht jedoch, wenn das Tatmotiv als nicht überwiegend terroristisch eingeordnet wird und die Ermittlungen an eine Generalstaatsanwaltschaft oder die örtliche Staatsanwaltschaft übergehen. Damit endet die Zuständigkeit der Task-Force für die Opfer. Opfer von Amokfahrten oder Amokläufen sind jedoch vor ähnliche Herausforderungen gestellt wie Opfer terroristischer Taten, auch wenn die politische Dimension nicht im gleichen Umfang gegeben ist. Zudem reichen bei Großschadenslagen die regulären Hilfestrukturen nicht aus. Es wäre daher wünschenswert, wenn bei Großschadenslagen oder Straftaten von öffentlicher Bedeutung mit hohem medialen Interesse, gesellschaftlicher und politischer Relevanz aufgrund der daraus resultierenden besonderen Schutzbedürftigkeit der Betroffenen das Modell der Opferstaatsanwältinnen/Opferstaatsanwälte auf die Generalstaatsanwaltschaften und Staatsanwaltschaften übertragen und entsprechende Ressourcen geschaffen werden.

Ergänzt werden könnte das Modell durch den Einsatz der sozialen Dienste der Justiz, da die Gerichtshilfe Ermittlungshilfe für die Staatsanwaltschaft (§ 160 Abs. 3 S. 2 StPO) sein kann. Sie ist imstande, die Staatsanwaltschaft dabei zu unterstützen, die Aspekte zu eruieren, die für die Rechtsfolgen der Tat relevant sein können (§ 160 Abs. 3 S. 1 StPO). Es ist ferner zulässig, die Gerichtshilfe mit weiteren Aufgaben, wie Opferberichten über körperliche und psychische Folgen, zu betrauen, da in diesem Kontext das spezifische sozialpädagogische Fachwissen der Mitarbeitenden der Gerichtshilfe gefragt ist. Die Erkenntnisse der Gerichtshilfe werden durch eine Anhörung im Hauptverhandlungstermin als (sachverständiger) Zeuge oder Sachverständiger eingeführt. Der „Opferbericht“ der Gerichtshilfe darf zudem nach § 251 Abs. 1 Nr.1 StPO verlesen werden.Footnote 84 Für eine Hinzuziehung der Gerichtshilfe in Anschlagsfällen spricht, dass es sich um ein freiwilliges Angebot handelt und die Betroffenen in geschützter Atmosphäre über die Tatfolgen sprechen können und somit Gehör finden. Dabei kommt die Verlesung des Berichts in der Hauptverhandlung der Idee des VIS nahe. Zeugen/Zeuginnen, die vom Gericht nicht gehört werdenFootnote 85, erhalten auf diese Weise eine Partizipationsmöglichkeit. Zudem hat ein schriftlicher Bericht durch Zwischenschaltung der „Gerichtshilfeinstanz“ mehr emotionale Distanz als eine persönliche Aussage. Es wäre überdies zu erforschen, ob das Angebot eine höhere Kontrolle über den Genesungsprozess bedingen könnte, wie es die Studie von Lens et al. thematisiert.Footnote 86 Ferner könnte die Gerichtshilfe im Sinne der strafprozessualen Informationsverpflichtungen, insbesondere nach §§ 406j, 406k StPO auf weitere Hilfsangebote aufmerksam machen und potenzielle Fragen zu Prozessabläufen beantworten. Dabei ist die Gerichtshilfe in positiv motivierender Gesprächsführung geschult und kann Betroffene zukunftsperspektivisch unterstützen, um einem – unbewussten – Verharren in der Opferrolle zu begegnen. Über diese Optionen verfügt ein Gericht nicht. Zudem ist die Gerichtshilfe Teil des (Justiz-)Systems, von dem sich Betroffene einen respektvollen Umgang wünschen, sodass auch hier ein Element der Verfahrensgerechtigkeit zum Tragen kommen könnte. Ein Risiko könnte dann vorliegen, wenn der Gerichtshilfebericht nicht die Zustimmung des Opfers findet, weil bspw. Hinweise auf pathologische Folgeerscheinungen festgestellt werden, jedoch keine Krankheitseinsicht besteht. In diesen nicht häufig zu erwartenden Fällen mag sich ein Opfer durch das System erneut viktimisiert fühlen, was jedoch nicht zu ändern ist. Allenfalls kann das Gericht, wenn es im Sinne der Wahrheitsfindung möglich ist – trotz gegenteiligem Wunsch des Opfers – aus Schutzgründen von einer Zeugenvernehmung absehen. Auch wenn keine Hauptverhandlung stattfinden wird, wäre es eine Überlegung wert, den Betroffenen Gerichtshilfegespräche anzubieten. Dem Ermittlungsverfahren schadet es nicht und die Berichte wären Bestandteil einer Ermittlungsakte, die bei einem terroristischen Anschlag zu einem zeitgeschichtlichen Dokument wird. Betroffenen könnte diesbezüglich signalisiert werden, dass der Staat sie als Betroffene und dem damit verbunden Leid anerkennt und ein Interesse hat, zu hören, wie es ihnen geht und ihre Angaben für eine lange Zeit in einem Dokument festgehalten haben möchte.

Die Gerichtshilfe gehört gemäß Art. 294 Abs. 1 EGStGB zum Geschäftsbereich der Landesjustizverwaltungen. Beim GBA sind nach Wissen der Verfasserin keine sozialen Dienste angesiedelt. Es wäre daher zu überlegen, ob dem GBA die Möglichkeit eingeräumt wird, die Gerichtshilfe über die Landesjustizverwaltungen nach Wohnortzuständigkeit der Betroffenen zu beauftragen. Anschlagsopfer wohnen nicht immer am Anschlagsort, sondern leben an unterschiedlichen Orten in Deutschland. Folglich hätte eine Beauftragung der Gerichtshilfe am Wohnort den Vorteil, dass ohne weite Anreisen durchaus ein zweites Gespräch möglich und aufgrund der Vernetzung der Gerichtshilfe mit den örtlichen Hilfestrukturen bei Bedarf eine passgenaue Vermittlung in das Hilfesystem vor Ort gewährleistet wäre.