Im Folgenden gilt es zu untersuchen, ob sich die Bedürfnisse von Terroropfern von denen anderer Kriminalitätsopfer unterscheiden und sich hieraus Folgerungen für das Strafjustizsystem ableiten lassen, bevor sodann geprüft werden kann, inwieweit die im vierten Kapitel skizzierten Opferschutzvorschriften auf Terroropfer Anwendung finden können. Zunächst soll der Begriff des Terrorismus definiert und sodann deskriptiv die Phänomenologie dieser Taten vor dem individuellen und gesellschaftlichen Hintergrund unter dem Blickwinkel viktimologischer Herausforderungen analysiert werden.

5.1 Terroristische Taten

„Terrorism is violence for effect. Terrorists choreograph violence to achieve maximum publicity. Terrorism is theater.“ Footnote 1

Der Begriff Terrorismus leitet sich aus dem Lateinischen „terrere“ ab und ist mit „Schrecken, Angst und Schrecken bereitendes Geschehen“ zu übersetzen. Im deutschen Sprachgebrauch wird der Begriff etwa seit 1800 verwendet und bezeichnet eine spezifische Form der politischen Gewalt gegen andere Gruppen in der Gesellschaft oder gegen staatliche Autoritäten.Footnote 2 Eine allgemeingültige Definition der Merkmale ist nicht existent. Pfahl-Traughber hat aus formalen Kriterien und Kontextaspekten folgende Arbeitsdefinition konzipiert:

Es geht dabei um alle Formen politisch motivierter Gewaltanwendung, die von nicht-staatlichen Akteuren in systematischer Form mit dem Ziel des psychologischen Einwirkens auf die Bevölkerung durchgeführt werden und dabei die Möglichkeit des gewaltfreien und legalen Agierens zu diesem Zweck als Handlungsoption ausschlagen sowie die Angemessenheit, Folgewirkung und Verhältnismäßigkeit des angewandten Mittels ignorierenFootnote 3.

Unter den Begriff der Akteure/Akteurinnen lassen sich sowohl Gruppen als auch einzelne Tatbegehende (sog. „Lone-Wolfe oder Lone-Actor-Terroristen“) erfassen.Footnote 4

Wie es das Eingangszitat beschreibt, beinhaltet moderner Terrorismus eine mit einer Kommunikationsstrategie versehene Selbstinszenierung der Gewalttat. Ziel der Terroristen/Terroristinnen ist ein möglichst großes Medienecho, um einerseits Angst und Schrecken in der Bevölkerung zu verbreiten und andererseits potenzielle Sympathisanten zu rekrutieren. Die Tatorte werden nach ihrem Symbolcharakter ausgewählt, um die Gewissheit der Bevölkerung, an vertrauten Orten grundsätzlich sicher zu sein, nachhaltig zu erschüttern. So soll das beeinträchtigte Sicherheitsgefühl die Bevölkerung dazu bewegen, auf die politische Führung im Sinne der Forderungen der Terroristen/Terroristinnen einzuwirken. Der Effekt der Taten hängt infolgedessen eng mit der Medienberichterstattung zusammen, Medien nehmen insoweit eine Schlüsselrolle ein.Footnote 5 Definitorisch können sich Schwierigkeiten ergeben, einen Terroranschlag von einem Amoklauf abzugrenzen, wenn ein terroristisches Motiv nicht sicher nachweisbar ist oder eine psychische Erkrankung im Sinne einer strafrechtlichen Schuldunfähigkeit konstatiert wird und möglicherweise die Motivlage überlagert.Footnote 6 Diese Einordnung hat Auswirkungen auf die finanziellen Entschädigungsleistungen und die gesellschaftliche Solidarität und Anerkennung der Opfer.Footnote 7

Terrorismus gilt als beträchtliche Herausforderung der Gegenwart. Der Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2020 stellt fest, dass die Bedrohungslage in Deutschland in der Pandemie zugenommen hat und benennt Rechtsextremismus und -terrorismus als größte Bedrohung für die Sicherheit in Deutschland. Die Verstärkung der Gefahr durch die Corona-Pandemie beruht darauf, dass sich Rechtsextreme die gesellschaftliche Debatte um den Prostest gegen Maßnahmen zu eigen gemacht und sich daher die Reichweite ihrer Botschaften gesteigert habe. Ebenfalls erhöht und damit als eine Gefahr für die Bevölkerung zu werten ist der Anstieg der Gewaltbereitschaft im Bereich Linksextremismus und Islamismus.Footnote 8 Dennoch sind terroristische Anschläge in Deutschland weiterhin ein seltenes Ereignis.Footnote 9 Die geringe Anschlagsgefahr stellt sich überproportional zur Wahrnehmung und zum Risikoempfinden in der Bevölkerung dar.Footnote 10 Die Sorge und damit verbundene Angst der Bevölkerung, Opfer eines terroristischen Anschlags zu werden, gilt in den meisten Ländern als überhöht, bspw. befürchtet mehr als die Hälfte der US-amerikanischen Bevölkerung, sie selbst oder Familienmitglieder könnten künftig betroffen sein. Dies kann zu einer Einschränkung von Aktivitäten, wie Flug- oder Überseereisen oder dem Meiden von Hochhäusern und öffentlichen Plätzen, führen.Footnote 11 Infolgedessen verankert sich das Geschehen tief im kollektiven Bewusstsein.

5.2 Die Opfer von Terrorismus

Taking theater as a model, terrorism relies on live performers and unwitting live participants to present the experience of an imagined event, an event in which the perpetrators wield power over the victims.“Footnote 12

Bildlich ausgedrückt finden sich die Opfer somit als unfreiwillige und machtlose Darstellende in einer Theaterinszenierung wieder.Footnote 13 Dabei werden Opfer von Terrorismus nach allgemeingültiger Definition nicht als Individuum, sondern als Repräsentanten/Repräsentantinnen einer bestimmten Gruppe, etwaiger Werte oder des Staates angegriffen. Dieser Symbolcharakter hat Folgen für die sozialen und psychischen Auswirkungen des Anschlags auf das Individuum. Ein wesentlicher Schutzfaktor bei der Bewältigung eines traumatischen Ereignisses ist die soziale Unterstützung. Im Gegensatz zu differenten Straftaten wirkt sich ein terroristischer Anschlag jedoch unter Umständen auch auf das potenzielle Helfersystem im sozialen Umfeld aus, sodass der erforderliche Beistand nicht oder nur eingeschränkt geleistet werden kann.Footnote 14 Angstgefühle, beeinträchtigtes Sicherheitsempfinden und posttraumatischer Stress nach einem Anschlag können einen weiten Kreis von Betroffenen treffen. Das Risiko für klinische posttraumatische Folgestörungen wie eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) ist ebenfalls erhöht. Zu dem Personenkreis, der von traumatischen Ereignissen psychisch beeinträchtigt sein kann, benennt die Literatur: Verletzte, Hinterbliebene, Familie und Freunde/Freundinnen der Betroffenen, Augenzeugen/Augenzeuginnen, Ersthelfende, Rettungs- und Ordnungskräfte, vom Tatort berichtende Journalisten/Journalistinnen und besonders vulnerable Teile der Bevölkerung wie psychisch Vorbelastete.Footnote 15

Zu den betroffenen Personengruppen zählen zudem die Hinterbliebenen von Getöteten, die über einen langen Zeitraum nicht als Opfer wahrgenommen wurden. Nunmehr gerät auch diese Opfergruppe vermehrt in das wissenschaftliche Blickfeld; Hinterbliebene werden in der Literatur oft unter den Begriffen „indirekte Opfer“ oder „Co-Victims“ erfasst. Die Medien porträtieren die Familienangehörigen oftmals direkt als Opfer, wenn die unmittelbaren Opfer getötet wurden.Footnote 16 Auch in strafprozessualer Hinsicht finden Hinterbliebene, wie Eltern, Geschwister und Lebensgefährten/Lebensgefährtinnen, durch die neue Vorschrift des § 373b Abs. 2 StPO Berücksichtigung.

Das Modell von Zufallsopfern terroristischer Anschläge wird in der Literatur mittlerweile als kritisch betrachtet. Argomaniz und LynchFootnote 17 bezeichnen die Annahme von „zufällig zur falschen Zeit am falschen OrtFootnote 18 als eine ungeeignete Konstruktion, da infolgedessen die wiederholte Opferwerdung, die Relevanz von sozialen Identitäten sowie der politische und soziale Kontext terroristischer Bestrebungen außer Acht gelassen werde. Hier ist weiterer Forschungsbedarf gegeben, da die unterbleibende oder isolierte wissenschaftliche Untersuchung der Opfer, losgelöst von Tat und Täter, das Phänomen des Terrorismus, der sich gegen den Staat richtet, nicht ausreichend erfassen kann.

5.3 Die Herausforderungen am Tatort

Die Lage eines Anschlagsgeschehens ist selbst für erfahrene Einsatzkräfte aus Polizei und Rettungswesen zunächst unübersichtlich. Es fehlt Erfahrungswissen angesichts der – noch überschaubaren – Anzahl der Anschläge in Europa. Zudem entfaltet jedes Anschlagsgeschehen seine eigene Dynamik, auf die eine Vorbereitung folglich nur eingeschränkt möglich ist.Footnote 19 Die Versorgung beginnt stets unter dem Risiko eines „second hit“. Dieses Risiko wurde bspw. bei den Anschlägen am 11.03.2004 in Madrid deutlich, als im morgendlichen Berufsverkehr in vollbesetzten Pendlerzügen zeitgleich zehn Bomben detonierten und drei weitere, die zeitversetzt zünden und Polizei und Rettungskräfte treffen sollten, noch rechtzeitig entschärft werden konnten.Footnote 20

Die Polizei sieht sich ebenfalls mit erheblichen Herausforderungen konfrontiert. Schmidt und MatzdorfFootnote 21 führen folgende Aufgaben der polizeilichen Erstintervention bei Anschlägen an: zum einen die Gefahrenabwehr, zum anderen die Rettung von Verletzten und Bergung von Getöteten. Daneben gilt es, eine Zusammenarbeit mit Rettungskräften und Unterstützungsangeboten herzustellen, ggf. Verkehrsmaßnahmen zu veranlassen, den vorgeschriebenen Informations- und Meldepflichten nachzukommen, Schaulustige aus dem betroffenen Gebiet fernzuhalten sowie ggf. auf Anfragen von Medienschaffenden vor Ort zu reagieren und die weiteren Ermittlungsmaßnahmen vorzubereiten und zu sichern. Es entsteht daher eine Situation, in der Gefahrenabwehr, Eigensicherung und Beweissicherung parallel erfolgen sollten, jedoch – stets an die Situation angepasst – Priorisierungsentscheidungen getroffen werden müssen.

Zunächst mag auch nicht feststehen, ob es sich um ein umfangreiches Unfallgeschehen oder einen Anschlag handelt. Fest steht nur, dass eine hohe Anzahl von Menschen betroffen ist. Die Gemengelage des polizeilichen Erstinterventionshandelns fassen Schmidt und Matzdorf wie folgt zusammen: „Die Erstinterventionskräfte handeln in einer unklaren Situation mit dem priorisierten Auftrag, Leib und Leben von Menschen vor (weiteren) Gefahren zu schützenFootnote 22.

Die Notfallmedizin sieht sich gleichfalls vor etliche Herausforderungen gestellt, um die Menschen retten zu können. Einsatzkräfte müssen für die Gefahrenlage ein entsprechendes Situationsbewusstsein entwickeln. Verletzungsmuster, -schwere und der Massenanfall von Verletzten können besondere medizinische Kenntnisse oder Triage-Entscheidungen erfordern. Es bedarf daher einer ausreichenden medizinischen Infrastruktur der umliegenden Krankenhäuser. Wesentlich ist das zügige Funktionieren des Informationserhalts und der -gabe, um die Behandlungskapazität effektiv auszuschöpfen und sachgemäß darüber entscheiden zu können, welche/r Verletzte in welches Krankenhaus eingeliefert wird. Belastungsfaktoren entstehen somit auf Seiten der medizinischen Helfenden und der zu versorgenden Verletzten.Footnote 23

Eine weitere Herausforderung geht mit der Angst und den lebensbedrohlichen Umständen einher, denen Betroffene möglicherweise für mehrere Stunden ausgesetzt sind und die zu einer PTBS führen können. Ein praxisnahes Beispiel ist der Anschlag am 17.08.2017 in Barcelona, bei dem mittels eines Lieferwagens auf dem Boulevard Ramblas 13 Menschen getötet und 108 verletzt wurden. Obwohl die Stadt Barcelona auf einen Anschlag vorbereitet war, dauerte es vier bis fünf Stunden, bis geklärt war, dass es sich um einen Einzeltäter handelte, sich im Lieferwagen kein Sprengstoff befand und in der Stadt nicht mit weiteren Anschlägen zu rechnen war. Der Krisenstab hatte entschieden, dass Menschen ihre Aufenthaltsorte, wie Läden, Restaurants und Wohnungen, nicht verlassen durften; in der Innenstadt herrschte Panik. Die Betroffenen nahmen die Gefahr wahr, ohne zu wissen, von wem oder was diese ausging und wie sie sich hätten schützen können.Footnote 24 Ein solches Erleben ist – analog zu der originären Straftat – ebenfalls verbunden mit Kontrollverlust, Ohnmacht und einer Erschütterung des Sicherheitsgefühls.

In der ersten Phase nach einem Anschlag ist das grundsätzliche Bedürfnis der unmittelbar Betroffenen auf die Notfallversorgung ausgerichtet. Überlebende benötigen zu Beginn die Gewissheit, sich in Sicherheit außerhalb der Gefahrenzone zu befinden sowie Essen, Trinken und ggf. medizinische und psychologische Notfallversorgung. Eine längerfristige therapeutische Intervention findet noch nicht statt, jedoch wird empfohlen, bei Bedarf ggf. Psychoedukation über nachfolgende mögliche ‚normale‘ Reaktionen, Informationen über hilfreiches Gesunderhaltungsverhalten sowie weiterführende psychologische Hilfe zu geben.Footnote 25 In Deutschland übernimmt diese Aufgaben in der Regel ein Betroffeneninformationszentrum der Länderpolizeien in Kooperation mit der Koordinierungsstelle zur Betreuung Betroffener von Terroranschlägen (KoBe)Footnote 26. Dieser Einsatzabschnitt wird vor Ort, jedoch nicht in unmittelbarer Tatortnähe, errichtet.

Wie vorstehend aufgeführt, kann es jedoch für die Betroffenen zu einer über den Anschlag hinaus belastenden Situation kommen, wenn durch die Gefahr eines ‚second-hit‘ die Grundbedürfnisse von Sicherheit und Versorgung über Stunden nicht gewährleistet sind, weil die Ersthelfenden die Betroffenen nicht erreichen können, ohne sich selbst in Gefahr zu begeben. Dies stellt eine Besonderheit bei Terroranschlägen dar, auch wenn das Phänomen, über einen längeren Zeitraum einer Gefahrensituation ausgesetzt zu sein, ebenso bei anderen Deliktsbereichen vorkommen kann wie Entführung, häusliche Gewalt oder Stalking. In letzteren Fällen ist das Helfersystem jedoch nicht gleichzeitig vom Ereignis belastet und steht den Betroffenen zur Verfügung.

Vorstehende Ausführungen zu Tat, Opfern und Tatort weisen etliche Besonderheiten im Gegensatz zu allgemeinen Straftaten auf, die eine Verknüpfung von individuellem mit gesellschaftlichem Trauma nahelegen. Die Auswirkungen einer potenziellen gesellschaftlich-individuellen Wechselwirkung sollen daher anhand der Aspekte der politischen und medialen Aufmerksamkeit sowie der gesellschaftlichen und individuellen Perspektive näher betrachtet werden.

5.4 Formen und Wirkungen der unterschiedlichen Interessenlagen

5.4.1 Politischer Kontext

Opfer von Terrorismus haben eine pars-pro-toto-Funktion, somit eine Stellvertreterfunktion, in der Gesellschaft. Die Gesellschaft reagiert demzufolge nach einem Anschlag mit Angst und Verbrechensfurcht. Der von Medien beeinflusste Diskurs über die Angst führt daher zu der Annahme in der Gesellschaft, das Alltagsleben sei gefährlich und beängstigend, voller potenzieller Opfer und bedürfe des Schutzes und der Intervention. Daraus folgt eine Politik der Angst. Prominentes Bespiel sind die US-Militäraktionen gegen den Irak nach den Anschlägen vom 11.09.2001. Die politische Intervention wurde durch die Fehlinformationen gerechtfertigt, wonach der Irak mit den Attentätern der Al-Qaeda in Verbindung zu bringen sei und über Massenvernichtungswaffen verfüge.Footnote 27

Lehnte der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl 1992 nach dem Brandanschlag von Mölln zum Leidwesen der Hinterbliebenen eine Teilnahme an der Trauerfeier durch seinen Pressesprecher als „Beileidstourismus“ abFootnote 28, so sind bei Anschlägen aus jüngster Zeit, wie in Berlin, Halle oder Hanau, Gedenkgottesdienste, Jahrestage o. ä. ohne hochrangige politische Repräsentanten/Repräsentantinnen nicht mehr denkbar. Die Anteilnahme am Leid der unmittelbar Betroffenen durch die Politik ist gleichzeitig als Reaktion auf die empörte Öffentlichkeit zu werten, die nachfolgend durch neue Gesetze, Strafverschärfungen, z. B. im Waffenrecht, oder durch sonstige Schutzmaßnahmen geschützt werden soll. Garland fasst diesen Umstand wie folgt zusammen: „Der neue politische Imperativ lautet, dass Opfer geschützt, ihre Stimmen gehört, ihr Andenken geehrt, ihr Zorn zum Ausdruck gebracht, ihre Ängste ernst genommen werden müssenFootnote 29.

Aus Opferperspektive scheint dagegen zunächst nichts vorzubringen zu sein. Eine Gefahr könnte jedoch darin liegen, dass Opfer die Hoheit über ihre private Tragödie verlieren, da diese von einer breiten Öffentlichkeit mit ihren Ängsten und Interessen beansprucht wird.Footnote 30 Treten Betroffene bei öffentlichen Veranstaltungen oder in Talk-Shows, ggf. auch zusammen mit Politikern/Politikerinnen auf, werden ihre leidvollen Erfahrungen potenziell in einer instrumentalisierenden Form benutzt, um übergeordnete Themen wie Rechtsextremismus, Menschenrechte, Demokratie o. ä. zu diskutieren. Die Abkehr von der individuellen Ebene mag sich für Betroffene als dem Wohlbefinden abträglich erweisen, insbesondere wenn die durch das traumatische Ereignis hervorgerufenen intensiven Gefühle von Wut, Trauer und Schmerz noch fortbestehen.Footnote 31 Gestützt wird diese Annahme durch die Studie von Treibel et al., wonach Opfer terroristischer Anschläge das Bedürfnis schildern, einerseits selbst politisch aktiv zu werden und andererseits befürchten, politisch instrumentalisiert zu werden.Footnote 32

Es finden sich jedoch auch Hinweise, dass sich eine Instrumentalisierung umgekehrt gegen die Politik bzw. einzelne Politiker/innen richten kann. Nach dem Anschlag von Utøya hatte der damalige norwegische Ministerpräsident eine Vorbildfunktion: Er trat als „Führungsperson aller BürgerFootnote 33 auf und hielt „die Nation zusammenFootnote 34. Nachdem eine Untersuchungskommission für die Akutphase nach dem Anschlag Mängel in der Kommunikation und bei Polizei und Sicherheitsbehörden festgestellt hatte, wurde der Ministerpräsident zur Projektionsfigur. Ihm wurde die Verantwortung für alles, was nicht funktioniert hatte, stellvertretend zugeschrieben. Ein Erklärungsansatz für die ‚Sündenbockfunktion‘ wird in dem Bestreben der Bevölkerung nach dem Rückgewinn von Balance gesehen. Infolgedessen wird die Demokratie getestet: Strukturen funktionieren in Friedenszeiten. Sofern auch in Krisenzeiten die Würde des Menschen und Gerechtigkeit als Werte funktionieren, wird eine Demokratie Wut und Verärgerung der Bevölkerung aushalten.Footnote 35 Diese Hypothese überzeugt insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Staat einen terroristischen Anschlag nicht verhindern konnte und das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung nachhaltig erschüttert ist. Werden nachfolgend Defizite bei Sicherheitsbehörden bekannt, können weitere Verantwortung tragende Personen festgestellt und damit die schwer aushaltbare Unvorhersehbarkeit des Gesamtgeschehens reduziert werden.Footnote 36 Bemerkenswert ist hierbei, dass die Bevölkerung nach Anschlägen analoge Reaktionsformen wie Einzelopfer zu zeigen scheint: hohe Emotionslevel von Wut und Ärger, ein erheblicher Mitteilungsbedarf und die Suche nach Wiederherstellung des durch die Straftat eingetreten Kontrollverlustes, nach der Wahrheit und dem Warum. Empfehlenswert wäre weitere Forschung, ob sich diese Dynamiken auch bei differenten politisch motivierten Anschlägen nachweisen lassen.Footnote 37

5.4.2 Mediale Wirkungen und Erwartungen

Terrorereignisse sind Medienereignisse.“Footnote 38

Terrorismus beinhaltet eine Kommunikationsstrategie und Terroristen/Terroristinnen kommunizieren ihre Taten oftmals in Echtzeit über neue Medien.Footnote 39 Dabei handelt es sich um Ereignisse mit einem hohen Nachrichtenwert, wobei Massenmedien auf eine möglichst schnelle aktuelle Berichterstattung abzielen, die zunächst zulasten der journalistischen Sorgfaltspflicht ausfallen kann.Footnote 40 Grundsätzlich soll die mediale Verbreitung aus Tätersicht das Wirkpotenzial des Anschlags vervielfachen. Im Zuge dessen gilt es, Angst und Schrecken in der Bevölkerung auszulösen, mögliche Sympathisanten anzusprechen sowie Nachahmungseffekte zu produzieren. Der Selbstinszenierung der Täter/Täterinnen mit der Absicht, als Heldenfiguren dargestellt zu werden, wird der psychologische Effekt der Selbstwerterhöhung zugesprochen.Footnote 41 Gegenwärtige Studien offenbaren eine Verknüpfung der medialen Aufmerksamkeit mit der Anzahl der Getöteten. Der Anschlag bleibt umso länger auf der Agenda der Medien und wird öfter auf der ersten Seite einer Zeitung publiziert, je mehr Menschen getötet wurden.Footnote 42 Der Umfang der Berichterstattung erhöht sich ebenfalls – gemessen an der Anzahl von Artikeln und Wörtern – entsprechend der Anzahl der ermordeten Menschen.Footnote 43 Die Berichterstattung über die Betroffenen terroristischer Anschläge fungiert allerdings ebenfalls als Ereignis mit Nachrichtenwert. Leuschner, Sommer und Neumann führen diesen Nachrichtenwert darauf zurück, dass „das mediale Publikum aufgrund der eigenen kollektiven Viktimisierung und der Stellvertreterfunktion der Betroffenen an deren Schicksal interessiert ist.“Footnote 44

Diese mediale Aufmerksamkeit ist für die meisten Betroffenen von Gewaltstraftaten unerwünscht und stressbelastet. Es gibt bisher kaum Studien zum Zusammenhang von Medienkonsum von Straftatenopfern und dem Entstehen oder Verstärken einer durch die Straftat hervorgerufenen psychischen Erkrankung. Eine Studie demonstriert, dass sich bei Opfern von Straftaten die Symptome einer bestehenden posttraumatischen Belastungsreaktion durch den Konsum von Medienberichten verstärken könnten, insbesondere bei negativer Tendenz der Berichte.Footnote 45 Folglich liegt nahe, dass die intensive Berichterstattung bei Terroranschlägen einen Risikofaktor für eine Traumatisierung von Betroffenen darstellen kann, indem diese wiederholt mit Bildern und Erinnerungen des traumatischen Ursprungsereignisses konfrontiert werden.Footnote 46 Die voreilige und spekulierende Berichterstattung kann ebenfalls zu weiterer Viktimisierung bei Zeugen/Zeuginnen und Hinterbliebenen führen. Über den rechtsextremistisch motivierten Anschlag von Hanau am 19.02.2020 wurde bspw. in der Tatnacht zunächst als Milieustraftat im Zusammenhang mit Drogen berichtet.Footnote 47 Aus diesen Gründen leitet sich ein Bedürfnis der Betroffenen eines Terroranschlags nach Schutz vor den Medien und ihrer Privatsphäre ab. Dieses Verlangen kann jedoch nicht allgemein gelten, da es auch Betroffene gibt, die aktiv die Medienaufmerksamkeit suchen.

Medienberichte können andererseits durchaus positive Effekte hervorrufen. Soziale Unterstützung und Solidarität mit den Opfern sind wesentliche Faktoren, um die Resilienz der Betroffenen zu stärken. Sensible und opferfokussierte Berichterstattung kann diesen Effekt der Solidarität in der Bevölkerung bewirken oder verstärken. Ein kollektives Schuldgefühl in der betroffenen Stadt nach der Tat reduziert sich durch solidarisches Verhalten, was sich positiv für die Bevölkerung und die Betroffenen auswirken kann. Wird die Berichterstattung lediglich in einen tragischen Rahmen gesetzt, ohne die Opfer und die Bewohner/innen der betroffenen Stadt in den Fokus zu nehmen, wird allenfalls das diffuse Gefühl einer kollektiven Schuld an der Tat potenziert, was dem Gefühl, Solidarität mit den Betroffenen zu entwickeln, abträglich ist.Footnote 48

Für Hinterbliebene von Mordopfern liegen nach einer israelischen Studie einer Kooperation mit den Medien mehrere Motive zugrunde. Die Hinterbliebenen möchten zum einen die Würde und die Reputation der Ermordeten schützen und erhoffen sich zum anderen, die Entscheidung der Strafgerichte indirekt mithilfe der Medien zu beeinflussen. Im Ergebnis klagten die Teilnehmer/innen der Studie jedoch über eine unsensible Behandlung, die sie am Trauern gehindert und ihren Stress vergrößert habe. Ihre Bitten, in vollem Umfang angehört zu werden, seien dabei ignoriert worden.Footnote 49

Festhalten lässt sich, dass die intensive Medienberichterstattung nach Anschlägen für Opfer auf der individuellen Ebene weitere Viktimisierungserfahrungen beinhalten, aber auch als ein Element der für die Salutogenese erforderlichen Solidarität durch die Gesellschaft fungieren kann. Wird das grundsätzliche Bedürfnis der Opfer, als Mittel ihrer Traumabewältigung ihre Geschichte zu erzählen, an die Medien adressiert, wird diese Erwartung aufgrund der Rolle und den kommerziellen Interessen der Medien, nicht im gewünschten Umfang erfüllt werden.

5.4.3 Gesellschaftliche Wirkungen

In the early twenty-first century, criminal victimisation is everywhere. From high-definition videos of the latest terrorist atrocities beamed into our homes, our phones and our laptops by 24-hour news networks to the bite-size, personal, accounts from victims of crime, their families and their supporters appearing on our social media feeds.“Footnote 50

In einer mediatisierten Gesellschaft entfalten kriminelle Opferwerdungsprozesse eine erhebliche Reichweite. Die daraus folgenden Solidaritätsbekundungen mit Opfern sind ubiquitär in der modernen Gesellschaft und ihrem Zugang zu sozialen Medien geworden. Es war noch nie derart einfach, sich persönlich mit Opfern und Viktimisierungserscheinungen verbunden zu fühlen.Footnote 51 Dabei sind klinische Begriffe, wie ‚posttraumatischer Stress‘ und ‚Trauma‘, in das öffentliche Blickfeld gerückt. Daraus entwickeln sich öffentliche Diskurse, wie mit Opfern umgegangen werden sollte und was diese vom Strafjustizsystem erwarten dürfen.Footnote 52 Wie bereits dargestellt wurde, greifen Politik und Regierung beinahe aller Industriestaaten diese gesellschaftliche Debatte fortwährend auf und versprechen (potenziellen) Wählern/Wählerinnen Veränderungen im Justizsystem, um Erwartungen von Kriminalitätsopfern gerecht zu werden. Dieses politische und öffentliche Interesse befördert parallel eine Entwicklung, wonach eine Vielzahl unterschiedlicher Akteure/Akteurinnen, Organisationen, Interessengruppen und Individuen, ob mit oder ohne offiziellen Auftrag im Opferschutz, sich der Sache der Opfer annehmen möchten. Die vorgenannten ‚Player‘ agieren im Kontext ihrer individuellen Ziele und Wertvorstellungen, um Einfluss auf politische Entscheidungen zu nehmen, bspw. zu rechtlichen Veränderungen oder für finanzielle Hilfen für Opfer. Diese Aktivitäten werden kommuniziert und erneut in den vorgenannten gesellschaftlichen Diskurs eingebracht. Das Strafjustizsystem gerät diesbezüglich ebenfalls unter steigenden Druck, Opfern und ihren Unterstützer/innen mehr Serviceleistungen und Teilhabe anzubieten.Footnote 53 Problematisch an den vorgenannten ‚Playern‘, die Opfer von Terrorismus unterstützen, kann ein unprofessioneller Umgang mit den Opfern sein. Wird in diesem Zuge nicht der Gesunderhaltungsprozess gefördert, sondern das Opferwerden pathologisiert, können Betroffene in einen Dauerversorgungsmodus und in Abhängigkeiten geführt werden. Diese Dauerversorgung der Opfer sichert den Interessengruppen wiederum die (öffentliche) Finanzierung ihrer Tätigkeit.Footnote 54 Für die Betroffenen resultiert aus dem Dauerkrisenmodus ein Verharren in der durch die Straftat ausgelösten Ohnmacht und Handlungsunfähigkeit.

Dabei kann auf den Überlebenden und Hinterbliebenen eines terroristischen Anschlags ohnehin bereits ein enormer Druck lasten, wenn eine Gesellschaft die Resilienz oder die Stärke des Landes an der persönlichen Genesung der Opfer misst. Dabei wird den Opfern die Verantwortung für den Zeitpunkt zugeschrieben, an dem sich die Gesellschaft erlaubt, wieder nach vorne zu schauen.Footnote 55 Sind in der Anfangsphase eines traumatischen Ereignisses die Solidarität und Hilfsbereitschaft der Bevölkerung ausgeprägt vorhanden, lassen diese im Laufe der Zeit nach. Folglich setzt Mitleidsmüdigkeit ein: Die Gesellschaft möchte zurück zur Normalität, da die fortdauernde Konfrontation mit dem Trauma der Anderen das Risiko der eigenen Traumatisierung, dem sog. Helfertrauma, beinhaltet.Footnote 56

Theoretische Modelle zu den unterschiedlichen Phasen einer Katastrophe, bspw. das Modell nach Zunin und MeyersFootnote 57, sprechen sogar von einer „Honeymoon“-Phase bis zu einem Jahr für Betroffene und die helfende Gemeinschaft. Ein kritischer Zeitpunkt kann in der darauffolgenden „Desillusionierungs-Phase“ liegen. Im Zuge dessen zeigt sich bei Helfenden und Betroffenen die Erschöpfung, weswegen Helfende in ihre Normalität zurückkehren möchten. Betroffene sind jedoch noch nicht in der Lage, ihr altes Leben erneut aufzunehmen. Fällt diese Phase mit dem Zeitpunkt einer Anklageerhebung, der Einstellung des Ermittlungsverfahrens oder dem Beginn einer HauptverhandlungFootnote 58 zusammen, könnte sich ein psychisches Belastungserleben kumulieren.

Ferner ist eine gesellschaftliche Verpflichtung des Staates zu erwähnen, die in Deutschland aus dem Sozialstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 1 GG abgeleitet wird.Footnote 59 Danach werden Opfer von terroristischen und extremistischen Taten zum einen durch finanzielle Leistungen und zum anderen mit dauerhaft angelegten koordinierenden Strukturen durch eine/n Bundesopferbeauftragte/n und eine Geschäftsstelle im BMJ unterstützt.Footnote 60 Im Folgenden soll untersucht werden, wie sich ein Anschlagsereignis auf das Individuum auswirkt.

5.4.4 Individuelle Folgen

Opfer eines Anschlags zu werden ist ein traumatisches Ereignis.Footnote 61 Dieses hinterlässt Spuren bei den Betroffenen, diesen nahestehenden Personen oder bei den Hinterbliebenen der Getöteten. Die Folgen für diesen Personenkreis können physischer, psychischer oder finanzieller Art sein. Als psychosoziale Konsequenzen nennt die Literatur erhöhte Ängstlichkeit mit Panikattacken, Schreckreaktionen, phobische Ängste, depressive Verstimmungen, Vermeidungsverhalten, Selbstwertveränderungen, spontane blitzlichtartige Erinnerungen, Albträume und nächtliches Hochschrecken. Darüber hinaus sind kognitive Beeinträchtigungen wie Konzentrationsschwierigkeiten und Leistungsbeeinträchtigungen möglich.Footnote 62 Mittel- und langfristig kann es zu Traumafolgestörungen wie der PTBS bzw. zu Alkohol- und Medikamentenmissbrauch kommen. Auch Jahre nach dem Anschlag können Suizidgedanken oder -versuche auftreten. In den ersten Wochen nach dem traumatischen Ereignis ist angesichts der starken Anspannung noch keine Trauma- und Trauerarbeit möglich. Körper und Psyche schalten in ein Überlebensprogramm. Die Bedürfnisse orientieren sich an Halt, Sicherheit, Ruhe und Normalität, wobei der letzte Aspekt nicht erfüllt werden kann.Footnote 63 Bei Betroffenen von Anschlägen sind starke Emotionen und Affekte, wie Wut, Ärger, Angst, Verzweiflung oder Fassungslosigkeit, realistisch. Diese können lange fortbestehen, sind jedoch keine pathologischen, sondern zunächst konventionelle Stress- und Krisensymptome.Footnote 64

Überlebende eines Anschlags, bei dem Menschen getötet wurden, entwickeln häufig Schuldgefühle („survivor guilt“), insbesondere, wenn sie Augenzeugen/Augenzeuginnen waren, jedoch selbst nicht körperlich verletzt wurden. Für Hinterbliebene von Mordopfern werden in Studien intensive, nicht nachlassende Gefühle und Verhaltensänderungen, bspw. Wut, Schuld und das Beschuldigen von Anderen, berichtet. Diese Wut kann sich in Rachefantasien äußern, nicht nur gegenüber dem Mörder/der Mörderin, sondern auch gegenüber der Gesellschaft oder nahestehenden Menschen, die das Opfer vermeintlich nicht ausreichend geschützt haben. Diese feindseligen Gefühle können verdrängt und durch das Beschuldigen und Verantwortlichmachen von Anderen ersetzt werden, bspw. Politiker/Politikerinnen, die liberale Waffengesetze unterstützen.Footnote 65

Die Verarbeitung eines traumatischen Ereignisses sowie die Regulation von Emotionen und Stress erfolgen individuell. Der überwiegende Teil der Betroffenen bewältigt ein Anschlagsgeschehen letztlich ohne klinische Traumafolgestörungen. Trotz der grundsätzlichen Resilienz besteht für Betroffene terroristischer Anschläge ein statistisch erhöhtes Risiko, an einer PTBS zu erkranken als für Betroffene anderer Straftaten oder Opfer von Naturereignissen.Footnote 66 Tritt infolgedessen eine PTBS auf, können die Symptome eine erheblich über dem Durchschnitt liegende Ausprägung aufweisen.Footnote 67

Es ist noch nicht ausreichend erforscht, welche Regulations- und Bewältigungsprozesse ursächlich für die Gesunderhaltung und Resilienz sind. Dazu bestehen mehrere ätiologische Rahmenmodelle. Das multifaktorielle Rahmenmodell nach Maercker bspw. stellt auf die prädeliktischen Bedingungen des Opfers, die Tat und das postdeliktische Geschehen (individuelle Ressourcen und soziale Unterstützung) ab.Footnote 68 Die Folgen potenziell traumatischer Ereignisse sind klinisch somit effektiv untersucht. Es mangelt jedoch an ausreichender empirischer Forschung zu den psychosozialen Folgen und deren Bewältigung, zu denen auch die spezifische Frage nach den Bedürfnissen zu rechnen ist.Footnote 69 Ebenso existiert bisher, insbesondere im deutschsprachigen Raum, keine Forschung zu möglichen Unterschieden bei terroristischen bzw. extremistischen und anderen Anschlägen, wie Schulamokläufen oder Amokfahrten, hinsichtlich der Folgewirkungen für Betroffene. Unerforscht sind ebenso Unterschiede in den Reaktionen und Bedürfnissen zwischen Hinterbliebenen und körperlich verletzten und unverletzten Augenzeugen/Augenzeuginnen. Ebenfalls kaum untersucht ist bisher, unter welchen Gegebenheiten Opfer ihrerseits zu (Gewalt-)Tätern/TäterinnenFootnote 70 werden oder ggf. vorher einschlägig in Erscheinung getreten sind.

Einige Opfer wählen altruistische Verhaltensmuster und beteiligen sich bspw. an Projekten zur Gewaltprävention. Letzteres kann eine bedeutsame psychologische Funktion als Coping-Funktion erfüllen, da dies den Selbstrespekt erhöht, soziale Integration beinhaltet, das Risiko von psychischen Erkrankungen senkt und einen beständigen Rahmen zur Bewältigung einer schwierigen Zeit bietet. Der psychologische Gewinn des altruistischen Handelns für die einzelne Person wirkt sich zum einen positiv auf die Gruppe der Betroffenen aus, die ein unfreiwilliges gemeinsames Schicksal teilen, aber auch auf die Gesellschaft als Ganzes, indem die Solidarität zwischen unterschiedlichen Teilen der Gesellschaft erhöht wird.Footnote 71

Die Literatur beschreibt folgende divergierende Verhaltensweisen von Überlebenden und Hinterbliebenen: die komplette Ablehnung von politischem Aktivismus, das Vermeiden von sinngebenden Tätigkeiten und sozialen Interaktionen, intensive politische Lobbyarbeit, das Gründen von Betroffenengruppen, Interessenvertretungsarbeit und aktive Medienarbeit. Im Laufe des Lebens kann ein und dieselbe betroffene Person unterschiedliche oder sogar gegenteilige Reaktionsformen zeigen.Footnote 72

Als Ergebnis ist festzuhalten, dass sich eine Viktimisierung durch einen Terroranschlag in der Komplexität des Phänomens und der Individualität der Reaktionen darauf weder definieren noch in einem Konzept erfassen lässt. Vielmehr ist davon auszugehen, dass es kein statischer Zustand ist und sich der Umgang der Betroffenen mit dem Opfer-Sein im Laufe des Lebens und unterschiedlichen Lebenssituationen verändern kann. Überdies hat ein terroristischer Anschlag ähnliche Effekte für Überlebende und Hinterbliebene wie für andere Opfer von schweren Gewaltdelikten. Ein Unterschied liegt im statistisch erhöhten Risiko einer Traumafolgestörung und verstärkten Symptomen einer PTBS. Zudem kann der Unterstützungsbedarf eine sehr lange Zeitspanne umfassen.Footnote 73 Der Unterschied zu anderen Straftaten ist die enge Verknüpfung von individuellem mit gesellschaftlichem Trauma. Dies kann für Betroffene im Verarbeitungsprozess aufgrund der finanziellen Hilfe und der sozialen Unterstützung durch öffentliche Aufmerksamkeit förderlich sein. Die Deutungshoheit über ihre private Tragödie können Terrorismusopfer jedoch verlieren: Attentäter/Attentäterinnen, Politik, Medien, Gesellschaft und Organisationen bedienen sich des tragischen Geschehens, wobei Betroffene unfreiwillig in ein System mit sich wechselseitig überlagernden Instrumentalisierungen geraten.

5.5 Bedürfnisse der Betroffenen und Interventionsstrategien

Nach der Erörterung der individuellen Viktimisierungsfolgen soll nun der Blick auf die Bedürfnisse der Opfer und Interventionsstrategien gerichtet werden. Die Forschung hat bisher keine Hinweise formuliert, dass unterschiedliche belastende Ereignisse zu verschiedenen Bedürfnislagen führen. Die Bedürfnisse von Opfern terroristischer Anschläge scheinen sich nicht von denen der Opfer von Natur- und TechnikkatastrophenFootnote 74 oder anderen Straftaten zu unterscheiden.Footnote 75 Ebenso wie andere Kriminalitätsopfer müssen sie mit den Gefühlen von Angst und Wut sowie dem posttraumatischen Stress umgehen lernen. Die Besonderheit liegt im Kontext der terroristischen Viktimisierung und dem öffentlichen Publikum.Footnote 76

Die explorative Studie von Treibel et al. leitet aus Befragungen von Fachkräften und einer Internetstudie Bedürfniskategorien für Betroffene potenziell traumatisierender Ereignisse ab. Unabhängig, ob Natur- oder Technikkatastrophe oder terroristischer Anschlag wurden die folgenden Bedürfnisse als wesentlich genannt: umfassende Informationen zu erhalten, Sicherheit (sicherer Ort mit Schutz vor der gleichen oder einer neuen Gefahr), Kontakt zu anderen Betroffenen, soziale Einbindung sowie Möglichkeiten zum Trauern und Gedenken. Zudem äußerten Betroffene terroristischer Anschläge einerseits das Bedürfnis, politisch aktiv und andererseits die Befürchtung, politisch instrumentalisiert zu werden.Footnote 77 An diese Studie schließt sich eine Inhaltsanalyse der Einsatzdokumentation der Koordinierungsstelle Nachsorge, Opfer- und Angehörigenhilfe (NOAH) durch Helmerichs, Fröschke und Hahn an.Footnote 78 Die Forschenden konnten 13 Hauptanliegen Betroffener von Katastrophen und terroristischen Anschlägen identifizieren: Informationen geben, Belastungsfaktoren nennen, Unterstützendes schildern, Informationen einholen, Danken, Belastungsreaktionen beschreiben, Emotionen ausdrücken, Kritik ausdrücken, Vermittlung psychosozialer Hilfen erbitten, Handlungsempfehlungen einholen, Anweisungen erteilen, über Erlebtes berichten sowie Vernetzung mit anderen Betroffenen erbitten. Betroffenengruppenspezifische Unterschiede wurden nicht festgestellt. Hierbei muss erwähnt werden, dass sich beide Untersuchungen auf die psychosoziale Notfallversorgung in der Akutsituation beziehen. Die genannten Anliegen sind jedoch genereller Art und können deshalb auch über die Krisensituation hinaus als relevant angesehen werden. Ein Charakteristikum bei Opfern von Anschlägen ist das Bedürfnis nach politischer Anerkennung als Terroropfer und öffentlicher Würdigung des Leidens.Footnote 79

Die vorgenannten Bedürfnisse sind psychischer und psychosozialer Natur. In der Literatur ist überwiegend anerkannt, dass diesen Bedürfnissen nicht nur akut, sondern auch mittelfristig Rechnung getragen werden kann durch die Orientierung an den durch Hobfoll et al.Footnote 80 in einer Meta-Analyse herausgearbeiteten fünf Kernelemente für den psychosozialen Notfall. Das damit einhergehende Klassifizierungsschema lautet wie folgt: „1. Das Gefühl von Sicherheit fördern (Promotion of Sense of Safety), 2. Beruhigung fördern (Promotion of Calming), 3. Die Selbstwirksamkeit und kollektive Wirksamkeit fördern (Promotion of Sense of Self-Efficacy and Collective Efficacy), 4. Kontakt und Verbundenheit fördern (Promotion of Connectedness), 5. Hoffnung initiieren (Instilling Hope).Footnote 81

Grundlage der Handlungslogik des gesamten Unterstützungssystems sollte ein präventiver und partizipativer Ansatz sein. Dabei hat die Fokussierung auf die Ressourcen zur Selbsthilfe die Aufgabe, die Selbstwirksamkeit der Betroffenen zu stärken und damit der Salutogenese, dem Erhaltungsprozess der Gesundheit, zu dienen. Eine verfrühte Pathologisierung bzw. ein an den Defiziten orientiertes und paternalistisch agierendes Helfersystem wird wiederum als kontraproduktiv für die Gesunderhaltung beschrieben.Footnote 82

Neben diesem individuellen Zugang bedarf es insbesondere bei traumatisierenden Ereignissen des sozialen Beistands durch das Umfeld. Als hilfreichste Unterstützung haben Hinterbliebene den Kontakt mit Menschen bewertet, die Vergleichbares erlebt haben.Footnote 83 Die Bedeutsamkeit dieses Peer-Supports wird durch eine britische Studie bestätigt, die zugleich Kritik an der Unterstützung durch offizielle Stellen formuliert. Am Kontakt mit Behörden haben Betroffene bemängelt, dass die Stellen untereinander nicht zusammenarbeiten und es somit zu Verzögerungen kommt. Der in der britischen Studie als positiv wahrgenommene Kontakt mit anderen Betroffenen unterliegt zudem der Komplikation, dass die Menschen, die nicht am Anschlagsort wohnen oder im Ausland Opfer geworden sind, nur eingeschränkt Kontakt zueinander herstellen können. Daher richtet sich eine Überlegung darauf, nach Anschlagsgeschehen sichere Online-Portale zum Austausch für Betroffene zu installieren. Hier fehlen jedoch noch Erfahrungen, welche Institutionen diese verantworten und sich daran beteiligen sollten. Die Autorin der britischen Studie schlägt in diesem Kontext u. a. vor, auch Wissenschaftler/innen zu involvieren.Footnote 84

5.6 Erwartungen an das Strafjustizsystem

Nachdem vorstehend die allgemeinen Bedürfnisse von Betroffenen erörtert wurden, soll nun untersucht werden, welche Erwartungen sich an das Strafjustizsystem richten.

Eine Forschung zu Hinterbliebenen oder Augenzeugen/Augenzeuginnen von (terroristischen) Anschlägen in Bezug auf das Strafjustizsystem existiert noch nicht. Deshalb wird in dieser Arbeit mangels deutscher Studien auf internationale Studien zu Hinterbliebenen von Mordopfern zurückgegriffen. In ihrer Meta-Studie von 2015 fassen Connolly und Gordon die Ergebnisse aus fünf Studien zu den Erfahrungen von Hinterbliebenen mit dem Strafjustizsystem wie folgt zusammen: Schwierigkeiten, Informationen über ihren Fall zu erhalten, eine unsensible Behandlung, die Ungerechtigkeit des Kriminaljustizsystems und negative Medienberichterstattung. Für die Hinterbliebenen haben sich diese Aspekte auf die Trauerverarbeitung negativ ausgewirkt.Footnote 85 Bemerkenswert ist, dass – analog zu der Akutphase gegenüber dem ersthelfenden System – der elementarste Bedarf darin besteht, ausreichend, kontinuierlich und wahrheitsgemäß über Stand und Verlauf des eigenen Falles informiert zu werden. Die wahrgenommene Ungerechtigkeit führten die Befragten u. a. auf die lange Verfahrensdauer, die Orientierung des Strafverfahrens an den Rechten des Angeklagten und die daraus resultierende gefühlte eigene Machtlosigkeit sowie einer als zu gering, und damit unfair wahrgenommenen, Strafe zurück. Im Hinblick auf diese Resultate muss jedoch berücksichtigt werden, dass einige der ausgewerteten Studien aus den 1980er und 1990er Jahren stammen und andere Rechtssysteme betreffen. Die Opferschutzgesetzgebung hat sich – auch international – seitdem weiterentwickelt. Eine aktuellere Studie von Stretesky et al. weist allerdings in eine ähnliche Richtung: Opfer bewerten die Kommunikation mit den Ermittlungsbehörden als einen der elementaren Bestandteile in ihrem Verarbeitungsprozess.Footnote 86

Pugach, Peleg und RonelFootnote 87 haben die doppelte Herausforderung für Co-OpferFootnote 88 untersucht, mit den systemimmanenten rechtlichen und medialen Anforderungen neben der Bewältigung der Straftat zurechtzukommen. Sowohl hinsichtlich der Justiz als auch der Medien haben sich die Studienteilnehmer/innen in nahezu identischer Wortwahl über eine unsensible Behandlung, die sie an der Trauer gehindert habe, einer Zunahme von Stress sowie der Missachtung des Wunsches, vollständig gehört zu werden, geäußert. Dem Wunsch, ‚gehört‘ zu werden, sollen folgende fünf Hindernisse entgegengestanden haben: 1. Das Fehlen von Informationen über Verfahrensabläufe, 2. Das Nichtverstehen der „rechtlichen Sprache“, 3. Das Fehlen rechtlicher Möglichkeiten sowie die fehlende Bereitschaft der Prozessbeteiligten, im Gerichtsprozess eine Aussage zuzulassen, 4. Gewerbliche Interessen der Medien, die ihre wahren/echten Aussagen verstummen ließen, 5. Die Zurückweisung durch das Strafjustizsystem, andere Formen der Anhörung zu ermöglichen.Footnote 89

Eine aktuellere US-amerikanische Studie mit Hinterbliebenen von Mordopfern hat folgende Erwartungen an das Gericht ermittelt: Bestätigung der Wertschätzung des Lebens der ermordeten Person und deren Unschuld, Antworten auf die Fragen zum Fall, die Möglichkeit, das Andenken des Verstorbenen/der Verstorbenen durch Abgabe eines VIS zu ehren und Heilung.Footnote 90 In seiner literaturgestützten Studie fasst Pemberton, referenzierend zu den allgemeinen Bedürfnissen von Opferzeugen, drei Aspekte zusammen, die das Strafverfahren betreffen: eine respektvolle und gerechte Behandlung, Informationen über den Prozessablauf und dessen Ergebnis und Varianten zur Partizipation.Footnote 91

Es kann folglich resümiert werden, dass das Erhalten und Verstehen von Informationen, Wertschätzung – auch für die Getöteten – und Gehör/Kommunikation die wesentlichen Bedürfnisse für Opfer oder Hinterbliebene schwerer Gewalttaten darstellen. Betroffene von Anschlägen weisen darüber hinaus das Bedürfnis auf, politisch als Terroropfer anerkannt und öffentlich gewürdigt zu werden.Footnote 92 Diese Bedarfe können sowohl für die akute Ereignisphase als auch für Erwartungshaltungen an das Strafjustizsystem angenommen werden. Dabei sollte berücksichtigt werden, dass auch die Erfüllung der Erwartungen nicht zum gewünschten Ergebnis einer Heilung oder dem innerlichen Abschließen mit der Tat führen muss oder pathologische Folgen wie eine verzögerte Trauerreaktion sicher ausschließen oder mildern kann. Gleichwohl sollte dieser Umstand kein Hinderungsgrund sein, das menschlich Gewünschte und das psychologisch Sinnvolle am Maßstab des rechtlich Möglichen zu messen. Dies ist Gegenstand des nächsten Kapitels.