„Das Gericht ist nicht der Ort der Therapie. Sehr wohl aber der Ort, an dem der eingetretene Schaden vergrößert werden kann.“ Footnote 1

4.1 Allgemeine Ziele des Strafverfahrens

Die Ziele des Strafverfahrens gründen sich auf die Elemente der Wahrheit, der Gerechtigkeit und des Rechtsfriedens.Footnote 2 Diese stehen zueinander in einem „labilen Gleichgewicht“Footnote 3. Die Suche nach der Wahrheit im Strafprozess bezieht sich auf die Sachverhaltsfeststellung und den Beweis aller materiell-rechtlichen Umstände. Sie wird begrenzt auf die Fakten, die für die konkrete Tat relevant sind. Zudem steht dem Finden einer objektiven Wahrheit erkenntnistheoretisch entgegen, dass Wirklichkeitsauffassungen voneinander abweichen können. Wahrnehmungen sind subjektiv und unterliegen individuellen Zuschreibungsprozessen und Attributionen. Das aus dieser Wahrnehmung entstehende Bild der Wirklichkeit ist infolgedessen ein Konstrukt. Jede/jeder Verfahrensbeteiligte im Strafprozess konstruiert somit ein eigenes Bild der Wirklichkeit und dessen, was wahr ist. Den rechtsprechenden Organen obliegt deshalb eine Aufklärungspflicht mit der „Intention auf Wahrheit“Footnote 4, wobei sich die Aufklärungspflicht aus § 244 Abs. 2 StPO ergibt. Für das Urteil ist letztlich die Überzeugung des Gerichts, d. h. die subjektive Gewissheit auf der Grundlage von „rationaler ArgumentationFootnote 5 maßgebend. Weitere Begrenzungen erfährt die materiell-rechtliche Wahrheitssuche durch strafprozessuale Rechte. Diese bilden die in einem Rechtsstaat zu schützenden Interessen ab. Hierzu zählen bspw. das Schweigerecht des Beschuldigten nach § 136 StPO oder die Zeugnisverweigerungs- und Aussageverweigerungsrechte von Zeugen nach §§ 52 ff. StPO. Eine beschuldigte Person darf nicht nur schweigen, sondern auch lügen und muss nicht an der Sachverhaltsaufklärung mitwirken. Der aus der Unschuldsvermutung abgeleitete In-dubio-pro-reo-Grundsatz unterstellt bei unüberwindbaren Zweifeln die Annahme der günstigeren Sachlage für die beschuldigte Person. Zudem erkennt die Rechtsprechung trotz der Aufklärungspflicht Konstellationen an, in denen darauf verzichtet werden darf, „die Wahrheit um jeden PreisFootnote 6 zu ermitteln.Footnote 7

Das zweite Verfahrensziel der Gerechtigkeit im Strafprozess bedeutet, dass ein gerechtes Urteil auf den festgestellten, vorstehend angeführten ‚wahren‘ Tatsachen beruht und das zugrunde liegende Verfahren fair, ordnungsgemäß und menschenwürdig durchgeführt wurde.Footnote 8 Der Begriff der Fairness bezieht sich wiederum auf den formellen Aspekt der Gerechtigkeit und gebietet einen anständigen und ehrlichen Umgang miteinander. Dazu bedarf es des Respekts und der Einhaltung von Regeln. Übertragen auf den Strafprozess bedeutet dies, beschuldigte Personen menschenwürdig und nicht als bloßes Verfahrensobjekt zu behandeln. Das „Recht auf ein faires Verfahren“ ergibt sich als zentrale Norm aus Art. 6 der EMRK. Die Strafprozessordnung enthält weitere Verfahrensregeln, die ein faires Verfahren gewährleisten sollen.Footnote 9 Dazu zählen bspw. der Anspruch auf rechtliches Gehör, die Öffentlichkeit des Verfahrens, ggf. ein Recht auf (Pflicht-)Verteidigung, ein Recht auf Übersetzung in die eigene Sprache oder Beweisverwertungsverbote bei unzulässiger Beweiserhebung.

Als Zwischenergebnis kann formuliert werden, dass Gerechtigkeit Fairness voraussetzt, die auf Regeln beruht, die wiederum die Form des Strafverfahrens prägen. Barton spricht dieser Form sogar einen „EigenwertFootnote 10 zu und leitet hieraus eine Bedeutung für die prozedurale Gerechtigkeit ab. Den Eigenwert macht er daran fest, dass Verfahrensrecht nicht nur dienenden Charakter habe, somit die Einhaltung der Regeln des Verfahrensrechts nicht nur um ihrer selbst willen erfolge, sondern als Teil von eigenen Spielregeln zu verstehen sei. Diese Spielregeln ermöglichten den Handelnden im Gerichtssaal Orientierung, Beteiligung an Verlauf und Ergebnis des Verfahrens und garantierten gleichzeitig die rechtliche Rahmung und Filterung der Konstruktionen von Wirklichkeit. Ein Bruch von Spielregeln bedeute Formverlust, beeinträchtige Fairness und führe folglich zu prozedural ungerechtfertigten Ergebnissen.Footnote 11 Eine solche Einschränkung der prozeduralen Gerechtigkeit betreffe nicht nur die beschuldigten Personen, sondern auch Zeugen/Zeuginnen und Opfer. Nur klare Formen und deren Einhaltung gewährleisteten letztlich Rechtsfrieden für beschuldigte Personen und Opfer.Footnote 12

Die Wiederherstellung des Rechtsfriedens ist das dritte Ziel des Strafverfahrens. Strafrecht arbeitet daher einen „sozialen Störfall“Footnote 13 auf. Dabei sollen individuelle Konflikte zwischen Tätern/Täterinnen und Opfern behandelt und bestenfalls gelöst werden. Die Durchsetzung der objektiven Rechtsordnung und damit des staatlichen Strafanspruchs legitimiert die Geltungskraft der Strafvorschriften und soll infolgedessen zum Rechtsfrieden führen. Zu diesem überindividuellen Interesse des Staates muss ein Opfer ggf. einen eigenen Beitrag, z. B. durch eine Zeugenaussage, erbringen.Footnote 14

4.2 Begründung des prozessualen Opferschutzes

4.2.1 Verfassungsrechtliche Aspekte

Wie vorstehend ausgeführt, lassen sich aus sämtlichen Strafzielen neben den Täterbelangen Anhaltspunkte für Opferinteressen ableiten. Fraglich ist, ob ein Rechtsanspruch eines Opfers auf aktive Teilnahme am Strafverfahren besteht. Bisher wird ein solcher Rechtsanspruch im Schrifttum überwiegend verneint, während die existierenden strafprozessualen Regeln auf rechtspolitisch bedingte Entscheidungen des Gesetzgebers ohne Bestandsschutz zurückgeführt werden.Footnote 15 Hassemer moniert ein Fehlen der theoretischen und verfassungsrechtlichen Grundlagen. Auf die Auseinandersetzung sei angesichts des kriminalpolitischen Drucks bisher verzichtet worden und es fehle „der Grund, der eine Beteiligung des Opfers normativ unausweichlich machtFootnote 16. Aus dem Sozialstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 1 GG und den Grundrechten als Freiheitsrechten wird abgeleitet, dass der Staat bei Handlungsschwächen des Individuums eingreifen und ausgleichen darf. Somit ist der Gesetzgeber berechtigt, Verletzte im Strafverfahren zu berücksichtigen und vor verfahrensinduzierten Folgen zu schützen. Diese Berechtigung beinhalte jedoch nicht die Verpflichtung zu einer aktiven Beteiligung von Verletzten am Strafverfahren. Nach Ansicht von Galens seien Maßnahmen zum Opferschutz der Sozialpolitik zuzurechnen, jedoch nicht verfassungsrechtlich aus dem Sozialstaatsprinzip geboten.Footnote 17

Entgegen der Meinung in der Lehre lässt sich ein Indiz für eine verfassungsrechtliche Begründung dem Gesetzgebungsverfahren zum ersten Opferrechtsreformgesetz aus dem Jahr 2004 entnehmen:

Der soziale Rechtsstaat im Sinne der verfassungsmäßigen Ordnung des Grundgesetzes ist im Falle einer Straftat nicht nur zur Aufklärung des Sachverhaltes sowie dazu verpflichtet, den mutmaßlichen Täter in einem fairen Verfahren seinem gesetzlichen Richter zuzuführen. Vielmehr gilt es gleichzeitig, die Belange des Opfers zu wahren, sich schützend und fördernd vor dessen Grundrechte zu stellenFootnote 18.

Demzufolge könnte schlussgefolgert werden, dass der Zustand vor Einführung des ersten Opferrechtsreformgesetzes verfassungswidrig gewesen sei, für diese Annahme werden jedoch keine Anhaltspunkte aufgeführt.

Unabhängig von der kontroversen Diskussion um einen verfassungsrechtlichen Anspruch eines Opfers auf Partizipation, sind grundsätzlich vor Gericht die Grundrechte der angeklagten Person und diejenigen der Zeugen/Zeuginnen zu beachten. Dies können folgende Grundrechte sein: die Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG, das allgemeine Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG und das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG.Footnote 19

Über diesen grundrechtlichen Schutz für Zeugen/Zeuginnen hinaus zeichnet sich in der Rechtsprechung des BVerfG jedoch ein Wandel ab, der die Idee eines in der Verfassung verankerten Rechts eines Opfers auf eine strafrechtliche Verfolgung erneut aktuell erscheinen lässt.Footnote 20 In einer Entscheidung aus dem Jahr 2015 erkennt das BVerfG ein subjektives öffentliches Recht von Opfern schwerer Straftaten auf eine effektive Strafverfolgung an. Begründet wird dies mit der staatlichen Schutzpflicht nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG. Die zu gewährleistende effektive Strafverfolgung bedarf nicht der Anklageerhebung, aber der Ausschöpfung aller Ressourcen der Strafverfolgungsbehörden zur Sachverhaltsaufklärung und Beweismittelsicherung mit vollständiger Dokumentation und einer nachvollziehbar begründeten Einstellungsverfügung. Die Reichweite dieser Entscheidung bezieht sich zudem auf das Ermittlungsverfahren und soll vor einer zu frühzeitigen Beendigung des Verfahrens schützen.Footnote 21 Dabei gilt es, einem „allgemeinen Klima der Rechtsunsicherheit und GewaltFootnote 22 entgegenzutreten.

4.2.2 Strafrechtstheoretische Aspekte

Ansatzpunkte von Opferschutz und -belangen finden sich nicht nur in den Strafzielen und der Verfassung, sondern werden in der Forschung auch im Rahmen der Strafzwecke diskutiert. Angesichts des Umfangs dieser Untersuchung muss eine tiefere Auseinandersetzung mit der Position des Opfers in den absoluten und relativen Strafrechtstheorien unterbleiben. Wurde das Opfer in der Straftheorie bisher kaum berücksichtigt, werden im Schrifttum mittlerweile der negativen Spezial- und der positiven Generalprävention Opferschutzrelevanz zugeschrieben. Die absoluten Strafrechtstheorien zeichnen sich durch Vergangenheitsbezug und Vergeltung und Sühne für die begangene Tat aus. Die relativen Strafrechtstheorien sind wiederum zukunftsorientiert und zweckgebunden auf die Prävention zukünftiger Taten ausgerichtet, wobei eine weitere Differenzierung zwischen General- und Spezialprävention vorgenommen wird. Opferbedürfnisse lassen sich daher im Rahmen der negativen Spezialprävention zur damit verbundenen Abschreckungsfunktion und der Sicherung vor Tätern/Täterinnen in Bezug setzen. Die positive Generalprävention strebt den Befriedungseffekt der Allgemeinheit an. Ein Strafausspruch bedeutet Genugtuung und Normbestätigung gegenüber der Allgemeinheit und beinhaltet gegenüber dem verletzten Individuum die Botschaft, dass eine Norm verletzt, damit dem Opfer ein Unrecht angetan wurde und die Norm weitergilt.Footnote 23 Der Wiederherstellung des Normvertrauens durch eine Verurteilung wird eine präventive Wirkung zugesprochen, damit die Opfererfahrung nicht zu einer Wahrnehmung von erodierender Normgeltung und zukünftigem kriminogenen Verhalten des Opfers führt.Footnote 24

Bezogen auf die von einer Straftat traumatisierten Opfer wird teilweise die Meinung vertreten, Bestrafung als Teil von Traumabewältigung anzusehen. Begründet wird dieser Standpunkt damit, dass der Staat eine Straftat nicht verhindert hat und somit als Repräsentant der Gesellschaft – insbesondere bei traumaspezifischen Delikten – eine Bestrafung schuldet, um das erlittene Trauma von Opfern zu mindern.Footnote 25 Diese Sichtweise scheint zunächst plausibel bei den hier untersuchten Anschlagsgeschehen, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sie nicht verhindert werden konnten und erhebliche Traumafolgen auslösen können. Reemtsma führt dagegen überzeugend an, dass ein Gerichtsurteil das traumatische Ereignis nicht mehr beseitigen könne, allerdings weiteren Schaden durch die Normbestätigung abwenden könne. Er unterscheidet zwischen Unglück und Unrecht und der Notwendigkeit, „deutlich zu sagen, dass nicht hätte geschehen dürfen, was geschehen istFootnote 26. Erst aus der Anerkennung als Unrecht durch die Verletzung von Normen fühle sich die Gemeinschaft verpflichtet, während für Unglück niemand verantwortlich sei. Das traumatisierte Opfer müsse im künftigen Leben eine Anpassung an die Normalität erreichen, dazu müsse ihm/ihr die (Rechts-)Gemeinschaft – so weit wie möglich – beistehen.Footnote 27 Die von Reemtsma vertretene Ansicht entfaltet insbesondere für Anschlagsopfer eine Bedeutung hinsichtlich des notwendigen gesellschaftlichen Mitgefühls für die Unterstützung bei der Traumabewältigung. Kapitel 5 widmet sich diesem Thema.

4.2.3 Sachliche Begründung des Opferschutzes

Die sachliche Begründung von prozessualem Opferschutz liegt in der tatsächlichen Betroffenheit einer Person durch ein strafrechtlich relevantes Verhalten und einer möglichen Verletzung ihrer Rechtsgüter. Darin unterscheiden sich Zeugen/Zeuginnen von Verletzten.Footnote 28 Prozessualer Opferschutz zielt auf die Vermeidung oder Reduzierung potenzieller negativer Folgewirkungen durch die strafprozessuale Aufarbeitung des zugrunde liegenden Geschehens.Footnote 29 Dazu zählen Phänomene wie die sekundäre oder die tertiäre Viktimisierung, die in Kapitel 2 erörtert wurden. Die rechtliche Anknüpfung erfolgt anhand der viktimologischen Definition des Opferstatus. Dies ist zunächst jede Person, die ein Viktimisierungsgeschehen behauptet. Rechtlich folgt daraus eine strafprozessuale Opfervermutung. Die Inanspruchnahme der Opferrechte kann daher unabhängig vom Täterstatus erfolgen: Es kommt nicht darauf an, ob eine mutmaßlich tatverantwortliche Person angeklagt, verurteilt oder das Verfahren eingestellt wird.Footnote 30 Insgesamt bilden Opfer- und Opferschutzrechte stets originäre Rechte. Sie sind situativ ausgerichtet, somit auch anwendbar in Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt. Voraussetzung sind strafrechtliche Ermittlungen, die allerdings entsprechend der Verfahrenslogik des Strafprozessrechts täterbezogen ausgerichtet sind. Die prozessrechtliche Privilegierung des Opfers leitet sich infolgedessen aus der spezifischen Belastung einer möglichen Reproduzierung des Viktimisierungserlebnisses, insbesondere in der Prozesssituation, ab und begründet damit das prozessuale Schutzbedürfnis.Footnote 31

4.2.4 Kritik

Kritik erfährt die Opferschutzgesetzgebung vor dem Hintergrund einer potenziellen Einschränkung der Verteidigungsrechte des Täters/der Täterin.Footnote 32 Geltend gemacht werden verfassungsrechtliche Bedenken, wie das Recht von Beschuldigten auf ein faires Verfahren oder die Verletzung der Unschuldsvermutung. Auf den fortwährenden Diskurs im Schrifttum, ob mit der Zunahme von Opferrechten und dem damit einhergehenden verbesserten Opferschutz ein entsprechender Rückgang der Rechte einer beschuldigten Person verbunden wird,Footnote 33 kann angesichts des Schwerpunkts und Umfangs dieser Arbeit lediglich schlaglichtartig hingewiesen werden. Eine Verletzung der Unschuldsvermutung lässt sich bspw. mit einer Fallgestaltung illustrieren, bei der beschuldigte Personen ohne prozessordnungsgemäßen Schuldnachweis verfahrensbezogen als schuldig behandelt werden, wie es bei einer Zulassung der Nebenklage nach § 395 Abs. 3 StPO gegeben ist, wenn in einem frühen Verfahrensstadium bereits über die „schweren Folgen der Tat“ entschieden wird.Footnote 34

Darüber hinaus wird das Fehlen einer ausgefeilten strafprozessualen Dogmatik der einer permanenten Änderung unterworfenen Opferrechte – der Dogmatik strafprozessualer Rechte von Beschuldigten entsprechend – moniert.Footnote 35 Im Gegensatz zu Schutzrechten werden offensive Opferrechte wie das der Nebenklage zudem als Verstärkung eines generalisierenden Opferschutzes kritisiert, der die Struktur des Strafverfahrens in Richtung eines „prozessual ungeordneten ParteienprozessesFootnote 36 verändert. Die prozessuale Waffengleichheit und damit die Fairness des Verfahrens könne infolgedessen infrage gestellt sein, wenn einer angeklagten Person und der Verteidigung eine numerisch hohe Anzahl von Nebenkläger/innen und deren anwaltliche Vertretungen im Gerichtssaal gegenüber stehen.Footnote 37 Insbesondere in Großverfahren, wie bei Anschlagsgeschehen mit einer Vielzahl von Verletzten und Hinterbliebenen, ist dieses Argument plausibel. Im Strafverfahren gegen den Attentäter von Halle vor dem Oberlandesgericht Naumburg waren bspw. 45 Überlebende und Hinterbliebene als Nebenkläger/innen zugelassen worden, die von 23 Anwälten/Anwältinnen vertreten wurden.Footnote 38

Um dem Argument der Waffenungleichheit zu begegnen und um Interessen zu bündeln, besteht nunmehr durch die Vorschrift des § 397b StPO die Möglichkeit, einen gemeinschaftlichen Beistand für mehrere Nebenkläger/innen bei gleicher Interessenlage zu bestellen.Footnote 39 Schlussendlich hat der Gesetzgeber die Fiktion von gleichgelagerten Interessen bei mehreren Angehörigen eines Getöteten angenommen (§ 397b Abs. 1 S. 2 StPO). Ergänzend ist zu bemerken, dass die kontroverse Diskussion im Schrifttum bisher keine empirische Bestätigung für die Annahme der Beeinträchtigung der Wahrheitsfindung im Strafprozess durch die Stärkung der Verletztenrechte findet.Footnote 40

Wie vorstehend aufgezeigt, finden sich Aspekte von Opferinteressen und ihre Begründetheit in den Zielen des Strafverfahrens, in den Gedanken der Verfassung und in den Strafzwecken. Sachlich begründet sich Opferschutz in der tatsächlichen Betroffenheit eines Menschen von einer strafrechtlich relevanten Viktimisierung und darauf beruhenden etwaigen Folgewirkungen. Ein Opferzeuge/eine Opferzeugin hat eine prozessuale Doppelstellung – zum einen im Rahmen des prozessualen Beweises, zum anderen als ein mit einer Vielzahl von Rechten versehenes Prozesssubjekt.Footnote 41 Der Schutz und die Rechte von Opferzeugen/Opferzeuginnen bewegen sich folglich in einem Spannungsfeld zu den Täterinteressen und den rechtsstaatlich zu gewährleistenden Täterrechten.

Nachfolgend soll die Entstehung von Opferrechten auf deutscher und europäischer Ebene dargelegt werden, wobei daran anknüpfend die strafprozessualen Vorschriften zum Opferschutz einer näheren Betrachtung unterzogen werden. Dabei liegt der Fokus auf den für die Betroffenen von Anschlägen relevanten Vorschriften.

4.3 Entwicklung der Opferschutzvorschriften: StPO und europäische Ebene

Bis zu den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts standen der Täter/die Täterin und deren legitime Verteidigungsinteressen im Mittelpunkt des Strafverfahrens. Seitdem findet eine kontinuierliche Stärkung des Opferschutzes im Strafverfahren durch den deutschen Gesetzgeber statt. Die Strafprozessordnung enthält mittlerweile eine Vielzahl von Opferschutzrechten, die beständig ausgebaut werden. Die Begründung des Gesetzgebers für diese Entwicklung sowie die politische und gesellschaftliche Diskussion beziehen sich auf Opferinteressen, somit auf einen generalisierten Opferschutz, während wissenschaftliche Studien stärker zwischen Opfergruppen und Deliktsarten differenzieren.Footnote 42

Die deutsche Gesetzgebung wird darüber hinaus durch Rechtssetzungsakte der Europäischen Union beeinflusst.Footnote 43 Dabei obliegt es den Mitgliedstaaten, nationale gesetzliche Maßnahmen zur Wirksamkeit der EU-Richtlinien innerhalb ihrer Zielrichtung zu ergreifen. Ein Mitgliedstaat darf in diesem Kontext umfassendere Rechte konstituieren, sofern die Zielrichtung der Richtlinie nicht entgegensteht.Footnote 44 Von zusätzlicher Relevanz sind die Empfehlungen des Ministerkomitees („Recommendations“), eines Organs des Europarats.Footnote 45

Die Strafprozessordnung vom 01.02.1877 sah bereits das Klageerzwingungsverfahren, das Privatklageverfahren und die Nebenklage als Rechtsinstrumente vor. Das Adhäsionsverfahren kam 1943 hinzu und finanzielle Ansprüche von Straftatenopfern an den Staat wurden durch das Opferentschädigungsgesetz im Jahr 1976 ermöglicht. Schützende Verfahrensvorschriften waren für Verletzte jedoch nicht vorgesehen.Footnote 46 Einen Wendepunkt in der gesetzlichen Berücksichtigung von Opferbelangen bedeutete das OpferschutzgesetzFootnote 47 vom 18.12.1986. Die Trennung der Nebenklage von der Privatklage ermöglichte eine formal eigenständige Rolle der verletzten Person. Nebenkläger/innen sind seitdem selbstständige Prozessbeteiligte innerhalb des Strafverfahrens, wobei die Opfer schwerer Delikte mit der geänderten Nebenklage weitreichende Verfahrensrechte erhielten.Footnote 48 Angekündigt wurde in dem Gesetzesentwurf bereits der geplante weitere Ausbau von Verfahrensrechten für Verletzte.Footnote 49

Durch den Rat der Europäischen Union wurde innerhalb des Rahmenbeschlusses von 2001Footnote 50 ein detaillierter Katalog zur Optimierung der Opferrolle innerhalb des Strafverfahrens aufgestellt. Daran anknüpfend wurde dieser mittels der Richtlinie der Europäischen Union von 2012Footnote 51 (sog. Opferschutzrichtlinie) novelliert, wobei eine Konkretisierung der Mindeststandards des europäischen Opferschutzes vollzogen wurde. Das erste Opferrechtsreformgesetz vom 24.06.2004 greift die Empfehlungen aus dem vorgenannten Rahmenbeschluss vom 15.03.2001 auf, was insbesondere die Erweiterung von Informations- und Beteiligungsrechten betrifft.Footnote 52 Es folgten weitere Gesetze, durch die der Opferschutz kontinuierlich als ein elementares Rechtsinstitut des Strafverfahrens fortgeschrieben wurde. Aspekte des Opferschutzes innerhalb des Strafverfahrens finden sich im Verbrechensbekämpfungsgesetz von 1994Footnote 53, im Zeugenschutzgesetz von 1998Footnote 54 sowie im Gesetz zur strafverfahrensrechtlichen Verankerung des Täter-Opfer-Ausgleichs von 1999Footnote 55. Weitere Kodifikationen im Sinne des Opferschutzes waren das Gewaltschutzgesetz 2001Footnote 56, das vorstehend erwähnte erste Opferrechtsreformgesetz 2004Footnote 57 sowie das zweite Opferrechtsreformgesetz 2009.Footnote 58 Opferschutzrelevanz weisen ebenfalls das „Gesetz zur Bekämpfung der Zwangsheirat und zum besseren Schutz der Opfer von Zwangsheirat“ 2011Footnote 59, das „Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs“ 2013Footnote 60 und das dritte Opferrechtsreformgesetz 2015Footnote 61 auf.

Zuletzt trat am 01.07.2021 das „Gesetz zur Fortentwicklung der Strafprozessordnung und zur Änderung weiterer Vorschriften“ in KraftFootnote 62 und führte durch die Vorschrift des § 373b StPO eine Verletztendefinition in die Strafprozessordnung ein. Die Einführung der Definition erfolgte in Umsetzung der o. g. Opferschutzrichtlinie aus dem Jahr 2012, die gemäß Art. 27 RL 2012/29/EU bis zum 16.11.2015 in nationales Recht hätte umgesetzt werden müssen. Mit Ausnahme des Verletztenbegriffes war die Umsetzung durch das dritte Opferrechtsreformgesetz erfolgt, insbesondere was weitere Auskunfts-, Informations- und Benachrichtigungsansprüche betraf.Footnote 63 Die Europäische Kommission hatte Deutschland wiederum aufgefordert, eine Verletztendefinition nachzuholen.Footnote 64 Bis dahin waren die Verletztenrechte nach dem Funktionszusammenhang der Norm beurteilt worden. Aus der bisherigen RechtsprechungFootnote 65 sind wesentliche Elemente in die neue Definition des § 373b StPO eingeflossen. Zum 01.07.20021 trat ebenfalls das Gesetz zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder in Kraft;Footnote 66 in diesem Gesetz wurde die bisherige Schutzvorschrift des § 48 Abs. 3 StPO durch § 48a StPO neu gefasst.

Neben der Opferschutzrichtlinie aus dem Jahr 2012 sind zwei weitere europäische Richtlinien für den Opferschutz relevant – die Entschädigungsrichtlinie aus dem Jahr 2004Footnote 67, die finanzielle Entschädigungen für Opfer von Straftaten enthält, und die Terrorismusrichtlinie aus dem Jahr 2017Footnote 68, die spezifische Rechte für Opfer von Terrorismus enthält.

Nach der Terrorismusrichtlinie von 2017 werden terroristische Handlungen zu den „schwersten Verstößen gegen die universellen Werte der Menschenwürde, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität sowie der Achtung der Menschenrechte und der Grundfreiheiten, auf die sich die Union gründetFootnote 69 gezählt. Sie stellen zudem „einen der schwersten Angriffe auf die Grundsätze der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit dar, die allen Mitgliedstaaten gemein sind und die der Union zugrunde liegenFootnote 70. Dabei beziehen sich die Artikel 27 bis 30 der Richtlinie auf die Opfer von Terroranschlägen. Artikel 27Footnote 71 hebt die „besonderen Bedürfnisse“ von Terroropfern hervor und betont die Gleichstellung von Opfern und Familienangehörigen von Getöteten im Zugang zu Opferunterstützungsdiensten und Schutzmaßnahmen. Nach Artikel 29Footnote 72 soll eine Internetseite mit Informationen und die Errichtung eines Soforthilfezentrums sichergestellt werden.Footnote 73 In Artikel 30Footnote 74 wird die Besonderheit der grenzüberschreitenden Bedürfnisse, wenn Betroffene im Ausland wohnen, betont und auf die Langfristigkeit von Unterstützungsangeboten verwiesen.

Die Umsetzung in Deutschland betrifft jedoch weniger die strafprozessuale Ebene als vielmehr tatsächliche Maßnahmen. Die Errichtung eines „Soforthilfezentrums“ obliegt der Polizei und wird durch das BundeskriminalamtFootnote 75 und die Länderpolizeien in Form eines sog. „Betroffeneninformationszentrums“ umgesetzt. Eine Internetseite, Informationen über Hilfsangebote, die grenzüberschreitende Koordinierung und das Vorhandensein einer dauerhaften Ansprechstelle erfolgt durch den Opferbeauftragten/die Opferbeauftragte der Bundesregierung in Zusammenarbeit mit den jeweiligen Länderopferbeauftragten.Footnote 76

Weitere Relevanz auf europäischer Ebene entfaltet die Mitteilung der Kommission zur Stärkung der Opferrechte in der EU vom 18.05.2011.Footnote 77 Hier werden spezifische Opfergruppen gebildet, zu denen auch Terrorismusopfer gezählt werden: „Terrorismusopfer stehen allerdings möglicherweise wegen der Art des Angriffs viel stärker im Blickpunkt der Öffentlichkeit und benötigen weit mehr soziale Anerkennung und respektvolle Behandlung von allen Seiten, sei es von der Justiz, den Medien oder einzelnen PersonenFootnote 78. Unter der Prämisse, dass bestimmte Opfergruppen durch das Strafverfahren zusätzliche Schädigungen davontragen könnten und daraus ein gesteigerter Bedarf für Schutz und Unterstützung resultiere, werden in der Mitteilung Kategorien schutzbedürftiger Opfer festgeschrieben (Kinder, Personen mit Behinderungen und Opfer von sexueller Gewalt und Menschenhandel). Diese Aufzählung ist nicht abschließend. Weitere Risikogruppen sollen anhand persönlicher Merkmale und/oder dem Wesen und der Art der Straftat zufolge identifiziert werden können. Als Exempel für die Art der Straftat wird hier Terrorismus angeführt, sodass auf europäischer Ebene für Terrorismusopfer der Status einer besonderen Schutzbedürftigkeit bejaht wird.Footnote 79

Ferner wird die Recommendation (2006) 8 vom 14.06.2006 „on assistance to crime victims“ relevant, da hier die Rechtsbegriffe des Opfers und der wiederholten und sekundären Viktimisierung definiert werden. Damit erfolgt erstmals die Feststellung des Personenkreises, für den Unterstützungs-, Informations- und Schutzrechte zur Anwendung kommen sollen. Partizipationsrechte am Strafverfahren werden dabei nicht benannt. Außerdem fordert die Empfehlung eine Professionalisierung der opferberatenden Berufsgruppen und sieht unter Punkt 12.3 eine spezialisierte Fortbildung u. a. in der Beratung von Terroropfern vor.Footnote 80

Die erste Strategie der EU für Opferrechte 2020–2025 vom 24.06.2020 enthält fünf Schwerpunkte zur Optimierung des Opferschutzes. So soll die Kommunikation mit den Opfern verbessert und ein sicheres Umfeld für eine Strafanzeigenerstattung geschaffen werden. Ferner sollen der Schutz und die Unterstützung der schutzbedürftigsten Opfer verbessert werden. Weitere Punkte sind ein besserer Zugang zu Entschädigungsleistungen, eine Verstärkung der Zusammenarbeit sowie die Berücksichtigung der internationalen Dimension.Footnote 81 Hinsichtlich der Terroropfer wird die spezifische Schutzbedürftigkeit und die Herausforderungen für Opfer bei grenzüberschreitenden Situationen betont.Footnote 82 Zur Durchführung von Beratungen und Schulungen zu Opferrechten nach einem ganzheitlichen Ansatz erfolgte im Januar 2020 die Installation eines „EU-Kompetenzzentrums für Terroropfer“ als Pilotprojekt.Footnote 83 Dabei enthält die Strategie die Schlussfolgerung: „Die EU muss mehr für den Schutz der Opfer von Straftaten tunFootnote 84. Es wird infolgedessen – trotz der zahlreichen opferschutzrechtlichen Änderungen in den nationalen Gesetzen und Rechtssetzungsakten der europäischen Union – weiterer Handlungsbedarf gesehen. Nachfolgend soll ein systematischer Überblick über die in Deutschland geltenden strafprozessualen Opferrechte erfolgen.

4.4 Strafprozessuale Opferrechte

„Opferrechte und Opferschutz sind kein filigran bearbeiteter Gegenstand strafprozessualen Denkens.“ Footnote 85

Wie bereits beschrieben und oben zitiert, mangelt an einer eindeutigen Struktur der Opferrechte in der Strafprozessordnung. Zeitlich gesehen gelten die Vorschriften zum Opferschutz und der Opferschutzgedanke für die gesamte Dauer der staatlichen Intervention, d. h. von Beginn der Ermittlungen bis zum Strafvollzug. Sie betreffen die Ermittlungsbehörden, die Justiz, ggf. weitere beteiligte Behörden und in staatlichem Auftrag tätige Privatpersonen wie Sachverständige.Footnote 86 Die jeweiligen Vorschriften des Opferschutzes orientieren sich dabei am Eingriff, wobei der prozessuale Fürsorgegrundsatz durchgehend gilt.Footnote 87

Die unterschiedlichen Rechte von Opfern lassen sich durch die Zugehörigkeit zu bestimmten Opfergruppen ableiten: 1. Privatklagebefugte, 2. (allgemeine) Verletzte, 3. nebenklagebefugte Verletzte ( i. S. v § 395 StPO), 4. privilegierte nebenklagebefugte Verletzte (gemäß § 397a Abs. 1 StPO). Innerhalb dieser Kategorien nimmt der Gesetzgeber weitere Unterscheidungen vor. So sind einige der Rechte davon abhängig, ob tatsächlich ein Anschluss als Nebenkläger/in erfolgt, während für die Wahrnehmung anderer Rechte die Möglichkeit ausreicht, zur Nebenklage befugt zu sein.Footnote 88 Dies könnte in vorliegendem Untersuchungskontext relevant werden, wenn sich die Rechte für Betroffene aus der Nebenklagebefugnis ableiten, aber eine Nebenklagezulassung mangels Hauptverhandlung wegen Tod einer beschuldigten Person nicht möglich ist. Auch innerhalb der Gruppe der privilegierten nebenklagebefugten Verletzten werden weitere Differenzierungen vorgenommen. Findet bspw. eine Hauptverhandlung statt, haben bestimmte Opfergruppen gemäß § 406 g Abs. 1 StPO das Recht auf eine psychosoziale Prozessbegleitung. Für diese Kosten müssen sie allerdings selbst aufkommen – es sei denn, sie gehören einer besonders privilegierten Opfergruppe an, für die eine Beiordnung der Prozessbegleitung möglich ist (§ 397a Abs. 1 Nr. 4 und 5 StPO, § 406 g Abs. 2 S. 1 StPO).Footnote 89

Neben der Kategorisierung nach Opfergruppen ist in einzelnen Fällen eine persönliche Privilegierung auf der Grundlage einer Einzelfallprüfung realisierbar. Die relevantesten Konstellationen beziehen sich diesbezüglich auf die Normen des § 48a Abs. 1 StPO und des § 68b StPO (Zeugenbeistand).Footnote 90 Durch das 3. OpferrechtsreformgesetzFootnote 91 wurde die Vorschrift des § 48 Abs. 3 StPO (nunmehr § 48a Abs. 1 StPO) eingeführt, wonach eine Verpflichtung der Ermittlungsbehörden und Gerichte besteht, die besondere Schutzbedürftigkeit von Opferzeugen zu berücksichtigen. Diese Norm begründet jedoch kein eigenes Opferschutzrecht, sondern soll eine deklaratorische Wirkung als explizite Hinweisnorm auf die Bedeutung der Opferschutzvorschriften entfalten.Footnote 92

Anknüpfungspunkt für die Anwendung im Einzelfall ist eine viktimologische Schutzbedürftigkeit. Damit kann den Besonderheiten des individuellen Falls Rechnung getragen werden. Kritisch beurteilt wird jedoch die damit für ein Opfer verbundene Rechtsunsicherheit in der Beurteilung, ob die Vorschriften zur Anwendung kommen. Diese Rechtsunsicherheit kann eine destabilisierende Wirkung entfalten, da Opfer durch die Erfahrungen der mit einer schweren Straftat einhergehenden Gefühle von Ohnmacht und Kontrollverlust vorbelastet sind.Footnote 93 Eine weitere Kategorisierung der strafprozessualen Opferrechte kann aufgrund ihrer Funktion wie folgt vorgenommen werden:

Informationsrechte, Schutzrechte, Beistandsrechte, und Beteiligungsrechte.

Die Informationsrechte sollen die Rechtswahrnehmung des Opfers gewährleisten, indem sie sicherstellen, dass die Verletzten Kenntnis der Schutz-, Beistands- und Beteiligungsrechte haben. Daher sind mit diesen Rechten auch Informationspflichten durch die Strafbehörden verknüpft. Kommen die Behörden den Hinweispflichten nicht nach, resultieren daraus keine Folgen.Footnote 94 Die Informationsrechte wurden durch das dritte Opferrechtsreformgesetz neu strukturiert und ergänzt.Footnote 95 Die Schutzrechte sollen wiederum eine opferschonende polizeiliche und justizielle Verfahrenspraxis garantieren. Im Ermittlungsverfahren liegt hierbei der Schwerpunkt auf einem sensiblen Umgang mit Opfern, insbesondere den besonders vulnerablen Opfern. Im Hauptverfahren sollen die Schutzrechte präventiv einer erneuten Viktimisierung, die u. a. in der erneuten persönlichen Begegnung mit dem Täter/der Täterin liegen kann, entgegenwirken. Einschlägige Vorschriften sind bspw. die Möglichkeiten zum Ausschluss der Öffentlichkeit nach § 171b Abs. 1 bis 3 GVG, die Beschränkung des Anwesenheitsrechts des Angeklagten während der Zeugenvernehmung gemäß § 247 S. 2 StPO oder die Videosimultanübertragung der Zeugenaussage nach § 247 a StPO.

Die Beistandsrechte ergänzen die Schutzrechte und dienen ebenfalls dem präventiven Ziel der Vermeidung einer Sekundärviktimisierung. Sie sollen einer angemessenen Anwesenheit und Beteiligung des Opfers am Verfahren Rechnung tragen und potenzielle strukturelle und persönliche Benachteiligungen ausgleichen. Gesetzlich normiert sind verschiedene Unterstützungsvarianten, wie die Begleitung durch eine private Vertrauensperson als emotionaler Beistand zu Vernehmungen nach § 406f Abs. 2 StPO oder anwaltliche Unterstützung als Zeugenbeistand bei Vernehmungen nach § 68b Abs. 1 S. 1 StPO bzw. die Vertretung durch einen anwaltlichen Verletztenbeistand im Ermittlungs- und Hauptverfahren nach § 406f Abs. 1 StPO für nichtnebenklageberechtigte Verletzte und nach § 406h Abs. 1 StPO für nebenklageberechtigte Verletzte. Darüber hinaus wurde durch das dritte Opferrechtsreformgesetz zum 1.01.2017 für bestimmte Opfergruppen das Recht auf eine psychosoziale Prozessbegleitung gemäß § 406 g Abs. 1 StPO normiert. Dieses ergänzt die privaten und juristischen Unterstützungsmöglichkeiten um eine professionelle psychosoziale Unterstützung. Die Kosten obliegen grundsätzlich den Verletzten, sofern sie nicht Prozesskostenhilfe beantragen können. Unabhängig von ihren wirtschaftlichen Verhältnissen steht vulnerablen oder schwer betroffenen Opfern in bestimmten Fällen die Möglichkeit einer Beiordnung zu, sodass für diese Opfergruppe kein Kostenrisiko entsteht. Die Beteiligungsrechte sollen Opfern über ihre Zeugenrolle hinaus unmittelbare Beteiligungsoptionen am Verfahren einräumen. Ein bedeutsames Instrument ist hierbei die Möglichkeit der Nebenklage nach § 395 ff. StPO. Die Adhäsionsklage, durch die zivilrechtliche Ansprüche im Strafverfahren geltend gemacht werden können, und die Privatklage ermöglichen ebenfalls eine Partizipation.Footnote 96

Insgesamt lässt sich zusammenfassen, dass sich strafprozessuale Opferrechte an Opfergruppen, der Funktion der Rechte sowie Einzelfallprüfungen bei besonderer Schutzbedürftigkeit orientieren. Kritikwürdig ist die aus dieser Komplexität resultierende Rechtsunsicherheit für psychisch schwer von einer Straftat betroffene Opfer.