3.1 Theorien der Verfahrensgerechtigkeit

Die prozedurale Gerechtigkeit oder Verfahrensgerechtigkeit beinhaltet die Gestaltung fairer Verfahren zur Entscheidungsfindung. Die Akzeptanz des Verfahrensergebnisses und damit das Vertrauen in das Rechtssystem misst sich an der Qualität des Entscheidungsprozesses. Dieses Vertrauen ist ein wesentlicher Aspekt für die Legitimation des Justizsystems und zeichnet einen funktionierenden Rechtsstaat aus.Footnote 1

Für vorliegende Untersuchung ist die prozessuale Gerechtigkeitsforschung von Bedeutung, da die Erwartungen der Opfer, die Bewältigung der Straftat und eine mögliche sekundäre Viktimisierung durch das strafprozessuale Verfahren beeinflusst sein können. Als weitere für vorgenannte Aspekte relevante Faktoren gelten die informational justice und die interpersonal justice. Unter informational justice wird verstanden, dass Strafverfolgungs- und Justizbehörden Opfer über den Ablauf des Verfahrens angemessen informieren. Interpersonal justice bezeichnet den respekt- und würdevollen Umgang mit den Opfern.Footnote 2 Darüber hinaus benennt die Literatur das Konzept der interactional justice, das die beiden Elemente der informational justice und der interpersonal justice zusammenfügt.Footnote 3 Dabei können die genannten Faktoren, besonders für vulnerable Opfer, Auswirkungen auf die Fähigkeit zur Bewältigung der Straftat entfalten. Interactional injustice gilt daher als eine Form der Sekundärviktimisierung.Footnote 4 In der Forschungsliteratur wird zudem der gerichtliche Umgang mit Opfern aus dem Blickwinkel einer therapeutic justice heraus diskutiert.Footnote 5 Im Folgenden sollen zunächst die Grundlagen der Verfahrensgerechtigkeitsforschung erläutert werden. Sodann werden die Bezüge zum Strafjustizsystem hergestellt und das in mehreren Rechtssystemen angewandte Modell des VIS diskutiert.

In Deutschland existiert kaum empirische Forschung zur prozessualen Gerechtigkeit. Hier kann lediglich auf den Deutschen Viktimisierungssurvey (DVS) zurückgegriffen werden, der im Auftrag des Bundeskriminalamtes im Jahr 2017 erstellt wurde. Es handelt sich dabei um den zweiten DVS, nachdem erstmalig im Jahr 2012 repräsentative Befragungen durchgeführt worden waren.Footnote 6 Dabei ist jedoch festzustellen, dass der Viktimisierungssurvey 2017 konzeptuell nur einen Teilbereich abbildet.

Prozessuale Gerechtigkeit ist mehrdimensional und daher sollte die Beforschung mit einer Differenzierung in objektive und subjektive sowie interne und externe Aspekte erfolgen. Die objektive-externe Dimension betrifft die Fragestellung, ob das Verfahren zur Wahrheitsfindung beiträgt, während die objektive-interne Dimension ermittelt, ob die in der konkreten Entscheidung angewandten Regeln eine Entsprechung zu den normativ festgelegten Standards aufweisen. Die subjektiv-interne Dimension befasst sich wiederum mit der subjektiven Zufriedenheit und eruiert diese anhand von Befragungen und individuellen Einschätzungen von Beteiligten.Footnote 7

Der DVS konzentriert sich ausschließlich auf die subjektiv-interne Dimension und fragt die Bevölkerung nach einer Bewertung aus ihrer individuellen Wahrnehmung heraus.Footnote 8 Die damit einhergehenden Ergebnisse unterliegen aufgrund dieser methodischen Einschränkung einer verringerten Aussagekraft. Bewertet wurden die Effektivität der Gerichte, d. h. das Vertrauen in die Fähigkeit, richtige Entscheidungen zu treffen, sowie die Gleichbehandlung vor Gericht (distributive Gerechtigkeit) und die Einschätzungen von fairen und unparteiischen Entscheidungen der Gerichte (prozessuale Gerechtigkeit). Das Vertrauen in die Gerichte wurde durch die Bürger/innen hinsichtlich sämtlicher drei Aspekte überwiegend positiv gewertet.Footnote 9 In Bezug auf die prozedurale Gerechtigkeit sind ca. 63 % der Bevölkerung der Meinung, dass durch die deutschen Gerichte oft faire sowie unparteiische Entscheidungen getroffen werden. Lediglich 22,7 % der Bevölkerung gehen davon aus, dass die Gerichte nur manchmal faire Urteile fällen, während 14,2 % der Bevölkerung die Gerichte für unfair und parteiisch halten. Auffällig sind dabei zwei Resultate: In der Altersgruppe der über 74-Jährigen hat nur noch etwa die Hälfte der befragten Personen Vertrauen in die Gerichte. Zudem weisen Menschen aus der Türkei und aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion ein signifikant niedrigeres Vertrauen in die deutschen Gerichte auf als Menschen ohne Migrationshintergrund.Footnote 10

Die systematische Erforschung, welche Bedeutung einem Verfahren hinsichtlich der Akzeptanz der daraus resultierenden Entscheidung zukommt, geht auf sozialpsychologisch orientierte Forschung aus den Vereinigten Staaten von Amerika zurück.Footnote 11 Im Jahr 1975 entwickelten der Sozialpsychologe John Thibault und der Jurist Laurens Walker das Self-Interest-Model.Footnote 12 Sie führten eine Simulationsstudie durch und verglichen anhand der beiden Prozessmodelle nach angloamerikanischem und kontinentaleuropäischem Vorbild, inwieweit die dort bestehenden Optionen zur Einflussnahme durch Beteiligte und Beobachtende als im Ergebnis befriedigender und fairer eingeschätzt wurden.Footnote 13 Nach dem sog. ‚adversary model‘ im angloamerikanischen Rechtsraum liegt die Verfahrensherrschaft bei den Parteien, durch die der Verfahrensgegenstand und der Umfang der Beweiserhebung festgelegt wird; das Gericht übt dabei die Rolle einer unparteiischen dritten Person aus. Im kontinentaleuropäischen (inquisitorischen) Prozessmodell obliegt dagegen dem Gericht die Kontrolle über das Verfahren. Es zieht die notwendigen Beweismittel bei, befragt Zeugen, beauftragt Sachverständige und kann den Verfahrensgegenstand begrenzen.Footnote 14

Thibault und Walker unterscheiden in ihrer Studie die Ergebnis- und die Verfahrenskontrolle. Erstere beinhaltet Optionen, auf das Ergebnis Einfluss nehmen zu können, während die zweite Variante auf Möglichkeiten verweist, im Zuge des Verfahrens die eigenen Interessen einzubringen, was wiederum das Ergebnis beeinflussen kann. Die Verfahrensgerechtigkeit wurde umso höher eingeschätzt, je optimaler die Kontrolle bei den Beteiligten verteilt war. Die Forschenden führten diese Einschätzung darauf zurück, dass Menschen die Maximierung ihres Vorteils anstreben, und bezeichneten ihren Ansatz daher als self-interest-model. Sowohl Beteiligte aus dem angloamerikanischen als auch dem kontinentaleuropäischen Rechtsraum bewerteten das adversarische Verfahren als befriedigender und fairer.Footnote 15

Die Kriterien der Entscheidungs- und Prozesskontrolle wurden in einer Studie des Forschers Gerald S. Leventhal um sechs weitere Verfahrenskriterien ergänzt. Er ging davon aus, dass eine positive Fairnesseinschätzung von folgenden Faktoren bedingt ist: Konsistenz in der Anwendung von bestimmten Prinzipien („consistency“), Unvoreingenommenheit und ohne Selbstinteresse („bias suppression“), Zugrundelegung von genauen Informationen („decision accuracy“), Möglichkeiten zur Korrektur („correctability“), Gewähr von Gehör und die Berücksichtigung des Gesagten („representativity“) und der Einhaltung von ethischen Standards („ethicality“).Footnote 16

Vorgenannte Modelle wurden weiterentwickelt, da die Annahme, Menschen handelten überwiegend aus Eigeninteressen heraus, das menschliche Bedürfnis nach sozialer Beziehung nicht ausreichend berücksichtigt.Footnote 17 Lind und Tyler stellten in Studien fest, dass die Qualität der sozialen Beziehung zwischen Betroffenen und entscheidungsbefugten Personen bei der Bewertung der prozeduralen Gerechtigkeit weitaus bedeutsamer war als die Verfahrenskontrolle und das -ergebnis. Sie entwickelten aus diesen Erkenntnissen das „Group Value Model“ (Gruppenwertmodell), demzufolge Menschen ein Bedürfnis nach Anerkennung in sozialen Beziehungen und Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft haben. Demnach bildet sich die soziale Identität eines Menschen durch Interaktion mit anderen Menschen, so auch mit Verfahrensbeteiligten. Menschen sind daher eher bereit, ihre individuellen Interessen zurückzustellen, wenn sie im Rahmen eines Verfahrens fair behandelt werden. Nehmen sich Menschen in einem Verfahren als Mitglied einer Gemeinschaft wahr, das respektvoll behandelt wird, erscheint ihnen das Verfahren als fair. Wird der Umgang als wenig respektvoll empfunden, wird damit Geringschätzung und fehlende Zugehörigkeit zur sozialen Gemeinschaft assoziiert. Die wahrgenommene Fairness eines Verfahrens und damit die Bereitschaft, dem eigenen Nutzen nicht den Vorrang zu geben und ein Verfahrensergebnis zu akzeptieren, hängt diesem Modell zufolge von der Befriedigung sozialpsychologischer Bedürfnisse ab. Im Rahmen ihrer Studie stellten beide Forscher zudem fest, wie bedeutsam sich die Möglichkeit, gehört zu werden („voice“) für Beteiligte in ihrer Wahrnehmung von prozeduraler Gerechtigkeit darstellt.Footnote 18 Die rechtspsychologische Forschung verwendet seitdem den Begriff „voice“ für die etwaigen Partizipationsformen von Verletzten und Nebenkläger/innen im Strafprozess.Footnote 19

Kritik erfährt das Group-Value-Model unter den Aspekten der subjektivistischen Bewertungsperspektive für die Messung von Gerechtigkeit und des gruppentheoretischen Ansatzes.Footnote 20 Der Ermittlung von Gerechtigkeit anhand individueller Einstellungen und Wahrnehmungen fehle es an Ergänzung durch externe Bewertungskriterien. BoraFootnote 21 fragt hier im Umkehrschluss: „Wenn Frustrationseffekte und negative Reaktionen auf ein Verfahren zu beobachten sind, muß dann das Verfahren notwendigerweise ‚schwach‘ bzw. ‚fehlerhaft‘ sein?“Footnote 22 Darüber hinaus moniert Bora die zu starke Generalisierung durch den gruppentheoretischen Ansatz und die Anwendung des Begriffes der Gruppe auf die Gesellschaft.Footnote 23 Gesellschaft besteht aus zahlreichen Gruppen, die sich aus interaktionstheoretischer Perspektive mit Face-to-Face-Beziehungen begreifen. Gesellschaft zeichnet sich im Gegensatz dazu nicht interaktionistisch, sondern durch eine Makrostruktur aus. Wenn infolgedessen der Gruppenwert die Wahrnehmung der Gerechtigkeit bestimmen soll, bleibt fraglich, welche Gruppe gemeint ist, z. B. das familiäre Umfeld, das Justizsystem oder politische Gruppierungen.Footnote 24

Diese soziologische Argumentation ist für vorliegende Untersuchung plausibel. Opfer extremistisch motivierter Anschläge werden als stellvertretende Opfer für eine Gruppe ausgewählt. Diese Gruppe kann bspw. aufgrund eines Migrationshintergrunds über abweichende individuelle Voreinstellungen und Lebenserfahrungen verfügen, wie mangelndes Vertrauen in die JustizFootnote 25 oder gegenüber staatlichen Organen und kann daher andere Gruppenwerte ausbilden. Wie in Kapitel 5 aufgezeigt wird, löst ein extremistischer Anschlag individuell-gesellschaftliche Wechselwirkungen mit einer Vielzahl von ‚Gruppen‘ aus, die ihren eigenen Vorstellungen von Gerechtigkeit unterliegen. Zu einer dieser ‚Gruppen‘ zählt das Justizsystem. Formal korrekte Abläufe des Ermittlungsverfahrens könnten somit aus Sicht der Justiz als fair und gerecht eingeordnet werden, während politische und mediale ‚Gruppen‘, Opfervertretungen oder individuelle Opfer eine weniger normative Betrachtungsweise zugrunde legen, ihre individuellen Gruppenwerte und Erwartungen vertreten und ein Verfahren folglich als unzulänglich und ungerecht wahrnehmen.

Dissonanzen sind nach dem Gruppenwertmodell zudem vorstellbar, wenn sich ein Opfer in der eigenen Wahrnehmung nicht als der angegriffenen Gruppe zugehörig sieht, z. B. sich als Deutsche/r und nicht als migrierte Person sieht, aber von Justizbehörden oder anderen ‚Gruppen‘ dieser zugeordnet, wodurch das sozial bedeutsame Zugehörigkeitsgefühl nachhaltig gestört wird. Ein Verfahren kann aus individueller Sicht infolgedessen nie fair sein oder werden.

Ebenso darf nicht ignoriert werden, dass das Viktimisierungserleben durch die Straftat mit den potenziellen Folgen von starken Emotionen, wie Wut, einer posttraumatischen Belastungsstörung oder einem Verlust der Selbstwirksamkeit und Selbstvorwürfen, einhergehen kann und demzufolge die Wahrnehmung eines Verfahrens als fair beeinträchtigt werden könnte. Aufgrund dieser Effekte können Erwartungen an das Strafjustizsystem von Opfer zu Opfer unterschiedlich sein, sie werden von Konzepten und normativem Rahmen u. U. nicht erfasst und können somit nicht erfüllt werden.Footnote 26

Für die Konzepte der Verfahrensgerechtigkeit haben die Ausführungen von Bora, auch wenn sie 20 Jahre zurückliegen, nicht an Aktualität verloren.Footnote 27 Das wissenschaftliche Interesse sollte sich nicht ontologisch darauf konzentrieren, was Gerechtigkeit ist, sondern wie sich ihr bestmöglich angenähert werden kann. Verfahrensgerechtigkeit ist nach Bora „ein soziales Konzept, das in Kommunikationen erzeugt und eingesetzt wirdFootnote 28. Bei den Handelnden bedarf es daher des Bewusstseins, dass auch auf prozeduraler Ebene die Verfahrenskommunikation aus sozialen Aushandlungsprozessen mit differenten Ansprüchen an die Deutungshoheit besteht. Bora plädiert daher für einen zurückhaltenden Umgang mit den normativen Prinzipien der von der Wissenschaft entwickelten Kriterien der Verfahrensgerechtigkeit und setzt auf das „Potential einer kreativen PraxisFootnote 29. Dazu finden sich entsprechende Ansätze auf internationaler Ebene: Während sich die deutschsprachige Literatur und Forschungsgemeinschaft nicht mehr im bisherigen Umfang dem Thema der Verfahrensgerechtigkeit im Strafverfahren zu widmen scheinen,Footnote 30 wird die wissenschaftliche Diskussion im anglo-amerikanischen Sprachraum und Rechtssystem fortgeführt. Die dortige Forschung hat drei maßgebende Opferbedürfnisse definiert: respektvolle Behandlung und Anerkennung als Opfer, Information und Partizipation am Verfahren. Diese drei Faktoren finden ihre Entsprechung jeweils unter den Konzepten von interactional justice, der informational justice und der procedural justice.Footnote 31 Die Teilhabe am Verfahren wurde vorstehend im Rahmen der Theorien zur Verfahrensgerechtigkeit (procedural justice) erörtert. Nachfolgend sollen die weiteren Modelle vorgestellt werden.

3.2 Interpersonal Justice und Informational Justice

Die interpersonal justice beinhaltet den respekt- und würdevollen Umgang mit einem Opfer und dessen Anerkennung als Opfer. Dieser Ansatz resultiert aus den Vorwürfen eines unsensiblen Verhaltens und dem Verantwortlichmachen des Opfers an der eigenen Viktimisierung bspw. durch Polizeibehörden und einer damit verbundenen Sekundärviktimisierung. Als zentrales Element der interpersonal justice nennt die Literatur die Unterstellung des Opferstatus bis zu dem Zeitpunkt, an dem durch Ermittlungen oder das Gericht Gegenteiliges bewiesen ist. Hier wird Bezug genommen auf die für eine beschuldigte Person geltende Unschuldsvermutung, die ebenfalls bis zum Beweis des Gegenteils gilt. Die frühzeitige Anerkennung des Opferstatus soll eine bessere Behandlung durch die Polizei gewährleisten und Zugang zu Hilfs- und Unterstützungsangeboten ermöglichen.Footnote 32 Im deutschen Strafrecht gilt diese strafprozessuale Opfervermutung bereits und jede Person, die behauptet, Opfer zu sein, erhält zunächst den Schutz der verfahrensrechtlichen Vorschriften.Footnote 33

Das Erhalten von Informationen (informational justice) spielt für Opfer eine erhebliche Rolle. Das Fehlen von Informationen wird daher als Stressfaktor und folglich Unzufriedenheit mit dem Strafjustizsystem wahrgenommen. Die Informationen müssen jedoch auch verstanden werden, um zweckdienlich zu sein. Die meisten Rechtsordnungen sehen daher entsprechende Instrumente vor, wie die Übersetzung in die Muttersprache des Opfers oder einen rechtlichen Beistand.Footnote 34 Zu den Informationen zählen solche über das Verfahrensergebnis, das Gerichtsverfahren, die Unterstützungsangebote und die Sachstandsmitteilungen während des Verfahrens. Erwartet werden außerdem Erklärungen, aus welchen Gründen Prozessschritte erfolgen und wie das Ergebnis begründet wird.Footnote 35

Der Vorteil von interactional justice, die sich aus den Elementen der interpersonal und der informational justice zusammensetzt, besteht in der effektiven Umsetzbarkeit, da die Rechte von beschuldigten Personen wenig betroffen und personelle Ressourcen seitens des Justizsystems nicht erforderlich sind.Footnote 36 Die Wirkungen dieser Konzepte haben drei niederländische Studien thematisiert. Eine Untersuchung aus dem Jahr 2013Footnote 37 hat eine Unterscheidung zwischen drei Opfergruppen (Opfer häuslicher Gewalt, Opfer sexueller Gewalt und Opfer anderer schwerer Gewaltverbrechen) vorgenommen und die Wirkungen von interactional justice auf die Fähigkeit zur Bewältigung der Straftat analysiert. Opfer von häuslicher Gewalt haben das Verfahren als am wenigsten hilfreich für die Verarbeitung empfunden. Opfer von sexueller Gewalt haben sich von der Polizei nicht gut behandelt gefühlt, sodass die Studie zu dem Ergebnis kommt, dass vulnerable Opfer anfälliger für negative Wirkungen durch die Strafjustiz sind. Im Hinblick auf den Erhalt von Informationen waren zwischen den Gruppen keine Unterschiede gegeben; diese wurden von allen als unzureichend bewertet.Footnote 38 Eine weitere Studie aus dem Jahr 2014Footnote 39 resümiert, dass bei der Mehrzahl der Opfer der Prozess das Selbstwertgefühl und das Vertrauen in das Rechtssystem negativ bedingte. Nur bei Opfern, deren Erwartung an die Strafe erfüllt wurde, konnte eine Verbindung zu wahrgenommenem Respekt und damit zu Vertrauen in das System festgestellt werden. Waren die Opfer mit dem Ergebnis unzufrieden, hat eine respektvolle Behandlung wiederum keinen Einfluss auf die Vertrauensbildung bewirkt. Dieses Resultat steht im Widerspruch zu bisheriger Forschung.Footnote 40 Bestrafungserwartungen können somit die der interpersonal justice zugeschriebenen Wirkungen überlagern. Wie die Verfassenden ausführen, bedarf es weiterer Forschung, unter welchen Bedingungen interpersonal justice die gewünschten Effekte entfalten könnte.Footnote 41

Eine Untersuchung aus dem Jahr 2015Footnote 42 hat sich mit der Frage auseinandergesetzt, welche der Opferbedürfnisse, die in die niederländischen Opferrechte eingeflossen sind, das Vertrauen in das Rechtssystem prägen. Untersucht wurden folgende Maßnahmen: VIS, informelle Gespräche mit der Staatsanwaltschaft, Beratung durch Opferhilfseinrichtungen, rechtlicher Beistand, finanzielle Wiedergutmachung durch den Täter/die Täterin und finanzielle Wiedergutmachung durch den Staat. Lediglich für ein VIS konnte der Zusammenhang zu dem Vertrauen in das System nachgewiesen werden. Ohne statistisch signifikant zu sein, ergaben sich daneben Anhaltspunkte für den Umstand, dass die Unterstützung durch Opferhilfseinrichtungen in diversen Fällen eine negative Wahrnehmung des Justizsystems evozierte. Vermutet wird in diesem Kontext, dass durch die Mitarbeitenden der Opferhilfe Erwartungen bei den Opfern geweckt worden sein könnten, die dann nicht erfüllt wurden. Eine weitere Erklärung könnte darin liegen, dass sich insbesondere Opfer schwerer Gewalttaten oder mit einem schweren Trauma an die Opferhilfe gewandt haben und die höheren Erwartungen an die Justiz auf das Trauma zurückzuführen sein könnten.Footnote 43

Für alle drei Studien werden etliche Limitationen durch die Autoren/Autorinnen benannt, wie die Schwierigkeit der Generalisierung aufgrund der geringen Anzahl und der wenig repräsentativen Auswahl der teilnehmenden Opfer. Anhand der Forschungsergebnisse wird lediglich der weitere Forschungsbedarf deutlich, um Abhängigkeiten von Opferrechten sowie Verfahrenskonzepten zu einem Vertrauen in die Strafverfolgungsorgane sowie einer daraus resultierenden Akzeptanz und Bereitschaft zur Mitwirkung untersuchen zu können.Footnote 44

3.3 Therapeutic Justice

Unter therapeutic justice wird keine Theorie, sondern eine Perspektive verstanden, die aus dem Blickwinkel des Opfers dessen psychisches und physisches Wohlbefinden in Abhängigkeit zu Gesetzen, Strafverfahren, handelnden Personen und beteiligten Institutionen untersucht. Dem Gericht kommt dabei keine therapeutische Rolle zu. Von Richter/innen wird jedoch erwartet, sich schädigender bzw. anti-therapeutischer Effekte von Verfahrenshandlungen auf ein Opfer bewusst zu sein und dem aktiv entgegenzuwirken.Footnote 45 Bis dato sind kaum Untersuchungen gegeben: Diese jedoch stützen die Annahme, dass ermutigende und stärkende Erfahrungen im Gerichtssaal positive Effekte auf den psychischen Gesundheitszustand entfalten. So konnten eine Erhöhung der Selbstwirksamkeit, die Anerkennung als Opfer und ein Gefühl der Kontrolle, die für die psychische Anpassung nach einer Viktimisierung notwendig sind, festgestellt werden. Auch ein Vertrauen in andere Menschen und die Gesellschaft war auf diese Weise wiederherstellbar.Footnote 46 Eine australische Studie empfiehlt bspw. kommunikative Maßnahmen, wie Erklärungen an die Zeugen/Zeuginnen zu den Gründen von Belehrungen und Abläufen oder tatsächliche Maßnahmen, wie mit Bedacht gewählte Sitzplätze für Opfer mit Bereitstellung von Wasser und Taschentüchern.Footnote 47 Als eines der Elemente von therapeutic justice gilt das bereits im Rahmen der procedural justice angesprochene Gehör (voice) in Form eines sog. VIS, dessen Rahmenbedingungen im nächsten Abschnitt erläutert werden.

3.4 Victim-Impact-Statement (VIS)

Ein VIS wird vom Opfer entweder in schriftlicher Form verfasst und dem Gericht eingereicht oder vom Opfer vor Gericht verlesen. Aus Sicht des Opfers dürfen die persönlichen Folgen der Tat und z. B. die emotionalen, physischen oder finanziellen Schäden diesbezüglich dargestellt werden, jedoch weder Beschimpfungen des/der Angeklagten erfolgen, noch Wünsche zur Bestrafung geäußert werden. Welcher exakte Inhalt enthalten sein darf und wer die Erklärungen einfordert (Staatsanwaltschaft, Bewährungshilfe, Polizei oder Opferhilfe) ist von den Rechtssystemen des jeweiligen Landes abhängig. Eingesetzt wird dieses Instrument zumeist in Rechtssystemen mit adversarischen Verfahren, in denen es z. B. bei Geständnissen vorkommen kann, dass Zeugen nicht gehört werden.Footnote 48 Rechtliche Regelungen bestehen z. B. in den USA, Canada, Australien, Neuseeland, England und Wales und den Niederlanden.Footnote 49 Ziel eines VIS ist die Unterstützung der emotionalen Heilung, die bereits durch das Verfassen der Erklärung in Gang gesetzt wird und letztlich einen kathartischen Effekt hervorrufen soll.Footnote 50 Empirische Forschung zum Nachweis eines potenziellen Zusammenhangs fehlt jedoch in ausreichendem Maß.Footnote 51 Als weiteres Ziel eines VIS wird die Information aller Verfahrensbeteiligten über aktuelles Ausmaß, Umfang, Dauer und Details der Viktimisierung angesehen, da diese Informationen den Prozessbeteiligten auf anderem Wege nicht bekannt werden würden.Footnote 52 Dieser Standpunkt wird kritisiert, da hierin eine Emotionalisierung des Verfahrens, die Gefahr der Vorverurteilung und die Befürchtung einer Erhöhung der Strafe und somit eine Einschränkung der Rechte einer angeklagten Person liegen könnten. Problematisch könne darüber hinaus sein, dass beim Opfer unerfüllbare Erwartungen geweckt werden.Footnote 53

Dagegen verstehen Opferzeugen/Opferzeuginnen einer australischen Studie zufolge ihre Stimme im Verfahren als die von Experten/Expertinnen (‚knowers‘), die zur Qualität und Bedeutsamkeit der Urteilsfindung beitragen. Angehört zu werden, beinhaltet demnach die Anerkennung als ein Mensch mit bedeutsamen und einzigartigen Erkenntnissen zu einem spezifischen Ereignis. Damit kann die Hoffnung verbunden sein, Einfluss auf die Entscheidungstragenden zu nehmen, was allerdings im Justizsystem nicht auf Akzeptanz stößt und somit zu potenziellen Enttäuschungen führt.Footnote 54

Eine der ersten Studien zur Wirksamkeit eines VIS weist auf den Umstand hin, dass die Effekte einer differenzierten Betrachtung bedürfen und sich vorwiegend indirekt und subtil zeigen können. Die Studie stammt aus den NiederlandenFootnote 55 und thematisiert, ob ein VIS hilft oder eine sekundäre Viktimisierung auslöst. Als Parameter der Studie fungierten die beiden bedeutsamsten nach einer Straftat auftretenden Emotionen von Wut und Angst. Am häufigsten wurde ein VIS von Opfern mit dem höchsten Angstniveau und der geringsten gefühlten Kontrolle über den Genesungsprozess abgegeben. Die schriftliche Variante haben jene Menschen verwendet, die am meisten Wut verspürt haben. Dabei deckte sich die Erkenntnis mit bisheriger Forschung: Wer sich noch nicht erholt hat, verspürt ein gesteigertes Bedürfnis, die eigenen Gefühle mitzuteilen. Ein direkter therapeutischer Effekt ließ sich nicht feststellen, da die Gefühle von Angst und Wut stabil blieben. Auch dies geht mit vorliegender Forschung einher: Der Ausdruck von Emotionen führt nicht zu Heilung. Positive Effekte eines VIS ließen sich bei den Opfern belegen, die über ein höheres Gefühl von Kontrolle über ihren Genesungsprozess verfügten, denn bei diesen reduzierten sich Wut und Angst maßgeblich. Es konnten jedoch keine Anhaltspunkte dafür ermittelt werden, dass ein VIS eine Verbesserung der gefühlten Kontrolle evoziert hat. Positiv ließ sich in der Studie eine Verbindung zwischen dem Rückgang von Wut und Angst und der Wahrnehmung von prozeduraler Gerechtigkeit (untersucht mit den Faktoren zu ‚Anerkennung‘ und ‚Gehör‘) herstellen.Footnote 56

Ein VIS kann eines der Elemente für ‚Gehör‘ sein. Dabei belegt die Studie von Lens et al., dass auch der Vernehmung als Zeuge/Zeugin und dessen/deren Behandlung im Gerichtssaal eine Bedeutung zukommt, ähnlich wie es die Ansätze zur interpersonal und therapeutic justice vorsehen. Die vorgenannte Studie hat lediglich kurzfristige Effekte im Zeitraum bis zu zwei Wochen nach der Verhandlung gemessen. Es besteht weiterer Forschungsbedarf hinsichtlich langfristiger Effekte und Maßnahmen, die Opfern bei der Verarbeitung helfen können. Ein Ansatz läge darin, zu untersuchen, wie Menschen ein Gefühl von höherer Kontrolle über ihren Genesungsprozess entwickeln können. Hohe unkontrollierte Emotionalität bei Opfern im Verfahren sollte als Indikator für eine nichterfolgte Verarbeitung wahrgenommen werden. Ein respektvoller Umgang ist zweifellos angebracht – es kann jedoch nicht erwartet werden, dass strafprozessuale Opferrechte in diesem Kontext effektiv greifen und zu einer Optimierung führen. Entsprechende Unterstützung ist hier außerhalb des Strafjustizsystems zu suchen.

Somit lässt sich festhalten, dass die vorgestellten Ideen und Konzepte zur Verfahrensgerechtigkeit (noch) nicht empirisch gesichert sind, dennoch Potenzial für eine Erforschung, Weiterentwicklung und eine erste Anwendung bieten. Inwieweit das Bedürfnis nach Gehör eines Opfers (Voice) im deutschen Strafprozessrecht berücksichtigt werden kann und ob die Idee eines VIS eine rechtliche Grundlage findet, wird in Kapitel 6 untersucht. Zunächst soll im folgenden Kapitel schlaglichtartig erörtert werden, was Gerechtigkeit aus der Perspektive des Strafprozesses bedeutet und welche Ziele das Strafverfahren kennzeichnen. Sodann werden die unterschiedlichen Auffassungen in Rechtsprechung und Lehre zu differenten Aspekten der Begründung des prozessualen Opferschutzes ergebnisoffen dargestellt.