1.1 Ausgangslage und Zielsetzung der Untersuchung

„Das Entsetzen über die Taten, die ausweglose Trauer der Angehörigen über ihre ermordeten Kinder, die Ängste der Bevölkerung, die Gefährlichkeit der Täter, deren eigene Hilflosigkeit gegenüber ihrer Krankheit …[ ] das Rachegefühl und das Bedürfnis nach Genugtuung, die gleichzeitig beruhigende, aber das grauenhafte Geschehen auch neutralisierende Macht des strafenden Staates, das Leiden der Opfer, das nach öffentlicher Aufmerksamkeit verlangt und gleichzeitig für zwielichtige Interessen ausgebeutet wird [ ].“ Footnote 1

Mit diesen Worten resümiert Günther die gegenwärtige Diskussion um das Verbrechensopfer. Dabei bezieht er sich auf Fritz Langs berühmten Kinofilm aus dem Jahre 1931 „M – eine Stadt sucht einen Mörder“. Im Hinblick auf die wachsenden Herausforderungen der Gegenwart durch AnschlagsgeschehenFootnote 2 scheinen diese vielfältigen, sich überlagernden und emotional besetzten Kernaspekte ihre Aktualität nicht verloren zu haben. Mit der vorliegenden Arbeit sollen die Bedürfnisse der Opfer von terroristischen Anschlägen und deren Erwartungen, die aus der Tat resultieren und sich an das Strafjustizsystem richten, untersucht und daraus Erkenntnisse zu Bewältigungsstrategien und der Vermeidung weiterer Viktimisierungen im Kontext des Strafverfahrens gewonnen werden.

Die Analyse der Opfer und der Fokus auf deren Belange sind seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts Gegenstand von Forschung und wissenschaftlichen Diskursen.Footnote 3 Beeinflusst von Befunden aus der Dunkelfeldforschung hat sich die ViktimologieFootnote 4 zwischenzeitlich als eigenständiger Teilbereich der Kriminologie etabliert.Footnote 5 Doch auch auf kriminalpolitischer Ebene blieb das Opfer nicht unbemerkt, sondern erfuhr „ein bemerkenswertes Comeback auf der Bühne der StrafjustizpolitikFootnote 6. Aus dem ‚vergessenen‘ Objekt des Verfahrens sollte ein mit eigenen Rechten versehenes Prozesssubjekt werden.Footnote 7

Dementsprechend findet seit Mitte der 1980er Jahre eine fortwährende gesetzliche Stärkung des Opferschutzes im Strafrecht statt, während der deutsche Gesetzgeber eine Kaskade von Opferschutzgesetzen verabschiedet hat.Footnote 8 Die Opferschutzgesetzgebung basiert auf den Risiken erneuter Viktimisierungen innerhalb und außerhalb des Strafverfahrens.Footnote 9 Kritik erfährt diese Gesetzgebung vor dem Hintergrund einer Einschränkung der Verteidigungsrechte des Täters/der Täterin. Mit der Zunahme von Opferrechten und dem damit einhergehenden verbesserten Opferschutz wird ein Rückgang der Rechte einer beschuldigten Person verbunden.Footnote 10,Footnote 11

Die deutsche Gesetzgebung wird darüber hinaus durch Rechtssetzungsakte der Europäischen Union beeinflusst, wie durch die Opferschutzrichtlinie und die Terrorismusrichtlinie,Footnote 12 die explizit Opfer terroristischer Anschläge und deren Vulnerabilität erwähnt. In Bezug auf vulnerable Opfer wird ein spezifisches Bedürfnis nach angemessener Behandlung und Aufmerksamkeit beschrieben, um deren Fähigkeit zur Bewältigung der Straftat zu erhalten. Die Bewältigungsfähigkeit kann durch das Strafjustizsystem beeinflusst sein.Footnote 13 Im Strafjustizsystem hat ein Opferzeuge/eine OpferzeuginFootnote 14 eine prozessuale Doppelstellung – zum einen im Rahmen des personalen Beweises, zum anderen als ein mit einer Vielzahl von Rechten versehenes Prozesssubjekt.Footnote 15 Dabei trifft die Opfer in der Rolle als Zeugen/Zeuginnen eine Mitwirkungspflicht am Verfahren: Sie müssen vor Gericht erscheinen und die Fragen der Prozessbeteiligten wahrheitsgemäß beantworten. Doch sie selbst haben ebenfalls Fragen an den Strafprozess: Diese können als Bedürfnisse, Wünsche und Erwartungen verstanden werden. Gilt die Berücksichtigung von Opferinteressen im Strafprozess als wesentlicher Part von effektiver Bewältigung, sollten diese Interessen mit den strafprozessualen Opferrechten im Einklang stehen. Vor diesem Hintergrund hat die vorliegende Arbeit die Beantwortung der Frage zum Ziel, inwieweit strafprozessuale Opferschutzregelungen den Bedürfnissen und Erwartungen von Anschlagsopfern entsprechen und somit zu einer Bewältigung der Opfererfahrung beitragen können.

1.2 Gang der Untersuchung und Themenbegrenzung

Neben dieser Einleitung wurde die Untersuchung in sechs weitere Teile gegliedert. Der zweite Teil erläutert den Begriff und die soziale Konstruktion des Opferseins, benennt die Viktimisierungsstufen, schildert das Viktimisierungserleben und erörtert allgemeine Erwartungen an den Strafprozess. In Kapitel 3 werden die Grundlagen der Verfahrensgerechtigkeitsforschung vorgestellt, wobei daran anknüpfend anhand von Einzelkonzepten die Bezüge zum Strafjustizsystem hergestellt werden. Abschließend erfolgt die Vorstellung des in mehreren Rechtssystemen angewandten Modells des „Victim Impact Statement (VIS)“. Das vierte Kapitel setzt sich mit den Zielen des Strafverfahrens und den Begründungen des strafprozessualen Opferschutzes auseinander, bevor die Entwicklung der Opferschutzvorschriften in der Strafprozessordnung und auf europäischer Ebene skizziert und eine Kategorisierung der strafprozessualen Opferschutzrechte vorgenommen wird. Im fünften Kapitel wird der Begriff des Terrorismus definiert und deskriptiv die Phänomenologie dieser Taten unter Darstellung der politischen, gesellschaftlichen, medialen, psychotraumatologischen und individuellen Verknüpfungen untersucht. Sodann gilt es, die viktimologischen Bedürfnisse und Herausforderungen daraus abzuleiten. In Kapitel 6 wird der Frage nachgegangen, inwieweit die festgestellten Bedürfnisse eine Entsprechung zu den strafprozessualen Opferrechten aufweisen. Nachfolgend werden mögliche Schutzlücken und rechtsstaatliche Grenzen beleuchtet, wobei daran anknüpfend das Modell „Arbeitsgruppe Opferstaatsanwältinnen/Opferstaatsanwälte“ analysiert und weiterentwickelt wird. Die Arbeit schließt im siebten Kapitel mit einem Fazit zu den gewonnenen Erkenntnissen und mit einem Ausblick.

Umfassend erforscht sind Traumafolgestörungen nach einem Anschlag; diese Forschung ist dem klinischen Fachbereich zuzuordnen. Hinreichende empirische Befunde und theoretische Modelle zur Frage der psychosozialen Folgen eines Anschlags und den daraus resultierenden Bedürfnissen fehlen bisher.Footnote 16 Folglich existieren kaum Erkenntnisse zu den Auswirkungen auf den Verarbeitungsprozess der Opfer im Kontext des Strafverfahrens. Diese Arbeit zieht daher interdisziplinär und rechtsvergleichend internationale Forschung heran und orientiert sich zudem an Forschung zu Hinterbliebenen von Mordopfern. Es konnten Beiträge aus Literatur, Rechtsprechung und Gesetzgebung, die bis Februar 2022 veröffentlicht bzw. beschlossen wurden, berücksichtigt werden. Angesichts des Umfangs dieser Untersuchung wurden die Beiträge nach Relevanz selektiert; gleiches erfolgte aufgrund der Vielzahl der strafprozessualen Opferrechte auf die für Anschlagsopfer bedeutsamsten Rechte.