Die 2020 erschienene Studie zur Big Data-Debatte (Knorre et al. 2020) endete mit einem Fazit, das sich, etwas verkürzt, wie folgt zusammenfassen lässt: Es ist nicht mehr die Frage, ob und wo (personengebundene) Daten im Alltagsleben gesammelt und gespeichert werden, sondern unter welchen Bedingungen und vor allem zu welchen Zwecken sie genutzt werden. Das sahen schon vor zwei Jahren auch die Nutzer so: Die Befragung ergab, dass die Zustimmung zur Nutzung von Big Data insgesamt überwiegt, wenn es einen konkreten Nutzen gibt (Knorre et al. 2020, S. 157).

Die Zukunft – so die damalige Studie weiter – liegt eher in einem Denkansatz, der den Bürger und NutzerFootnote 1 nicht als hilfsbedürftiges Schutzobjekt betrachtet, sondern als Datensouverän, der seine Daten sowohl für seinen persönlichen Nutzen als auch für den Aufbau einer bestmöglichen Dateninfrastruktur zur Verfügung stellt. Es ist eine Dateninfrastruktur zu schaffen, für die Massendaten nach definierten Regeln geteilt werden oder sogar geteilt werden müssen, damit sich jeder Stakeholder, insbesondere Hochschulen, Forschungsinstitute, Unternehmen oder Start-ups, daraus bedienen kann. Auch dafür gab es in der damaligen Umfrage eine beachtliche Zustimmung.

Schon damals wurde aus diesem Befund die Schlussfolgerung gezogen, dass Akteure, deren Umgang mit Daten auf klaren ethischen Handlungsgrundsätzen beruht, die Gewinner der Big Data-Debatte sein werden. Warum? Weil sie die besten Chancen haben, das Vertrauen ihrer Stakeholder zu erlangen und damit ihre Handlungsmöglichkeiten – ob politisch oder ökonomisch – erweitern. Vertrauen reduziert die Komplexität eines Expertenthemas wie Big Data und ist deshalb die eigentliche Währung der digitalen Wirtschaft. Von allen Akteuren, welche die Datenschätze nutzen wollen, wird zukünftig erwartet, die Chancen von Big Data bzw. Künstlicher Intelligenz proaktiv zu nutzen, und zwar sowohl für privatwirtschaftliche Zwecke als auch für gesellschaftliche Interessen, z. B. für bessere Medikamente, höhere Sicherheit oder klimaschonenderes Reisen und Wohnen. Das – so schloss die Studie – ist vielleicht das positive sinnstiftende Narrativ, welches sich zukünftig der Big Brother-Dystopie entgegenstellen ließe (Knorre et al. 2020, S. 54).

Genau daran setzt das nun folgende Kapitel an. Untersuchungsgegenstand sind die Perspektiven der Stakeholder, von deren Verhalten und den daraus entstehenden Beziehungen untereinander es abhängt, ob sich diese positiven, öffentlich geteilten Narrationen durchsetzen, ob sich Anwendungen mit markt- und gesellschaftsrelevantem Nutzen entwickeln und damit letztlich zugleich die Potenziale von Big Data für die Lösung so vieler gesellschaftlicher Probleme genutzt werden können.

Wie dringend letzteres gerade im Zusammenhang mit Mobilität ist, zeigen die Veränderungen im Mobilitätsverhalten, die infolge der Corona-Pandemie festgestellt wurden. So zeigt die Befragung des Instituts für Verkehrsforschung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt, dass der öffentliche Verkehr der Verlierer der Pandemie ist, während sich die regelmäßige Nutzung des Autos im Alltag auf einem höheren Niveau befindet als vor der Pandemie. Letzteres gilt auch deshalb, weil ein großer Anteil derjenigen, die vor der Pandemie regelmäßig verschiedene Verkehrsmittel benutzten, nunmehr ausschließlich mit dem Auto unterwegs ist (DLR 2021). Zu beobachten sind also Mobilitätsentscheidungen, die insbesondere „dem Ziel einer nachhaltigen, klimafreundlichen Mobilität entgegenwirken“ (DLR 2021).

Soweit ist das Problem geschildert. Was aber kann die Lösung sein? Hier wird man einmal mehr nicht an der Frage, wie die Potenziale von Big Data in der Mobilität zu heben sind, vorbeikommen. Schon der Anlauf, den vor der Pandemie erreichten „modal split“ im Mobilitätsverhalten wiederherzustellen, dürfte schwer genug sein. Gleichzeitig muss eine klima- und umweltfreundliche Nutzung des Autos her, die weit über die Elektromobilität hinausgeht. Eine Hypothese wäre, dass es datengestützte, individuelle Mobilitätsangebote braucht, die jedem Verkehrsteilnehmer den besten Weg zu seinem Zielort weisen – und zwar mit einer Auswahl von Verkehrsmitteln, die seinen persönlichen Präferenzen entspricht, natürlich abhängig von Wetterlage, Verkehrsdichte oder Supersparpreisen, aber auch von Fitness, Arbeitsbedürfnissen oder Kulturinteressen.

Es liegt an den Stakeholdern im gesellschaftlichen Themenfeld der Mobilität, Verständigungen über datenbasierte Mobilitätslösungen zu finden, die die Akzeptanz der Nutzer finden können. Dies entspricht ihrer „Digital Social Responsibility“ (Knorre et al. 2020, S. 45). Es sind schließlich die Verkehrsteilnehmer, die ihre Mobilitätsdaten als Datensouverän „spenden“ oder sie aber unbewusst abgeben (s. Kap. 2). Sie haben ihrerseits nicht nur einen Anspruch auf den Schutz ihrer Daten, sondern zugleich darauf, dass die Zwecke der Datenerhebung bekannt sind, öffentlich diskutiert und nutzenstiftend umgesetzt werden.

3.1 Das Stakeholder-Paradigma und seine Bedeutung für die Nutzung von Mobilitätsdaten

Der Begriff des Stakeholders ist eng mit dem des Shareholders verbunden. Der erste wurde in der ökonomischen Theoriebildung in Auseinandersetzung mit dem zweiten entwickelt. Ausgangspunkt ist eine Kontroverse, die zwei Wirtschaftswissenschaftler in der Harvard Law Review bereits Anfang der 1930er-Jahre in der Weltwirtschaftskrise führten. In diesem als „Berle-Dodd Dialog“ (Weiner 1964) bekannten Streit argumentiert A.A. Berle gegen die, seiner Ansicht nach, übermächtigen Topmanager und deren Hang zur Selbstbedienung. Dabei sei das Management lediglich Treuhänder der Aktionäre. Das einzige Ziel eines Unternehmens bestehe deshalb darin, Erträge für seine Aktionäre zu schaffen. Demgegenüber vertrat E. Merrick Dodd die Auffassung, das Management müsse auch die Interessen der Beschäftigten, Kunden, Lieferanten und der Gesellschaft insgesamt in seinen Entscheidungen berücksichtigen.

Der Nobelpreisträger Milton Friedman (1970) griff Berles These wieder auf und propagierte medienwirksam im New York Times Magazine „The Social Responsibility of Business Is to Increase Its Profits“, wobei er gleichzeitig die Verpflichtung der Unternehmen betonte, beim Profitstreben die Gesetze („the rules of the game“) einzuhalten. In der Betriebswirtschaft nahm Alfred Rappaport 1986 diesen Gedanken auf und interpretierte Shareholder Value im Sinne einer langfristigen Maximierung des Unternehmenswerts, was auch die Interessen der Stakeholder mit einbezog (Honold 2020). Doch durch die Finanzmarkt-Exzesse in den Folgejahren geriet der Begriff in Misskredit und in dem alten Streit der Konzepte schlug das Pendel zunehmend zugunsten des Stakeholder-Paradigmas aus.

Freeman verband dies bereits 1984 sowie in den Folgejahren mit der Vorstellung, dass Gewinnmaximierung nicht der Zweck von Wirtschaft sein sollte, sondern vielmehr eine möglichst langanhaltende Wertschöpfung für möglichst viele Stakeholder. Sowohl der Staat als auch Unternehmen dienten demnach einem jeweils spezifischen Sinn und Zweck, einem Purpose (Freeman 2010, S. 29) – Wohlstand der Gesellschaft, Gesundheit, eine intakte Natur oder Bildung für alle. Von Freeman stammt auch die wohl meistzitierte Definition des Stakeholder-Begriffs: „A Stakeholder in an organization is any group or individual who can affect or is affected by the achievement of the organization’s objectives“ (Freeman 2010, S. 9). Es ist demnach einerseits die Betroffenheit von Personen oder Gruppen, die sie zu Stakeholdern macht, andererseits aber auch ihr Einfluss auf eine Idee, ein Projekt oder eine Organisation.Footnote 2

Stakeholder Kapitalismus – diesen Begriff prägte dann Anfang 2021 der Gründer des Weltwirtschaftsforums Davos, Klaus Schwab (2021). Seiner Ansicht nach existieren drei Modelle des Kapitalismus: Der diskreditierte Shareholder-Kapitalismus, noch in vielen westlichen Unternehmen vorherrschend, der Staatskapitalismus, der vornehmlich in Schwellenländern en vogue sei, und der Stakeholder-Kapitalismus, für den er sich stark mache. Damit holte er ein Konzept aus der Schublade, welches er nach eigenen Angaben erstmals 1971 bei der Gründung des Weltwirtschaftsforums in Davos beschrieben hatte und das – verkürzt gesagt – den Grundsatz formuliert, wonach nachhaltige Geschäfte auf den Beziehungen beruhen, die eine Organisation zu den Gruppen unterhält.

Unter den unsicheren Bedingungen der 2020er-Jahre formuliert der Sprecher der globalen Wirtschaftselite zugleich eine Abkehr von der traditionellen Handlungsperspektive des plangetriebenen Managements (Schwab und Vanham 2021) und reiht sich damit auch aus der Praxisperspektive in den entsprechenden Fachdiskurs ein (z. B. Buchholz und Knorre 2019, S. 25). Dies geschieht in dem Bewusstsein, dass nicht mehr alle Situationen und Entwicklungen heroisch kontrolliert werden können, sondern es vielmehr geboten ist, auf Unterstützung und Zusammenarbeit in allen Stakeholder-Beziehungen, den internen wie den externen, zu setzen (Knorre 2020, S. 30). Das bedeutet, dass Organisationen die sie umgebende Umwelt bzw. die dort wirkenden Stakeholder in ihre Wertschöpfungsprozesse grundsätzlich mit einbeziehen (Rüegg-Stürm und Grand 2015; Buchholz und Knorre 2019). In der Logik der Argumentation ist dies das sinnvolle Handlungskonzept, um die Existenz der Organisation bzw. des Unternehmens langfristig zu sichern.

Dabei hat der Gedanke, es mit Stakeholdern zu tun zu haben, immer sowohl eine strategische als auch eine normative Seite (Rüegg-Stürm und Grand 2019, S. 105 f.). Die strategische Seite ist insofern relevant, als dass für jede Entscheidung die Erwartungen und Machtpotenziale der Stakeholder zu berücksichtigen sind und diese zugleich als Ressourcen verstanden werden, die es im Sinne von Effizienz und Effektivität zu nutzen gilt. Die normative Seite kommt zum Tragen, weil Entscheidungen sich dadurch legitimieren müssen, dass sie auf die Betroffenheiten Rücksicht nehmen und auf Verständigung zwischen unterschiedlichen Interessen setzen. Beide Perspektiven schließen sich jedoch keinesfalls aus, im Gegenteil, sie verstärken sich sogar gegenseitig.

So gesehen würde die Antwort auf die Frage, zu welchen Ansprüchen die Stakeholder im Kontext von Mobilitätsdaten berechtigt sind, ganz grundsätzlich lauten: zu allen! Denn das ist der Kern des Stakeholder-Konzeptes. Zugleich bedeutet es nicht, dass die Berechtigung, Ansprüche aus einer Betroffenheit her geltend zu machen, auch dazu führt, dass diesen Ansprüchen auch gefolgt wird. Denn natürlich gestalten auch die Personen oder Gruppen, die Interessen mit Mobilitätsdaten verbinden, ihre Stakeholder-Beziehungen danach, wie sie ihre Ziele am besten erreichen können bzw. wie sie umgekehrt verhindern, dass die Potenziale des Mobilitätsdatengeschäftes behindert oder vernichtet werden. Stakeholder-Beziehungen sind immer selektiv, selbst dann, wenn sie mit hohem normativem Ethos verfolgt werden.

Vor diesem Hintergrund ist es Ziel dieses Kapitels, ausgewählte Stakeholdergruppen, die für die Nutzung von Mobilitäts-Big Data besonders relevant scheinen, eingehender zu analysieren und damit zugleich die Entwicklungspotenziale des Mobilitätsdatengeschäftes zu beschreiben. Wird also davon ausgegangen, dass jede unternehmerische Idee bzw. jede Organisation, die die Wertschöpfungsprozesse organisiert, um diese Idee umzusetzen, in eine vielschichtige, unübersichtliche und dynamische Umwelt eingebettet ist, dann entscheidet die Qualität der Beziehungen zu dieser Umwelt über deren Erfolgsaussichten. Die Umwelt ist dabei kein abstrakter Raum, sondern besteht, wie Abb. 3.1 zeigt, aus unterschiedlichen Umweltsphären (Rüegg-Stürm und Grand 2019, S. 46), in denen Stakeholder in den Logiken der jeweiligen Sphäre agieren.

Abb. 3.1
figure 1

Umweltsphären, Stakeholder und ihre Handlungslogiken. (Nach Rüegg-Stürm und Grand 2019)

Was ist unter diesen Umweltsphären zu verstehen? Sie lassen sich als spezifische Diskussionsräume vorstellen, in denen Stakeholder ihre Ideen und Erwartungen kommunikativ abgleichen und Entscheidungen aushandeln. Ob und inwieweit sich die mit den massenhaften Mobilitätsdaten verbundenen ökologischen, sozialen und ökonomischen Möglichkeiten und Erwartungen realisieren lassen, hängt dementsprechend davon ab, in welchem Umfang und in welcher Art und Weise es gelingt, die Risiken ihrer Umweltsphären zu minimieren und zugleich deren Chancen zu nutzen. Dabei werden für das hier bearbeitete Thema die Umweltsphären Gesellschaft/Politik, Wissenschaft und Wirtschaft bzw. die dort interagierenden Stakeholder als besonders relevant eingestuft – wissend, dass sich natürlich noch weitere Umweltsphären wie Recht, Natur oder Religion definieren ließen. Warum diese Fokussierung?

Wie Abb. 3.1 zeigt, werden in der Umweltsphäre Gesellschaft gesamtgesellschaftlich wünschenswerte Zielvorstellungen entwickelt, die mit der Nutzung von Massendaten der Mobilität verbunden sind. Es werden ökologische Zielsetzungen wie die Reduktion von klimaschädlichen Emissionen mit ökonomisch motivierten Service- und Bequemlichkeitszielen gleichzeitig und wiederholt ab- und ausgewogen. In der Wissenschaftssphäre werden die Bedingungen definiert, unter denen Big Data in der Mobilität neues Wissen, insbesondere neue Technologien, zutage fördern kann, welches seinerseits für innovative Geschäftsmodelle genauso wie für gesellschaftlichen Nutzen eingesetzt werden kann. In der Umweltsphäre Wirtschaft finden schließlich alle Diskurse statt, in der über die Bereitstellung von Ressourcen für die Nutzung von Mobilitätsmassendaten auf den mit den jeweiligen Geschäftsmodellen bzw. deren Wertschöpfungsprozessen verbundenen Märkten (Zulieferer, Kunden, Fachkräfte) entschieden wird.

Auch die genannten drei besonders relevanten Umweltsphären werden von jeweils spezifischen Stakeholdern kommunikativ gestaltet. Wie oben bereits theoretisch begründet, lässt sich auch in der Managementpraxis immer nur eine begrenzte Anzahl von Stakeholder-Beziehungen analysieren und kommunikativ gestalten. Es kommt deshalb auch für diese Studie darauf an, die besonders relevanten Stakeholder-Beziehungen in den ebenfalls ausgewählten Umweltsphären Gesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft zu identifizieren, ihre Positionen und Machtpotenziale zu reflektieren, um damit die Gestaltungsmöglichkeiten und damit Entwicklungsperspektiven für das Mobilitätsdatengeschäft einzuschätzen.

3.2 Mobilitätsdaten im Fokus ihrer Stakeholder: Gestaltungsansprüche und Entwicklungsperspektiven im öffentlichen Diskurs

3.2.1 Studiendesign und Vorgehensweise

Da diese Stakeholder-Beziehungen sich gut nachvollziehbar in öffentlichen Diskursen beobachten lassen, wurde im Rahmen des qualitativen Forschungsteils dieser Studie eine Medienanalyse durchgeführt. Ausgangspunkt für die Medieninhaltsanalyse ist die Überlegung, dass Massenmedien sowohl Wirklichkeit abbilden als auch ihrerseits selbst konstruieren. Die Medieninhaltsanalyse ist insofern eine Beobachtung von Beobachtungen (Merten und Wienand 2004, S. 15) und stellt eine basale sozialwissenschaftliche Methode dar, um soziale Wirklichkeiten zu erheben.

In dieser Studie wurde dementsprechend ein strukturiertes, qualitatives Verfahren zur Auswertung textbasierter Daten angewendet. Der Auswertungsprozess besteht aus einem regelgeleiteten Vorgehen, hier der Zusammenfassung, Erläuterung im Kontext von Text und weiterführendem Material sowie einer Strukturierung mithilfe von Kategorien (nach Wagner 2009).

Ausgewertet wurden MedienFootnote 3 im Zeitraum vom 01.01.2020 bis zum 31.07.2021 in Bezug auf das konkrete Thema bzw. politische Projekt „Datenraum Mobilität“. Dieses Einzelthema wurde als besonders relevant für den Gesamtkontext bewertet, da es um eines der wenigen konkreten öffentlichen Handlungsfelder zum Mobilitätsdatengeschäft geht. Deshalb wird angenommen, anhand dieses Themenbeispiels Merkmale in Stakeholder-Beziehungen beobachten zu können, die typischerweise im Zusammenhang mit Mobilitätsdaten als „Interaktionsthema“ (Rüegg-Stürm und Grand 2019, S. 56) auftauchen.

Dabei wurden als Kategorien insbesondere die dort wahrnehmbaren

  • Stakeholder (z. B. Individuen, Verbände, Parteien, Medien),

  • Betroffenheiten,

  • Interessen,

  • Erwartungen,

  • aktiv eingebrachten gestalterischen Ideen sowie

  • Normen und Werte

beobachtet und systematisch erfasst. Dementsprechend werden im Folgenden wesentliche Ergebnisse dieser Inhaltsanalyse anhand von Ankerbeispielen aus dem ausgewerteten Material aufgezeigt und diskutiert. Dabei folgt die Darstellung dem medialen Diskurs im chronologischen Ablauf, der wiederum den zeitlichen, ereignisgetriebenen Ablauf der Ereignisse im Beobachtungszeitraum abbildet. Die Beobachtungen werden anschließend u. a. mithilfe einer Stakeholdertypologie systematisiert und generalisiert.

3.2.2 Der Datenraum Mobilität in den Medien: Stakeholder aus den Umweltsphären Gesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft und ihre Interaktionen

Um was geht es also bei diesem Thema, das die Stakeholder von Big Data in der Mobilität zu Interaktionen veranlasst? Die Initiative, eine digitale Plattform für den Austausch von Mobilitätsdaten zu schaffen, ging von der Bundesregierung aus. Schon in dem im Jahr 2018 vorgelegten Koalitionsvertrag hatten CDU, CSU und SPD die Absicht formuliert, eine digitale Mobilitätsplattform zu schaffen, die alle Mobilitätsangebote über sämtliche Fortbewegungsmittel hinweg benutzerfreundlich miteinander vernetzt. (Bundesregierung 2018, S. 47). Dazu sollten einheitliche, offene Standards entwickelt werden, um Echtzeitdaten über Verkehrsträger und -situationen frei zwischen öffentlichen und privaten Verkehrsanbietern und Anbietern von Informationssystemen austauschen zu können und bundesweite eTickets („Deutschlandticket“) zu ermöglichen. Mit diesem Ziel hatte der Bundesverkehrsminister im September 2018 die Nationale Plattform Mobilität auf den Weg gebracht, um relevante Stakeholder miteinander zu verknüpfen. Diese Nationale Plattform Mobilität sollte Handlungsempfehlungen an Politik, Wirtschaft und Gesellschaft aussprechen.

Es kam jedoch erst auf dem Autogipfel am 4. November 2019 Schwung in die Sache, als Bundeskanzlerin Angela Merkel das Thema zur Chefsache machte. In einer Pressemitteilung der Bundesregierung zu den Ergebnissen des Autogipfel heißt es: „Private und öffentliche Mobilitätsanbieter wollen […] bis Ende 2021 gemeinsam ein umfassendes Datennetzwerk MobilitätFootnote 4 schaffen, damit die Vernetzung für die Mobilitätswende bestmöglich genutzt werden kann. Hierfür werden wir schnell ein Verfahren vereinbaren. Die Mobilitätsanbieter und Fahrzeughersteller werden dafür die erforderlichen Daten rasch zur Verfügung stellen“ (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 2019).Footnote 5

Die Bundesregierung begründete ihre Initiative mit dem Ziel, den Tech-Giganten Google, Amazon und Microsoft eine europäische Alternative entgegenzusetzen. Dieses bekannte Narrativ der „Frightful 5“ (Knorre et al. 2020) spielte auch bei der Digital-Klausurtagung des Bundeskabinetts im Herbst 2019 auf Schloss Meseberg eine wichtige Rolle. Auch dort wurde von der Bundesregierung das Ziel betont, eine europäische Daten-Infrastruktur als Alternative zu den Diensten der amerikanischen Internet-Riesen aufzubauen, um nicht in deren Abhängigkeit zu geraten (dpa 2019).

Auch in der Folgezeit begründet das Kanzleramt das Projekt „Datenraum Mobilität“ wiederholt mit eben diesem höheren nationalen und europäischen Interesse: Damit Deutschland auch in Zukunft „Autoland Nummer eins“ ist, sollen sich die am Mobilitätsmarkt Beteiligten zum „Datensharing“ bereit erklären, sodass am Ende eine „europäische Cloud entstehen und den amerikanischen Datennutzern (gemeint sind Google, Amazon und Microsoft, A.d.V.) Paroli“ geboten werden könne (Delhaes 2020a).

Analog zur Zielsetzung der Bundesregierung, mit dem Datenraum Mobilität den US-Tech-Giganten etwas entgegenzusetzen, bettet auch Kommissionspräsidentin von der Leyen (2020) im selben Zeitraum ihre Initiative für europäische Datenräume, die dann im Folgenden unter dem Projektnamen Gaia X verfolgt wird, in den globalen Wettkampf, vor allem mit den USA, um die besten Digitallösungen ein. Im Einklang mit ihrem beim Dienstantritt formulierten Anspruch, eine geopolitische Kommission zu sein, die den Bürgern zeige, dass die EU auf Augenhöhe mit den USA und China spiele, benennt sie in einem Namensbeitrag im Handelsblatt als Ziel dieser Initiative die „technologische Souveränität Europas“. Europa brauche dazu eigene digitale Kapazitäten, damit Start-ups in Deutschland und Europa die gleichen Chancen wie „ihre Gegenspieler im Silicon Valley“ haben.

3.2.2.1 Antreiber und Bremser beim „Datenraum Mobilität“

Doch trotz dieser geopolitischen Aufladung bleibt der Fortgang dieser politischen Initiative mühsam. Schon beim Autogipfel 2019 zeichnete sich ab, dass das Projekt auf Seiten der Automobilhersteller keine Begeisterungsstürme auslöste. Zunächst hätten sich die Autohersteller wegen kartellrechtlicher und Datenschutzbedenken geziert, ihre Daten bereitzustellen, erklärte Bundesverkehrsminister Scheuer dazu. Diese Bedenken habe man aber in Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden aus dem Weg geräumt (Kugoth und Rusch 2021). Diese Erfolgsmeldung erwies sich im Nachhinein jedoch als voreilig.

Dass es nicht so einfach mit dem Ende 2019 von der Bundesregierung verkündeten „rasch zur Verfügung stellen“ der Daten für den Datenraum Mobilität sein sollte, macht das Handelsblatt (Delhaes 2020a) knapp ein Jahr später deutlich. So schreibt der Handelsblatt-Autor im Vorbericht zum Autogipfel im September 2020 von „dem heiß umkämpften Markt, in dem die einzelnen Verkehrsträger sich gegenseitig nichts gönnen.“ Als Beispiel für die Bremser nennt er die Autobauer, die nicht von ihrer eigenen bereits in Praxis befindlichen Datenarchitektur Nevada lassen wollen. Dieses beim Verband der Automobilindustrie (VDA) angesiedelte System hatten die Autoproduzenten gemeinsam mit Zulieferern wie Bosch aufgebaut. Es ermöglicht die sichere Weitergabe von im Fahrzeug generierten Daten, um sie – kostenlos oder entgeltlich – für Zulieferer und Werkstätten nutzbar zu machen.

Zudem stehen nicht nur die Autokonzerne dem Datenteilen kritisch gegenüber. Auch die Nahverkehrsbetriebe haben Vorbehalte: Sie wollen nur untereinander Daten verknüpfen, um sich Datensammlern wie Google, Amazon, Apple und Co. zu erwehren (Delhaes 2020a).

Das Zögern der Autokonzerne thematisiert ein weiterer Beitrag des Handelsblatts vom gleichen Tag aus Anlass des Abschlussberichts der Enquetekommission des Deutschen Bundestags zum Thema Künstliche Intelligenz (Holzki et al. 2020). Darin konstatieren die Autoren „viel Skepsis“ auf Unternehmensseite – nicht nur, weil es noch viele offene Fragen gebe, etwa wer bei Schäden durch selbstfahrende Autos hafte: der Fahrzeughersteller, der Softwareanbieter oder der Sensorlieferant. Vielmehr würden sich auch viele Unternehmen gegen die Freigabe von Daten sperren: „In den Köpfen hat sich festgesetzt, dass Daten zu teilen grundsätzlich gefährlich ist“, wird ein Experte zitiert. Diese Vorbehalte finden sich auch in einem Artikel der Tageszeitung Die Welt (Zwick 2020a) zum Autogipfel. Schon die Überschrift gibt die Richtung vor: „Die Staats-Cloud wird für die Autobauer zum teuren Projekt.“ Der geplante Datenraum Mobilität würde zwar den Verbrauchern nützen, aber die Gewinne der Hersteller schmälern.

Die Stimmen, die der Autor des Artikels in der Autobranche zu dem Projekt eingefangen hat, sind jedoch nicht grundsätzlich ablehnend. Volkswagen Chef Herbert Diess etwa wird mit den Worten zitiert: Durch die Vernetzung werde „intermodularer Verkehr flüssig und effizient – und vor allem kundenfreundlich“ (Zwick 2020a). Ein BMW-Sprecher berichtet, dass der bayerische Autohersteller schon jetzt sicherheitsrelevante Daten für nichtkommerzielle Zwecke kostenfrei zur Verfügung stellt. Im Datenraum Mobilität könnten diese Daten kostenlos getauscht werden, während andere Daten kostenpflichtig wären. Damit wird die Position der Autobauer deutlich: Sie wollen keine Pflicht zum generellen Teilen ihrer Daten, sondern selbst entscheiden, welche Daten sie wem zu welchen Preisen oder kostenfrei zur Verfügung stellen.

Auf dieses eingeschränkte Teilen scheint sich auch die Bundesregierung hinzubewegen, wie der Handelsblatt-Artikel vom 08.09.2020 zu berichten weiß. Der Datenraum Mobilität soll freiwillig angebotene Daten verknüpfen, es bleibe bei „Datensouveränität“ – wer Daten besitzt, soll weiterhin die Hoheit über sie behalten und entscheiden können, wem er die Daten zur Verfügung stellt (Delhaes 2020a). Damit aber hängt die Zukunft des Datenraums Mobilität von der Bereitschaft der Beteiligten ab, ihre Daten zu teilen.Footnote 6

Nächster Anlass für die Berichterstattung ist der Autogipfel vom 17. November 2020. Schon drei Wochen vorher beginnt das Handelsblatt (Delhaes 2020b) mit der Vorberichterstattung. Bereits die Headline zeigt, wer als Antreiber bei dem Projekt und wer als Bremser gesehen wird: „Merkel drängt Autokonzerne: BMW, Daimler und VW sollen Datenschatz teilen“. Diese aber „zieren“ sich oder halten sich „bedeckt“, wohl auf Anraten der Verantwortlichen in den Rechtsabteilungen der Unternehmen und im Verband, wie das Handelsblatt aus Regierungskreisen gehört hat. Dabei sollen sie für ihre Daten ein Entgelt erhalten können, wie es gleich im ersten Satz des Textes heißt.

Merkel will dafür im Gegenzug von der Automobilindustrie beim Autogipfel eine verbindliche Zusage zur Teilnahme am Datenraum Mobilität erhalten. Zu diesem Zeitpunkt unterstützen nur bundeseigene Unternehmen wie die Deutsche Bahn AG, der Deutsche Wetterdienst und die Bundesanstalt für Straßenwesen das Vorhaben. Auch die Nahverkehrsbetriebe sperren sich noch. Deshalb will die Bundesregierung sie per Gesetz dazu verpflichten, statistische und Echtzeitdaten zur Verfügung zu stellen. Das Kalkül ist offenbar, vermutet der Handelsblatt-Autor: Je mehr Unternehmen sich beteiligen, desto größer wird der öffentliche Druck auf die Autobauer. Ihnen macht die Regierung folgendes Angebot: Der Datenraum Mobilität bietet einen Standard für Datensouveränität, der auf europäischen Werten beruht; jeder Teilnehmer soll die Souveränität über seine Daten behalten können; und nur wer sich an die Spielregeln hält, hat Zutritt zum Datenraum Mobilität. Das ermögliche fairen Wettbewerb, in dem datengetriebene Innovationen gedeihen können.

Das Handelsblatt berichtet auch schon, wie die Bundesregierung das Projekt für den Datenraum Mobilität in Gang setzen will: Die Akademie für Technikwissenschaften (Acatech) wird eine GmbH gründen, die den „Datenraum Mobilität“ mit Bundeshilfe in Höhe von 18 Millionen Euro aufbauen soll. Das Gerüst soll die International Data Spaces Association (IDSA) liefern, die schon einen Datenraum vermarktet, der von Fraunhofer Instituten entwickelt wurde. Im Frühjahr 2021 soll dann ein erstes Pilotprojekt starten und der Datenraum im Oktober beim Weltkongress für intelligente Verkehrssysteme in Hamburg im Echtbetrieb seine Fähigkeiten demonstrieren. Ein wichtiger Teilnehmer wäre der Kartendienst Here, an dem Daimler, BMW, Audi, Bosch und Continental beteiligt sind. Von dort hat der Autor eine positive Rückmeldung erhalten: Dieser Datenraum werde „letztlich dazu beitragen, eine stärkere digitale Souveränität in Europa zu fördern“.

Am Tag des Autogipfels, also noch vor dem Treffen der Beteiligten am Abend des 17. November 2020, meldet das Handelsblatt die angebliche Kapitulation der Autokonzerne vor Angela Merkel mit der Schlagzeile: „VW und Daimler wollen die Pläne der Kanzlerin unterstützen“ (Delhaes 2020c). Weiter berichtet das Handelsblatt, dass die Bundeskanzlerin nun tatsächlich die Akademie für Technikwissenschaften beauftragt habe, ein Konzept für den Datenraum Mobilität zu entwickeln, „obwohl die Autobauer bislang wenig Interesse zeigten, sich an dem Projekt zu beteiligen“. Nur VW scheint aber tatsächlich seine Position zu ändern und hat dem Handelsblatt bestätigt, dass das Unternehmen nun eine direkte Beteiligung am Datenraum Mobilität anstrebe. VW baue bereits einen eigenen Datenmarktplatz für das Projekt auf – er sei „die Voraussetzung, um sich an übergeordneten Plattformen wie dem Datenraum Mobilität zu beteiligen“, sagt eine VW-Sprecherin. Dass auch Daimler einsteigen wolle, wie das Handelsblatt unter Bezug auf Regierungskreise meldet, dazu mag sich der Stuttgarter Autokonzern auf Anfrage des Handelsblatts nicht äußern. Und wie sich BMW positioniert, bleibt unklar. Von dem bayerischen Autobauer ist in diesem Artikel keine Rede. In einer späteren Ausgabe des Handelsblatts (Delhaes et al. 2020) heißt es, dass beim Datenraum Mobilität vor allem BMW „auf der Bremse“ stehe.

Obwohl es dem Bundeskanzleramt anscheinend gelungen ist, die Abwehrfront der Autokonzerne aufzubrechen, zeigt die Berichterstattung über den nächsten Autogipfel vier Monate später am 23.03.2021 keinen wesentlichen Fortschritt in der Bereitschaft der Autokonzerne, ihre Daten im Datenraum Mobilität zu teilen. So stellt das Handelsblatt (Delhaes 2021a) fest: „VW, BMW und Daimler zieren sich bei Merkels Datenplattform“, ein Jahr und vier Monate nach dem Start ziehe „kaum ein privates Unternehmen mit“. Als Grund gibt das Handelsblatt an, die Autokonzerne hätten „eigene Pläne“. Ähnlich äußert sich Acatech in seinem Statusbericht, aus dem das Handelsblatt zitiert: Die Teilnahme am Datenraum Mobilität werde „komplementär zu anderen partiellen Datenraum-Aktivitäten gesehen“. So arbeiten VW und Here Technologies, der gemeinsame Geodatendienst von Audi, BMW und Daimler, parallel an eigenen Datenplattformen, und BMW hat eine Allianz mit SAP, Deutsche Telekom und wichtigen Zulieferern angekündigt, entlang der Wertschöpfungskette Daten zu tauschen.

Doch unbeeindruckt vom Zögern der Autokonzerne treibt das Kanzleramt den Datenraum Mobilität weiter voran. Er soll 2022 oder früher in den Regelbetrieb gehen. Zum Leiter des Projekts wird Karl-Heinz Kreibich, einst Vorstandschef der Software AG, berufen. Acatech wird eine gemeinnützige GmbH gründen, nach fünf Jahren soll sich die Plattform selbst tragen. Das Ziel ist laut Handelsblatt: „Die Autobauer sollen […] mit Daten Fahrzeuge vernetzen, Trainingsdaten autonomer Fahrsysteme teilen und so schneller forschen, entwickeln, validieren, zertifizieren und die Digitalisierung der Mobilität maßgeblich im Autoland Deutschland vorantreiben. Verkehrsmanagementsysteme sollen dadurch besser arbeiten sowie Transport und Logistik optimiert werden“ (Delhaes 2021a).

Unklar ist aber, was mit den Daten entstehen könnte. „Überzeugende Geschäftsmodelle fehlen noch“, urteilt das Handelsblatt (Delhaes 2021a), die möglichen Datenlieferanten würden sich auch hier bedeckt halten, bis auf einzelne Vorschläge. BMW etwa sieht als mögliches Geschäftsfeld „dynamische Verkehrszeichen“, die Autos erfassen und Daten in Echtzeit zur Verfügung stellen könnten. Audi plant, Gefahreninformationen im Straßenverkehr direkt aus dem Auto heraus anzubieten, und Daimler will Daten über den Straßenzustand weiterleiten. Der Autozulieferer ZF Friedrichshafen will Prognosen zur Verfügung stellen, um bei mangelnder Luftqualität Verkehrssysteme entsprechend zu schalten und den Verkehrsfluss basierend auf der Abgasbelastung zu steuern.

In einem Interview mit dem Tagesspiegel am 01.04.2021 (Kugoth und Rusch 2021) platziert Verkehrsminister Scheuer dann endlich eine Erfolgsmeldung. Als ersten Anwendungsfall nutzt der Mobilitätsdienstleister Free Now, ein Joint Venture von Daimler und BMW, den Datenraum Mobilität, indem er auf Basis der zur Verfügung stehenden Daten des Deutschen Wetterdienstes den Nutzern der Free-Now-App anzeigt, welches Verkehrsmittel sich angesichts der aktuellen Wetterverhältnisse für die geplante Strecke am besten eigne. Später sollen auch Störungsinformationen über verspätete Züge der Bahn und Staus bei der Routenplanung Berücksichtigung finden.

Scheuer nutzt das Interview, um das bekannte Narrativ zu wiederholen und den Datenraum Mobilität als Gegenmodell zur Datensammelwut der großen amerikanischen Plattformunternehmen zu positionieren. Im Unterschied zu deren Praxis würden die Daten nicht zentral gespeichert, sondern verblieben auf den Servern der Anbieter, die auch bestimmten, zu welchem Preis und zu welchen Konditionen sie diese anbieten. Mehr als 55 weitere Anwendungen seien derzeit in Vorbereitung.

Druck für eine Realisierung des Datenraums Mobilität kommt nun auch vom größten deutschen Automobilzulieferer: Im Interview mit dem Tagespiegel (Mortsiefer 2021) sagt Volkmar Denner, Vorsitzender der Geschäftsführung der Robert Bosch GmbH: „Nicht-personenbezogene Daten … sollten stärker geteilt und genutzt werden können, um neue Geschäftsmodelle daraus zu entwickeln. Deshalb unterstützen wir auch den Aufbau von Plattformen wie Gaia X oder den Datenraum Mobilität.“ Diese Projekte hält er für dringlich, denn „die großen Plattform-Konzerne (gemeint sind Google, Microsoft, Amazon etc., A.d.V.) haben sich bisher im Bereich Mobilität noch nicht etabliert. Deshalb müssen wir schnell sein, und viele müssen mitmachen. Ich sehe eine große Bereitschaft, sich zu beteiligen. Das hat sich auch beim letzten Autogipfel gezeigt. Wir wollen der Welt zeigen, dass es funktioniert: Vernetzte Mobilität, bei der der ÖPNV mit Autos und anderen Verkehrsträgern Daten austauscht, damit intermodale Mobilität besser wird und dem Nutzer dient.“

Nach Informationen des Handelsblatts (Delhaes und Murphy 2021) hat sich Volkswagen inzwischen aus der Datenplattform Nevada verabschiedet. Als Grund sehen die Autoren, dass die deutschen Autobauer zuversichtlich waren, durch ihre Marktmacht auch die Standards im Datengeschäft setzen zu können. Daran glaubt VW nun offenbar nicht mehr. Zudem spricht gegen Nevada, die den sicheren Verkauf von im Fahrzeug generierten Daten an Werkstätten und Zulieferer ermöglichen sollte, dass die Hersteller zwar bestimmen, welche Daten sie an einen Treuhänder geben, sie aber nicht erfahren, wer der Käufer ist.

Wie die Autokonzerne in Zukunft ihre Interessen im „Milliardenmarkt Mobilitätsdaten“ gewahrt wissen wollen, zeigt, dem Handelsblatt zufolge, das Lobbying über ihren europäischen Verband ACEA bei der Vizepräsidentin der EU-Kommission Margrethe Vestager und Binnenmarktkommissar Thierry Breton, die die Gesetze für digitale Daten und Märkte vorbereiten. Danach wollen die Unternehmen auch in Zukunft Daten für Dritte bereitstellen, aber die Kontrolle behalten. Nur so seien personenbezogene Daten geschützt und die Sicherheit des Autos gewahrt. Ihre Sorge: Vor allem bei hochautomatisiertem oder autonomem Fahren könnte das Betriebssystem über offene Schnittstellen gehackt werden. Deshalb fordern sie statt eines Standards eine europäische Rahmenregelung für alle, an die sich auch die amerikanischen Datenkonzerne und Tesla halten müssten. Die Hersteller sollen selbst entscheiden, wie sie die Daten übermitteln: über eine Schnittstelle, eine neutrale Plattform oder den direkten Zugang zum Display über das Smartphone. Die Gesetzgebung solle festlegen, welche Daten freizugeben seien und welche freiwillig gehandelt werden könnten. Der Kunde müsse zustimmen, wenn ein Dritter auf Daten zugreifen wolle. Die Autobauer wollen Daten nur auf freiwilliger vertraglicher Vereinbarung und nicht kostenlos an Dienstanbieter weitergeben. Umgekehrt müssten auch die Tech-Konzerne, die Fahrzeugdaten etwa über Smartphones sammeln, diese teilen.

3.2.2.2 Weitere Stakeholder am Datenraum Mobilität

Neben den Protagonisten aus Bundesregierung und Automobilindustrie treten weitere Stakeholder in den medialen Diskurs ein. Mit Ausnahme von Fragen zum Datenschutz sind die Äußerungen der sonstigen Stakeholder zu dem Projekt den untersuchten Medien zufolge durchweg positiv. Die Bundesländer mit den meisten Automobilstandorten Nordrhein-Westfalen, Bayern, Baden-Württemberg und Niedersachsen, die auch regelmäßig am Autogipfel teilnehmen, wollen sich beteiligen (Delhaes 2021a). Der Deutscher Städtetag (Kugoth 2021a) drängt, die Frage zügig zu klären, wer die Daten nutzen und weiterverarbeiten darf, die autonom fahrende Fahrzeuge liefern. Städte und Kommunen würden von diesen Informationen profitieren, sie könnten gut für den Klimaschutz und einen effizienten Verkehr vor Ort eingesetzt werden.

Die öffentlichen Verkehrsunternehmen und Verkehrsverbünde hat die Bundesregierung schon durch die Novellierung des Datennutzungsgesetzes und des Personenbeförderungsgesetzes zum Data-Sharing verpflichtet. Dass die Deutsche Bahn dennoch Daten über die Auslastung ihrer Züge und deren Pünktlichkeit Konkurrenten wie Flixtrain verweigert und auch nicht deren Angebote auf ihre Webseite aufnimmt, kritisiert der Chefreporter des Handelsblatts (Fockenbrock 2020) in einem Kommentar als gegen den Geist des Datenraum Mobilität gerichtet, an dem sich die Bahn doch beteilige.

Die Unternehmen des ÖPNV diskutieren parallel zur Diskussion über den Datenraum Mobilität noch ihr eigenes spezifisches Thema: die Reform des Personenbeförderungsgesetzes. Damit will der Bund erreichen, dass alle Unternehmen, die Personen befördern, also öffentliche Verkehrsbetriebe und auch private Plattformen wie Uber oder die VW-Tochter Moia, umfangreich Daten zur Verfügung stellen. Es geht dabei nicht nur um statische Daten wie Fahrpläne, Routen, Preise, Tarifstrukturen, sondern auch um Echtzeitdaten, etwa um Geodaten, die Zahl der im Einsatz befindlichen Fahrzeuge, Verspätungen und Auslastungen der Fahrzeuge. So ist es kein Wunder, dass diese Reform im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens modifiziert wird.

So berichtet Der Tagesspiegel in seinem Newsletter Verkehr & Smart Mobility (Kugoth 2021b), dass das Teilen der Daten nur stufenweise anlaufen soll. Laut der vom Bundeskabinett verabschiedeten Mobilitätsdatenverordnung sollen zunächst nur statische Daten im Linienverkehr geteilt werden, also Fahrpläne, Routen oder Tarife. Mietwagenunternehmen, die sich über Uber oder Free Now vermitteln lassen, sollen Daten zu Bediengebieten und Bedienzeiten sowie Standorten teilen. Dynamische Daten wie Verspätungen, Auslastungen von Bussen, Bahnen und Gelegenheitsverkehr sollen dann ab Juli 2022 hinzukommen, Echtzeitdaten zu Verspätungen oder Geodaten aber nicht wie ursprünglich vorgesehen. Das sieht auch das Handelsblatt vom selben Tag so: „Verkehrsanbieter behalten Datenschatz“, lautet die Überschrift (Delhaes 2021b).

Als weitere Interessenten an den Daten und dem Datenraum Mobilität machen sich die Prüforganisationen TÜV, Dekra, GTÜ, KÜS und VÜK bemerkbar (Zwick 2020b; Delhaes 2020c). In einem Positionspapier fordern sie einen „direkten Zugang zu den sicherheits- und umweltrelevanten Daten aus den Fahrzeugen“, die Fahrzeugprüfung müsse „auf der Grundlage von Datenanalysen und Softwarechecks neu definiert werden“. Weil mehr Software und automatische Fahrfunktionen in den Autos installiert und Programme aktualisiert würden, müssten die Überwachungsvereine auch diese Teile überprüfen können. Der Verband schlägt deshalb ein „Trust Center“ vor, das von einem unabhängigen Dritten betreut wird und über das die Prüfer Daten abrufen können. Es gehe um Betriebs-, Verkehrs- und Umweltsicherheit.

Im Handelsblatt (Buchenau 2020) begrüßt der Dekra-Vorsitzende ausdrücklich die Initiative der Bundesregierung für den Datenraum Mobilität und den dadurch ausgeübten Druck auf die Autokonzerne, die ihre Daten mit dem Verweis auf ihre Geschäftsgeheimnisse nicht teilen wollten. Aber ohne Zugang zu den Fahrzeugdaten lasse sich – so die Prüfer – nicht ermitteln, ob der Fahrer oder ein Software-Fehler des Autoherstellers schuld bei einem Unfall sei. Bislang müssen die Autohersteller diese Daten erst auf einen gerichtlichen Beschluss hin offenlegen. Die Dekra fordert vor diesem Hintergrund einen diskriminierungsfreien, unabhängigen Zugang zu sicherheits- und umweltrelevanten Fahrzeugdaten.

Von den Versicherungsunternehmen hat bislang nur die HUK-Coburg ihre Absicht zur Teilnahme am Datenraum Mobilität erklärt (Delhaes 2021a). Den Versicherern bieten vernetzte Fahrzeuge eine Menge an Daten, auf deren Basis sie neue digitale Versicherungs- und Schadenregulierungskonzepte entwickeln könnten. Die HUK hat schon 400.000 Kunden in einem Tarif, der ein risikoarmes Fahrverhalten des Fahrers belohnt. Den Zugriff auf die Kundendaten will man sich deshalb nicht nehmen lassen. „Wir werden das Zepter nicht aus der Hand geben“, sagt ein Manager gegenüber dem Handelsblatt (Heitmann 2021).

Namentlich kommt nur ein Sprecher der Verbraucherinteressen zu Wort. Der Vorstand des Verbraucherzentrale-Bundesverbandes stellt sich hinter die Pläne der Bundesregierung für den Datenraum Mobilität und fordert den Aufbau einer verkehrsmittelübergreifenden Plattform. Kritik übt er an den Verkehrsunternehmen, die ihre Eigeninteressen vor das Gemeinwohl stellten und ihren Mitbewerbern misstrauten (Zwick 2020a).

Die organisierten Verbraucherschützer treibt vor allem der Datenschutz um. Der Zeit (Tatje 2021) zufolge fordert die Verbraucherzentrale Bundesverband, dass sich die Bundesregierung beim Thema Mobilitätsdaten mehr Zeit lässt und unter Beteiligung aller relevanten Interessengruppen ein separates verkehrsmittelübergreifendes Mobilitätsdatengesetz auf den Weg bringt. Differenzierter äußert sich eine Verbraucherschützerin in der taz (Bergt 2021). Sie besteht einerseits auch auf dem Datenschutz: Die Verbraucher sollten die Hoheit über ihre Daten haben, nicht die Autokonzerne. Ob sie die mit dem Auto erzeugten Daten an die Autohersteller weitergeben, sollen die Verbraucher selbst entscheiden. Aber wenn jemand z. B. einen Versicherungstarif nutzen wolle, der einen bestimmten Fahrstil belohnt, dann könne er seine Daten freiwillig weitergeben. Sinnvoll sei die Datenverwendung, um Verkehrsströme für die Stadtplanung und Umweltwirkungen auszuwerten. Wichtig sei es dabei, die Daten zu anonymisieren.

Auch Europas größte Autofahrerlobby ADAC sorgt sich in einer Stellungnahme zum Gesetzentwurf für das autonome Fahren (Delhaes und Murphy 2021) um das Kräfteverhältnis zwischen Autofahrern und Herstellern. Darin verlangt sie, dass der Fahrzeughalter oder der Nutzer über jegliche Datenverarbeitung sowohl von personenbezogenen Daten als auch von technischen Daten ohne Personenbezug selbst entscheiden müsse. Die Autobauer dürften in ihren Geschäftsbedingungen nicht festlegen, dass der Halter auf seine Hoheit über die Daten verzichtet. Vielmehr müssten die Hersteller ermöglichen, dass der Halter selbst Daten speichert und etwa über eine offene Schnittstelle an einen Datentreuhänder übermittelt. Deshalb auch lehnt der Automobilclub herstellereigene Plattformen wie Nevada ab und plädiert für eine Telematik-Plattform direkt im Auto. So könnten alle Daten, auf die Hersteller über Fernzugriff verfügen, auch von unabhängigen Dienstleistern genutzt werden. In diesem Kontext zitiert das Handelsblatt einen Unternehmensberater der Boston Consulting Group: „Die Hersteller werden den Datenpool ihrer Autos für Drittanbieter öffnen müssen, da sie sonst gegen den europäischen Wettbewerbsgedanken verstoßen.“

Und was denken die Verbraucher selbst? Der Datenraum Mobilität ist ein Expertenthema ohne große Reichweite. Die Medien zitierten im Untersuchungszeitraum jedoch Umfragen mit dem Fokus auf Datenschutz in der Mobilität. Die Ergebnisse sind aber so widersprüchlich, dass sie kaum Aussagekraft haben. Das Handelsblatt (Buchenau 2020) berichtet von einer Umfrage der Dekra unter 1000 Autofahrern. Danach machen sich nur 18 Prozent große Sorgen, dass ihre Fahrdaten missbräuchlich verwendet werden könnten. Nach einer Civey-Umfrage unter 2500 Deutschen für Tagesspiegel Background (Kugoth 2021a) sehen 63 Prozent der Befragten das größte Risiko des autonomen Fahrens in den ungeklärten Haftungsfragen, beim Datenschutz sind es immerhin 36 Prozent.

Auf die Datenschutzthematik fokussieren sich auch einige Redakteure, die die Perspektive der Verbraucher bzw. Autofahrer einnehmen, so Die Welt (Zwick 2020b) aus Anlass der Vorstellung der neuen S-Klasse von Mercedes. Schon die Überschrift zeigt die Stoßrichtung: „Ihr Auto weiß bald alles – und wird sie verraten.“ Und an wen? An die „Hersteller, EU und Geheimdienste“, lautet die Antwort. Interesse an den Daten hätten zudem die Versicherer, um Schadensmeldungen überprüfen zu können, Staaten, um den Verkehr zu steuern und Emissionen zu erfassen, und Geheimdienste, um Personen zu überwachen. Auch dieser Artikel verwendet die Metapher vom „Gläsernen Fahrer“, weil das Auto alle möglichen Daten erhebt: Vitaldaten des Fahrers und seine Stimme oder Bilder mit Hilfe von Laserkameras im Innenraum, die Fahrer und Beifahrer beobachten, die Position im Navigationssystem, Bilder und Töne der Umgebung, technische Informationen wie Kraftstoff- oder Stromverbrauch, Beschaffenheit des Bodens, Außentemperatur, Niederschläge.

Dass die Datenschutz-Anforderungen zu 100 Prozent erfüllt seien, wie Daimler-Chef Ola Källenius im selben Artikel zitiert wird, bezweifelt der Welt-Autor und zitiert den Bundesdatenschutzbeauftragten Ulrich Kelber: „Die zunehmende Datenverarbeitung in modernen Kraftfahrzeugen und ihre Kommunikation untereinander, mit ihrer Umgebung und mit dem Internet bergen datenschutzrechtliche Risiken.“ Dadurch würden „Begehrlichkeiten geschaffen“, die „Gefährdungslage“ bestehe bereits „im Zeitpunkt des Erfassens von Daten in den im Auto integrierten Steuergeräten“ und nicht erst bei der Übermittlung.

Im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (Maak 2020) kritisiert ein Redakteur, dass die Serverfarmen der digitalen Welt, die „Zentren der Macht“, im Stadtbild genauso unsichtbar seien wie das, was mit den Daten der Bürger geschehe. Das liege unter anderem daran, dass die Serverfarmen meist versteckt auf dem Land oder in Bürovierteln stehen würden und von außen kaum erkennbar seien, „wie Lager für Diebesgut – was sie oft auch sind: Speicher von Daten, die den Bürgern ohne ihr Wissen abgenommen wurden“. Seine Kritik gipfelt in dem Satz: „Wenn es nicht längst einen Aufstand gibt gegen den Zugriff auf unsere Daten und den schleichenden Verlust an Selbstbestimmung und Freiheit – zuletzt bei dem irren Plan der Bundesregierung, einen ‚Datenraum Mobilität‘ durchzuboxen, eine Plattform, die alle Daten, die ein Autofahrer generiert, Interessierten zur Verfügung stellt, ohne dass der Autofahrer die Freigabe kontrollieren könnte oder von der Vermarktung seiner Daten profitierte –, dann liegt es daran, dass kaum jemand versteht, was dort technisch passiert.“

Mehr noch als nur den Datenschutz gefährdet sieht derselbe Autor im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (Maak 2021) durch die Entwicklung des Autos hin zu einer „Datenerhebungsmaschine“: Das Auto ändere seinen „Charakter“, historisch war es ein „Werkzeug, das den Handlungsspielraum der Menschen, ihre Freiheit vergrößerte“, jetzt verwandle es sich „in einen Erzieher, einen Aufpasser, der seine Insassen als potenziell unverantwortlich, als Delinquenten, Trinker, Raser, Umweltsünder identifiziert, der ihr Verhalten aufzeichnet, durch Belohnungen und Drohungen zu manipulieren versucht und im Zweifel an die Behörden meldet“.

3.2.3 Der Datenraum Mobilität in den Medien: Eine zusammenfassende Einordnung der Stakeholder-Interaktionen

Worin liegen die zentralen Ergebnisse dieser Beobachtungen zum medialen Diskurs und inwieweit geben sie Aufschluss über die Stakeholder, ihre Interessen und ihren Einfluss auf die inhaltliche Ausgestaltung des Datenraums Mobilität und dessen Umsetzungsfortschritt? Abb. 3.2 fasst diese Beobachtungen zusammen. Zunächst einmal ist lapidar festzustellen, dass die Ausgestaltung dieser Initiative ganz im Sinne der normativen Stakeholdertheorie tatsächlich von einer Vielzahl diverser Stakeholder begleitet wird, die sich aktiv am Diskurs beteiligen.

Abb. 3.2
figure 2

Stakeholder des Datenraums Mobilität in den Medien

3.2.3.1 Umweltsphäre Gesellschaft und Politik: Dominante Stakeholder bestimmen den Diskurs

Die detaillierte Analyse der wichtigsten Print- und Onlinemedien in den vergangenen eineinhalb Jahren zeigt, dass diese Sphäre, in der die konsensfähigen Zielvorstellungen für den Datenraum Mobilität ausgehandelt werden, von wenigen machtvollen Stakeholdern beherrscht wurde, die – wenngleich zunehmend weniger – antagonistisch positioniert waren. Die Hauptrollen spielten als Promotoren die Vertreter der damaligen Bundesregierung unter Führung von Bundeskanzlerin Merkel, Verkehrsminister Scheuer und Wirtschaftsminister Altmaier, der das europäische Parallelprojekt Gaia X im Fokus hatte, während die Automobilhersteller bis heute (15.08.2021) eine zögerliche Position einnehmen (s. u.). Nur diese beiden Gruppen konnten in der Sphäre Gesellschaft und Politik gleichzeitig Macht, Legitimität und Dringlichkeit ihrer Interessen (Ronald et al. 1997) deutlich machen. Diesem Salienz-Modell zufolge werden Stakeholder dann herausgehoben wahrgenommen und erzielen Erfolge für ihre Interessen, wenn sie alle drei Dimensionen gleichzeitig auf sich vereinen.

Im Verhältnis zu diesen beiden Protagonisten spielten alle anderen Stakeholder im öffentlichen Diskurs nur eine Nebenrolle. Sie verfügten über keine vergleichbare Salienz. Das galt nicht nur für Verbraucherorganisationen, sondern interessanterweise auch für Umwelt- bzw. Klimaschutzorganisationen, die bei diesem für die nachhaltige Mobilität so wichtigen Thema keine medial wahrnehmbare Rolle spielten. Einzelne prominente Stakeholder wie der Datenschutzbeauftragte Kelber fanden immerhin Gehör, allerdings ohne den inhaltlichen Diskurs maßgeblich zu prägen.

Auf Seiten der politischen Stakeholder ist – nicht überraschend – festzustellen, dass die Regierungsvertreter dominierten, während Stimmen des parlamentarischen Raums kaum sichtbar waren. Schließlich handelte es sich auch um eine Initiative der Bundesregierung. Die damalige Bundesregierung unter Führung des Kanzleramts betrieb gegenüber ihren Stakeholdern Powerplay: sie dominierte den öffentlichen Diskurs durch eine dichte Folge von selbst initiierten Ereignissen, in dem Fall die so genannten Autogipfel und die damit verbundene Vorberichterstattung. Und noch eine weitere Technik des Powerplays ist sichtbar: die Macht das Faktischen wurde offensiv eingesetzt: die Bundeskanzlerin startete bereits vor dem Autogipfel im November 2020 erste Schritte zur Umsetzung des Projektes, obwohl sie noch keine konkreten Zusagen der Autoindustrie für eine Teilnahme am Datenraum Mobilität hatte.

Demgegenüber vertraten die Stakeholder der Automobilindustrie nur begrenzt eine gemeinsame Haltung. Immer wieder brachen einzelne Akteure wie VW oder Bosch aus dem Konsensbereich der eigenen Seite aus und festigten damit die dominante Position der Bundesregierung. Bis heute (15.08.2021) sind wesentliche Fragen wie Art und Umfang der Beteiligung der deutschen Automobilhersteller am Datenraum Mobilität ungeklärt.

3.2.3.2 Geopolitik als vorherrschendes Narrativ

Sämtliche Befürworter des Datenraums Mobilität bedienten sich eines starken geopolitischen Narrativs. Diese Kontextualisierung und gleichzeitig emotionale Aufladung des Themas verstärkte die Stakeholder-Dominanz, nicht zuletzt gegenüber den Skeptikern des Datenraums Mobilität. Diesem Narrativ zufolge geht es um nichts weniger als die Selbstbehauptung Europas gegen die Vormacht und zunehmende Bedrohung durch die amerikanischen und chinesischen Hyperscaler, um die Verteidigung der europäischen Datensouveränität gegen Google, Apple, Microsoft und Alibaba, um europäische Standards und Werte, die sich beispielhaft in dem EU-weit geregelten Datenschutz kristallisieren. Das Projekt Gaia X, das die Mobilitätswende europaweit flankieren und so einen grenzenlosen digitalgestützten Verkehr ermöglichen soll, wurde als das ambitionierteste industriepolitische Projekt der EU seit der Entwicklung des Airbus bezeichnet und so ebenfalls in das geopolitische Narrativ eingereiht. Mit dem Airbus ist es der EU immerhin erfolgreich gelungen, das Monopol der amerikanischen Luftfahrtindustrie zu brechen.

Umgekehrt ist ebenfalls interessant, welches Motiv nicht als Narrativ dominierte: nämlich der eigentliche Sinn und Zweck des Datenraums Mobilität, der mit seiner Dringlichkeit und hohen Aktualität eigentlich ebenfalls das Potenzial eines erfolgreichen Narrativs hätte. Schließlich besteht das Ziel des Datenraum Mobilität darin, über eine Vernetzung der wichtigsten Mobilitätsakteure (Autohersteller, Bahn, öffentlicher und privater Nahverkehr, Taxen und Mietwagen, Car-, Bike- und E-Scooter-Sharing u. v. m.) eine Mobilitätswende herbeizuführen, die zugleich benutzerfreundlich und ressourceneffizient ist und auch das Land besser an die Stadt anbinden soll. Nicht zuletzt soll das Projekt auch ein Schritt hin zum autonomen Fahren sein, von dem sich Politik und Experten mehr Sicherheit im Straßenverkehr und weniger Verkehrstote versprechen. Dieses Narrativ klang gelegentlich an, wenn die damalige Bundesregierung ihre Initiative auch damit begründete, Deutschland müsse beim autonomen Fahren Autoland Nummer eins bleiben. Dies war eigentlich ein geschicktes Argument, appellierte es doch auch an den Selbstbehauptungswillen der deutschen Automobilindustrie.

Das alles ist eigentlich viel Stoff, um den Sinn und Zweck im Sinne des Stakeholder-Kapitalismus (Abschn. 3.1) zu kommunizieren. Gleichwohl setzten die dominanten Stakeholder im Beobachtungzeitraum auf die überwölbende geopolitische Erzählung, die offenbar als noch wirkungsvoller eingeschätzt wurde. Das mag auch an der hohen Komplexität des Themas liegen, die durch verschiedene, sich überlagernde Diskussionsstränge auf nationaler und europäischer Ebene noch verstärkt wurde und womöglich seitens der politischen Stakeholder ein Narrativ verlangt, welches die Komplexität des Themas massiv reduzieren kann.

3.2.3.3 Umweltsphäre Wissenschaft: In der Zuschauerrolle

Vertreter der Wissenschaft waren im medialen Diskurs kaum wahrnehmbar. Bei ihnen handelt es sich um diskretionäre Stakeholder (Ronald et al. 1997), denen eine hohe Legitimität zugewiesen wird, denen es aber offensichtlich an Macht und Dringlichkeit ihrer spezifischen Position zum Datenraum Mobilität fehlt. Das galt im Beobachtungzeitraum sowohl für die naturwissenschaftlich-technischen als auch für die sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Disziplinen. Allein Acatech und Fraunhofer fanden Aufmerksamkeit, wenngleich erst im Zusammenhang mit der Umsetzung des Projektes. Auch Stimmen aus den Rechtswissenschaften beispielsweise zu Datenschutzfragen im Zusammenhang mit dem Datenraum Mobilität waren in den untersuchten Medien nicht zu finden.

3.2.3.4 Umweltsphäre Wirtschaft: Uneinige Stakeholder

In der Umweltsphäre Wirtschaft wird besonders deutlich, dass die Stakeholder in dieser Sphäre ihrer eigenen (Markt- und Wettbewerbs-)Logik folgten, die sich von denen der anderen unterscheidet. Die Unternehmen der Automobilindustrie gehörten zwar in der Gesamtschau der Stakeholder-Konstellationen zu den dominanten Stakeholdern, und zwar sowohl in der Sphäre der Gesellschaft als auch der Wirtschaft. Dennoch war ihre Salienz nicht so stark ausgeprägt wie bei der Bundesregierung. Das ist vor allem darauf zurückzuführen, dass sie sich zunächst abwartend und anschließend nicht einstimmig äußerten. Es traten zum Teil deutliche Differenzen zwischen Herstellern und Zulieferern auf. Offenkundig hatten sie auch kein Interesse an einer öffentlichen Debatte über die Frage, wem die in den Autos generierten Daten eigentlich gehören.

Einzelne Stimmen wie die von Bosch konnten der Diskussion eine deutliche Wendung geben, weil sie als „abweichende Meinung“ einen hohen Nachrichtenwert aufwiesen. Hinzu kamen handfeste interne Konflikte innerhalb der Stakeholder-Gruppe, so beispielsweise bei der Frage, wie es mit der Plattform Nevada, mit der technische Fahrzeugdaten anonymisiert an Werkstätten und Zulieferer verkauft werden sollen, weitergehen sollte.

Dem Projekt verweigern konnten sich die Automobilhersteller aber auf Dauer nicht, nicht zuletzt, weil sie nicht den Zug zum autonomen Fahren verpassen wollten. Schon deshalb mussten sie ein Interesse an einer gemeinsamen Plattform haben, um ihre Software mit mehr Daten trainieren zu können. Nach Lage der Dinge können sie diese Daten über den Datenraum Mobilität bekommen. Die Automobilindustrie befand sich also in einem klassischen Dilemma. Es ist also kein Wunder, dass immer noch nicht entschieden ist (Stichtag 15.08.2021), ob ihre gemeinsamen Interessen stärker sind als ihre Konkurrenz untereinander.

Kunden bzw. Verbraucher waren als abhängige Stakeholder (Ronald et al. 1997) auszumachen. Als solche haben sie dringliche Anliegen mit hoher Legitimität, nämlich ihr Recht auf Datenschutz und Ausübung ihrer Datensouveränität gegenüber den Automobilherstellern sowie das Interesse an einer Verkehrswende, aber geringen Einfluss auf den Diskurs. Infolgedessen sind sie von der Unterstützung anderer Stakeholder abhängig, wie beispielsweise der Bundesregierung. Das führte dazu, dass die Interessen der Verbraucher in den untersuchten Medien nicht eindeutig, sondern immer von der Position ihrer Unterstützer abhängig waren: Während das Justizministerium – wie die organisierten Verbraucherschützer – die Public-Good-Position vertrat, nicht personenbezogene Daten sollten allen gehören, forderte der ADAC im Namen der Autofahrer die Hoheit des Halters über die Daten, er allein soll über ihre Verwendung entscheiden.

Im Übrigen waren über solche impliziten Allianzen wie zwischen Justizministerium und Verbraucherschützern hinaus keine expliziten Absprachen zwischen unterschiedlichen Stakeholdergruppen, z. B. zwischen Autoindustrie und Autofahrern, zu erkennen. Alle Stakeholder verharrten in ihren spezifischen Gruppierungen und Spielfeldern.

3.2.4 Big Data in der Mobilität und die Perspektiven der Stakeholder: Thesen für die weitere Forschung

Um diese Beobachtungen aus der Medienanalyse noch einmal vertieft zu überprüfen, werden daraus nunmehr Thesen entwickelt, welche Rahmenbedingungen für das Mobilitätsdatengeschäft ganz generell, d. h. jenseits des Fallbeispiels „Datenraum Mobilität“, aufgrund seiner spezifischen Stakeholder-Beziehungen angenommen werden können. Diese nun folgenden Thesen dienen zugleich als Impulse für die im Forschungsdesign folgenden Fokusrunden sowie zur Auswertung des dort erhobenen Datenmaterials. Footnote 7

Folgende zwölf Thesen lassen sich auf Grundlage der bisherigen Beobachtungen aus der Medienanalyse formulieren, alle beziehen sich auf die Bedingungen des Stakeholderumfeldes und damit die Entwicklungsperspektiven von Big Data in der Mobilität:

  1. 1.

    Sowohl die gesellschaftlich-politische als auch die wirtschaftliche Umweltsphäre rund um Entscheidungen über Mobilitätsdatenräume werden auch zukünftig von wenigen dominanten Stakeholdern geprägt sein, namentlich der Bundesregierung und der Automobilindustrie.

  2. 2.

    Alle anderen Stakeholder haben Mühe, dass sie mit ihren Interessen im öffentlichen Diskurs überhaupt gehört werden. Das gilt auch dann, wenn sie – wie die Verkehrsunternehmen oder Verbraucherschützer – eine hohe Betroffenheit aufweisen.

  3. 3.

    Die Chancen, die mit einer Nutzung der Mobilitätsdaten über einen gemeinsamen Datenraum verbunden sind, werden von den dominanten Stakeholdern deutlich höher gewichtet als die Risiken.

  4. 4.

    Das Narrativ, wonach es um eine geopolitische Auseinandersetzung geht, um die Verteidigung der europäischen Datensouveränität gegenüber den US-amerikanischen Tech-Konzernen, verfängt nahezu vollständig bei allen Stakeholdern, d. h. auch bei den Kunden, die mit ihrem Mobilitätsverhalten die Daten generieren.

  5. 5.

    Schon aus Gründen des Klimaschutzes treibt die Bundesregierung die Nutzung der Mobilitätsdaten für öffentliche Zwecke weiter voran. Dabei kann sie immer stärker auf einen konkreten Nutzen aus realen Anwendungen verweisen, der dann auch noch für eine Vielzahl unterschiedlicher Stakeholdergruppen Vorteile bringt. Beides macht ihre Vorhaben mehrheitsfähig.

  6. 6.

    Dagegen sind Stakeholder, die Klimaschutz und Datenschutz gleichermaßen auf ihrer Agenda haben, in ihrer Interessenwahrnehmung blockiert. Sie können die hohe Legitimität ihrer Ansprüche nicht ausspielen.

  7. 7.

    Stakeholder aus der Wissenschaft werden abhängige Stakeholder bleiben, d. h. sie bleiben darauf angewiesen, dass sie von anderen Stakeholdern unterstützt oder sogar gezielt genutzt bzw. benutzt werden. Positionen der Wissenschaft finden deshalb auf allen Ebenen nur mit einem erheblichen Timelag Eingang in die entscheidungsrelevanten Diskurse.

  8. 8.

    Die Automobilhersteller werden auch zukünftig kein Treiber eines (europäischen) Datenraums für Mobilität. Sie werden alles daransetzen, einen möglichst großen Anteil an den Daten jeweils für sich behalten und nach ihren Interessen gestalten zu können. Als globalisierte Konzerne ist es für sie rational, notfalls sogar die (kostengünstigeren) Dienste von den Hyperscalern auf den Märkten in den USA und China zu nutzen, denen die europäische Politik den Kampf angesagt hat.

  9. 9.

    Das Thema Datenschutz ist im öffentlichen Diskurs nicht mehr so dominant wie noch vor einigen Jahren. Die Stakeholder, für die der Datenschutz Priorität hat, finden nur noch begrenzt Gehör.

  10. 10.

    Nur noch gelegentlich ertönen Stimmen, die insbesondere das Auto als „Datenkrake“ denunzieren. Stattdessen prägen neue, weniger despektierliche Metaphern wie die vom „iPhone auf Rädern“ den medialen Sprachgebrauch.

  11. 11.

    Schließlich sind viele Verbraucher zunehmend und gelegentlich auch Verbraucherschützer von den Errungenschaften der Big Data in der Mobilität fasziniert. Sie spenden oder verkaufen gerne auch ihre persönlichen Daten, weil sie sich davon mehr Komfort, höhere Sicherheit und wirtschaftliche Vorteile, z. B. durch günstigere Versicherungstarife oder Vorzugspreise, versprechen.

  12. 12.

    Die Komplexität der Materie der Mobilitätsdaten, die Fragen, wo sie entstehen, wem sie gehören und wo sie für wen gespeichert werden, führen dazu, dass das Thema insgesamt aus dem öffentlichen Diskurs eher verschwindet. Damit nehmen zugleich die Ambitionen der politischen Stakeholder ab, in diesem Politikfeld gestalterisch tätig zu werden. Es herrscht die Macht des Faktischen, d. h. es wird im bestehenden Rechtsrahmen das gemacht, was möglich ist.

3.3 Mobilitätsdaten im Fokus ihrer Stakeholder: Eine qualitative Analyse von Perspektiven, Interaktionen und Handlungskonzepten

Ausgangspunkt der weiteren empirischen Forschung bleibt die mit dem Stakeholderkonzept theoretisch begründete Annahme, dass es vom Verhalten der Stakeholder und dem daraus entstehenden Beziehungsgefüge abhängt, ob und wie die Potenziale von Big Data für die Mobilität der Zukunft genutzt werden können. Ausgehend von der Medienanalyse werden nunmehr die folgenden Fragen vertieft:

  • Welche Betroffenheiten, Interessen und Ansprüche formulieren Stakeholder?

  • Welche Erwartungen (Hoffnungen und Befürchtungen) verbinden sie mit Big Data in der Mobilität?

  • Welche Merkmale weisen die Beziehungen innerhalb und zwischen den Stakeholdergruppen auf? (Interaktionsthemen, öffentliche Wahrnehmung, Machtverhältnisse und Konflikte)

  • Welche Gestaltungsvorschläge werden vorgebracht, wie werden diese aus anderen Gruppen bewertet?

  • Welche Verständigungen über datenbasierte Mobilitätslösungen lassen sich identifizieren?

Zur Beantwortung dieser Fragen wurden drei moderierte Fokusgruppen mit Experten aus den Stakeholdergruppen Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Medien organisiert und durchgeführt. Diese Experten wurden im Sinne eines theoretischen Samplings der qualitativen Sozialforschung (Brüsemeister 2008, S. 9 ff.) ausgewählt. Einer der Fokusgruppen gehörten auch Teilnehmende der Online-Community an, die für die Verbraucher sprachen.Footnote 8 Ziel war es, Wissen, Deutungen und Handlungsorientierungen zu Big Data in der Mobilität zu erheben und dabei die Perspektiven der Stakeholdergruppen weiter zu analysieren, bestehende Konflikte zwischen diesen offen zu legen und mögliche Lösungsansätze zu verstehen. Die im Folgenden dargestellten Ergebnisse beruhen auf der Auswertung und VerdichtungFootnote 9 des in diesen Fokusgruppendiskussionen erhobenen Materials.

  1. 1.

    Prof. Dr. Ellen Enkel, Lehrstuhl für Allg. BWL und Mobilität, Universität Duisburg-Essen, Fakultät für Ingenieurwissenschaften

  2. 2.

    Dieter Fockenbrock, ehem. Handelsblatt-Redakteur mit Schwerpunkt Mobilität

  3. 3.

    Andera Gadeib, Digitalunternehmerin, Marktforscherin und Autorin

  4. 4.

    Nils Heller, Referent Mobility, Digitalverband Bitcom

  5. 5.

    Prof. Dr. Lars Harden, Geschäftsführer aserto GmbH, Fakultät für Management, Kultur und Technik Hochschule Osnabrück

  6. 6.

    Susanne Henckel, Geschäftsführerin Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg VBB, Präsidentin Bundesverband Schienennahverkehr

  7. 7.

    Prof. Dr. Sabina Jeschke, RWTH Aachen, Senior Advisor Deloitte

  8. 8.

    Daniela Kluckert, MdB Vize-Vorsitzende Ausschuss für Verkehr und Digitales, Mitglied Enquetekommission Künstliche Intelligenz

  9. 9.

    Kirsten Lühmann, MdB SPD-Fraktion, Mitglied Verkehrsausschuss

  10. 10.

    Marc Männer, Global Data & Analytics Use Case Portfolio Management bei BMW

  11. 11.

    Dr. Hans Gerd Prodoehl, Geschäftsführer Prodoehl Consult GmbH

  12. 12.

    Dr. Andrea Timmesfeld, Head of Public Affairs & Community Engagement/Leiterin Hauptstadtbüro, Generali Deutschland AG

3.3.1 Perspektiven

Die Diskussionen in den drei Fokusgruppen erbrachten übereinstimmend das Ergebnis, dass alle Stakeholder grundsätzlich den Nutzen von Big Data anerkennen, sowohl für ihre Gruppe als auch für die Gesellschaft insgesamt. Wie Abb. 3.3 zeigt, äußerten alle Teilnehmenden übereinstimmend die Hoffnung und Erwartung, dass Big Data wesentlich zur Lösung aktueller gesellschaftlicher Herausforderungen in Form von Effizienzsteigerung, besserer Verkehrslenkung, neuen Geschäftsmodellen und neuen Mobilitätsformen beiträgt.

Abb. 3.3
figure 3

Die Nutzen-Erwartung eint den Blick der Stakeholder auf Big Data in der Mobilität

Sie sehen das Nutzenpotenzial von Big Data vor allem bei den Themen Verkehr, Klimaschutz und Wirtschaftskraft. So erwarten sie mehr Verlässlichkeit bei den Verkehrsangeboten (Verkehrsgarantie) und höhere Verkehrssicherheit für die Verkehrsteilnehmer bei parallel steigender Individualisierung und Flexibilisierung des Güter- und Personenverkehrs. Für den Klimaschutz erhoffen sie positive Auswirkungen bei gleichzeitigem Erhalt der Verkehrsgarantie, ohne Abstriche bei ihrer ökonomischen Situation und persönlichen Bequemlichkeit vornehmen zu müssen. Generell sehen sie die Chance, dass Big Data eine Steigerung von Wirtschaftskraft, Wettbewerbsfähigkeit und Lebensstandard ermöglicht, neue Arbeitsplätze schafft und die wirtschaftliche Effizienz erhöht, schon um die demographisch bedingt schwindenden personellen Ressourcen zu kompensieren. Damit verbindet sich auch die Hoffnung, dass die deutsche Automobilbranche ihre Position als Weltmarktführer verteidigen kann.

Für die Wissenschaft wird der Nutzen von Big Data im effizienten Zugang zu großen, vernetzten Datenmengen für Forschungszwecke, in der Entwicklung neuer Technologien, Verkehrskonzepten etc. gesehen. Der Wirtschaft werden Vorteile im Sinne von Zeit- und Kostenersparnissen, die sich in höherer Effizienz niederschlagen, einer besseren Steuerung und Kontrolle von Angeboten sowie der Entwicklung neuer Geschäftsmodelle zugeschrieben. Und für Verbraucher liegen die Potenziale vor allem in einer höheren Verkehrssicherheit, einer zunehmenden Entlastung, in mehr Komfort und weniger Stress, was ihnen ein höheres Niveau an Autonomie in Form von mehr Individualität und Flexibilität bei gleichzeitiger Kontrolle und Effizienz an Zeit und Kosten ermöglicht. Und wer profitiert am meisten? Die generell positive Einschätzung der Nutzenpotenziale von Big Data gibt am besten die Aussage eines Experten aus der Politik wieder: „Ich könnte mir vorstellen, dass wir das alle sind, und dass wir heute noch gar nicht wissen, welche Möglichkeiten in Zukunft die datengetriebene Mobilität gibt.

3.3.1.1 Vom Nutzen der Daten und den realen Problemen der Datennutzung

Doch konfrontiert mit der aktuellen Realität, wird der Blick nüchterner. Den Stakeholder-Repräsentanten in den Fokusgruppen war sehr wohl bewusst, dass sich die an Big Data geknüpften Hoffnungen auf eine schnelle und umfassende Lösung für die großen gesellschaftlichen Herausforderungen der Gegenwart bei Verkehr, Klima und der Wirtschaft angesichts der Komplexität der Aufgaben nicht so einfach realisieren lassen. Die Erwartungen, die sich an den Fortschritt der datengetriebenen Mobilität knüpfen, stoßen auf allen Ebenen – technisch, politisch und wirtschaftlich – auf Barrieren. Genannt wurde in diesem Kontext der offenkundige Gegensatz von Datennutzen und Datenschutz. Auch sei eine realistische Kosten-Nutzen-Rechnung schwierig, solange der Wert der Daten unklar ist. Zudem seien nicht alle Modelle in den diskutierten Mobilitätsszenarien kommerzialisierbar. Und: Der Aufbau einer Dateninfrastruktur, die den hohen Anforderungen an die Datenqualität gerecht werde, sei komplex und teuer. Zu dieser nüchternen Betrachtungsweise passt der Kommentar eines Wirtschaftsexperten: „Wir müssen entmystifizieren und nüchtern drangehen. Welcher Typ von Daten schafft tatsächlich einen signifikanten Nutzen? Und da werden wir bei manchen Themen durch Ausnüchterungszellen gehen und viele hochtrabende Visionen von Mobilitätsqualitätssprüngen durch Big Data kritisch betrachten müssen.

So war Konsens in den Fokusgruppen, dass Big Data zwar grundsätzlich einen Nutzen bietet, der Wert der jeweiligen Daten jedoch schwer bestimmbar ist. Daraus resultiere die mangelnde beziehungsweise zögerliche Bereitschaft, eigene Daten zu teilen (Shareability) und mit den eigenen Daten zu handeln (Tradeability). Am stärksten sichtbar war die Bereitschaft der Verbraucher, mit ihren Daten für die Nutzung von Gütern oder Services zu zahlen, wenn sie einen konkreten Nutzen sehen. Aber sie sind unsicher, ob die Kosten für den Nutzen angemessen sind, da der Preis für die Daten schwer abschätzbar ist, und sie befürchten, dass die Wirtschaft, etwa die großen amerikanischen Tech-Plattformen, sie übervorteilt und manipuliert.

Auf Seite der Unternehmen ist die mangelnde Bereitschaft zum Handeln mit den eigenen Daten nicht nur durch die wirtschaftliche Konkurrenz zwischen ihnen begründet, sondern auch abhängig von der jeweiligen Position und Kostenperspektive des einzelnen Unternehmens. Denn die Daten haben für den Lieferanten einen anderen Wert als für den Empfänger, was dazu führt, dass die Lieferanten eher bremsen und die Empfänger eher antreiben. Zudem ist der Aufbau einer Dateninfrastruktur für den Lieferanten teuer, während sich der Wert der Daten für den Empfänger erst aus den Geschäftsmodellen ergibt, für die sie eingesetzt werden sollen. Ein Vertreter der Medien wies in diesem Zusammenhang auf den offenkundigen Widerspruch hin, dass „quer durch die Wirtschaft eine Euphorie besteht, was man mit Daten alles so machen kann“, während gleichzeitig „derjenige, der Daten generiert, u. U. einen ganz anderen Blick auf die Daten hat als derjenige, der sie nutzen will“.

Langfristig werde sich das einspielen, äußerte sich ein Politikexperte optimistisch: „Daten sind auch eine Ware, mit der gehandelt wird, und das muss sich in irgendeiner Weise regulieren.“ Aber wie, fragte ein anderer, „Wie kriege ich die Player dazu, Daten zu liefern? Welchen Nutzen haben sie? Und wie kriege ich die Branche (ÖPNV A.d.V.) dazu, diese Dateninfrastruktur anzuerkennen? Ein großes Thema, das wir lösen müssen, um dort einen Schritt weiterzukommen.“ Als Bedingung dafür nannte ein Wissenschaftsexperte: „Ich kann nur etwas in die Auktion geben, tauschen, verkaufen, wenn ich irgendeinen Wert habe. Und das gelingt bei Daten leider unzureichend. Wenn wir es schaffen, den Daten einen Wert zuzumessen, wären wir schon weiter.“ Die schwierige Kalkulation des Daten-Nutzens, um daraus einen Preis abzuleiten, ist nach Ansicht des Wissenschaftlers der Hauptgrund für das stockende Sharing und Trading von Daten. Als Beispiel führte er den Fall eines großen Automobilherstellers und eines Zulieferers an, die ihre Datenplattform für den Datentausch öffnen wollten, was aber daran scheiterte, „dass den Daten kein individueller Wert beigemessen werden konnte“.

Als Grund dafür, dass es mit der Wende auf den Mobilitätsmärkten hakt, wurde in den Fokusgruppen übereinstimmend der Mangel an hochwertigen Daten genannt: „Daten aus nur einer Quelle können wir fast nicht gebrauchen. Erst die Vernetzung der Daten macht uns zukunftsfähig, auch was neue Mobilitätskonzepte angeht. Bisher liegt die Verantwortung, diese Daten zu sammeln und zu vernetzen oder an die Daten zu kommen, oftmals bei denen, die neue Geschäftsmodelle aufbauen möchten, und nicht bei denen, die Datenqualität gewährleisten, um sie dann weiterzugeben. Die Datenmacht besteht häufig darin, sie nicht weiterzugeben, sondern das Ganze möglichst intransparent zu halten.“ Deshalb forderten die Experten einen Paradigmenwechsel im Umgang mit den Daten: „Je mehr Daten genutzt werden, je mehr Veredelung gemacht wird, desto wertvoller werden sie.

3.3.1.2 Das geopolitische Paradoxon

Thema in den Fokusgruppen war auch die geopolitische Auseinandersetzung Europas mit Nordamerika und Fernost um das Ziel der Datensouveränität. Dieses Konfliktnarrativ wurde von allen Stakeholder-Experten angesprochen. Beim Kampf zwischen diesen Weltregionen gehe es um Wirtschaftsmacht, Daten- und Rechtshoheit, den Markt und die Verbraucher. Deutschland und die EU seien durch digital höher entwickelte, innovativere und investitionsstärkere Wettbewerber aus den USA und China bedroht. Die Ursache liege zum einen darin, dass „wir so wenig Investmentkapital haben, in ganz Europa im Vergleich vor allem zu Nordamerika.“ Zum anderen aber seien es die politischen Rahmenbedingungen, die Europa ins Hintertreffen geraten ließen.

Dadurch geraten nach Wahrnehmung der Diskussionsteilnehmer Politik und Gesetzgeber nun verstärkt unter Handlungsdruck, Datenschutz und Regulierung abzubauen, um mehr Investitionen und Projekte zu fördern und die Dateninfrastruktur auszubauen. So forderte ein Politikexperte: „Die Gesetzgebung muss mehr Dinge erlauben, im Datenschutz und auch im Personenbeförderungsgesetz, dass man nicht Innovationen der Privatwirtschaft im Keim erstickt. Sonst erfinden wir Innovationen, aber das Ausland macht sie marktreif, weil wir das nicht dürfen. Wir in Deutschland zeigen uns in verschiedenen Bereichen nicht wettbewerbsfähig und rauben unseren Unternehmen die Möglichkeit, einen Heimatmarkt zu entwickeln, aus dem man dann auch exportieren und sich global vergrößern kann.“ Ähnlich äußerte sich ein Wissenschaftsexperte: „Wir wären gerne Technologieführer und Vorantreiber der Künstlichen Intelligenz, durch die viele Industrien neue Geschäftsmodelle und Möglichkeiten bekommen. Gleichzeitig stehen wir datenschutzmäßig auf der Bremse, das geht nicht. Ich kann nicht gleichzeitig Technologien produzieren, sie aber nur in anderen Ländern zum vollen Potenzial ausprobieren, weil ich eine Gesetzgebung habe, die mich hier blockiert.

Dem geopolitischen Narrativ zuwider nutzten jedoch wichtige europäische Akteure die Produkte der großen US-Tech-Unternehmen und arbeiteten mit ihnen zusammen. Dies geschehe zum einen aus Mangel an Alternativen, Europa sei digital abhängig von den großen amerikanischen oder chinesischen Technologiekonzernen. Auch von den Verbrauchern wird Deutschlands digitale Wettbewerbsfähigkeit kritisch gesehen. Innerhalb Europas seien vor allem Skandinavien und die baltischen Staaten weiter, beim Netzausbau sei Deutschland eher am Schluss positioniert, sagte eine Nutzerin aus der Online-Community: „Innerhalb der EU wirst du wenige Länder finden, in denen sich die Bevölkerung so sehr für den Netzempfang in ihrem Land schämen muss. Traurig, wenn man bedenkt, wie viel höher das deutsche Prokopf-BIP im Vergleich zu anderen Ländern ist, die uns deutlich überholt haben.

Zum anderen liege in der Zusammenarbeit mit den US-Tech-Unternehmen aber auch eine Chance, weil wichtige Stakeholder in Europa die Kollaboration verweigern oder weil mögliche Datenlieferanten kein Interesse an der Weitergabe ihrer Daten haben. Google habe beispielsweise in einem Projekt über Fahrplanabfragen die Fahrgastauslastung prognostizieren können, daraus habe man „viel gelernt“. Demzufolge nutzte der US-Konzern dabei einen Vorteil gegenüber den heimischen Unternehmen: „Google nutzt viel, indem sie zunächst nicht fragen. Wir als öffentliche Hand können das nicht und dürfen das nicht. Wir wären gerne mutiger. Uns bleiben solche Kooperationen, aus denen wir viel lernen und dann den Schritt zurückgehen. So traurig ist es gerade.

So gesehen biete die Zusammenarbeit mit den US-Tech-Unternehmen also auch die Möglichkeit, Deutschland als Standort für die Digitalwirtschaft zu stärken. Dieses Argument wird zum Beispiel auch angeführt, um Subventionen und Ausnahmeregelungen etwa für Tesla zu rechtfertigen. Dabei wird Teslas Vorgehen von Verbrauchern durchaus kritisch gesehen. So vermutete ein Nutzer: „Alle Teslas sind in Deutschland wegen der Aufzeichnungen der Daten rechtswidrig unterwegs. Die werden üblicherweise vor Gericht nicht als Beweismittel anerkannt, da sie unzulässig erstellt werden. Auch wenn es ein Backup-Rechenzentrum in Amsterdam gibt, braucht sich keiner Illusionen darüber zu machen, dass die Daten nicht auch in die USA gespiegelt werden. Komischerweise gibt es keinen Kläger. Da halten die Autobranche und Apple wohl (noch) still, weil sie für sich selbst eine nachteilige Gesetzgebung befürchten.“ Auch eine weitere Nutzerin macht sich Sorgen, was ihre Daten betrifft: „Die EU-Datenschutz-Regelungen sind eine Farce, da es keine Maßnahmen gibt, wenn dagegen verstoßen wird. Somit können unsere Daten weiterhin nach Amerika und Co. verkauft werden.

3.3.1.3 Big Data und der Datenschutz

Um das volle Potenzial von Big Data zu erschließen, sind also nach Ansicht der Experten Anpassungen beim Datenschutz erforderlich. Denn das Teilen von Daten und ihre Vernetzung widersprechen dem Bedeutungskern des Datenschutzes. So brauchen Prognosen individuelle Datenspuren. Trotz Anonymisierung und Pseudonymisierung sind bei großen Datenmengen Rückschlüsse auf Personen möglich. Die Konsequenz, so ein Wissenschaftsexperte: „Entweder ich pseudonymisiere und anonymisiere so brutal, dass ich keine vernünftige Prognostik ableiten kann. Oder ich erhalte einen großen Teil der Daten und könnte, wenn ich es boshaft wollte, Rückschlüsse ziehen und die Anonymisierung knacken. Wenn wir Datenschutz über alles stellen, werden wir viele andere Probleme nicht lösen.

Aus Expertensicht ist deshalb eine vollständige, unaufhebbare Anonymisierung nicht möglich, im Übrigen dienten die Datenschutzhinweise meist mehr der Absicherung des Unternehmens als der Information der Datengeber. Die allgemeine Erfahrung ist: Je komplexer und umfangreicher die Datenschutzhinweise formuliert sind, umso weniger werden sie gelesen, verstanden und bei der Abwägung der Zustimmung berücksichtigt. Daraus resultiert die Diskrepanz zwischen den hehren Zielen des Datenschutzes und der opportunistischen Anwendung im Alltag. „Datenschutz ist so ein deutsches Heiligtum. Aber die Bürger sind sehr schnell bereit, davon etwas aufzugeben, wenn sie einen Nutzen davon haben. Trotzdem wird viel mehr beschützt als es eigentlich sein müsste“, sagte ein Politikexperte. Was Bürger wofür aufzugeben bereit sind, gelte es herauszufinden. So war es Konsens in den Fokusgruppen, dass sich das Privacy-Problem von Big Data allein über den Datenschutz nicht auflösen lassen wird. Es brauche darüber hinaus einen ethischen Diskurs, der potenziellen Nutzen gegen potenziellen Schaden abwägt und die Frage stellt, was wir bereit sind, wofür in Kauf zu nehmen.

Wie problematisch der starre Datenschutz sein kann, zeigt sich nach Ansicht der Teilnehmer an der Diskussion in den Fokusgruppen insbesondere beim Öffentlichen Verkehr. Hier begrenzt der Datenschutz den Innovationsspielraum und verlängert die Prozesse. Deshalb wünscht sich die Wirtschaft pragmatischere Lösungen. Mitunter werde der Datenschutz auch vorgeschoben, um Kollaborationsvorbehalte gegenüber Open Data zu bemänteln. Für die öffentliche Hand wird der Datenschutz so zum Innovationsbremser: Während die Privatwirtschaft Graubereiche ausloten kann, ist die öffentliche Hand im Datenschutz „gefangen“. Die Folge ist: Innovationen, die den öffentlichen Verkehr stärken sollen, werden gestoppt. Das bestätigte ein ÖPNV-Experte: „Ich bin auch sehr für den Datenschutz, aber es muss transparent gemacht werden: Wie kann man einen Weg gehen, der nicht an diesen Rahmenbedingungen scheitert? Der Einzige, der nicht scheitert, ist Google …“

Deshalb sprach sich ein Politikexperte dafür aus, den „Datenschutz so zu stricken, dass er Dinge ermöglicht. Da müssen wir pragmatische Lösungen finden. Wenn wir groß denken wollen im öffentlichen Nahverkehrssystem, dann kann das nur die datengetriebene, bequeme Mobilität sein, die so genannte open Mobility.“ Zustimmung kam auch vom Wirtschaftsexperten: „Damit der öffentliche Verkehr nicht zurückfällt, müssen gesetzliche Rahmenbedingungen geschaffen werden, das könnte ein Bundesmobilitätsgesetz sein, in dem wir Experimentierräume für Innovationen eröffnen, die heute an Datenschutz oder an Bedenkenträgern scheitern. Wir müssen mehr Innovationsmut ermöglichen.

Innovative Lösungen scheitern aber nicht nur am starren Datenschutz, sondern auch an der Komplexität. So ist offensichtlich, dass eine Buchungsapp für alle Verkehrsmittel aufgrund des hohen Nutzens auf große Zustimmung von den Kunden stoßen würde. Anders als bei der Digitalen Gesundheitsakte besteht hierfür bei ihnen eine große Bereitschaft zum Daten-Teilen. Die Verbraucher in den Fokusgruppen jedenfalls waren sich einig: „Wie cool das wäre, wenn man mit einer App alles abfrühstücken könnte und nicht zig nutzen muss“, sagte eine Nutzerin. Weitere Nutzer plädierten für „eine App, mit der man alle Mobilitätsanbieter recherchieren, buchen und bezahlen kann. Mit Suchprioritäten Zeit und Preis.“ oder „Eine App, die meine Mobilitätspräferenzen kennt, und mir sagt, mit welchen Verkehrsmitteln ich in welcher Abfolge am besten zum Ziel komme.

Wenn diese 1-App-Lösung auf solche Zustimmung bei den Verbrauchern stößt und auch die Politik sie will, warum ist es dann so schwierig, sie zu realisieren? Auf diese Frage gab es keine einheitliche Antwort. Der Politikexperte meinte, der Grund liege in einer Verweigerungshaltung auf Seiten der Wirtschaft und der Verbraucher: „Für diese App brauche ich Daten und die kommen von zwei Seiten. Einmal von der Wirtschaft und die will nicht, weil sie Angst um ihre Daten hat. Auf der anderen Seite müssen die Kunden Daten zur Verfügung stellen.“ Und bei denen bestünden ähnliche Vorbehalte wie bei der Digitalen Gesundheitsakte, die viele Bürger ablehnten, weil sie den direkten Nutzen nicht sehen. Ein anderer sah dagegen das Grundproblem in der „Vielfalt in unserem Verkehrssystem und den vielen Betrieben, die daran beteiligt sind.“ Es müssten halt alle mitmachen.

Aber viele Regionen und Nahverkehrsbetriebe sperrten sich, man sehe das aus einzelbetrieblicher Sicht. „Warum soll ein Staatsunternehmen, das mit viel Geld eine Datenbank mit vielen Daten aufgebaut hat, die freigeben für private Nutzer?!“ Deshalb beschränken sich solche Konzepte hauptsächlich auf die lokale Ebene. Ein ÖPNV-Experte führte ein weiteres Argument an: „Die Verkehrsunternehmen verkaufen Fahrkarten und die sind notwendig für ihre Einnahmen. Wenn jemand die Fahrkarte woanders kauft und bei ihnen fährt, machen sie Verlust. Deshalb müssen sie was abkriegen. Dazu muss geklärt werden, was wie gezählt wird. … Jeder, der genau weiß, wie viele Fahrgäste er transportiert, ist gut dran. Aber die automatischen Fahrgastzählsysteme funktionieren in der Regel nicht und sind nicht smart vernetzbar mit den Systemen der anderen. Das ist in der Branche ein zentrales Thema.

So ist als Ursache des mangelnden Fortschritts bei der 1-App-Lösung auch eine dreifache Komplexität auszumachen: Eine systemische aufgrund des Föderalismus bei Verkehr und Datenschutz mit vielen Anbietern und unterschiedlichen Techniken; eine strukturelle aufgrund unterschiedlicher Interessenslagen und Tarife, die gerechte Abrechnungen zwischen den Anbietern und eine Standardisierung der Fahrgastzählung erschweren; sowie eine technische aufgrund unterschiedlicher Dateninfrastrukturen, die nur schwer harmonisiert werden können. Dass sich der ÖPNV mit einem Deutschlandticket und der 1-App-Lösung gegenüber anderen Verkehrsmöglichkeiten aufwerten dürfte, sehen zwar alle Fokusgruppenteilnehmer, sie beklagen aber zugleich, dass dies (noch) nicht zu einem praktischen Durchbruch geführt hat.

3.3.1.4 Big Data, Autonomes Fahren und der Innovationdruck auf die Industrie

Ein wesentliches Anwendungsgebiet von Big Data ist das autonome Fahren, ein Zukunftsthema, das großen individuellen und gesellschaftlichen Nutzen verspricht. Im Unterschied zu den manifesten Hindernissen im ÖPNV sind beim autonomen Fahren schon erste reale Fortschritte zu erkennen, und das, obwohl wir „in Deutschland ungern etwas ausprobieren“, wie ein Politikexperte ausführte. „Bevor irgendjemand etwas ausprobiert, brauchen wir erst Regularien. Beim autonomen Fahren ist es ein ganz bisschen anders.“ Konkret geht es um das Gesetz zum autonomen Fahren, das allgemein als „Nährboden“ betrachtet wurde. Es habe zur Folge, „dass einige Unternehmen demnächst nach Deutschland gehen werden und dort zum ersten Mal ihre autonomen Technologien im Regelbetrieb testen werden. Weil Deutschland, wer hätte es gedacht, das erste Land auf der Welt ist, das einen gesetzlichen Rahmen für autonome Fahrzeuge im Regelbetrieb geschaffen hatDamit kann Deutschland eine Blaupause für internationale Regulierung sein.“ Dass Deutschland hier vorne mitfährt, bestätigt auch ein Teilnehmer aus der Wirtschaft: „Bei der Digitalisierung des Autofahrens und beim autonomen Fahren ist man ja relativ weit. Die deutsche Gesetzgebung ist auch relativ weit.

Dazu trägt auch bei, dass die potenziellen Kunden des autonomen Fahrens für sich selbst einen Nutzen darin sehen, wenn sie ihre Fahrdaten zur Verfügung stellen. „Wenn die unmittelbare Gratifikation stark korreliert mit der Großzügigkeit der eigenen Daten gegenüber, dann ist das natürlich beim autonomen Fahren enorm. Wenn das Bedürfnis da ist, digital zu fahren, dann sind die Daten, die man da verschenkt, letztlich auch ‚irrelevant“, so ein Wissenschaftsexperte. Die Datenerhebung als Mittel zur Steigerung des Nutzens wurde sowohl von dem Experten der Automobilindustrie, wie auch den Vertretern der Verbraucher in den Fokusgruppen im Großen und Ganzen übereinstimmend als unproblematisch gesehen, wobei bei Letzteren die Nutzenperspektive und das Markenvertrauen mögliche Befürchtungen überlagern könnten.

Die Kunden haben mit den Assistenzsystemen und der Navigation schon starke Nutzenerlebnisse und erwarten weitere bei der Entwicklung hin zum autonomen Fahren. Die Daten, die die Kunden generieren, seien für die Hersteller kein Geschäft, sondern Mittel zum Zweck: Sie werden nur genutzt, um Prozesse zu optimieren und Kundennutzen zu generieren. Dass das Teilen ihrer Daten Mittel zum Zweck der Nutzung ist, sahen auch die Verbraucher so. Schwierig werde es bei Daten, die nicht als notwendig für die Funktion erkennbar sind, was aber selten der Fall sei. Ohnehin ist klar: da das Smartphone bereits sensible Daten erhebe, könnten die Autohersteller diese Daten auch von den Tech-Konzernen beziehen. Unter den Verbrauchern sei das Narrativ „Google weiß alles“ verankert, das Smartphone als Top-Datensammler. Das sei ein Grund für eine offensiv-resignative Haltung mancher Verbraucher, die nur auf den Nutzen sehen, ohne auf die Datenspuren zu achten. Für die Autohersteller seien deshalb die Datenrisiken gering: Der Großteil der Kunden habe kein Problem mit der Datenerhebung durch das Auto.

Die einzige Kontroverse ergab sich bei der Frage, ob die Kunden beim Autokauf über ihre Einverständniserklärung zu Datenerfassung ausreichend informiert seien. Daran äußerten die Verbraucher Zweifel: die Einverständniserklärung werde vergessen oder erst gar nicht gelesen. Was Datenspuren betrifft, hätten die Verbraucher wenig konkrete Kenntnis: Datenspuren erschließen sich aus der Nutzung, Informationen dazu und Einstellungen würden aber nur schwer gefunden. Für andere Experten aus der Wirtschaft ist dennoch klar: „Der Großteil der Bürger nutzt die Dienste und hat kein großes Thema damit. Die drei Prozent, die es nicht wollen, machen viel Lärm und überlagern die Diskussion. Bei E-Mobilität und Hybrid ist es wichtig, die nächste Ladestation zu finden. Das ist der direkte Nutzen und der ist sehr groß. Wenn man Bürgern den Nutzen nennt, wird das genutzt.“ Wie hoch der Anteil derjenigen ist, die Probleme mit der Datenerhebung haben, blieb umstritten. Die von den Teilnehmern vorgetragenen Angaben bzw. Schätzungen schwankten zwischen drei und zehn Prozent aller Mobilitätsteilnehmer.

Dass das autonome Fahren bei Verbrauchern auf großes Interesse stößt, belegen die Äußerungen von zwei Teilnehmern aus diesem Bereich. „Ich wollte wissen, wie gut autonomes Fahren funktioniert“, antwortete ein Nutzer auf die Frage nach den Kaufkriterien für seinen Tesla. „Antwort: wir sind noch meilenweit entfernt. Aber trotzdem cool.“ Und eine andere Nutzerin ist sich sicher, Mobilität wird in fünf Jahren „noch ausgereifter sein, man wird mehr Überwachungen im Auto haben, die auch Versagen von Teilen im Auto gleich erkennen und reagieren, man wird vielleicht auch schon die ersten autonomen Autos für den Massenmarkt produzieren, wo alles miteinander vernetzt sein muss. Auch wenn dies nicht die Zukunftstechnik sein sollte, wird man trotzdem von den Entwicklungen profitieren, da vieles erfunden wurde, um autonomes oder zumindest teilautonomes Fahren zu gewährleisten.

Gegen die auch in den Medien verbreitete Ansicht, das Auto werde zum Smartphone auf vier Rädern, gibt es sowohl von der Automobilindustrie als auch von den Verbrauchern Widerspruch. Auch wenn auf dem Weg zum autonomen Fahren digitale Services rasant zunehmen, bleibe das Auto für beide Seiten ein Auto. Zwar sehen die Autohersteller die Hauptkonkurrenz in der Tech-Industrie, die über die für Big Data notwendige Infra- und Prozessstruktur verfüge. Um gegen die Big-Techs zu bestehen und Effizienz und Wertschöpfung zu steigern, sei sich die Branche einig im Nutzen von Data-Sharing, zum Beispiel durch Vernetzung in Catena-X. Data-Trading sei kein Geschäftsmodell. Wichtig sei der Aufbau von Daten-Kompetenz, das hohe Investitionen erfordere. Dabei wirke Tesla als Innovationstreiber für die deutsche Automobilindustrie, so ein Wirtschaftsexperte: „Bosch, Siemens etc. stellen Unmengen an Informatikern ein, um hinter Tesla nicht zurückzufallen. Es wird für Nutzer eine Vielzahl datenbasierter Services im Auto geben.

Die Automobilindustrie sieht sich in ihrem Selbstverständnis denn auch weiterhin als Fahrzeug- und nicht als Datenproduzent. „Die Betrachtung, dass die Wirtschaft generell Geld aus Daten machen will, ist zu grobgranular“, führte ein Wirtschaftsexperte aus. „Das Problem ist, dass die Daten mannigfaltig entstehenund Sie BWM oder Audi oder die Mautstelle gar nicht fragen müssen, weil das Handy des Fahrers oder der Fahrerin die Daten eh liefert und Sie die bei Google kaufen können.Damit entsteht im Endeffekt für diese Unternehmen keine Geschäftsmöglichkeit,diese Daten zu verkaufen,weil sie viel billiger über die Einverständniserklärung der Nutzerin oder des Nutzers am Telefon entstehen.

Allerdings hätten viele Unternehmen eine Infrastruktur, „die die Fähigkeit, Daten zu teilen oder die Produktion von Daten in einer sinnvollen Art und Weise zu gestalten, überhaupt nicht hat“, gab ein Wirtschaftsexperte zu bedenken. „Die Tech-Unternehmen sind prozessual und IT-technisch darauf getrimmt, Daten zu produzieren und zu verarbeiten. Das ist kein Versicherer, kein Automobiler, keine Deutsche Bahn. All die Unternehmen haben nicht als Kern, Daten zu produzieren, sondern Autos zu fabrizieren, Versicherungsscheine auszustellen, eine Lok von A nach B fahren zu lassen.“ Aber einen ersten erfolgreichen Schritt auf dem Weg zum Data-Sharing habe die Automobilindustrie mit dem Aufbau der Datenplattform Catena-X getan, die den unternehmensübergreifenden und sicheren Informations- und Datenaustausch in der Fahrzeugindustrie ermöglichen soll. Ziel sei es, durchgängige Datenketten für relevante Wertschöpfungsprozesse zu schaffen, den Mittelstand anzubinden und die Wettbewerbsfähigkeit der beteiligten Unternehmen zu verbessern.

Wieso Catena-X so gut läuft, liegt daran, dass alle das gleiche Problem haben“, erklärte ein Wirtschaftsexperte. „Es gibt eine Allianz – der Willigen, wäre zu viel gesagt – derjenigen, die wissen, wenn sie sich da nicht dranwagen, dann wird das nichts.“ Wesentlicher Erfolgsfaktor von Catena-X sei insofern der gemeinsame Nutzen: Die Datenproduktion und -vernetzung steigern die Effizienz und Wertschöpfung der Mitglieder entlang der gesamten Wertschöpfungskette (Zulieferer, OEM, IT etc.). Dazu trage vermutlich auch die Gewinnung starker Ankermitglieder bei. Verglichen mit dem Datenraum Mobilität laufe Catena-X „grandios gut“, so ein Experte. Dass sich, verglichen damit, der Datenraum Mobilität „mindestens schwierig und sperrig“ gestaltet, liege an den darin versammelten heterogenen Interessenlagen und einem gering ausgeprägten Bedrohungsgefühl von außen. Deswegen würden nicht alle Beteiligten die Notwendigkeit und den Nutzen des Datenteilens sehen.

3.3.1.5 Zusammenfassung: Stakeholder eint Konsens über den Nutzen von Big Data

Die Vertreter der Stakeholder aus Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Medien waren sich in der Diskussion der Fokusgruppen weitgehend einig im Blick auf die Chancen von Big Data in der Mobilität:

  • Alle gewichten den Nutzen von Big Data höher als die Risiken.

  • Das Datenschutz-Dilemma besteht trotz der Suche nach einer neuen Balance unverändert weiter: Datenschutz steht dem Datennutzen tendenziell entgegen, aber niemand geht dieses Problem wirkungsvoll an.

  • Die (technische und rechtliche) Komplexität erschwert dabei sowohl die Konsensfindung in der öffentlichen Debatte als auch die praktische Umsetzung der besten Kundenlösungen.

  • Das systematische, verbindliche Teilen von Daten aus ganz verschiedenen Quellen ist für nachhaltige Mobilitätslösungen dringend notwendig, scheitert aber an der unklaren Kalkulation des Nutzens und damit an den fehlenden konsensfähigen Konditionen des Data-Sharings.

  • Datenräume für Mobilität geraten zwischen die Fronten: Die Treiber aus der Politik erzählen das geopolitische Narrativ vom Wettbewerb Europas mit den USA (und China), während die Unternehmen mit den US-Big-Techs kooperieren.

  • Auch wenn die digitalen Services zunehmen: Das Auto wird nach wie vor im Hinblick auf seinen Nutzen für die individuelle Mobilität gesehen, auch deshalb wird das Auto als (ein weiterer) Datensammler wenig kritisch gesehen.

3.3.2 Interaktionen und Konflikte

Die Politiker, die mit Hilfe von Big Data eine Mobilitätswende voranbringen wollen, agieren in einem komplexen Spannungsfeld, das durch die diversen Stakeholder in Deutschland und Europa, Verbraucher und Wirtschaft, und die unterschiedlichen Mobilitätsanbieter gekennzeichnet ist. Dabei sehen sich Regierungsvertreter und Abgeordnete im Wesentlichen in drei Funktionen: erstens als Ermöglicher und Antreiber, die den Nährboden für Innovationen bereiten; zweitens als Moderatoren und Regulierer, die einen Interessenausgleich zwischen den Stakeholdern herstellen; und drittens als Product Owner mit eigenen gesellschaftlich relevanten Projekten.

3.3.2.1 Im Spannungsfeld zwischen Politik und Wirtschaft

Das Selbstbild der Politik als chancen- und nutzenorientierter Antreiber steht jedoch in starkem Kontrast zu dem Fremdbild, welches sie eher als eine bremsende, risikoaverse, auf Bestandsschutz ausgerichtete Stakeholdergruppe kennzeichnet. In ihrer Rolle als Moderator und Regulierer des Mobilitätsmarktes sieht die Politik sich und den Fortschritt bei Datenplattformen wiederum durch die vielfältigen Interessenkonflikte der anderen Stakeholder gelähmt und gebremst. Symptomatisch steht dafür die Aussage eines Politikexperten: „Wir reden permanent über Fortschritte in der Digitalisierung und was möglich ist. Ich habe mir gerade ein Projekt angeschaut, wo Menschen mit gesundheitlichen Problemen Auto fahren können, weil das Auto ihnen sagt, wann sie ein Problem haben. Ich war der erste, der die automatische Call-Funktion bei Unfall super fand. Damit beschäftigen wir uns permanent. Unser Problem ist, dass die Wirtschaft mit den Daten Geschäfte machen will und uns reingrätscht. Wir sehen die Chancen sehr wohl, aber wir werden in vielen Fällen von der Wirtschaft gebremst.

Das gilt beispielsweise für den von der Politik vorangetriebenen Datenraum Mobilität, wo die Wirtschaft aus Angst um Preisgabe ihrer Daten und Sorge um ihre Geschäftsmodelle bremse. Als Beispiel wurde angeführt, dass sich die Speditionen weigerten, ihre Echtzeit-Mautdaten in den Projekten des Bundes zu teilen. Auch der Interessengegensatz beim Thema Datenhoheit zwischen Wirtschaft und Verbrauchern wie überhaupt der Datenschutz sorgen für Konfliktstoff, der als vernünftig betrachtete Lösungen erschwert. „Jeder hat Angst, was mit seinen Daten passiert“, sagte ein Politikvertreter in der Fokusrunde. Die Sorgen um den Datenschutz sind in der Bevölkerung weit verbreitet – siehe die Konflikte über die elektronische Patientenakte oder die Funkzellenabfrage zur Einbruchsprävention. Als Folge haben wir „eine sehr kritische öffentliche Diskussion, wenn es um die allgemeine Verwendung von Daten geht. Wir haben auch ein öffentliches Narrativ, das eher negativ geprägt ist. Wir sprechen von der Datensammelwut der Unternehmen etc. Wir sprechen nicht von den Vorteilen. Wir haben eine sehr stark risikogetriebene politische Diskussion, die sich entsprechend stark auf die Medien überträgt“, befand ein Teilnehmer.

Von Unternehmen und Verbrauchern wird umgekehrt die Politik als bremsend wahrgenommen, eher als Mies- denn als Mut-Macher. Der Wirtschaft gehen die Fortschritte zu langsam voran und nicht weitgehend genug. Sie stört insbesondere, dass die Diskussion in Politik und Medien auf die Risikoaspekte fokussiert, anstatt das Nutzen-Narrativ zu betonen. So sagt ein Wirtschaftsexperte: „Aus der politischen Diskussion der letzten Jahre, die wir als Unternehmen geführt haben, habe ich vor allem die risikogetriebene Diskussion führen müssen mit Verbraucherschutz, Justizministerium, Justizministerkonferenz, Datenethik-Kommission etc. – und weniger die eher chancenorientierte Diskussion mit dem Wirtschaftsminister.

Diese Unterschiede in Selbst- und Fremdwahrnehmung bei Politik und Wirtschaft zeigen sich beispielhaft beim Personenbeförderungsgesetz (PBefG), das 2021 reformiert wurde, um neue Mobilitätsformen zu fördern. Während Politik und Öffentlicher Verkehr das Gesetz als Fortschritt begrüßen, geht es der Digitalwirtschaft nicht weit genug: „Da wurde nur ein halber Schritt in die richtige Richtung gemacht.“ Kritik wurde etwa daran geübt, dass „es eine bestehende, sehr tradierte Branche, die Taxibranche, in eine Vormachtposition bringt. Mietwagen, Uber, Clevershuttle etc. müssen immer zurückfahren zu ihrem Betriebsort. Diese Rückkehrpflicht schützt nur die Taxibranche, hilft keinem anderen wirklich weiter, dem Klimaschutz schon gar nicht.“ Doch selbst diese „halbe“ Reform des PBefG fällt dem ÖPNV schwer, gestand ein Branchenexperte. „Die Branche hatte kein Interesse an Open Data und erst einmal massiv dagegen gearbeitet. Es hat viel Kraft gekostet, diese Wege umzukehren“, berichtete er. Inzwischen unterstütze die Branche das reformierte PBefG, auf dessen Grundlage die neue Mobilitätsdatenverordnung beschlossen wurde: „Jetzt müssen alle Unternehmen statische Daten bereitstellen. Ab Januar die nächste Stufe, spannend wird es dann bei Echtzeitdaten zu Verspätungen.

Eine wesentliche Divergenz zwischen Politik und Wirtschaft besteht auch in der Frage, wie weit der Minderheitenschutz für Non-Digitals und Datenkritiker gehen soll. Während die Politik diesen aus grundsätzlichen Erwägungen betont – Teilhabe sei ein hoher Wert, die gesellschaftliche Spaltung dürfe durch die Digitalisierung nicht noch verstärkt werden –, sollte die Politik nach Ansicht der Wirtschaft mehr Gewicht darauflegen, den Nutzen für die Mehrheit zu fördern und für Minderheiten Sonderlösungen zu entwickeln. Ein Experte umschrieb das Dilemma so: „Es gibt Leute, die primär den Nutzen sehen und Leute, die primär skeptisch sind. Wenn wir beiden gerecht werden wollen, müssen wir eine Zeit lang beide Systeme nebeneinander laufen lassen. Das ist unwirtschaftlich. Aber die Frage ist, was machen wir? Sagen wir denen, die dem nicht trauen, Pech gehabt?“ Dem widerspricht ein Politikvertreter: „Genau um diese fünf oder zehn Prozent müssen wir, die Politik, uns kümmern, das können nicht die Firmen machen.“ Als Beispiel führte er ein Modellprojekt im Saarland an, da gebe es „Lotsen für Leute, die mit den Automaten nicht umgehen können. So etwas muss es geben.

Um dieses Dilemma zu überwinden, sei mehr Tempo und Experimentierbereitschaft nötig, führte ein Wissenschaftler aus: „Schweden ist uns fünf bis zehn Jahre voraus. Da kann man in keinem Bus mehr ein Ticket kaufen und das ist für keinen mehr ein Problem. Wir müssen Geschwindigkeit aufnehmen. Da würde ich eine Gegenthese aufmachen und sagen: Jetzt lasst uns das einfach mal versuchen. Für 95 Prozent der Leute geht das. Und um die fünf Prozent Rest kümmern wir uns gesondert und da müssen wir gute, faire und solide Chancen finden.“ Innovationsfreudiger gehe es auch im Silicon Valley zu, stimmte ein anderer Teilnehmer zu. Dort würden Unternehmen „gezielt ganz schnell Gesetzeslücken ausnutzen. Bis die Gesetzgeber entschieden haben, haben die einfach gemacht,und das zügig. Das liegt nicht unbedingt in unserer DNA. Ich glaube aber, wir haben viel Potenzial und würde mir davon noch viel mehr wünschen.Dass Politik das ausdrückt, das sehe ich im Moment noch nicht. Das sind vielleicht einzelne Bundesländer, die etwas mehr machen, in der Bundespolitik sehe ich es nicht.

Welche Wirkung das Chancen-Narrativ entfalten kann, darauf verwiesen Experten aus Wirtschaft und Wissenschaft am Beispiel von Tesla, das an der Börse ungefähr doppelt so viel wert sei wie BMW, VW, Mercedes und andere zusammen. „Die Chancen, Technologie zu entwickeln und sie in ein Mobilitätsprodukt zu packen, müssen offenbar riesig sein. Dabei ist das große Versprechen, das eine Marke wie Tesla macht: Du hast eine Form von komfortabler und demnächst autonomer, von Verkehr und Stress unabhängiger Mobilität. Das Narrativ wird von der Wirtschaft schon erzählt. Das werden die fleißig weiter tun.“ Wichtig sei zudem, als Gegengewicht zum Chancen-Narrativ der Wirtschaft ein generell stärker chancenorientiertes Diskussionsklima zu schaffen, um dem Thema Big Data for Public Good auf die Sprünge zu helfen. „Viel interessanter ist, wie wir ein Nudging hinbekommen, z. B. eigene Daten für Forschung, Gesundheitsentwicklung, Optimierung von Verkehrs- und Warenströmen, Klimawandel usw. herzugeben. Da fehlt mir im Großen die Fantasie, im Kleinen gibt es Dinge, z. B. Apps, die sehr kommunikativ arbeiten.

3.3.2.2 Der Öffentliche Verkehr steht vor großen Herausforderungen

Mit Bezug auf die Erwartungen der Gesellschaft an die zukünftige Mobilität sind gegenwärtig vier Entwicklungslinien für den Öffentlichen Verkehr kennzeichnend:

  • Als Pfeiler der Mobilitätswende mit einer starken Dateninfrastruktur müssen die Akteure des Öffentlichen Verkehrs die Nutzung und das Sharing von Daten intensivieren. Das ist allerdings mit hohen Kosten für den Aufbau und die Pflege der Dateninfrastruktur verbunden. Gleichzeitig stehen die Erlöse der Branche durch die Pandemie bedingt rückläufigen Fahrgastzahlen unter Druck.

  • Die Deutsche Bahn (DB) ist hier als überregionale Macht mit einer überregionalen Plattform Antreiber und Taktgeber. Die Vernetzung mit der DB bietet den anderen Akteuren im Verkehr und den Verbrauchern einen hohen Nutzen.

  • Der ÖPNV sieht sich eher als Getriebener unter der Last der Anforderungen bei Datenaustausch und Datenschutz. Dazu hat er strukturelle Probleme, die eine Kooperation schwierig gestalten und den Nutzen des Datenaustauschs schwer fassbar machen. Allerdings besteht hier eine große Spanne zwischen innovativen und bremsenden Akteuren.

  • Der Datenschutz ist für öffentliche Unternehmen eine höhere Barriere als für Privatunternehmen, die rechtliche Grauzonen ausloten können. Mitunter bietet sich für den ÖPNV die Kooperation mit Tech-Unternehmen als Ausweg, um Innovationen zumindest auszuprobieren.

Mit dem Aufbau einer Plattform für intermodale Mobilität für Verbraucher, des DB Navigator, und weiteren eigenen Datenplattformen sowie einem starken Datenpool gibt die Deutsche Bahn den Takt vor. Zwar nehmen Experten die Entwicklung als schleppend wahr und sehen die Potenziale bei Weitem noch nicht als ausgeschöpft an,doch die Verbraucher honorieren den großen Nutzen und den kontinuierlichen Ausbau des Mobilitätsangebots. „Eine App, die einen an die Hand nimmt, die Alternativen anzeigt, es kommen immer mehr Verbünde rein, das macht mein Leben einfacher“, sagte ein Teilnehmer. Er nutzt den DB Navigator intensiv und stuft ihn sogar als „lebensnotwendig“ ein. Auch dass die DB mit Google kooperiert und Echtzeitdaten und Buchungslinks in Google Maps eingebunden sind, wurde als weiterer Schritt in Richtung intermodale Mobilität positiv vermerkt. So urteilt der Experte aus der Politik: „Ich glaube, wir müssen viel offener darangehen, dass es eben auch deutsche und europäische Unternehmen gibt, die dieses Ticketing anbieten … Die Nutzer nehmen Dinge an, die einfach zu bedienen sind.

Die Konkurrenz im Fernverkehr erweist sich allerdings noch als Hindernis für das Data-Sharing. So berichtet ein Experte aus der Politik, dass die Lufthansa bei den Mobilitätsplattformen der Deutschen Bahn nicht mitmachen wollte: „Alle haben Angst, was passiert mit ihren Daten. Der Staat muss den Hut aufhaben und garantieren, dass die Daten der Deutschen Bahn nicht bei Lufthansa landen und umgekehrt.“ Deshalb sieht sich der Bund in Verantwortung für die Datenplattformen. Bei Kooperationen im Nahverkehr setze jedoch die Deutsche Bahn die Standards, sodass sich der ÖPNV bei der Harmonisierung der Dateninfrastruktur unter Anpassungsdruck gesetzt fühlt. Es müsse jetzt schnell etwas geschehen, sagte ein Wissenschaftler und schlug vor: „Entweder sagen wir, die Bahn fährt 50 Prozent der Fernverkehre und 50 Prozent der Nahverkehre und nimmt die anderen mit auf. Oder wir machen eine kooperative große Datenplattform. Aber irgendwas müssen wir jetzt machen und das muss schnell gehen.

Auf dem Weg zur vernetzten, intermodalen Mobilität hat insbesondere der ÖPNV noch eine längere Wegstrecke vor sich. Ein Branchenexperte wies darauf hin, dass im öffentlichen Verkehr „die Daten von jeher eine besondere Rolle spielen“. Historische Daten etwa werden als Kontrollinstrument eingesetzt, Unpünktlichkeit wird nach dem Verkehrsvertrag mit Abzügen bestraft. Diese Kontrollfunktion mag dazu beigetragen, dass kein Interesse an einer Weitergabe von Standort- und Echtzeitdaten besteht. „Es ist bis heute nicht gelungen, den Verkehrsunternehmen aufzuzeigen, worin ihr Nutzen liegt, ihre Daten, insbesondere Echtzeitdaten, weiterzugeben“, so die Einschätzung des Branchenexperten. Doch mit dem neuen PBefG und der Mobilitätsdatenverordnung besteht die Hoffnung, dass die Blockadehaltung langsam aufbricht.

Dazu muss im ÖPNV noch eine ganze Reihe von Problemen gelöst werden. Das fängt schon mit dem Geschäftsmodell an: Bei den Tickets für die Beförderung spielen Daten bislang keine Rolle. Generell mangelt es hier an digitaler Fachkompetenz und einem digitalen Mindset. In der Kundenbeziehung vermag die Branche nur schwer einzuschätzen, wie die Monetarisierung digitaler Services gelingen kann. Zudem ist der Aufbau einer Datenstruktur mit hohen Kosten verbunden. So wies ein Experte darauf hin: „Alles, was für die Fahrgäste komfortabel ist, ist mit wahnsinnigen Serversystemen und teuren Datendrehscheiben auf Seiten der Länder gepusht. Das alles ist unsichtbare Infrastruktur, die sehr viel Geld kostet und schneller erneuert werden muss als die sichtbare.“ Dabei ist offensichtlich: Um den öffentlichen Verkehr zu stärken und die Mobilitätswende mit Hilfe von Big Data voranzutreiben, ist Kooperation zwischen den Mobilitätsakteuren unabdingbar. Aber „das ist etwas, was die Branche nicht gut kann.“ Wettbewerb, etwa mit privaten Anbietern, habe auch negative Seiten. Zwar könnten private Anbieter auch Wert für den ÖPNV schaffen, große überregional vertretene Anbieter würden aber oft als Konkurrenz gesehen.

Einmal mehr ist es der Föderalismus, der Schwierigkeiten verursacht. Die Vielzahl an unterschiedlich strukturierten Verkehrsbetrieben erschwert die Einigung und Standardisierung. Im Datenschutz behindert er die Zusammenarbeit zusätzlich und frustriert die Akteure. Allgemein gilt der strenge bzw. streng verstandene Datenschutz als Innovationsbremser in der Branche. Lokale Projekte würden deshalb häufig gestoppt oder die Anbieter weichen aus, indem sie eine Kooperation mit Google eingehen.

3.3.2.3 Die paradoxe Sichtweise der Verbraucher

Auch aus Sicht der Verbraucher sind es die Politiker, die bremsen, während die Wirtschaft antreibt. Beispiele dafür sind die Versäumnisse beim Netzausbau und bei der Digitalisierung sowie die zu langwierigen Prozesse. Das hindert die Verbraucher aber nicht daran, sich die Politik in der Bremser-Rolle zu wünschen, wenn sie die Gefahr sehen, von Disruption und Fortschritt überrannt zu werden, oder wenn sie um den Verlust von Verbraucherrechten oder ihrer Privacy fürchten.

Im Allgemeinen fokussieren Verbraucher auf den Nutzen, den ihnen die Wirtschaft gibt. Unterschwellig schwingt bei der Nutzung jedoch Unbehagen mit, dass die Datenspuren zu den eigenen Ungunsten verwendet werden könnten und man letztlich einen zu hohen Preis zahlt. Trotz dieses Unbehagens überprüfen sie jedoch nur selten dezidiert die Nutzungs- beziehungsweise Datenschutzbedingungen: Die Literatur spricht in diesem Zusammenhang vom Nutzer-Paradoxon (Knorre et al. 2020). Die Verbraucher haben generell das Gefühl, überfordert zu sein und für die Entscheidung nur wenig Freiheitsgrade zu haben. So sagte eine Nutzerin in der Fokusgruppe: „Oft bleibt einem aber auch nichts Anderes übrig, als alles zuzulassen, um die App richtig nutzen zu können, und selbst wenn ich alles blockiere: Wahrscheinlich sammeln die meisten trotzdem heimlich Daten oder kriegen diese woanders her.“ Ein andere stimmte sofort zu: „Diese Worte fassen meine Einstellung recht gut zusammen. Oftmals bleibt einem keine Wahl, wenn man gewisse Dienste nutzen möchte. Am Ende wird wahrscheinlich gesammelt, was gesammelt werden kann.

Diesen Aussagen widersprach ein Experte entschieden: „Das ist eine deutsche Diskussion, ob ich die Daten jemandem gebe oder nicht, weil ich immer der irrigen Meinung bin, dass derjenige, der die Daten bekommt, irgendetwas damit macht, was nicht in meinem Sinne ist.“ Mit dieser Entgegnung vermochte er die Verbraucher jedoch nicht zu überzeugen. Deren Meinung zufolge sichern lange, schwer verständliche Datenschutzhinweise die Unternehmen ab, nicht deren Kunden, und unterstützen so das Gefühl komplexer Risiken und lassen sie resignieren. Die Verbraucher wünschen sich stattdessen eine Geschäftsbeziehung auf Augenhöhe mit einer transparenten, nutzerorientierten Kommunikation, die angesichts der Komplexität von Big Data so einfach wie möglich sein sollte. Ihr Misstrauen basiert auf eigenen oder medial vermittelten Erfahrungen, z. B. mit personalisierter Werbung, Geomarketing, Mikrotargeting sowie Diskriminierung bei einer Kreditvergabe.

3.3.2.4 Wissenschaft in der Komplexitätsfalle

Die Wissenschaft ist im gesellschaftlichen Diskurs datengetriebener Mobilität zu wenig präsent. In den Fokusgruppen ist von Analysen und Meinungen der Wissenschaft selten die Rede. Datengetriebene Services scheinen primär ein Thema der Wirtschaft zu sein, die eben diese entwickelt, sowie der Politik und des Daten- und Verbraucherschutzes.

Auf drei Ebenen hat die Wissenschaft Ansatzpunkte zur Teilnahme an diesem Diskurs: erstens durch Beobachtung und Analysen auf der Metaebene; zweitens durch Beratung und Begleitung von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft; drittens durch die Nutzung von Big Data für die eigene Forschung. Dabei macht sie die Erfahrung, dass die Bereitschaft zur Datenbereitstellung für den Allgemeinnutzen (Big Data for Public Good) häufig kritischer gesehen wird als für kommerzielle Produkte, die dem User direkten Nutzen bieten. Dies bestätigen auch die Ergebnisse dieser Studie. Die Aufgaben der Wissenschaft liegen nach Ansicht der Diskutanten in den Fokusgruppen insbesondere auf folgenden fünf Feldern:

  • Die Bestimmung des Werts der Daten, damit die Wertschöpfung kalkulierbar wird. Dies ist einer der Erfolgsfaktoren für den Datenaustausch der Wirtschaft.

  • Die Definition ethischer Standards und deren Anwendung als zentrale Voraussetzung, um Risiken zu reduzieren. Beim Missbrauch sei man wieder „bei Ethik und Ethik-Check von Algorithmen. Wenn ich in eine datengetriebene Diskriminierungszone komme, ist da sicher die Grenze“, sagte ein Teilnehmer. „Das ist ein Problem, das nicht gelöst ist, aber gelöst werden kann“, stimmte ein anderer Teilnehmer zu. Es gebe aber auch „Möglichkeiten, solche Diskriminierungen aufzudecken, bei einem Algorithmus noch besser als beim Menschen“. Diese Entwicklung müsste wissenschaftlich sehr eng begleitet werden.

  • Konfrontation der Big-Data-Euphorie mit der Realität, um zu einer realistischen Einschätzung der notwendigen Datenqualität und der Grenzen der Anonymisierbarkeit zu kommen.

  • Überwindung der Simplifizierung durch andere Stakeholder angesichts der Komplexität. „Die Themen, die wir behandeln, kann man nicht einfach behandeln“, wurde argumentiert. Es komme auf die Perspektiven an. Man könne keine pauschale Antwort finden und müsse eher auf gruppierte Einzelfälle gehen.

  • Der Aufbau von Digital Literacy und Digital Mindset schon als Themen für die Lehre: „Man muss viel früher ansetzen und Digital Literacy tiefer in die Gesellschaft tragen.

3.3.2.5 Zusammenfassung: Stakeholder-Rollen beschreiben den Möglichkeitsraum

Die Rollenverteilung der Stakeholder in der Verhandlung um Daten bewegt sich, wie Abb. 3.4 zeigt, in einem komplexen, miteinander eng verbundenen Spannungsfeld:

Abb. 3.4
figure 4

Stakeholder der Mobilität und ihre Rollen in der Big Data-Debatte

  • Die Politik (Regierungen, Abgeordnete) versteht sich als Antreiber, Ermöglicher und Regulierer (je nach Funktion und politischer Orientierung). Die Vielzahl der Stakeholder und Interessen blockieren sich oft gegenseitig.

  • Die Wirtschaft ist, trotz der bevorzugten Rolle als Innovator, eine stark heterogene Gruppe. Verhandlungen finden vor allem auch innerhalb der Wirtschaft statt (Branchen, Hersteller und Zulieferer). Sie wünscht sich von der Politik mehr Ermöglichung als Regulierung und arbeitet im Zweifelsfall auch mit den US-Hyperscalern zusammen.

  • Die Öffentlichen Verkehrsunternehmen befinden sich in einer kritischen Stellung: Als wichtige Datenlieferanten im engen Korsett des Datenschutzes sehen sie für sich nur beschränkte Möglichkeiten, von Big Data zu profitieren.

  • Die Verbraucher sind bei den Verhandlungen um Daten Akteur, auch wenn sie sich gegenüber der Wirtschaft in einer schwächeren Position sehen (u. a., weil es an Transparenz und Spielraum bei Freigaben mangelt). Ihre Nutzen-Ansprüche sehen sie dennoch von Unternehmen als direkten Partnern eher vertreten als von der fernen Politik, die nur dann gefragt ist, wenn es um den Schutz der Rechte und der Daten der Verbraucher geht.

  • Die Medien agieren nur mittelbar über den öffentlichen Diskurs, sie sehen sich stärker als Anwalt der Verbraucher als der Wirtschaft.

  • Die Wissenschaft sieht sich in der Beobachter- und Beraterrolle. Sie agiert zurückhaltend und ist mit ihren Lösungsvorschlägen im öffentlichen Diskurs wenig präsent. Als Datenempfänger ist sie eher in einer abhängigen Position denn aktiver Mitgestalter der Verhandlung um Daten.

3.3.3 Handlungskonzepte

Die Experten aus Wirtschaft und Medien sowie die Verbraucher waren sich in der Diskussion in den Fokusgruppen einig: Das Thema Big Data muss unter der Nutzenperspektive betrachtet werden. Im Unterschied zur Machbarkeitsorientierung, die einfach auf das Datensammeln abstellt und daraus Chancen ableitet, geht es in der Diskussion der Nutzenorientierung darum, für den User ein Problem zu lösen und den Nutzen für ihn zu definieren, um daraus die erforderlichen Daten zu bestimmen und ein Geschäftsmodell zu entwickeln.

3.3.3.1 Die Diskussion vom Kopf auf die Füße zu stellen heißt: vom Nutzen herdenken!

Aus der Diskussion in den Fokusgruppen ergeben sich fünf zusammenfassende Befunde:

  1. 1.

    Den Kundennutzen als Ausgangspunkt für die Entwicklung von Geschäftsmodellen (wie bei Start-ups) zu nehmen, heißt, für den Verbraucher Lösungen für seine Wünsche zu entwickeln. Die vorherrschende Meinung in den Fokusgruppen dazu gibt folgendes Zitat eines Teilnehmers wieder: „Es macht Sinn, erst mal zu fragen: Was bringt das eigentlich, wenn man das macht? Und wenn der Kundennutzen ein guter ist, sollten wir darüber nachdenken, das zu machen. Da haben wir in der Vergangenheit speziell in Deutschland viele Chancen verpasst, diese ganzen Systeme zu modernisieren und für den Nutzer attraktiver zu machen.“ Ähnlich betonte ein anderer Experte: „Ich finde, in der Mobilität muss das Ergebnis der Datennutzung für diejenigen, die diese Mobilitätsangebote in Anspruch nehmen wollen, klar sein.Hat ein Kunde etwas davon? Dass jedes Unternehmen, jedes Start-up seinen eigenen Nutzen definiert, das spielt auch eine Rolle, keine Frage. Aber: In der Mobilität muss am Ende immer der Nutzer im Vordergrund stehen. Für den werden ja die Geschäftsmodelle entwickelt und bei dem müssen sie ankommen.

    Methodisch solle es aber nicht heißen: Erst einmal so viele Daten wie möglich sammeln und dann schauen, was man daraus macht. Das ist leider noch nicht die Regel, wie ein Experte formulierte: „Es wird selten mit Sinn und Verstand Daten gesammelt, sondern es wird gesammelt, was zu sammeln ist, und dann liegen da Datenberge, ohne dass man weiß, was man damit anfangen kann.

  2. 2.

    Starken Nutzen haben Dienste, die auf Autonomie und Individualität, Entlastung und Bequemlichkeit einzahlen, darin waren sich die Teilnehmer einig. So erklärte eine grundsätzlich hoch datenkritische Nutzerin: „Wenn ich den Nutzen weiß, bin ich bereit, meine Daten zu geben. Zum Beispiel im öffentlichen Nahverkehr, wenn die wissen, wer wann fährt, können sie öfter fahren, größere Wagons machen etc.“ Ähnlich argumentieren andere: „Solange ich für mich selbst einen persönlichen Nutzen sehe und sagen kann, dass da Innovationen vorangebracht werden, würde ich dem zustimmen.“ Für einen Wirtschaftsexperten hieß deshalb die Schlussfolgerung: „Wir müssen sicherstellen, dass wir ein Problem lösen, das der Bürger und die Bürgerin, der Kunde und die Kundin hat, nur dann entsteht wirklich konkret was. Wenn ich kein Problem löse, entsteht kein Markt.“ Er fand: „Wenn man den Bürgerinnen und den Bürgern einen Nutzen daraus gibt, ist das alles kein Riesenakt. Es ist 2021, die Leute laden sich das runter und nutzen das. Das machen die Amerikaner schlauer als wir, weil sie auf das Individuelle einsteigen und dafür einen Nutzen bieten. Das ist der Zeitgeist.

  3. 3.

    Dabei kann gesellschaftlicher Nutzen Lockerungen beim Datenschutz begründen. Wichtig ist, den Diskurs zu eröffnen und Experimentierklauseln einzuführen. Der Datenschutz darf nicht vorgeben, welcher Nutzen machbar ist. In diesem Sinne warnte ein Experte aus der Wirtschaft: „Bevor wir nützliche Verwendungen von Daten unmöglich machen, brauchen wir ein Reallabor, wo wir schauen, wie wir den Datenschutz beachten und datenbasiert Nutzen stiften können.“ Klar ist, dass die Nutzenorientierung nicht nur Chancen, sondern auch Risiken birgt: Datennutzung für unliebsame Zwecke und Datenmissbrauch sind es, was den Kunden Sorgen macht, nicht ihre Transparenz per se. Dafür braucht es den öffentlichen Diskurs und entsprechende Sicherheitsinstrumente.

  4. 4.

    Der Nutzen des Data-Sharing muss auch für Unternehmen deutlich werden. Vorbild dafür kann die Datenplattform der Automobilindustrie Catena-X sein. „Wir müssen bei dem Thema datengetriebene Mobilität über Kosten und Nutzen nachdenken, Nutzen nicht nur für Fahrgäste, sondern auch für Verkehrsunternehmen und andere Beteiligte am Mobilitätssystem“, meinte dazu der Experte aus der Wirtschaft. Deshalb muss die Politik „gemeinsam mit der Zivilgesellschaft überlegen, wie können wir einen Nutzen generieren durch datenbasierte Tools. Von der Nutzenperspektive herdenken, Zivilgesellschaft und Politik zusammenbringen, das hat nicht funktioniert beim Datenraum Mobilität, weil der viel zu technizistisch aufgesetzt wurde und nicht vom Nutzen aus.

  5. 5.

    Die Nutzenorientierung unterstützt die Wertbestimmung der Daten („Bepreisung“) sowie Datensparsamkeit, Transparenz, Akzeptanz und Sharing-Bereitschaft. „Wichtig ist, dass wir alle aufgeklärt sind, was mit unseren Daten passiert. Da liegt die Verantwortung schon auch auf jedem Einzelnen. Auf der anderen Seite würde ich mir von jedem Anbieter wünschen, dass er klar auf Augenhöhe kommuniziert. Das sehen wir noch viel zu selten“, sagte ein Teilnehmer.

Wie Abb. 3.5 zeigt, ist mit diesen fünf Feststellungen eine grundsätzliche Änderung der Denkrichtung in Sachen Datenschutz verbunden: erst wird der potenzielle Nutzen erhoben, dann wird geprüft, was datenschutzrechtlich möglich ist. Die übliche Datenschutzdiskussion, die zunächst grundsätzlich auf die rechtlichen Beschränkungen hinweist, wird damit quasi vom Kopf auf die Füße gestellt.

Abb. 3.5
figure 5

Vom Kopf auf die Füße gestellt: Vom Datennutzen zum Datenschutz

3.3.3.2 Datenschutz, Daten-Teilen fürs Gemeinwohl und der Bedarf nach einem ethischen Diskurs

Wie bereits gesagt: Kennzeichnend für die Diskussion in den Fokusgruppen war, dass der Nutzen im Zentrum der Diskussion stand. Demgegenüber wurden ethische Fragen von den Teilnehmern der Fokusgruppen – ähnlich wie in der Community – relativ selten thematisiert oder sogar mehr oder weniger deutlich abgelehnt: „Meines Erachtens diskutieren wir in diesem Land viel zu viel auf der Metaebene und philosophieren, ohne uns an konkreten Fakten zu orientieren. Moralisierende Darstellungen haben wir meiner Ansicht ebenfalls bereits viel zu viel“, meinte eine Nutzerin vom Typ „Offensive Resignation“.Footnote 10 Doch vereinzelt kam der Wunsch nach einem ethischen Diskurs und der Abwägung von Nutzen und Gefahren in verschiedenen Stakeholder-Gruppen zur Sprache. So sagte ein Vertreter des Typs „Abwägend“: „In vielen Diskussionen zu Digitalisierung und vernetzter Mobilität werden von den Protagonisten unendliche Vorteile nach vorne gestellt. Dann gibt es die Technologiegegner, die in allem etwas Schlechtes sehen. Was ich vermisse ist eine ausgewogene Darstellung von Vorteilen, Nachteilen, Chancen und Gefahren. Das Ganze sollte meiner Meinung nach auch philosophisch diskutiert werden, was moralisch/ethisch vertretbar ist. Leider (gibt es hier) wie in vielen gesellschaftlichen Themen heute sehr polarisierende Standpunkte und wenig ganzheitliche Abwägung.“

Dass es eines intensiveren ethischen Diskurses und einer Definition gemeinsamer ethischer Standards in Gesellschaft und Wirtschaft etwa in Form von Selbstverpflichtungen bedarf, traf in der Diskussion auch auf Zustimmung. So plädierte ein Wirtschaftsexperte: „Ich würde mir wünschen, dass wir noch viel mehr Diskurs hätten. Das eine ist, dass wir es als Nutzer einfordern, das andere, dass wir als Anbieter eine digitale Ethik in den Vordergrund stellen und ganz klar sagen, was wir sammeln, warum wir es sammeln – und eben nur so viel sammeln, wie es Sinn macht.“ In diesem Zusammenhang wurde auch die Forderung nach einem Ethik-Check von Algorithmen erhoben. So sagte ein Wissenschaftler: „Wir brauchen eigene Plattformen und Sicherheitsstandards und im Bereich der Algorithmen ethische Standards. Wir dürfen das nicht den Amerikanern überlassen.

Dass der Datenschutz allein die Gefahren nicht einhegen kann, war in den Diskussionen weitgehend Konsens. Er wurde eher als nutzenunabhängiger Bremser gesehen, denn er widerspricht in seinem Bedeutungskern dem Daten-Teilen, der Voraussetzung von Big Data als Schlüsseltechnologie für die Mobilität der Zukunft. Aber wenn das Teilen von Daten für das Gemeinwohl zentral für Mobilität der Zukunft ist, muss es kommunikativ gut begleitet werden. Dies gilt umso mehr, als Public Goods nicht immer einen direkten Kundennutzen haben, sodass die Bereitschaft zum Daten-Teilen beschränkt ist. Ohnehin dominieren hier Misserfolge wie die digitale Patientenakte oder der digitale Führerschein die Wahrnehmung. „Es gibt wenige gute Beispiele, dass politikgetriebene große Digitalinitiativen erfolgreich waren“, so ein Wirtschaftsvertreter.

Aus Expertensicht wurden folgende Lösungsansätze für die Kommunikation vorgeschlagen:

  • Mehr große Erfolgsnarrative in die Öffentlichkeit tragen, wie beispielsweise die kollaborative digitale Karte der Sammeltaxis in Nairobi, die auf den Daten der Mobiltelefone ihrer Nutzer basiert.Footnote 11

  • Public Goods mit dem Kundennutzen im Sinne eines Nudgings verbinden – beispielsweise den Preisvorteil von Handytickets oder den Nutzen von Stauprognosen herausstellen. Das ist allerdings nicht einfach: „Wie wir ein Nudging hinbekommen, eigene Daten für z. B. Forschung, Gesundheitsentwicklung, Optimierung von Verkehrs- und Warenströmen, Klimawandel usw. herzugeben, da fehlt mir im Großen die Fantasie, im Kleinen gibt es aber immer wieder Möglichkeiten und Beispiele, z. B. Apps die sehr kommunikativ arbeiten“, urteilen Experten aus Wissenschaft und Wirtschaft.

  • Beim Klimaschutz die Kommunikation des Nutzens auf Augenhöhe gestalten und eine Einladung zur Partizipation aussprechen: Hier kann auf das Selbstwirksamkeitsmotiv nachhaltigkeitsbewusster Verbraucher gebaut werden, das für 42 Prozent der deutschen Bevölkerung zutrifft und bei ÖPNV-Nutzern noch stärker anzutreffen ist, das aber auch bedient werden muss (Rothmund 2021). Das kann z. B. durch App-basierte Klimaschutzwettbewerbe wie den „Klimathon“ oder das Lernen von Nachhaltigkeits- und Klima-Apps geschehen, auf die auch Experten verwiesen.

Für den letztgenannten Lösungsansatz sprach sich auch eine Verbraucherin explizit aus: „Ich würde lieber meine Daten einem kleinen Start-up oder einem kleinen deutschen Unternehmen geben, denn die werden nicht so richtig gefördert, während die großen die Entlastung bekommen. Deshalb würde ich als Verbraucher die kleinen, jungen, innovativen mit meinen Daten unterstützen und sagen, ihr bekommt meine Daten, euch vertraue ich mehr als den Riesen mit Daten auf der ganzen Welt.“ Diese Bereitschaft, Start-ups zu unterstützen, kann auch als Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit und Partizipation interpretiert werden. Und wenn das Public Good im Einklang mit ethischen Zielen steht, fällt die Entscheidung nicht schwer: „Wenn ich die Wahl habe zwischen meinem eigenen Datenschutz und einem Beitrag für die Umwelt durch E-Mobilität, dann wähle ich stets Letzteres. Hier muss ich an meine Folgegeneration denken.

3.3.3.3 Politik als Antreiber, Mut zum Experimentieren und einfache Nutzer-Lösungen

Angesichts der Klage der Wirtschaft über fehlenden Innovationsmut erarbeiteten die Experten etliche Lösungsansätze. Neben dem abermaligen Ruf nach mehr Erfolgsnarrativen und Vorbildern (aus Skandinavien und innovativen Kommunen und Bundesländern) wurde vor allem, wie Abb. 3.6 zeigt, der weitere Ausbau von Experimentierklauseln in Gesetzen bzw. Reallaboren genannt.

Abb. 3.6
figure 6

Drei Szenarien für die Wege in die vernetzte Mobilität

Dass hier die Kommunen eine entscheidende Rolle spielen können, fand allgemeine Zustimmung: „Wenn es so etwas gäbe wie Experimentierraum oder unsere Kultur ein kleines bisschen offener wäre zu experimentieren und nicht so angsterfüllt und risikoavers, dann würden wir mit Sicherheit einen größeren Nutzen aus unseren technischen Errungenschaften ziehen können.“ Und ein Medienexperte argumentierte: „Ich finde, dass öffentliche Verkehrsunternehmen in Deutschland viel mehr in der Pflicht sein sollten, solche Experimente zu machen. Die machen lokal interessante Sachen, aber da guckt keiner genau hin. Der Staat sollte mehr Einfluss nehmen und Ziele setzen, sonst dauert das ewig, wie beim Deutschland-Ticket.

Solche Experimentierräume findet auch die Privatwirtschaft wichtig, die sich darüber hinaus eine weitere Deregulierung wünscht und mehr Offenheit für Lösungen aus der Digitalwirtschaft vor allem im ÖPNV. So plädierte ein Wirtschaftsexperte: „Damit der öffentliche Verkehr nicht zurückfällt, müssen gesetzliche Rahmenbedingungen geschaffen werden.Wir müssen mehr Innovationsmut ermöglichen und Experimentierräume öffnen. Und wenn es nicht anders geht, mit einem Real-Labor-Gesetz des Bundes.“ Zwar verpflichtet die Mobilitätsdatenverordnung die Mobilitätsanbieter zur Bereitstellung von Daten inklusive der Echtzeitdaten, aber Effekte sind noch nicht abzuschätzen. Insgesamt brauche es digitale Fachkompetenz und eine Veränderung des Mindsets: „Ja, man soll und kann sie (die Politik, A.d.V.) in die Pflicht nehmen, das müsste standardisiert und einheitlich sein. Ein Teil der rechtlichen Rahmenbedingungen ist schon da. Aber die Verkehrsunternehmen brauchen Partner, die das Know-how haben. Man sollte auch auf andere Player schauen: Sharing-Unternehmen, andere Mobilitätsdienstleister, die tun schon Dinge über Apps und Algorithmen, die im Grenzbereich dessen unterwegs sind, was man in Deutschland schon darf. Über diese Pipeline bekommt man interessante Daten.

Damit Big Data zum Nutzen aller Beteiligten verwendet werden kann, wird der Politik die Aufgabe zugewiesen, das Vertrauen darin zu fördern und zugleich die Interessen der nicht digital-affinen Bürger zu vertreten. Wie groß hier die Verunsicherung ist, lässt sich an den Handlungsempfehlungen der Verbraucher in den Fokusgruppen ablesen: „Thema Datensammeln, da sollte es klare Vorgaben vom Gesetzgeber geben, der dem Verbraucher mehr Rechte einräumt, auch abzulehnen, dass nicht technisch relevante Daten benutzt und übermittelt werden. Immerhin zahle ich ja auch für diese Technik! Schon bei der Einrichtung sollte ich gefragt werden, was ich freiwillig übermitteln will und was man übermitteln muss, damit die Technik einwandfrei funktioniert. Da sollte es bei jedem Gerät so eine Art Daten-TÜV geben.“ Aber gleichwohl heißt es auch, dass die Bedenken nicht von allen geteilt werden: „Für die Verwendung von Daten empfinde ich eine Wahl zwischen dem Bezahlen mit Daten oder einem monetären Entgelt als vorteilhaft. Die Personen, denen der Schutz ihrer Daten hinreichend wichtig ist, können die Option wählen, statt mit Daten mit Geld zu bezahlen.

Was wir schaffen müssen“, war sich ein Politik-Experte denn auch bewusst, „ist das Vertrauen, dass die Daten so genutzt werden, dass sie zu unserem Nutzen sind.“ Insofern sei die Politik als Moderator und garantierende Instanz unverzichtbar. Sie habe den Hut auf bei Datenplattformen, der Staat als Garant für die Datensicherheit müsse gleichzeitig aber Vorsicht walten lassen, damit nicht, wie im Fall Tesla, der Eindruck entstehe, dass zweierlei Maß angelegt werde. Ausnahmen oder Sonderregelungen müssten gut begründet werden, um nicht Vertrauen zu verspielen.

Vertrauen zu schaffen, ist zugleich eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe aller Stakeholder – durch einen ethischen Diskurs, die gesellschaftliche Kontrolle und die Kommunikation sinnvoller Erfolgsnarrative. Besonders gefordert ist hier die Wirtschaft, die durch geeignete Maßnahmen erheblich zur Vertrauensbildung beitragen kann:

  • Eine Selbstverpflichtung zu Datensparsamkeit: Es werden nur die Daten erhoben, die für einen bestimmten Nutzen notwendig sind.

  • Die Transparenz des Nutzens (nicht primär der erhobenen Daten), der verständlich und kunden-/bürgerzentriert formuliert sein muss – gerade dann, wenn sich kein unmittelbarer Nutzen für den Kunden ergibt, sondern seine Daten für Entwicklungen gebraucht werden.

  • Durch einfache Lösungen für eine komplexe Welt (z. B. das Deutschlandticket).

  • Durch Testsiegel für Datensparsamkeit und einen Daten-TÜV.

Voraussetzung für den Erfolg sei zudem eine grundlegende Aufklärung über Daten und Digitalisierung. Digital Literacy und Digital Mindset müssen deshalb aus Sicht aller Stakeholder gestärkt werden. Dies machte ein Teilnehmer deutlich, indem er auf das immer noch vorherrschende grundlegende Missverständnis bei Daten hinwies:

Daten sind eben nicht das neue Öl, sondern eine ganz andere Form von Rohstoff. Öl ist nicht reusable und auch nicht sharable. Bei Daten ist es genau umgekehrt: Je mehr Daten genutzt werden, also je mehr Reusability, desto mehr Datenveredlung, desto wertvoller werden sie. Bei Shareability ist es genauso: Wenn ich die Daten von meinem Regio-Zug für mich behalte, dann weiß ich, wann ich ihn reparieren muss. Aber wenn ich sie teilen würde in der Region, dann könnte ich eine ganz tolle Verkehrssteuerung machen. Dieses Umdenken, dass Daten eben nicht das neue Öl sind, dass Daten eine vollkommen andere Form von Rohstoff sind, das hat in den Chefetagen noch nicht stattgefunden. Deshalb werden Konzepte, die in der Vergangenheit erfolgreich waren nach dem Motto: ‚Ich passe auf meines auf und gate das, dass ja keiner drankommt‘, auf heute übertragen. Die klappen aber überhaupt nicht, weil sich Daten entgegengesetzt verhalten. Wir haben ein Riesenproblem, weil in den heutigen Chefetagen keine Digital Natives sind. Die haben den Schalter von Öl auf Daten nicht umgelegt.

Alle Teilnehmer waren sich auch einig, dass das Thema Big Data in der Bildung stärker berücksichtigt werden muss. Dies betrifft vor allem die Schulen und Universitäten. In allen Branchen brauche das Management zukünftig Digital Literacy und Digital Mindset, vor allem auch im Verkehr, wie der Branchenexperte betonte: „Wir wissen, die Unternehmen müssen in der Zukunft Daten liefern. Wir kennen noch nicht die Schnittstellen. Wir können gut Öffentlichen Verkehr, aber wir müssen demnächst mehr können, damit wir diese Wege gehen können. Und das wird nirgendwo an den Universitäten gelehrt, dafür macht keiner dieser Verkehrsunternehmenschefs eine Ausbildung und trotzdem brauchen wir hier digitale Kompetenz.

Gleichzeitig sind schnellere Lösungen für die aktuelle Praxis notwendig. Die Unternehmen müssen dazu ihre digitale Fachkompetenz ausbauen, mit der Digitalwirtschaft kooperieren und sich über Inhouse-Start-ups Know-how verschaffen. Für die Verbraucher gilt es, integrierende Sonderlösungen für die Non-Digitals zu kreieren, wie z. B. im bereits genannten Modellprojekt Saarland mit den Lotsen für die Ticket-Automaten. Insgesamt erwarten die Verbraucher, dass sich die bisherige Entwicklung hin zur stärkeren Nutzerzentrierung der Angebote fortsetzt, was auch die Non-Digitals stärker ins Boot holen wird. So sagte eine Nutzerin: „Ich bin mir sicher, dass moderne und vernetzte Technologien weiter fortschreiten, wenn die Technik sich allen Menschen öffnet, nicht nur der Generation der unter 40-Jährigen, die solche Innovationen eher akzeptieren als vielleicht über 60-Jährige, aber diese braucht man auch zum Gelingen. Somit muss alles einfacher werden, alles selbsterklärend zu verstehen und bedienen sein, so wie es auch das Smartphone nun ist.“

3.3.3.4 Zusammenfassung: Nutzenorientierung führt zu konkreten Handlungsvorschlägen

  • Big Data in der Mobilität wird zunehmend aus der Nutzenperspektive betrachtet: Was muss getan werden, damit sich vor allem der gesellschaftliche Nutzen für Klimaschutz und Verkehrssicherheit tatsächlich realisieren lässt? Das ist ein Paradigmenwechsel hin zu einem größeren Spektrum an Mobilitätslösungen.

  • Die Bundes- und Landesregierungen haben vor allem die Rolle als Antreiber von Big Data in der Mobilität, ansonsten drohen Initiativen der Bundesregierung, wie der Datenraum Mobilität (Mobility Data Space), zu scheitern und/oder ein Einzelfall zu bleiben.

  • Dazu gehört auch, ein neues Narrativ für die Mobilität von morgen zu entwickeln, welches das bisherige geopolitische Motiv, das die Geschichte von der Souveränität Europas gegenüber den Hyperscalern erzählt, ablöst. Diese ist zwar nach den hier vorliegenden Befunden bei allen Stakeholdern angekommen, kann aber aufgrund der Verflechtungen mit den US-Big-Techs faktisch nicht aufgehen.

  • Datenkompetenz entwickelt sich neben Datenschutz zum zentralen gesellschaftspolitischen Ziel.

  • Ein engmaschiges Netzwerk von Experimentierräumen/Reallaboren auf der Grundlage gemeinsamer Datenräume stellt einen wirkungsvollen Hebel dar, um dem Datenschutz-Dilemma bzw. der restriktiven Regulatorik zu entkommen. Hier sollten vor allem Kommunen vorangehen können, um die intermodale Mobilität von morgen erproben zu können.

  • Noch bestehende (erstaunliche) Zeitvorteile wie beim autonomen Fahren sind unbedingt weiter auszubauen – durch Beibehaltung oder sogar Beschleunigung der bestehenden Zulassungspraxis. Die Wissenschaft kann gerade hier viel stärker in den öffentlichen Diskurs einsteigen.

  • Die Chancen in der Zusammenarbeit zwischen europäischen Unternehmen und den US-Big-Techs bzw. Hyperscalern sollten nicht eingeschränkt werden, nur weil sie politisch nicht opportun erscheint.

  • Öffentliche Verkehrsunternehmen werden nur dann nicht zum Verlierer unter den Verkehrsträgern, wenn sie massiv in ihren digitalen Möglichkeiten gestärkt werden. Die Experimentierklausel des Personenbeförderungsgesetzes sowie die Mobilitätsdatenverordnung können dann ihre Wirkung entfalten.

  • Im Fokus aller Stakeholder stehen einfache Kundenlösungen, die eine hohe Reichweite in den Märkten entfalten können – ob mit hoher oder geringer digitaler Kompetenz. Eine Mobilitätsapp für alle und überall in Deutschland („Deutschland-Ticket“) und sogar Europa („Europa-Ticket“) bleibt das Ziel.

  • Um Kundennutzen und gesellschaftlichen Nutzen miteinander zu verbinden, lassen sich verhaltenswissenschaftliche Erkenntnisse, z. B. im Sinne des Nudgings, einsetzen.

3.4 Stakeholder und ihre Ansprüche an Big Data in der Mobilität – Fazit aus Medienanalyse und Fokusrunden

Der Stakeholder-Ansatz kann jenseits der rechtlichen Frage, wem die Daten der Mobilitätskunden gehören, einen gedanklichen Ausweg bieten, indem weniger gefragt wird, wem die Daten gehören, sondern was interessenübergreifend damit erreicht werden kann, sodass alle Stakeholder-Ansprüche ausgewogen berücksichtigt werden. Der Stakeholder-Kapitalismus bietet auch für den Umgang mit Big Data eine normative Selbstverpflichtung, deren Lenkungswirkung der rechtlichen kaum nachsteht. Geht man grundsätzlich davon aus, dass nicht nur der Autofahrer oder Mobilitätsteilnehmer, der die Mobilitätsdaten mit seinem Verhalten erzeugt, sondern auch Hersteller, Versicherer oder öffentliches Verkehrsunternehmen genauso wie Politik und Wissenschaft dieselben legitimen Ansprüche auf den Nutzen von Big Data in der Mobilität haben, dann relativieren sich einseitige Machtansprüche und der Schritt zur gemeinsamen Nutzung bzw. zum Gebot des Datenteilens ist nicht mehr weit. Sowohl die Community-Forschung (siehe Abschn. 2.3) als auch die Fokusrunden haben bestätigt, dass es in diesem Punkt – wenngleich mit Abstrichen beispielsweise bei den Automobilherstellen – ein hohes Konsenspotenzial unter den Stakeholdergruppen gibt.

Die Stakeholder-Rollen, die bereits in der Medienanalyse sichtbar wurden, bestätigten sich auch in der Fokusrunden. Das gilt auch für das damit verbundene Stakeholder-Verhalten. Zu beobachten ist die uneinheitliche, changierende Rolle der Automobilindustrie, die mal deutlich sichtbare, dann im Spätsommer 2021 wieder zurückgenommene Treiberrolle der Bundesregierung sowie die sehr zurückhaltende Rolle der Wissenschaft und die wenig ausgeprägte Präsenz der Umweltschutzverbände in dieser doch so umweltrelevanten Debatte um die Potenziale von Big Data. Zugleich bleiben die Mobilitätskunden in ihrer engeren Verbraucherrolle als Autofahrer oder ÖPNV-Nutzer; erweiterte Rollen als Datenhändler, Lifestyle-Aktivisten oder Mitgestalter von Innovationen (Bergman et al. 2017, S. 171) sind nicht festzumachen (siehe Kap. 5). Der Vergleich zwischen Medienanalyse und Fokusgruppenauswertung zeigt darüber hinaus, dass die Bedeutung von Kommunen (und Bundesländern) und öffentlichen Verkehrsunternehmen als Stakeholder von Big Data in der Mobilität medial wenig wahrgenommen wird, während die Experten sie besonders hervorheben. Diese Wahrnehmungslücke zu schließen, wird deshalb von den Experten als eine der zentralen Aufgaben angesehen.

Vor diesem Hintergrund lassen sich die Ergebnisse der beiden qualitativen Erhebungen, die in diesem Kapitel im Fokus standen, im Einzelnen wie folgt zusammenfassen:

  1. 1.

    Die Debatte um Dateneigentum und Datenschutz scheint festgefahren und wird vor allem mit rechtlichen Argumenten geführt. Das Stakeholder-Konzept, das von vielfältigen legitimen Ansprüchen an Mobilitätsdaten ausgeht, kann diese aufbrechen und mit neuen Handlungsperspektiven versehen.

  2. 2.

    Einseitige Machtansprüche auf den Nutzen von Big Data in der Mobilität relativieren sich, wenn grundsätzlich davon ausgegangen wird, dass alle Stakeholder legitime Ansprüche haben: nicht nur der Autofahrer oder Mobilitätsteilnehmer, der die Mobilitätsdaten mit seinem Verhalten erzeugt, sondern auch Hersteller, Versicherer (siehe Kap. 6) oder öffentliches Verkehrsunternehmen, genauso wie Politik und Wissenschaft. Die vielfältigen Ansprüche aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik werden auch deshalb als legitim angesehen, weil der Nutzen von Big Data für eine klimafreundliche Mobilität der Zukunft für alle Stakeholder eine hohe Priorität genießt.

  3. 3.

    In diesem Fall ist auch der Schritt zur gemeinsamen Datennutzung bzw. zum Gebot des Datenteilens nicht mehr weit. Sowohl die Community-Forschung als auch die Fokusrunden haben bestätigt, dass es hier ein hohes Konsenspotenzial auf allen Seiten gibt. Die Nutzung der Daten muss jedoch begründet werden, wenn sie beispielsweise keinen ersichtlichen Vorteil für den Nutzer oder die Gemeinschaft hat. Gleichzeitig ist Transparenz bzgl. der geteilten Daten erforderlich, insbesondere falls diese nicht anonymisiert sind (siehe Abschn. 5.5). Die vollständige technische Anonymisierung bleibt eine noch ungelöste Aufgabe der Forschung.

  4. 4.

    Unter welchen Rahmenbedingungen Big Data wie genutzt wird, ist daher Ergebnis eines Aushandlungsprozesses zwischen den Stakeholdern, die dabei jeweils ihren eigenen Logiken folgen. Politik hat hier die Aufgabe, die Rolle des Treibers einzunehmen, weil sich ansonsten andere Stakeholder (z. B. Unternehmen innerhalb der Automobilbranche, ÖPNV-Unternehmen und Aufgabenträger oder NGOs, die Klimaschutz und Datenschutz gleichermaßen vertreten) gegenseitig blockieren.

  5. 5.

    Aufgrund des gleichzeitigen Zusammenwirkens vieler Faktoren (insb. unklare Stakeholder-Interessen, Komplexität, zunehmende Erfolgstories digitaler Mobilitätslösungen, Aufmerksamkeitsökonomie) ist zu erwarten, dass das Thema des Datenschutzes bzw. der Regulierung von Big Data und Künstlicher Intelligenz in den Massenmedien nur noch nachrichtlich erwähnt wird. Das nimmt Druck von der Politik und erweitert die Handlungsspielräume (siehe dagegen Abschn. 5.5).

  6. 6.

    Zugleich geht es in der Datenpolitik darum, wenig gehörte Stakeholder zu schützen bzw. ihnen eine Stimme zu geben sowie insgesamt die Datenkompetenz quer durch die Gesellschaft zu erhöhen. Ein erstes Ergebnis in die gewünschte Richtung ist der von der Bundesregierung initiierte Mobilitätsdatenraum (Mobility Data Space). Um den MDS bzw. sein technisches Design (standardisierter Connector) im Sinne einer breit zugänglichen Dateninfrastruktur zu verankern und Unternehmen zum Datenteilen zu veranlassen, bedarf es weiterer Unterstützung insbesondere durch Regierungshandeln.

  7. 7.

    In gesetzlichen Experimentierklauseln bzw. infolgedessen eröffneten Reallaboren besteht bereits ein wirkungsvolles Handlungskonzept, um die Nutzenpotenziale zu heben. Ein bereits angedachtes Reallaborgesetz bzw. eine generelle gesetzliche Experimentierklausel in allen Fachgesetzen, die für datenbasierte, intermodale Mobilitätslösungen relevant sind, zeigen die weiteren Möglichkeiten auf, diese Instrumente gestalterisch einzusetzen (siehe Abschn. 5.4).

  8. 8.

    Kommunen können als „Smart Cities“ beim Aufbau eines engen Netzwerkes an Reallaboren eine entscheidende Rolle spielen. Im kommunalen Rahmen kann i. d. R. vergleichsweise schnell ein Stakeholder-Konsens erzielt werden. Darüber hinaus haben die Novellierung der StVO und des PBefG (einschließlich der Mobilitätsdatenverordnung) sowie das im Sommer 2021 in Kraft getretene Gesetz zum autonomen Fahren die Spielräume für die kommunale Verkehrspolitik deutlich erweitert.

  9. 9.

    Erkenntnisse der Verhaltensökonomie, namentlich des Nudgings, sind generell einzusetzen, um die Bereitschaft zum Datenteilen in den entsprechenden Datenräumen (MDS) zu erhöhen. Das gilt sowohl in Bezug auf die Nutzer, aber explizit auch für Unternehmen, denen zusätzliche Anreize gegeben werden können.

  10. 10.

    Nutzer wollen die Möglichkeiten von Big Data für mehr Komfort, höhere Sicherheit und wirtschaftliche Vorteile, z. B. durch Vorzugsabos oder günstigere Versicherungstarife, in Anspruch nehmen. Dazu spenden oder verkaufen sie ihre persönlichen Daten, wenn nachvollziehbar ist, zu welchen Zwecken und unter welchen Bedingungen dies geschieht. Hier erwarten Kunden Angebote von allen Unternehmen der Mobilitätsbranchen (siehe Kap. 2 und 5).

  11. 11.

    Die Wissenschaft kann ihre Rolle als Forscher und Erklärer technischer, sozialer und ökonomischer Zusammenhänge noch stärker als bisher ausfüllen, nicht zuletzt, um Datenteilen durch bestmögliche Anonymisierung zu fördern. Dabei kommt angesichts der Komplexität von Big Data dem interdisziplinären Austausch eine wichtige Rolle bei der Entwicklung akzeptanzfähiger, nachhaltiger Mobilitätslösungen zu. Darüber hinaus können anwendungsorientierte Forschungsprojekte ein Gamechanger sein (Beispiel: der Mobility Data Space mit seiner dezentralen Architektur mithilfe der Dataspace Connectoren). Die Wissenschaftskommunikation, wie sie z. T. in der Corona-Pandemie entwickelt wurde, kann auch hier den Stakeholder-Dialog noch deutlich fördern.

Was bedeutet dieser Blick auf Big Data nun für die Zukunft der Mobilität? Versucht man diese Beobachtungen im Sinne von Szenarien zu sortieren, dann werden die in Abb. 3.6 skizzierten drei Szenarien für den Weg in die vernetzte Mobilität sichtbar. Alle drei Szenarien sind von einem jeweils spezifischen Setting der relevanten Stakeholder geprägt, welches die zukünftige Entwicklung maßgeblich bestimmt.

Das Szenario „Deutsche Gründlichkeit“ beschreibt im Wesentlichen die Fortsetzung der bisherigen Entwicklung einer nur sehr eingeschränkten, aber dafür am Datenschutz ausgerichteten Nutzung von Big Data. Die Rollenverteilung in den Umweltsphären bzw. unter den Stakeholdern bleibt unverändert bestehen: die Politik sieht sich vor allem als Regulierer, die Wirtschaft ist vom Wettbewerb – insbesondere der Automobilhersteller und anderen Unternehmen der Branche einschließlich der Versicherer – geprägt; die Wissenschaft verharrt im Wahrnehmungsschatten und die Nutzer leben ihr paradoxes Verhalten aus.

Das Szenario „Wild West“ beschreibt eine Entwicklung des „Durchwurstelns“ in einer nur noch für Experten durchschaubaren Komplexität. Die Politik zieht sich aus einer aktiven Gestaltung zurück und beschränkt sich darauf, den Rechtsrahmen kleinteilig anzupassen. In der Wirtschaft haben die Marktakteure Vorteile, die in rechtlichen Graubereichen Powerplay spielen und die Zusammenarbeit mit den Hyperscalern suchen. Die Wissenschaft verabschiedet sich ganz aus dem öffentlichen Dialog. Die Nutzer erliegen der Macht des Faktischen und geben ihre Marktmacht weitgehend ab.

Schließlich ergibt sich ein drittes Szenario „Kontrollierte Offensive“, das davon ausgeht, dass sich die Priorität der Nutzenperspektive unter allen Stakeholdern durchsetzt. Die Politik tritt als Treiber von digitalen Mobilitätslösungen auf, die Wirtschaft eint trotz hoher Wettbewerbsintensität ein gemeinsames Interesse an Aufbau und Zugang zu Massendaten in ausreichender Menge und hoher Qualität. Die Wissenschaft beteiligt sich aktiv daran, die Komplexität von datengestützter Mobilität aufzuhellen und übernimmt ihrerseits eine Vorbildrolle in Sachen Data-Sharing. Die Nutzer sehen sich nicht nur als Verbraucher oder Mobilitätskunden, sondern als aktive Datenhändler oder Datenspender für Zwecke, die ihnen wichtig sind.

Alle drei Szenarien basieren auf denselben empirischen Beobachtungen und sind mit einer vergleichbaren Wahrscheinlichkeit ausgestattet, ein mittleres Szenario im Sinne eines wahrscheinlichen Szenarios ist hier nicht definiert. Verlässt man die Wahrscheinlichkeitsbetrachtung und sucht nach einer normativen Perspektive, so könnte diese gleichwohl im Szenario „Kontrollierte Offensive“ liegen. Ein solcher Wechsel aus der empirischen in die normative Betrachtung erhält dadurch seine Relevanz, dass die gestalterische Kraft von Narrativen für soziale und ökonomische Entwicklungen belegt ist (Shiller 2019); sie war auch Ausgangspunkt der ersten Big Data-Studie (Knorre et al. 2020). Auch im engeren Kontext von Innovationen in der Mobilität gilt die „generative Kraft“ von Visionen und Narrativen als gesetzt (Bergman et al. 2017, S. 160 f.) In diesem Sinne versteht sich auch diese Studie zu Big Data in der Mobilität als Beitrag zur Gestaltung eines Innovationspfades für die Mobilität von morgen.