Der Begriff Wohnen verweist auf die enge Verbindung der Lebensgestaltung einer Person mit der Wohnumwelt. Auch wenn in Deutschland leistungsrechtlich Teilhabeleistungen, Hilfen für den Lebensunterhalt und die Finanzierung einer Wohnung voneinander getrennt sind, ist für die Planung und Gestaltung von Teilhabechancen einer Person, die Zusammenschau von Wohnumwelt und Unterstützungsleistungen unabdingbar. Der Wohnungsmarkt stellt nicht die Wohnungen zur Verfügung, die den Wohnwünschen und finanziellen Möglichkeiten von Menschen mit Behinderungen entsprechen und die zugleich die Organisation umfassender und flexibler Assistenzleistungen im ökonomisch zugebilligten Rahmen erlauben. Die allermeisten Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung sind nicht in der Lage, für sie passende Wohnungen auf dem freien Markt anzumieten geschweige denn sie zu erwerben. In einem Gemeinwesen mit Unterstützung wohnen zu können, ist jedoch die Voraussetzung für die Teilhabe in vielfältigen Lebensbereichen. Darüber hinaus sind Quartiere und Gemeinwesen nicht so inklusiv gestaltet, dass Assistenzleistungen allein die Teilhabe an Aktivitäten und sozialen Interaktionen sicherstellen können.

Und um es noch konkreter zu machen: Unsere Gesellschaft steht vor der Aufgabe, Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung unabhängig vom Umfang ihres Unterstützungsbedarfs ein Leben außerhalb von Wohnheimen zu ermöglichen. Lösten seit den 1970er Jahren gemeindebasierte Wohnheime Komplexeinrichtungen ab, gilt es nun, die Wohnheime durch individuellere Wohnsettings zu ersetzen. Es bedarf entsprechender Wohnungen und Nachbarschaften in den Stadtvierteln und Gemeinden, mit an der individuellen Teilhabe ausgerichteten und ökonomisch realisierbaren Unterstützungsarrangements (mit Hintergrunddienst und Nachtbereitschaft). Dazu können innovative Technologien einen Beitrag leisten. Die inklusive Gestaltung von Sozialräumen in den Städten und Gemeinden flankiert diese Entwicklung.

Angesichts der in diesem Band dargestellten Erkenntnisse sowie der gesellschaftlichen Gestaltungsaufgaben weisen wir zum Schluss auf einige Entwicklungsbedarfe hin, vor der die Forschung zum unterstützten Wohnen von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung steht. Dabei greifen wir Gedanken zur Zukunft der Teilhabeforschung auf, die Dieckmann (2022) bereits in der Zeitschrift Teilhabe vorgestellt hat. Die Bedarfe werden anhand der Stichwörter Internationalität, soziale Innovation, Interdisziplinarität und Forschungsmethoden erläutert.

Internationalität

Die Teilhabeforschung in Deutschland versteht sich noch zu wenig als Teil der internationalen scientific community. Forschungsergebnisse werden zu wenig international präsentiert und publiziert. Nur selten sind Forscher*innen aus Deutschland in den international führenden Forschungsgruppen integriert. Dabei stellen sich vielerorts die gleichen Fragen in Bezug auf die Wohnsettings, Unterstützung und Teilhabe von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung. Und in den einkommensstarken Ländern kommen Untersuchungen trotz kultureller Differenzen häufig zu gleichen Ergebnissen. Eine stärkere internationale Vernetzung würde die Qualität der Forschung thematisch, theoretisch und methodisch verbessern und zu einer Absicherung der Ergebnisse führen. Überblicksartikel (literature reviews), die die internationalen Erkenntnisse zusammenfassen, können sozialpolitische Entscheidungen informieren. Zurzeit wird beispielsweise in Deutschland diskutiert, ob in die Jahre gekommene Wohnheime für Menschen mit Behinderung mit hohen Investitionskosten saniert bzw. Ersatzbauten gleichen Typs für weitere 50 Jahre betrieben werden sollen. Die Ergebnisse der internationalen Wohnforschung – oft methodisch stringente Vergleichsstudien – zeigen, dass Wohnsettings, in denen mehr als 6 bis 8 Personen leben, sich negativ auf die Lebensqualität der Bewohner*innen, insbesondere auf deren Selbstbestimmung und Teilnahme an Aktivitäten im Gemeinwesen auswirken (s. Kap. 4). Die Erkenntnisse der Teilhabeforschung sprechen dafür, jetzt die Weichen hin zu individuelleren Wohnsettings zu stellen, wie sie in anderen Ländern üblich sind (z. B. Skandinavien, Australien, Nordamerika).

Interdisziplinarität

Die Teilhabeforschung will zur inklusiven Gestaltung aller gesellschaftlichen Lebensbereiche beitragen. Dazu müssen wissenschaftliche Disziplinen, die auf unterschiedliche Gegenstandbereiche spezialisiert sind, zusammenarbeiten. Es reicht nicht aus, wenn sozial- und verhaltenswissenschaftlich orientierte Fächer, wie die inklusive Pädagogik, die Disability Studies, die Soziologie oder die Psychologie sich mit dem Wohnen von Menschen mit Behinderungen befassen. Fragen des Wohnungsbaus, der Stadt- und Verkehrsplanung, der Haustechnik und digitaler Assistenzsysteme, der Kombination von Pflege und Teilhabeleistungen erfordern die Kooperation mit gestalterischen und technischen Disziplinen, mit den Pflegewissenschaften und der Medizin. Zudem müssen rechtliche und wirtschaftliche Rahmenbedingungen mitbedacht sowie ethische Fragen reflektiert werden, wozu die entsprechenden Disziplinen mit ihrem spezifischen Know-how beitragen können.

Soziale Innovationen

Innovationen entwickeln sich aus Ideen, die in einer Testphase (Pilot) ausgestaltet, in der alltäglichen Praxis erprobt sowie über politische, verbandliche und organisationale Hierarchiestufen und in der Fläche verbreitet (skaliert) werden und sich durchgesetzt haben (Hachmeister und Roessler 2020). Soziale Innovationen gelten als Motor gesellschaftlichen Wandels. Aus zahlreichen Einzelprojekten – oft gefördert ohne wissenschaftliche Begleitung – gehen zu selten soziale Innovationen hervor. Das hat eine Reihe von Ursachen:

  • Forschungsprojekte werden oft zu weit entfernt von den konkreten Gestaltungsaufgaben der Praxis konzipiert und nehmen die Kontextbedingungen, die Förderer oder Barrieren für die Implementation darstellen, nicht in den Blick.

  • Öffentliche Förderprogramme, auf die Hochschulen für die Finanzierung von Forschungsprojekten angewiesen sind, reichen in der Regel nicht so weit, im Sinne der Nachhaltigkeit noch den Transfer in die alltägliche Praxis zu begleiten.

  • Von Teilen der Behindertenhilfe wird oft ein Gegensatz zwischen Praxis und Wissenschaft („Zwei-Welten-Theorie“) konstruiert und kultiviert, statt das aufeinander Angewiesensein für die Weiterentwicklung der Professionen und für die Verbesserung der Lebenssituation von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung zu betonen.

Zu beobachten ist, dass die wechselseitige Verzahnung zwischen Hochschulen, Anbietern und Selbstvertretungsgruppen z. B. in den Niederlanden inzwischen strukturierter und selbstverständlicher funktioniert (z. B. in den academic werkplaats). In Deutschland könnten die Förderprogramme der öffentlichen Hand oder von Stiftungen zu einem engeren und effizienteren Zusammenspiel beitragen. Ein Impuls mag von der im Vertrag der regierenden Ampelkoalition von 2021 vereinbarten Deutschen Agentur für Transfer und Innovation (DATI) ausgehen, die das Ziel hat „soziale und technologische Innovationen insbesondere an den Hochschulen angewandter Wissenschaften und kleinen und mittleren Universitäten in Zusammenarbeit unter anderem mit Startups, KMU [kleine und mittlere Unternehmen; d. Verf.] sowie sozialen und öffentlichen Organisationen zu fördern“ (Koalitionsvertrag von SPD, Bündnis90/ Die Grünen und FDP 2021, S. 20).

Auch neuartige Formate können den Transfer beschleunigen. So ermöglicht es die Formulierung fachlicher Standards auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse, soziale Innovationen klar, prägnant und handlungsorientiert in der Fachöffentlichkeit sowie gegenüber Entscheidungsträgern und Klient*innen zu kommunizieren. Die DHG (2021) ist mit der Veröffentlichung von Standards für die Unterstützung der Teilhabe von Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf vorangeschritten.

Das Anbieten kostenfreier Webseiten mit individuell flexibel nutzbaren online-Fortbildungsmöglichkeiten ist ein weiterer Schritt, Wissen handlungsnah zu vermitteln. Vorbildcharakter für das Themenfeld Wohnen haben die Webseiten zu Active Support (www.activesupportresource.net.au), zu Supporting Inclusion (https://supportinginclusion.weebly.com) und zu Practice Leadership [www.practiceleadershipresource.com.au] der australischen Arbeitsgruppe um Christine Bigby (LaTrobe University Melbourne). Außerdem sei auf die deutschsprachigen Internetangebote zur palliativen Versorgung und hospizlichen Begleitung von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung [www.picardi-projekt.de]Footnote 1 und auf die „Qualitätsoffensive Teilhabe“ (https://qualitaetsoffensive-teilhabe.de)Footnote 2 hingewiesen.

Partizipative und vielfältige Forschungsmethoden

Die partizipative Forschung hat den Anspruch, Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung idealerweise über den gesamten Prozess an einem Forschungsprojekt zu beteiligen. Es geht nicht nur darum, die Innensicht des Personenkreises in der Forschung authentischer und detaillierter abzubilden und tiefer zu verstehen, sondern die wohnbezogenen Themen und Fragestellungen von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung aufzugreifen, die sie tatsächlich beschäftigen, die für sie und ihre Teilhabe und Lebensführung von Relevanz sind. Ein Beispiel wären Wünsche und Befürchtungen in Bezug auf das Wohnen im Alter. Wissenschaft ist ein mit (beschränkter) Macht versehenes Teilsystem der Gesellschaft und hat mit ihrer regelgeleiteten Gewinnung von Erkenntnissen eine besondere Funktion und Verantwortung für die Lösung gesellschaftlicher Probleme. Deutlicher gilt es den spezifischen Nutzen partizipativer Forschung herauszustreichen. Zu klären ist, welchen beruflichen Status Co-Forscher*innen mit Behinderung wünschen und welche Alternativen bis hin zu einem sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis angeboten werden können. Co-Forscher*innen sollten in Forschungsprojekten nach einheitlichen Maßstäben für ihre Arbeit entlohnt werden.

Zuverlässige standardisierte Erhebungs- und Beobachtungsinstrumente können gewonnen werden, wenn international übliche und überprüfte Instrumente ins Deutsche übertragen werden (z. B. für die Messung adaptiver Fähigkeiten oder des Ausmaßes an Selbstbestimmung). Die Entwicklung standardisierter Instrumente ist aufwendig, weil oft verschiedene Versionen gestaltet und erprobt werden müssen (z. B.  Fragebogen in leichter Sprache, mündliches Interview oder Onlinebefragung als Alternative, Proxy-Befragungen). Die Ressourcen dafür lassen sich leichter akquirieren, wenn die Instrumente sowohl in der Forschung wie in der Alltagspraxis eingesetzt werden können.

Mehr wissenschaftliche Aufmerksamkeit gebührt Methoden der Entwicklungsforschung. Beispielsweise stehen Design Thinking und Living Laboratories bei der Entwicklung assistiver und digitaler Technologien für Verfahren, die partizipativ und frühzeitig Nutzererfahrung einbeziehen. Methoden der Entwicklungsforschung sind wenig vereinheitlicht und überprüft, was auch die Veröffentlichung der so gewonnenen Ergebnisse in wissenschaftlich anerkannten Zeitschriften erschwert.

Die Auseinandersetzung mit der Zukunft des Wohnens lebt auch von Visionen. Prägnante Bilder und Narrative haben eine motivierende Kraft. Visionen sollen aber nicht reine Utopien bleiben, sondern sich materialisieren in sozial-räumlichen Wohnumwelten und Unterstützungsstrukturen, die es Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung erlauben, ihre Wohnbiographie gemäß ihrer Teilhabeinteressen zu gestalten. Dazu kann die theoretisch, methodisch und empirisch fundierte, auf Interdisziplinarität, Transfer und Partizipation ausgerichtete Wohnforschung orientierungsgebend beitragen.