Zusammenfassung
Mit der UN-Behindertenrechtskonvention und dem Bundesteilhabegesetz stellt sich die Frage neu, wie Lebensräume, Wohnsettings und Unterstützung zu gestalten sind, damit Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung (IB) selbstbestimmt am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Die Art der Wohnsettings, in denen Erwachsene mit intellektueller Beeinträchtigung leben, hat sich stark differenziert. Das Leben in der eigenen Wohnung und in Nachbarschaften sind Wohnoptionen, die auch Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf offenstehen sollen. Für sie sind vielerorts immer noch Wohnheime die einzige Wohnalternative. Zugleich erreichen immer mehr Menschen mit IB ein höheres Alter, in dem die Wohnumwelt an Bedeutung gewinnt. Dieses Buch verfolgt das Ziel, die Forschung zum unterstützten Wohnen und zur Teilhabe von Menschen mit IB für den deutschsprachigen Raum zusammenzufassen und Richtungen für inhaltliche und methodische Weiterentwicklungen zu weisen. Der erste Teil widmet sich der Entwicklung und dem Stand der deutschsprachigen und internationalen Wohnforschung. Im zweiten Teil werden forschungsmethodische Zugänge beleuchtet. Der dritte Teil behandelt innovative und zukunftsweisende Themenfelder der Wohnforschung.
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Mit der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) und dem Bundesteilhabegesetz in Deutschland (BTHG) stellt sich die Frage neu, wie Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung in Deutschland wohnen und ihr Leben führen können und wollen. Wie sind Lebensräume und Wohnumwelten zu gestalten und wie können Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung am besten unterstützt werden, um selbstbestimmt und gleichberechtigt am Leben in der Gesellschaft teilzuhaben?
Artikel 19 der UN-BRK erkennt das Recht von Menschen mit Behinderung an, mit den gleichen Wahlmöglichkeiten wie andere Menschen in der Gemeinschaft zu leben. Sie dürfen nicht dazu gezwungen werden, in besonderen Wohnformen zu leben. Das BTHG hat mit der Personenzentrierung das Ziel, die selbstbestimmte, umfassende und gleichberechtige Teilhabe einer Person mit Behinderung zu unterstützen, unabhängig davon, in welchem Wohnsetting sie lebt. Das Wunsch- und Wahlrecht wird ausdrücklich gestärkt. Die Angemessenheit von Wünschen wird jedoch auch im Hinblick auf die Kosten für vergleichbare Leistungen bewertet. Gleichwohl ist auf Wunsch des/der Leistungsberechtigten dem Wohnen außerhalb von besonderen Wohnformen der Vorzug zu geben (Schrooten und Tiesmeyer 2022).
In den letzten Jahren hat sich die Art der Wohnsettings, in denen Erwachsene mit intellektueller Beeinträchtigung in Deutschland leben, stark differenziert. Große Komplexeinrichtungen wurden zwar nicht systematisch aufgelöst, verlieren aber zahlenmäßig stark an Bedeutung (Thimm et al. 2019). Das Leben in der eigenen Wohnung – sei es allein, zu zweit oder in einer Wohngemeinschaft – und das Leben in Nachbarschaft sind Wohnoptionen, die auch Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf offenstehen sollen. Dass auch erwachsene Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung sehr häufig mit Angehörigen leben, wird in der Politik, in der Fachöffentlichkeit und in der Wissenschaft zu wenig wahrgenommen (Thimm et al. 2019). Gemeindebasierte Wohnheime mit mehr als 20 Bewohner*innen sind in Deutschland vielerorts die einzigen Wohnalternativen, wenn jemand potenziell rund um die Uhr Unterstützung benötigt.
Gleichzeitig erreichen immer mehr Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung ein höheres Alter. Nach dem Ausscheiden aus dem Arbeitsleben gewinnen die Wohnung und die sozial-räumliche Wohnumwelt für die Lebensgestaltung noch mehr an Bedeutung. Ageing in a chosen place meint, an dem Ort alt werden zu können, den man sich wünscht – auch wenn sich Unterstützungsbedarfe qualitativ und quantitativ wandeln.
Angesichts dieser gesellschaftlichen Veränderungen ist es nachteilig, dass die Forschung zum Wohnen von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung in Deutschland zerstreut und unübersichtlich ist und wenig in Kontakt steht mit der internationalen scientific community. So werden die Erkenntnisse internationaler Studien in Deutschland wenig rezipiert und haben wenig Einfluss auf die Gestaltung politischer Entscheidungen. Und gleichzeitig drohen die Erkenntnisse und das methodische Know-how der deutschsprachigen Forschung der letzten Jahrzehnten verloren zu gehen.
Dieses Buch verfolgt das Ziel, die Forschung zum unterstützten Wohnen und zur Teilhabe von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung für den deutschsprachigen Raum zusammenzufassen und Richtungen für inhaltliche und methodische Weiterentwicklungen zu weisen. Der Band wird von Prof. Dr. Friedrich Dieckmann, Theresia Heddergott und Antonia Thimm herausgegeben, die sich von 2017–2020 im Projekt „Unterstützte Teilhabe evaluieren“ mit der aktuellen Wohnforschung zu Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung beschäftigt haben. Das Projekt wurde vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft Nordrhein-Westfalen und der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen (katho) gefördert.
FormalPara Aufbau des Buches und Überblick über BeiträgeFragen, Methoden und Erkenntnisse der Wohnforschung zu Erwachsenen mit intellektueller Beeinträchtigung werden in diesem Band in drei Teilen behandelt.
Der erste Teil widmet sich der Entwicklung und dem Stand der deutschsprachigen und der internationalen Wohnforschung. Im Kap. 2 verorten Friedrich Dieckmann und Antonia Thimm das Wohnen mit Unterstützung als Gegenstand der Teilhabeforschung mit starkem Anwendungsbezug. Geklärt wird, welches Verständnis von Wohnen und Wohnumwelt diesem Band zugrunde liegt. Die aktuellen Wohnsettings mit Unterstützung werden klassifiziert und Angaben dazu gemacht, in welchen Settings Erwachsene mit intellektueller Beeinträchtigung in Deutschland leben. Die Zielkriterien Teilhabe und Lebensqualität ergänzen einander.
Die Wohnforschung der letzten 50–60 Jahre zu Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung in Deutschland wird von zwei ihrer führenden Vertreterinnen, Monika Seifert und Heidrun Metzler, systematisch aufgearbeitet (Kap. 3). Die Forschungsarbeiten werden dabei nicht strikt chronologisch aufgeführt, sondern Leitkonzepten (Normalisierung, Lebensqualität, Selbstbestimmung und Teilhabe, soziale Inklusion und Partizipation) sowie Themen zugeordnet. Anhand einer Analyse der internationalen Forschungsliteratur zum unterstützen Wohnen zeigen Theresia Heddergott und Friedrich Dieckmann im Kap. 4 auf, welche Themen und Fragestellungen mit welchen Methoden bearbeitet werden und welche Erkenntnisse aktueller Forschungsstand sind.
Im zweiten Teil werden zwei forschungsmethodische Zugänge beleuchtet, die das Potenzial haben, die Wohnforschung in Deutschland qualitativ zu erweitern und international anschlussfähig zu gestalten. Im Kap. 5 stellen Antonia Thimm und Friedrich Dieckmann international gebräuchliche, standardisierte Erhebungsinstrumente (Frage- und Beobachtungsbögen) für die Bereiche adaptives Verhalten, Selbstbestimmung, Teilhabe im Sozialraum und Qualität von Unterstützungsleistungen vor. Sie gehen auf den Anwendungsbereich und das Potenzial der einzelnen Instrumente ein. Sofern bekannt wird auf deutschsprachige Versionen hingewiesen. Im Kap. 6 widmet sich Saskia Schuppener der partizipativen Forschung. Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung sollen bereits bei der Erarbeitung von Forschungsfragen, bei der Planung und Durchführung der Forschung sowie der Auswertung und Verbreitung der Forschungsergebnisse beteiligt werden. Was kennzeichnet die partizipative Forschung, welche Ansätze des gemeinsamen Forschens gibt es und welche Erfahrungen wurden gemacht?
Im dritten Teil werden innovative und zukunftsweisende Themenfelder der Wohnforschung zu Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung präsentiert. Friedrich Dieckmann führt im Kap. 7 die internationale Forschung zur sozialen Inklusion und den Ansatz der Sozialraumorientierung in Deutschland zusammen. Die Organisationskultur in Wohndiensten und ihre Veränderbarkeit beschäftigt Forschende weltweit. Im Kap. 8 präsentieren Anna-Maria Behrendt, Claudia Hagedorn, Friedrich Dieckmann und Antonia Thimm u. a. ein aus Australien stammendes Instrument zur Messung der Organisationskultur in Wohndiensten, das ins Deutsche übertragen sowie testtheoretisch und in seiner Anwendbarkeit überprüft wurde. Die deutschsprachige Version (Teamkultur Skala – Wohndienste) wird hier im Anhang zum ersten Mal veröffentlicht. Assistive Technologien sind in der Lage, die Teilhabe und Lebensführung innerhalb und außerhalb der Wohnung zu erleichtern und zu erweitern. Beispiele dafür sind Steuerungsmöglichkeiten durch Haustechnik, Hilfen für die Tagesstrukturierung, Freizeitgestaltung, Unterstützung von Mobilität. Theresia Heddergott und Birte Schiffhauer fassen die Einsatzgebiete und Funktionen assistiver Technologien zusammen und erörtern Herausforderungen für deren Entwicklung, Akzeptanz und Nutzung (Kap. 9). Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung und komplexem Unterstützungsbedarf stehen in der Gefahr, von gesellschaftlichen und fachlichen Innovationen ausgeschlossen zu werden. Vera Munde und Peter Zentel berichten im Kap. 10 über Forschungsergebnisse zu Wohnformen, Wohnwünschen und Umzügen in Bezug auf diesen Personenkreis und zeigen, wie die individuelle Teilhabeplanung und die Sozialraumorientierung angewendet werden können.
Der Band schließt mit einem Ausblick darauf, wohin sich die Teilhabeforschung zum Wohnen von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung bewegen sollte, um ein gesellschaftlich innovatives Potenzial zu entfalten.
Literatur
Schrooten, K. & Tiesmeyer, K. (2022). Wohnen für Menschen mit Komplexer Behinderung. In: K. Tiesmeyer & F. Koch (Hrsg.), Wohnwunschermittlung bei Menschen mit Komplexer Behinderung. Wahlmöglichkeiten sichern (S. 120–137). Kohlhammer.
Thimm, A., Haßler, T., Dieckmann, F. (2019). Wohnsettings von älteren Menschen mit geistiger Behinderung. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, 52 (3), 220–227. https://doi.org/10.1007/s00391-019-01533-3.
Danksagung
Dieses Buch entstand im Rahmen einer Forschungsprofessur des Landes Nordrhein-Westfalen für Friedrich Dieckmann, die dem Herausgeberteam die Gelegenheit gab, frei von anwendungsbezogenen Verwertungszusammenhängen die internationale Wohnforschung zu Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung zu erschließen. Theresia Heddergott und Antonia Thimm waren wissenschaftliche Mitarbeiterinnen in dem mit der Forschungsprofessur verbundenen Projekt „Unterstützte Teilhabe evaluieren“ (UTE, Laufzeit 2017–2020, Förderkennzeichen 005-1703-0020) am Institut für Teilhabeforschung der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen. Das Herausgeberteam hat auch das Lehrforschungsprojekt und die Masterthesis von Anna-Maria Behrendt und Claudia Hagedorn begleitet, in dem die Organisationskultur in Wohndiensten im Mittelpunkt stand. Monika Seifert hat das UTE-Projektteam wissenschaftlich beraten. Wir danken dem Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen und der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen für die großzügige Unterstützung.
Anna-Maria Behrendt hat die Buchbeiträge sorgfältig korrigiert und zu einem Manuskript zusammengeführt. Dafür gebührt ihr großen Dank wie auch Cori Antonia Mackrodt und dem Team vom Verlag Springer VS für die geduldige und unterstützende Begleitung.
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Dieckmann, F., Heddergott, T., Thimm, A. (2024). Einleitung. In: Dieckmann, F., Heddergott, T., Thimm, A. (eds) Unterstütztes Wohnen und Teilhabe. Beiträge zur Teilhabeforschung. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-40448-2_1
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-40448-2_1
Published:
Publisher Name: Springer VS, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-658-40447-5
Online ISBN: 978-3-658-40448-2
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