Den analytischen, ersten Teil meiner Arbeit habe ich genutzt, um die „Box“ meines Forschungsfeldes zu vermessen. Im Mittelpunkt meiner Erkundungen standen erstens der relevante gesellschaftliche Bereich, das Konsumsystem und zweitens der Untersuchungsgegenstand selbst, das Marketing. Im Ergebnis habe ich eine teils völlig neue Sicht auf meinen Forschungsgegenstand gewonnen.

Angesichts der in den beiden Aufstellungen gewonnenen Datenfülle tut ein Erinnern der Ockhamschen Regel – der Regel der Einfachheit – gut. Mit etwas Abstand fällt es leichter, zwischen Zentrum und Peripherie der beobachteten Daten zu unterscheiden. Bevor ich den nächsten Untersuchungsschritt mache, halte ich deshalb noch einmal bewusst inne. Um meinen eigenen „blinden Flecken“ zumindest näherungsweise auf die Spur zu kommen, habe ich meine Reflektionen ergänzt um Perspektiven-Triangulationen mittels Expert:innen-InterviewsFootnote 1 sowie im Rahmen von FachtagungenFootnote 2 und PublikationsprozessenFootnote 3. Auf dieser Basis konkretisiere und – wo nötig – revidiere ich meine initialen forschungsleitenden Fragen und bestimme für den weiteren Untersuchungsverlauf jene Schwerpunkte, die mir besonders geeignet erscheinen, neues konzeptrelevantes Material hervorzubringen.

1 Ein anderes, komplexeres Verständnis von „Nachhaltigkeit“

Gemeinsames Moment der bis hierher entwickelten Thesen ist die Beobachtung, dass Nachhaltigkeit und Wachstum einander widersprechende Ziele sind. Mit diesem Postulat entferne ich mich weit vom klassischen ökonomischen Mindset, das auch für Marketingpraxis und -wissenschaft heute bestimmend ist. Auch einer der zentralen Termini meiner Arbeit wird damit inadäquat und wissenschaftlich unbrauchbar: der Begriff „Nachhaltigkeit“, dessen Semantik im herrschenden Diskurs ja durch das Win-Win-Narrativ geprägt ist. Footnote 4

In den Daten der ersten beiden Aufstellungen erkenne ich jedoch auch bereits eine erste Idee, wie der Nachhaltigkeitsbegriff wissenschaftlich anders zu besetzen und die entstandene semantische Leerstelle – zumindest teilweise – neu zu füllen ist. Die Beobachtungen aus der repräsentierenden Wahrnehmung bestätigen aus meiner Sicht den ressourcenorientierten Nachhaltigkeitsansatz nach Georg Müller-Christ (2014)Footnote 5, der auf der Annahme basiert, dass sich sozial-ökonomische und ökologische Zielsetzungen, „die Eigengesetzlichkeiten aller drei Ressourcenquellen“ (ebd:133) nicht gleichzeitig verfolgen lassen. Mit anderen Worten: Es kann kein grenzenloses Wachstum geben, weil die Ressourcenbasis begrenzt ist. Diese Erkenntnis ist keineswegs trivial, denn sie impliziert – ganz so wie es in der Aufstellung „Konsumsystem“ zu beobachten war – einen grundlegenden Wechsel der Blickrichtung.

Vor diesem Hintergrund müssen „Nachhaltigkeit“ und damit verbundene Begriffe anders und komplexer gedacht werden. Dies gilt auch für die zentrale Kategorie meiner Forschung: für „nachhaltigen Konsum“.

2 Die Rhetorik vom „nachhaltigen Konsum“

Das gegenwärtig herrschende Bild (Abbildung 8.1, links) zeichnet eine Win-Win-Situation zwischen Nachhaltigkeit und Konsum – und somit volkswirtschaftlichem Einkommen: „Nachhaltigkeit durch (immer mehr) Konsum“.

Demgegenüber erkennt der ressourcenorientierte Nachhaltigkeitsansatz einen Zielkonflikt: entweder Konsum oder Nachhaltigkeit. Wie der Kurvenverlauf in der Abbildung 8.1 (rechts) veranschaulicht, führt mehr Konsum zu weniger Nachhaltigkeit. Aus der ressourcenorientierten Perspektive erscheint das Konzept des „nachhaltigen Konsums“ als ein Oxymoron, als ein Begriff, der aus zwei unvereinbaren Größen sinnwidrig zusammengesetzt ist.

Abbildung 8.1
figure 1

(Eigene Abbildung)

Zielkonflikt (rechts) statt Win-Win (links): Das Verhältnis zwischen Nachhaltigkeit und Einkommen entscheidet über Grenzen von Konsum.

Eine neue, konkrete Leitfrage, die sich aus dieser neuen, ressourcenorientierten Perspektive ableitet, ist die nach dem rechten Maß: Welches Konsumniveau ist (noch) möglich, ohne dass mehr Ressourcen verbraucht werden als sich regenerieren können? Mathematisch lässt sich ein „ressourcengerechtes“ Konsumniveau bestimmen durch den Break-even-Punkt, also der Schnittstelle beider Kurven (Abbildung 8.1, rechts).

Ist dieser „tote Punkt“Footnote 6 erreicht, vernichtet jeder zusätzliche Konsum die Ressourcensubstanz. In dem gegenwärtigen Wachstumsmodell werden RessourcengrenzenFootnote 7, z. B. der Wert von 450 ppm als das Restbudget an Treibhausgasen für eine klimaneutrale Wirtschaft bis 2030 (MCC, 2021), konstant überschritten.

Ein ressourcenorientierter Konsum“ ist a priori ein begrenzter Konsum. Dies gilt ganz besonders unter den gegenwärtigen Bedingungen kaum konsistenter Stoffströme, und auch in einer Kreislaufwirtschaft wäre eine Entkopplung von Wachstum und Ressourcenverbrauch so lange nicht möglich, wie die Wachstumslogik ein stetig steigendes Kreislaufvolumen einfordert. Effizienz fällt im Konsumfeld als mögliche dritte Strategie von vornherein aus: Ob nun wiederverwendbare Kaffeebecher, vegane Schnitzel oder Elektro-Autos – all diese modernen, „nachhaltigen“ Konsumgüter entkommen dem Dilemma des Rebound-Effekts ebenso wenig wie schon die mit Kohle betriebene Dampfmaschine.Footnote 8 In der Bilanz steigt der Ressourcenverbrauch, weil „nachhaltiger Konsum“ andere, umweltschädliche Aktivitäten „rechtfertigt“.Footnote 9 Überdies wären die weltweit noch zur Verfügung stehenden Ressourcen zwischen den Ländern des Globalen Nordens und Südens gerecht zu verteilen, womit sich das tatsächliche Restbudget in den wohlhabenden frühindustrialisierten Gesellschaften abermals um ein Vielfaches reduziert. Die Methode des Ausschlussverfahrens lässt die Suffizienz-Strategie ins Blickfeld rücken. Da Konsum jedoch der wichtigste Wirtschaftsmotor ist, wird die Suffizienz-Strategie zu empfindlichen Einkommenseinbußen bei Unternehmen und privaten Haushalten führen.

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, worauf der Fokus bei einer ressourcenorientierten Transformation des Konsumsystems heute, da die planetaren Grenzen bereits sehr stark ausgereizt sind, liegen muss: Im Zentrum transformativen Konsumwandels stehen Fragen des gesellschaftlichen Wohlstands. Diese Aussage wird in der Aufstellung „Konsumsystem“ bestätigt, indem sich der Schwerpunkt des aufgestellten Systems zunehmend zum Einkommenspol verlagert.

Die Transformationsaufgabe, die sich im Konsumkontext stellt, ist das Management der existierenden Diskrepanz zwischen aus Ressourcenperspektive noch möglichem Konsum und aus (wirtschafts- und gesellschafts-)politischer Sicht nötigem Einkommen (Abbildung 8.2, rechts). Der Wirtschaftswissenschaftler Georg Müller Christ (2014:384) beschreibt diese „besondere Herausforderung“ in dilemmabezogenen Entscheidungsprozessen als Bewältigung von „Trade-offs, also der Umgang mit den Wirkungen, die nicht erreicht werden können oder die gar schlechter werden“.

Abbildung 8.2
figure 2

(Eigene Abbildung)

Notwendige Umkehr: Gesellschaftliche Einkommensziele liegen weit jenseits einer ressourcengerechten Konsumgrenze.

Eine zukunftsfähige Transformation des Konsumsystems erfordert letztlich die Abkehr vom (quantitativen) Wachstumsparadigma und damit ein grundlegendes gesamtgesellschaftliches Umdenken. Vor diesem Hintergrund stellt sich meine Annahme, Marketing könne ressourcenorientierten Konsumwandel unterstützen, noch um ein Vielfaches herausfordernder dar.

3 Der Zweck eines anderen, zukunftsorientierten Marketing (I)

Der erweiterte Möglichkeitsraum von Marketing, der sich bis dato in der repräsentierenden Wahrnehmung gezeigt hat, unterstützt meine implizite Vorannahme für diese Arbeit: Marketing verfügt grundsätzlich über das Potenzial, einen zukunftsfähigen, ressourcenorientierten Konsum zu fördern. Mehr noch: Anhand der Aufstellungsbilder lässt sich meine Vermutung noch dahin konkretisieren, dass für einen transformativen Konsumwandel ein grundlegendes Umdenken bezüglich der Wachstumslogik notwendig ist. Zu dieser gesamtgesellschaftlichen Neuorientierung kann Marketing einen wirksamen Beitrag zu leisten.

Am vorläufigen Ende meines ersten Untersuchungsabschnittes steht damit eine (potenziert) kühne These, die eine zentrale Weichenstellung für den weiteren Arbeitsverlauf markiert. Ich bin mir der von nun an erhöhten Gefahr sehr bewusst, dass mir die „Confirmation Bias“ ein Schnippchen schlagen kann, und ich unbewusst immer genau die Daten als Evidenz verwende und selektiv herauspicke, die meine These zum Potenzial des Marketing zu bestätigen scheinen. Deshalb habe ich in den Triangulations-Gesprächen dieser Frage bzw. den entsprechenden Aufstellungssequenzen bewusst viel Raum gegeben.

Meine These provoziert automatisch den Einwurf, wie Suffizienz respektive weniger Konsum je vereinbar sein kann mit einem Marketing, dessen Mission bisher „Werben & Verkaufen“ heißt. „Wie kommt A-Marketing [das andere, ressourcenorientierte Marketing] überhaupt ins Feld?“, formuliert die Expertin im Interview 1 (vgl. elektronisches Zusatzmaterial) und trifft damit einen entscheidenden Punkt. Die Aufstellungsdaten verweisen hinsichtlich dieser Kernfrage auf die Luhmannsche Systemtheorie. Autopoiesis ist hier der Schlüsselbegriff: Ein System kann sich aus sich heraus transformieren, indem es anders auf seine Umwelt reagiert. In der Aufstellung „Das innere Wesen des Marketing“ zeigt sich eine „Autopoiesis par excellence“ (Luhmann, 1984/1991:101): Marketing öffnet sich für das Wissen des Kunden, doch ohne dadurch im Inneren gelenkt zu werden (Abbildung 7.3). Autopoietische Systeme sind autonom, aber nicht autark. Damit liegt der Fokus bei Entwicklungsprozessen nicht auf Eingriffs- bzw. Steuerungsmöglichkeiten eines Systems in ein anderes System. Der Äquivalenzfunktionalismus (Luhmann, 2017:42) fragt stattdessen, welche Funktion bestimmte Systemleistungen bisher erfüllen und durch welche funktional äquivalenten Möglichkeiten diese ersetzt werden könnten. Vor diesem Hintergrund kann ich für meine weiteren Untersuchungsschritte als forschungsleitende Fragen festhalten:

Was ist die ursprüngliche Funktion von Marketing und wie kann Marketing diese Funktion unter den gegenwärtigen Bedingungen erfüllen? Was ist der Zweck eines „anderen, zukunftsorientierten Marketing?

Dass dieser neue Zweck von Marketing nicht das Fördern von mehr „nachhaltigem Konsum“ heißt, muss ich vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen nicht weiter erörtern, möchte dies aber an dieser Stelle als ein nicht unwesentliches Zwischenergebnis nochmals festhalten. Darüber hinaus hat sich in der repräsentierenden Wahrnehmung bereits eine Möglichkeit gezeigt, wie sich Marketing zukunftsfähig und ressourcengerecht ausrichten kann: Ein zukunftsorientiertes Marketing gibt seine bisherige Erwerbslogik nicht auf. Allerdings werden Gewinnziele neu justiert auf ein ressourcengerechtes bzw. „wahres“ Maß. Im Sinne des ressourcenorientierten Nachhaltigkeitsansatzes begreift sich ein zukunftsfähiges Marketingsystem als Teil einer „Haushalts- bzw. Wirtschaftsgemeinschaft“ (Müller-Christ, 2014:178 ff.). Dieses Verständnis als Ressourcengemeinschaft ergibt sich jedoch nicht erst aus einer systemisch-integralen Perspektive (der 2. Tier gemäß Spiral Dynamics), sondern erscheint bereits – im Sinne autopoietischer Selbsterhaltung – aus rein unternehmerischer, erwerbswirtschaftlicher Sicht als Handlungsrationalität: Eine funktionierende Wirtschaft, stabile gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen sowie ein gesundes Klima- und Ökosystem sind nun mal die Basis für unternehmerischen Erfolg.

Der Zweck eines zukunftsorientierten Marketing lässt sich – im Anschluss an das klassische Marketingverständnis einer konsequenten Ausrichtung des gesamten Unternehmens an den Bedürfnissen des Marktes (Kirchgeorg, 2018) – definieren als die konsequente Ausrichtung des gesamten Unternehmens an den Bedürfnissen der (materiellen wie immateriellen) Ressourcengemeinschaft.

Ein zukunftsorientiertes Marketing benötigt eine höhere Sensibilität für seine (Ressourcen-) Umwelt. Denn mit seiner Programmerweiterung im Rahmen eines ressourcenorientierten Mindset rücken vollkommenen neue Fragen ins Blickfeld, wie z. B.: Was bedeutet es – so wie es der Einkommenspol in der Aufstellung „Konsumsystem“ formuliert – satt zu sein? Was ist – in wohlhabenden Konsumgesellschaften – ein „Genug“?

4 Wegweiser für das weitere Vorgehen

Die Rolle von Kund:innen scheint mir ein vielversprechender Ansatzpunkt für die weitere Analyse im anschließenden Hauptteil meiner Arbeit zu sein. Sie erinnern sich, liebe Lesende – in der Aufstellung „Konsumsystem“ sind die Konsumierenden die einzigen Akteure, die unentwegt die Einkommensperspektive im Fokus haben. Doch vor allem fordert das widersprüchliche Bild, das sich in der repräsentierenden Wahrnehmung zeigt – im Konsumsystem passiv und schwach einerseits, als „Wissensressource“ im Marketingkontext andererseits – zum Nachdenken über die „Verbraucherrolle“ auf. Damit wähle ich die – aus meiner Sicht – größte Irritation als Wegweiser für das weitere Vorgehen. Ich möchte an dieser Stelle nicht zu weit vorgreifen, nur so viel vorab: Die beobachteten Unterschiede führen mich zu Antworten, die ich mir zu Beginn meiner Forschungsreise nicht hätte ausmalen können. Zumal ich nicht einmal entsprechende Fragen dazu im Kopf hatte. – Ich lade Sie ein, liebe Lesende, lassen auch Sie sich überraschen und kommen Sie mit auf die nächste Etappe!