Wir leben in einer Konsumgesellschaft (Baudrillard, 1970/2014), genauer: in einer Konsumsteigerungsgesellschaft. Marketing übernimmt darin die Aufgabe, Waren mit Bedeutung aufzuladen und damit ein fortwährendes Bedürfnis nach immer mehr Konsum zu wecken. Unüberschaubar viele – je nach Studie sind es 500 bis 13.000 – Werbebotschaften erreichen Konsumierende heute jeden Tag. Kaum eine andere Branche hat das Potenzial, eine so große Resonanz zu erzielen wie das Marketing. Das gilt nicht zuletzt auch in Bezug auf das finanzielle Volumen: In Deutschland verfügen Unternehmen über ein jährliches Werbebudget von 30 Milliarden Euro, das damit 250 Mal größer ist als das der verbraucherpolitischen Organisationen (Schrader & Fricke, 2015:220). Nach Angaben des Bundesverbandes Digitale Wirtschaft (BVDW) (zitiert nach Nötting & Kalka, 2018:11 f.) wurden in Deutschland im Jahr 2017 für automatisierte Kampagnen sogar 835 Millionen Euro ausgegeben.

1 Erkenntnisinteresse der Aufstellung „Das innere Wesen des Marketing“

Eine erste Aufstellung in der Vorphase meiner Dissertation (Müller-Christ & Pijetlovic, 2018:32 ff.) zeigte, dass im Marketingsystem ein innerer Klärungsprozess ansteht, welche systemische Funktion es jenseits der Umsatzsteigerung geben kann (ebd.:39). Diesen Faden nehme ich mit dieser Aufstellung direkt auf, denn mein initiales Erkenntnisinteresse gilt dem Erkunden des inneren Wesens des Marketing: Liegt die einzig mögliche Seinsform von Marketing (wie es der Titel eines Leitmediums der Branche suggerieren mag) im „Werben & Verkaufen“? Zeigt sich in dieser Rolle bereits sein Wesenskern, seine wesentliche Bestimmung? Oder gibt es Spielräume darüber hinaus, und könnte Marketing auch noch ganz anders (und transformativ) nützlich sein?

2 Steckbrief der Aufstellung „Das innere Wesen des Marketing“

Die Aufstellung „Das innere Wesen des Marketing“ wurde am 27. Juni 2015 in den Seminarräumen eines buddhistischen Zentrums in Berlin realisiert. Die Leitung der Aufstellung hatte Prof. Dr. Georg Müller-Christ. Stellvertretende waren Teilnehmende eines Fortbildungskurses zur Aufstellungsleitung, also in der Aufstellungsarbeit erfahrene Personen.Footnote 1

2.1 Format

Für die Aufstellung wurde das freie Format gewählt, d. h. es wurde kein expliziter Bezugsrahmen, wie bspw. ein kontextspezifisches Spannungsfeld definiert (vgl. Abschnitt 2.3.5). Die Aufstellung wurde doppelt-verdeckt durchgeführt; die Stellvertretenden kannten also weder Kontext noch Rollenzuschreibung. Die Rollen wies ich den Stellvertretenden intuitiv zu. Zur Einweisung legte ich den Stellvertretern jeweils meine rechte Hand auf die Schulter und sagte im Stillen: „Du stehst für…[z. B.] eine prototypische Kund:in in der Konsumgesellschaft.“

2.2 Theoretischer Bezugsrahmen: Das Eisbergmodell

In dem gewählten Format der freien Aufstellung gibt es zunächst einmal keinen expliziten Kontext, wie bspw. eine im Feld ausgewiesene Spannungslogik. Dennoch impliziert das gewählte Format einen Rahmen, in dem sich das Marketingsystem zeigen kann. Denn mit der Annahme eines Wesenskerns des Marketing ist die Hypothese verbunden, dass die aktuellen Prozesse und zukünftige Entwicklungen im Marketing nicht allein von den handelnden Akteuren sowie deren messbaren Ergebnissen bestimmt wird, sondern auch durch Kräfte, die in der Tiefe des Systems wirken.

Die Vorstellung nicht-sichtbarer systemischer Ebenen findet sich in den Organisations- und Managementtheorien, auf die ich mich im Rahmen dieser Arbeit beziehe (vgl. Abschnitt 4.2): in der Spiral Dynamics-Theorie mit den WMemen (Beck & Cowan, 2007/2014) und in der Theorie U mit dem tiefsten Punkt als Quelle des Systems (Scharmer, 2009/2011). Während des Auswertungsprozesses der Aufstellung „Das innere Wesen des Marketing“ hat sich mir als theoretischer Bezugsrahmen – in einem abduktiven Prozess, ohne dass ich überhaupt nach einem solchen gefragt hätte – ein Ordnungssystem angeboten: das Eisbergmodell (Müller-Christ, 2016c).

2.3 Inszenierungsraum

Im Mittelpunkt dieser Aufstellung steht das innere Wesen von Marketing, das repräsentiert über das Element des Ethos auf der tiefsten Ebene im Eisbergmodell zu verorten ist. Der Inszenierungsraum kann sich jedoch grundsätzlich auf allen Ebenen des Eisbergmodells bewegen, da diese nicht klar voneinander abgetrennt sind. Es ist also zu beobachten, auf welcher Ebene sich die Elemente jeweils bewegen und ob sie ihren Dialograum im Aufstellungsverlauf wechseln.

2.4 Elemente

Das Aufstellungssetting umfasst insgesamt fünf Akteure: Ethos, zwei Formen des Marketing sowie Glaubwürdigkeit und Kunde. Die Definition des Elements Ethos ist eine theoretische Setzung, bei der ich mich auf die Annahmen des Eisbergmodells beziehe: Es bezeichnet eine unverrückbare Tiefenstruktur, die Informationen darüber enthält, „zu welchem gehaltvollen Zweck ein System gegründet wurde, welches die ‚ursprüngliche‘ Bestimmung war oder was die Essenz des Systems ist“ (Müller-Christ & Pijetlovic, 2018:98).

Neben dem Ethos stehen im Feld zwei Formen des Marketing. Das erste ist das Marketing in seiner bisherigen Funktion: das klassische erwerbswirtschaftlich-orientierte Marketing (BO-Marketing). Das andere Marketing (A-Marketing) steht für ein „anderes“ Marketing, das Nachhaltigkeit, genauer: den Ressourcenerhalt (Müller-Christ, 2014) im Blick hat.

Glaubwürdigkeit ist von jeher in der Werbepsychologie ein zentraler Aspekt; doch im Nachhaltigkeitskontext wird die sogenannte „credibility“ besonders intensiv und kritisch diskutiert (Stichwort Greenwashing). Das Element Glaubwürdigkeit steht somit für eine von Dritten attribuierte Gültigkeit. In der vorhergehenden Aufstellung „Konsumsystem“ hat sich zudem gezeigt, dass Glaubwürdigkeit bzw. Reputation eine wichtige Handlungsprämisse von Unternehmen darstellt.Footnote 2

Das Element Kunde ist definiert als prototypischer nicht-gewerblicher, privater Abnehmer in der Konsumgesellschaft. „Kund:innen“ und die u. a. in der vorhergehenden Aufstellung „Konsumsystem“ verwendeten Begriffe „Verbraucher:innen“ bzw. „Konsumierende“ bezeichnen dieselbe Akteursgruppe. Die unterschiedlichen Terminologien akzentuieren den jeweiligen Kontext, wie die Gesellschaft für Deutsche SpracheFootnote 3 mit Hinweis auf u. a. das Duden-Synonymwörterbuch ausführt:

„Letztlich kann Kunde als Überbegriff verstanden werden, die Bezeichnung Verbraucher dagegen als eine Unterart des Kunden, die in bestimmten Kontexten anzutreffen ist; (…) Ergänzend führen wir den Hinweis an, dass es sich bei Verbraucher um ein Wort handelt, mit dem Privatpersonen, nicht aber gewerbliche Abnehmer bezeichnet werden.“ (Gesellschaft für deutsche Sprache, 2017)

3 Ablauf der Aufstellung „Das innere Wesen des Marketing“

Die im Folgenden beschriebene Aufstellung des Konsumsystems hatte eine Dauer von 60 Minuten und durchlief insgesamt drei Phasen. In der ersten Phase positionierten sich die Akteure Ethos, BO-Marketing und A-Marketing im Feld. In der zweiten Phase kam Glaubwürdigkeit hinzu. In der dritten Phase trat der Kunde ins Feld.

Die Aufstellung begann mit dem verdeckten Einweisen der Repräsentanten von Ethos, BO-Marketing sowie A-Marketing in ihre Rollen. Dazu erhielten die Stellvertreter:innen jeweils eine Ansteckkarte mit einem Buchstaben. (Die Repräsentanten von Glaubwürdigkeit und dem Kunden wurden jeweils direkt vor dem Eintreten ins Feld verdeckt eingewiesen.) Nach der Rolleneinweisung forderte der Aufstellungsleiter die Repräsentanten auf, sich innerhalb des freien Raumes ihre Position selbst zu suchen, indem sie nur auf ihre innere Wahrnehmung achteten. Die Stellvertretenden hatten bei dieser Aufgabe keinerlei äußere Anhaltspunkte, von denen sie Informationen hätten ableiten können: Sie befanden sich in einem völlig freien Raum und waren ohne Kenntnis darüber, welches Element sie selbst und die anderen Stellvertreter:innen repräsentierten.

3.1 Phase 1: Das System entsteht

Phase 1.1:

  • Die Elemente stellen sich zunächst als Dreieck auf: BO-Marketing steht rechts vom Ethos. A-Marketing steht dem Ethos gegenüber.

  • Ethos erkennt sich als eine „positive“, „eigenständige, „mit der Erde verbundene Kraft“.

  • BO-Marketing beschreibt sich selbst als „etwas Unterstützendes“.

  • Das Verhältnis des Ethos zu BO-Marketing und A-Marketing ist gleichermaßen positiv.

  • A-Marketing sieht sich als eine „bewahrende Kraft“.

  • BO-Marketing verbirgt seine Unsicherheit gegenüber dem Ethos hinter einem „koketten Lächeln“ (Formulierung des Ethos).

  • A-Marketing spürt eine Ambivalenz gegenüber den anderen Elementen. Es fühlt sich von beiden gestärkt und gleichzeitig hat es den Eindruck, jeweils Abstand halten zu müssen.

Phase 1.2:

  • A-Marketing rückt an die rechte Seite von BO-Marketing, um den Abstand zu Ethos zu vergrößern. Ethos positioniert sich gegenüber von A- und BO-Marketing.

  • BO-Marketing war die vorherige seitliche Positionierung von Ethos angenehmer.

  • A-Marketing bezeichnet Ethos als „Gegenpol“: wichtig, doch gleichzeitig gefährlich.

  • Ethos fühlt sich durch das Zusammengehen von A- und BO-Marketing geschwächt. Dennoch bezeichnet es das Gespann als „Ein hübsches Paar“.

Abbildung 7.1
figure 1

(Eigene Darstellung)

A- und BO-Marketing begegnen ihrem Ethos.

Die Abbildung 7.1 zeigt das 3D-Raumbild der initialen Phase mit Invivo-Kodes der Repräsentanten. Die Elemente zeigen in ihren Selbstbeschreibungen eine große Klarheit und definieren zunächst ihre jeweiligen formalen Rollen. A-Marketing leitet den Dialog über auf die Beziehungsebene und beschreibt sein ambivalentes Verhältnis zu den anderen Elementen. In seiner Reflektion der Beziehungen thematisiert es bereits die (Grund-)Spannungsfelder, insbesondere als es das Ethos als seinen Gegenpol bezeichnet. Ethos bestätigt diese Spannungslinie durch seine Positionierung gegenüber von A-Marketing. BO-Marketing zeigt sich weniger reflexionsbereit und bleibt verbal auf der Sachebene.

3.2 Phase 2: Das Element Glaubwürdigkeit kommt dazu

Phase 2.1:

  • Glaubwürdigkeit positioniert sich im gleichen Abstand zu Ethos und dem Paar A- und BO-Marketing.

  • Glaubwürdigkeit sieht seine Aufgabe darin, Ethos zu schützen und erkennt sich selbst als „eine vermittelnde Instanz“.

  • Ethos empfindet Glaubwürdigkeit als Bereicherung. (Ethos bekräftigt dies am Ende der Aufstellung: „Erst die Glaubwürdigkeit macht mein Leben lebenswert!“)

  • Glaubwürdigkeit unterstützt die Liaison von BO-Marketing und A-Marketing: „Ihr ergänzt Euch gut.“

  • Glaubwürdigkeit möchte – gemeinsam – „Bewegung ins System bringen“.

  • BO-Marketing öffnet sich gegenüber Ethos und bittet um ein Orientierungszeichen.

  • Ethos weist diese Aufgabe von sich, macht dennoch einen großen Schritt in Richtung A- und BO-Marketing.

Phase 2.2:

  • Glaubwürdigkeit wünscht sich ein Gegenüber. Allen Elementen ist klar, dass nur BO-Marketing diese Position einnehmen kann. BO-Marketing kommt der Aufforderung nach.

  • Die Elemente formieren sich als ein „Goldenes Rechteck“ (Seitenverhältnis 1:1,6).

  • In dem Rechteck stehen sich auf den Diagonalen jeweils Ethos & A-Marketing sowie Glaubwürdigkeit & BO-Marketing gegenüber.

  • A-Marketing erkennt im Ethos Aspekte seines Selbst: „Jetzt kann ich in Dir das sehen, was ich mich nicht traue zu sein.“

  • BO-Marketing entdeckt im Gegenüber von Glaubwürdigkeit seine Neugier und ist „eher aufgeschlossen für Neues“.

  • Ethos entschuldigt sich, dass es sich in dem Prozessgeschehen so stark engagiert hat – da dies „normalerweise“ nicht seine Natur sei.

Abbildung 7.2
figure 2

(Eigene Darstellung)

Glaubwürdigkeit im Marketingsystem.

Die Abbildung 7.2 zeigt das 3D-Raumbild der Phase 2 mit Invivo-Kodes der Repräsentanten. Glaubwürdigkeit definiert zunächst seine formale Rolle als ausgleichende, vermittelnde Kraft. In dieser Rolle ist Glaubwürdigkeit erfolgreich: Es stärkt die Verbindung von A- und BO-Marketing und schafft auch zwischen Ethos und BO-Marketing mehr Vertrauen und gegenseitige Nähe. Es zeigen sich zwei energiespendende Spannungslinien bzw. Reflexionslinien: GlaubwürdigkeitBO-Marketing sowie Ethos – A-Marketing. Glaubwürdigkeit möchte das System zu einer gemeinsamen Aufgabe bewegen.

3.3 Phase 3: Der Akteur Kunde kommt dazu

Phase 3.1:

  • Der Kunde findet seinen Platz recht zielsicher bei A-Marketing; zunächst an dessen rechter Seite und wechselt – nach dessen freundlicher Aufforderung – auf die linke Seite.

  • Der Kunde ist „ein lebendiges Element“ (Formulierung des Ethos).

  • BO-Marketing merkt an, der Kunde stehe jetzt „an meiner Stelle“.

  • Glaubwürdigkeit beschreibt einen Unterschied: „Stärke und Gewicht. Gerade schlägt die Waage etwas aus.“

  • Ähnlich formuliert A-Marketing: „Du, Kunde, bist eine Unwucht in unserem Gleichgewicht.“

  • Die Reaktionen auf den Kunden sind somit anfangs sehr verhalten. Auf den Vorschlag des Kunden, dass er ja auch wieder gehen könne, intervenieren dann aber alle Elemente ohne Zögern und mit größtem Nachdruck.

  • Alle sind sich jedoch einig, dass der Kunde nicht der „Chef“ von A-Marketing sein soll.

  • Allen Beteiligten ist klar, dass der Kunde über den Plan zum weiteren Vorgehen („die Tagesordnung“) verfügt.

  • Der Kunde bestätigt, „es geht nicht um mich“ und erklärt, er sei „ein Bindeglied“ und eine Hilfe, um „Euren Zweck“ zu erfüllen.

  • Auf Nachfrage des Aufstellungsleiters, wo jener Zweck liege, verweist der Kunde ins Feldinnere: „Ja, ich weiß nicht genau, aber das, was dort [Handbewegung in das Feldinnere] entsteht.“

Phase 3.2:

  • A-Marketing avanciert zur allseits akzeptierten Orientierungsfigur, zum „Muttertier“, zum „Rahmen“.

  • BO-Marketing fühlt sich in der neuen Konstellation in seiner Identität gestärkt: „größer und eigenständig“.

  • Für Glaubwürdigkeit entsteht „eine neue Aufgabe“.

  • BO-Marketing sieht in Glaubwürdigkeit eine „Übersetzerin zwischen Ethos und Kunde“.

  • Ethos ist dafür zuständig, „der gemeinsamen Aufgabe Kraft zu geben“.

  • A-Marketing unterstreicht ebenfalls die gemeinsame Aufgabe: „Nur gemeinsam sind wir eins. Und der Kunde ist das Wissen, das das System braucht.“

Abbildung 7.3
figure 3

(Eigene Darstellung)

Der Kunde im Marketingsystem.

Die Abbildung 7.3 zeigt das 3D-Raumbild der Phase 3 mit Invivo-Kodes der Repräsentanten. Der Kunde bringt die Außenperspektive ins System. Er ist das Bindeglied und verfügt über systemrelevante Informationen. Zugang zum System findet der Kunde über A-Marketing. A-Marketing leitet den gemeinsamen Prozess zur Klärung des Systemzwecks. Ethos unterstützt die gemeinsame Aufgabe mit seiner Energie. Der neue Rahmen erweitert das Systemfeld. Die Aufgabe von Glaubwürdigkeit verändert sich deutlich, und BO-Marketing gewinnt an Größe.

4 Auswertung der Aufstellung „Das innere Wesen des Marketing“

Die Paradigma-Darstellung zur Aufstellung „Das innere Wesen des Marketing“ ist im elektronischen Zusatzmaterial einsehbar.

4.1 Theorie-Memos

Bei der Aufstellung „Das innere Wesen des Marketing“ habe ich ein ganz besonderes Augenmerk auf die Raumsprache gelegt, weil die Aufstellung im freien Format, also ohne expliziten Bezugsrahmen angelegt war. Mit der formenanalytischen Auswertung fiel es mir leichter, die Aussagen der Stellvertretenden zu verorten. Die auf dieser Grundlage in der Paradigma-Darstellung strukturierten Kodierungsansätze führe ich beim Memo-Schreiben zu hypothetischen Ideen aus, die ich wiederum mittels Perspektiven-Triangulation reflektiere. Bei der Aufstellung „Das innere Wesen des Marketing“ nutze ich die triangulierende Perspektive zum einen um die wissenschaftliche Anschlussfähigkeit meiner Analyseansätze zu prüfen zum anderen als Inspirationsquelle in einem spielerisch-kreativen Interpretationsprozess zur Reflektion meiner eigenen berufsperspektivischen Präkonzepte. Im Ergebnis dieses iterativen Auswertungsprozesses entstehen erste, provisorisch-vorläufige Thesen und Ad-hoc-Hypothesen zum „inneren Wesen des Marketing“.

4.1.1 Phase 1: Ethos & A-Marketing

Kategorie: Gegenüberstellung; Ambivalenz

Beobachtung:

A-Marketing spürt eine Ambivalenz gegenüber Ethos und BO-Marketing. Diese könnten zwar hilfreich sein, aber sie sind auch gefährlich. A-Marketing ist daher vorsichtig; insbesondere zur großen Energie von Ethos hält es Abstand. Ethos sucht seinerseits aktiv die Position gegenüber von A-Marketing. Ethos beschreibt sich selbst als positive Energie.

Interpretation:

Dem Marketingsystem wohnt keine genuin zerstörerische Kraft inne. Die Essenz von Marketing ist nicht, für (immer mehr) Konsum zu werben und damit zum Raubbau an Natur und Mensch beizutragen. Auch wenn dies in der Gegenwart die gängige Erscheinungsform des Marketing ist, liegt es im Möglichkeitsraum, dass die hohe Wirkkraft des Marketing auch unterstützend für ressourcen-„bewahrende“ Zwecke zum Einsatz kommen kann.

Wichtig erscheint mir in diesem Bild die Beobachtung, dass der Fokus von Ethos (nicht ausschließlich, aber durchgehend) auf A-Marketing liegt – und umgekehrt. Ich interpretiere dies vorsichtig als einen Hinweis auf das Zukunftspotenzial, welches die Marketingbranche hat, wenn sie sich für einen anderen – nachhaltigen bzw. ressourcen-„bewahrenden“ – Zweck öffnet. Gleichzeitig scheint dies keine einfache Aufgabe zu sein; davon zeugt die Ambivalenz von A-Marketing gegenüber Ethos.

Perspektiven-Triangulation:

Das ambivalente Verhältnis zwischen Marketing und Nachhaltigkeit ist in der Praxis an vielen Beispielen zu beobachten. So leistet die Thematisierung von Nachhaltigkeit im Marketing einerseits einen Beitrag dazu, dass die Thematik gesellschaftliche Resonanz auslöst, m. a. W. „in der Gesellschaft ankommt“. Google zeigt heute (Stand Juli 2021) bei der Suche nach „Nachhaltigkeit“ über 148 Millionen Ergebnisse – allein unter den deutschsprachigen Seiten. Andererseits hat die Entdeckung von „Nachhaltigkeit“ durch das Marketing zu einer inflationären Verwendung des Begriffes beigetragen, indessen Folge „Nachhaltigkeit“ droht, an Bedeutung und Wirkung zu verlieren. So reichen die Wortschöpfungen von „nachhaltigen Thunfisch“ über „nachhaltige Fernreisen“ bis hin zum „nachhaltigen Auto“. Robert Engelman (2013:3 f.), ehemaliger Präsident des Worldwatch Institutes berichtet, dass es im Englischen für die häufige und unangemessene Verwendung bereits ein eigenes Wort gebe: sustainababble. Das Kunstwort leite sich zum einen ab von „babble“; englisch für inhaltloses Gebrabbel, zum anderen vom Turmbau zu Babel. – In der biblischen Erzählung zwingt die Sprachverwirrung bekanntlich zur Aufgabe des Projektes.

These WM.1:

Die große Wirkkraft des Marketing ist weder genuin negativ noch zerstörerisch. Insofern hat eine Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten einer anderen, transformativen Ausrichtung des Marketingsystems grundsätzlich Zukunftspotenzial. Die Herausforderung ist jedoch anspruchsvoll und verlangt zu Recht nach Respekt.

4.1.2 Phase 1: Ethos & BO-Marketing

Kategorien: ausweichend (in Koketterie)

Beobachtung:

BO-Marketing versucht, seine Unsicherheit gegenüber dem Ethos hinter einem „koketten“ Lächeln zu verbergen. BO-Marketing steht dem Ethos nicht gern direkt gegenüber; die anfängliche seitliche Positionierung war dem Element lieber.

Interpretation:

Das Adjektiv kokett leitet sich ursprünglich vom französischen coquet ab und bedeutet wörtlich „hahnenhaft, eitel wie ein Hahn“ (DWDS, o. J.). Im Alltagsgebrauch hat sich eine negative Konnotation herausgebildet. Im 19. Jahrhundert wird „Kokette“ assoziiert mit „gefallsüchtiges, leichtfertiges Mädchen“ und – wortstammverwandt – „Kokotte“ mit Prostituierter. Der Vergleich von Marketing mit Prostitution ist tatsächlich ein oft bemühtes Bild. So schreibt Pierre Rabhi (2015:20), Autor von „Glückliche Genügsamkeit“, Werbung sei eine „Kurtisane, die [dem Konsumenten] mit vorgegaukeltem Charme immer ekstatischere Freuden verspricht“. – Hinter dieser Polemik steckt die Realität, dass Marketing natürlich „gefallen“ muss, um sich in einem sich immer schneller wandelnden Umfeld aus gesättigten Märkten, Kostendruck und Digitalisierung behaupten zu können. Unter immer höheren Einsatz der ihr zur Verfügung stehenden Mittel (Absatzfördermaßnahmen, Rabattierungen, mehr oder minder offene Manipulationen des Kaufverhaltens etc.) und immer neuer Instrumente (psychografisches Targeting, Micro-Influenzer-Marketing, Native Advertising etc.) versucht die Branche, weiterhin die „Gunst“ bei den Zielgruppen – und damit an Wirkkraft – zu gewinnen.

In dem koketten, ausweichenden Verhalten des BO-Marketing, das vom Ethos thematisiert wird, kann ich aktuelle Entwicklungen in der Marketingbranche wiedererkennen: Die öffentliche Kritik an Marketing respektive Werbung hat in jüngster Zeit stark zugenommen. Omnipräsent, als spielfilmunterbrechende Werbeblöcke im Fernsehen oder Werbe-Pop-ups, die das ganze Smartphone-Display blockieren, kommt Marketing bei den Kund:innen immer schlechter an. Vom Überdruss zeugen u. a. die in vielen Städten initiierten Anti-Werbung-Kampagnen, wie u. a. berlin-werbefrei, die zum Ziel haben, den öffentlichen Raum von Außenwerbung zu befreien.

Trotz dieser alarmierenden Zeichen weicht die Branche einer offenen Ist-Stand-Analyse aus, um der abnehmenden Akzeptanz von Marketing auf den Grund zu gehen. Zumindest ist es mein subjektiver Eindruck, dass eine Konfrontation mit den Ursachen für das Schwinden der eigenen Wirkkraft (Ethos) bisher ausgeblieben ist. Stattdessen feiert sich die Branche selbst(gefällig) mit zahlreichen „Kreativ-Awards“ (W&V, o. J.), die als Erfolgsindikator immer wichtiger werden.

Perspektiven-Triangulation:

Über die nachlassende Effizienz von Marketingmaßnahmen existieren zahlreiche Untersuchungen. Exemplarisch greife ich Zahlen einer aktuelle Branchenstudie (Nötting & Kalka, 2018:11 f.) heraus: Bei digitalen Werbekampagnen erreichten nur 15 bis 20 Prozent wirksam die definierte Zielgruppe. Das bedeute, dass von den 835 Millionen Euro, die laut dem BVDW im Jahr 2017 für automatisierte Kampagnen in Deutschland ausgegeben wurden, bis zu 710 Millionen Euro vergeudet würden. Überdies ist Online-Marketing sehr energieintensiv; im Jahr 2016 summierte sich der Energieverbrauch auf bis zu 282 TWh. Das entspricht rund einem Viertel des gesamten Internet Energieverbrauchs und 60 Mio. t CO2 (Pärssinena et al., 2018).

Die Zahlen illustrieren, dass die Marketingbranche alles andere als nachhaltig aufgestellt ist; sie arbeitet weder ressourcenschonend noch ist sie effizient. In den einschlägigen Fachmagazinen finden sich hingegen nur selten Berichte, in denen die bisherige Zielrichtung vom Marketing grundsätzlich hinterfragt wird. Eine der wenigen kritischen Stimmen ist Oliviero Toscani (2018). Der italienische Fotograf, der u. a. von 1982 bis 2000 die Motive der Benetton-Werbekampagnen entwarf, beobachtet in der Kreativbranche Marketing eine Tendenz zur Konformität:

„Werber und Werbeagenturen haben ihre Seele ans Geld verkauft, das sind für mich Prostituierte. Und dann halten sie sich auch noch für total wichtig, gockeln rum und denken, sie wären irgendwer. (…) Ihnen fehlt der Blick in die Zukunft, sie wenden sich von ihr ab. (…) Werbung wie sie heute ist, ist tot. Sie muss sich ändern, wenn sie überleben will.“ (Toscani, 2018)

These WM.2:

Das herkömmliche Marketing droht Opfer seiner eigenen „Gefallsucht“ zu werden. Um nicht noch weiter an Wirkkraft zu verlieren, ist eine (Selbst-)Reflexion unausweichlich. Die Branche muss sich fragen: Was ist die Essenz von Marketing; die wesentliche Bestimmung unseres Tuns?

4.1.3 Phase 1: A-Marketing & BO-Marketing

Kategorie: Liaison von A- & BO-Marketing

Beobachtung:

Die Liaison von A-Marketing mit BO-Marketing erscheint auf dem ersten Blick als das in Dreier-Beziehungen typische Herstellen einer dualistischen Ich-Du-Perspektive: als Koalition zum Schutz gegen die große Energie von Ethos. – Die weitere Entwicklung in dem Aufstellungsbild legt jedoch nahe, dass es noch tiefere systemische Gründe für die Liaison gibt: Die Verbindung schwächt das Ethos, und dennoch nennt es die beiden „ein hübsches Paar“. Auf die besondere Bedeutung der Liaison wird im weiteren Aufstellungsverlauf noch mehrfach hingewiesen. So im nächsten Bild (Abbildung 7.2) als Glaubwürdigkeit bestätigt, dass BO-Marketing und A-Marketing einander gut ergänzten. Oder im letzten Bild (Abbildung 7.3) als BO-Marketing daran erinnert, dass sein eigentlicher Platz an der Seite von A-Marketing sei.)

Interpretation:

Die Positionierung von A-Marketing an der rechten Seite von BO-Marketing deutet in formenanalytischer Lesart darauf hin, dass die Nachhaltigkeitsperspektive aus betriebswirtschaftlicher Sicht eine attraktive Ressource darstellt. Eine Verbindung zwischen einem ressourcenorientierten Marketing mit dem herkömmlichen betriebswirtschaftlichen Marketing ist so, wie sie sich in diesem Bild zeigt, jedoch (noch) nicht ideal. Denn ein bloßes Aneinanderreihen der beiden Marketingansätze wird schnell zum sogenannten „Greenwashing“ respektive „Bluewashing“, wie viele empirische Beispiele (Lyon & Montgomery, 2015) belegen. Aus einer kurzfristigen betriebswirtschaftlichen Sicht mag sich eine solche Kommodifizierung von Nachhaltigkeit rechnen – mit dem guten Gewissen der Verbraucher:innen sind höchste Gewinne möglich –, doch mittelfristig ist dies keine Erfolgsstrategie im Marketing. In der Aufstellung zeigt sich die Problematik u. a. in der Schwächung des Ethos infolge des Zusammengehens von A-Marketing mit BO-Marketing. – Dennoch scheint in einer Verbindung der betriebswirtschaftlichen mit einer ressourcenorientierten Ausrichtung im Marketing ein zukunftsweisender Schlüssel zu liegen. Worin die „Attraktivität“ dieser Liaison liegt, bleibt für mich – anders als für Ethos – in diesem Bild noch verborgen.

Perspektiven-Triangulation:

„Grün“ lohnt sich für Unternehmen – aus einer kurzfristigen Perspektive. So ist der Preisunterschied zwischen Bio-Produkten und konventioneller Ware nicht immer allein in den höheren Produzentenpreisen begründet. Handelsmargen können bei Bio-Produkten um ein Vielfaches höher als der Produzenten-Preisaufschlag sein: Die französische Verbraucherorganisation L ‘ Ufc-Que Choisir (2017) berichtet, dass z. B. bei Tomaten die Gewinnspanne bei „bio“ im Vergleich zur konventionellen Ware um bis zu 145 Prozent höher liegt. Aber auch indirekt können Nachhaltigkeitsimages zum Umsatz eines Unternehmens und zur Differenzierung im Wettbewerb beitragen. Laut Branchenstudien (Biesalski & Schöpfer, 2017) kann eine gute Reputation bezüglich Nachhaltigkeit ein reales Umsatzplus von bis zu 13 Prozent erklären. Allerdings: Dieses Potenzial wird von Unternehmen nur selten ausgeschöpft. Gerademal bei vier der insgesamt 104 untersuchten Unternehmen aus 16 Branchen ist ein gutes Nachhaltigkeitsimage für mehr als zehn Prozent ihres Umsatzes verantwortlich. (Alle vier Unternehmen stammen aus der Lebensmittel-Branche: Hipp, Frosta, Alete und Iglo.) Die Mehrzahl der untersuchten Unternehmen und Branchen erhält unterdessen eine kritische bis sehr kritische Bewertung von ihren Kund:innen bezüglich Nachhaltigkeit. (ebd.)

Aus einer herkömmlichen betriebswirtschaftlichen Perspektive fällt die Bilanz von „Nachhaltigkeit im Marketing“ deshalb auch eher negativ aus: „Nachhaltigkeit allein verkauft sich nicht“ – schreibt z. B. der W&V-Redakteur Thomas Seldeck (2018) in einem Bericht zur Automobilbranche:

„Das Thema Nachhaltigkeit fehlt in keinem Geschäftsbericht der großen Autobauer. Und was ist mit der Unternehmenskommunikation und dem Marketing? Statt grüner Gewissensentlastung verkauft man lieber Fahrspaß – aus gutem Grund.“ (Seldeck, 2018:21)

Auch für die Umwelt sind positive Effekte durch „Grünes Marketing“ empirisch nicht nachweisbar. So kommt das Umweltbundesamt in einer Marktanalyse (Steinemann et al., 2017) zum Ergebnis, dass der boomende Absatz grüner Produkte keine Umweltentlastungen mit sich bringt:

„Grüne Produkte haben in den letzten Jahren weiter zugelegt. Sie konnten bis auf wenige Ausnahmen nicht nur den Umsatz steigern, sondern auch Marktanteile hinzugewinnen. Die schlechte Nachricht lautet hingegen, dass sich dieser Markterfolg nicht in sinkenden Umweltbelastungen, namentlich in sinkenden konsumbezogenen CO2-Emissionen der verschiedenen Konsumbereiche widerspiegelt.“ (Steinemann et al., 2017:52)

Dazu passt die Beobachtung der Unternehmenspraxis von Yvon Chouinard, Chef der Outdoormarke Patagonia:

„Sobald Firmen eine bestimmte Größe übersteigen, kriegen sie oft das Profit-First-Syndrom. Ich kenne so viele Konzerne, die behauptet haben: Wir machen unser Geschäft grün. Tatsächlich ist das fast immer Greenwashing. Sie pflücken die tiefhängenden Früchte und machen, was ihnen noch mehr Profit bringt, zum Beispiel recyceln sie Pappkartons. Wenn sie hingegen eine Entscheidung treffen müssen, die einfach nur das Richtige ist und Profit kostet, schrecken sie davor zurück.“ (Chouinard, 2017)

These WM.3:

Ein zukunftsweisender Schlüssel im Marketing liegt in einer Verbindung der herkömmlichen betriebswirtschaftlichen mit einer anderen, ressourcenorientierten Ausrichtung. Allerdings kann ein Marketing, das für „Nachhaltigkeit“ antritt, sich dann aber unreflektiert in den Dienst des klassischen, absatzorientierten Marketing stellt, keine zukunftsorientierte Wirkung entfalten. Im Gegenteil, daraus resultierende Phänomene wie Greenwashing respektive Bluewashing schwächen die Wirkkraft von Marketing – sowohl hinsichtlich betriebswirtschaftlicher als auch hinsichtlich möglicher transformativer Ziele.

4.1.4 Phase 2.1: Ethos & Glaubwürdigkeit

Kategorien: essenzielle Ressource für Ethos; vermittelnde Instanz

Beobachtung:

Ethos erkennt in Glaubwürdigkeit eine „Bereicherung“ für das System; sie sei essenziell, wie Ethos später, in Phase 2.1 präzisiert („Erst die Glaubwürdigkeit macht mein Leben lebenswert!“). Glaubwürdigkeit bestätigt, dass es seine Aufgabe sei, Ethos zu schützen und gibt einen Hinweis darauf, auf welche Weise es dieser wichtigen Aufgabe nachkommt: „Ich bin eine vermittelnde Instanz. Ich möchte etwas in Bewegung bringen und dabei möglichst alle mitnehmen.“

Interpretation:

In der repräsentativen Wahrnehmung bestätigt sich die essenzielle Bedeutung von Glaubwürdigkeit bzw. Reputation für Unternehmen(skommunikation) (vgl. These KS. 7; Abschnitt 6.4.1.3). Die formanalytische Interpretation unterstützt diese Lesart. Glaubwürdigkeit ist in der Position links vom Ethos eine Ressource, die von Ethos angenommen wird. Als essenzielle Ressource ist Glaubwürdigkeit – so interpretiere ich das Bild – kein normatives Postulat, sondern hat vielmehr die Qualität einer überlebenswichtigen Handlungsrationalität: Die Kraftquelle des Marketing – das Ethos – wird durch Glaubwürdigkeit gespeist.

Glaubwürdigkeit ist ein entscheidender Faktor dafür, ob Kommunikation beim Rezipienten ankommt oder nicht. Im Marketing ist Glaubwürdigkeit nicht der Wahrheit verpflichtet, sondern – so lese ich die Wortaussage – pragmatisch „vermittelnd“: „bewegen und dabei möglichst alle mitnehmen“. Damit ist der Maßstab für Glaubwürdigkeit im Marketing ein anderer als bei anderen medialen Akteuren im Konsumsystem: Im Journalismus gilt das Kriterium der „objektiven Wahrheit“. Im Marketing herrscht bei der Wahl der Mittel eine größere (wenn auch nicht grenzenlose) kreative Freiheit: Wahrheit und Übertreibung, Sein und Schein, ernsthaft und humorvoll – erlaubt ist alles, was gefällt, sprich: alles, was bei der Zielgruppe die gewünschte Resonanz erzeugt. So kommt es zu dem Paradoxon, dass Marketing als „glaubwürdig“ gelten kann, auch wenn sie nicht „die Wahrheit“ zeigt.

Perspektiven-Triangulation:

Das besondere Verhältnis des Marketing bzw. der Werbung zur Wahrheit hat bereits Niklas Luhmann (1995a/2017) beobachtet. Für den Soziologen war das der Werbung entgegengebrachte Vertrauen nur schwer nachvollziehbar:

„Nach der Wahrheit die Werbung. Im gesamten Bereich der Massenmedien gehört Werbung zu den rätselhaftesten Phänomenen. Wie können gut situierte Mitglieder der Gesellschaft so dumm sein, viel Geld für Werbung auszugeben, um sich ihren Glauben an die Dummheit anderer zu bestätigen?“ (Luhmann, 1995a/2017:60)

Niklas Luhmann überzeichnet an dieser Stelle sicher bewusst, um auf die gesellschaftliche Funktion von Werbung hinzuweisen (Kohring & Borchers, 2013:223). Nach Luhmann prägen massenmediale Bilder, wie sie Nachrichten, Berichte und eben auch Werbung konstruieren, maßgeblich die gesellschaftlich relevante Realität. Dies ändere sich auch nicht, wenn bekannt sei, dass es sich im Fall von Werbung um eine Scheinwelt handele:

„Die Werbung sucht zu manipulieren, sie arbeitet unaufrichtig und setzt voraus, dass das vorausgesetzt wird.“ (Luhmann, 1995a/2017:60)

Diese systemtheoretische Sicht wird von Marketern geteilt. Zum Beispiel, wenn Eva Reitenbach (2019), Geschäftsführerin von Oddity in Berlin Kommunikation, ausführt, dass Marketingkommunikation akzeptieren müsse, dass sie durchschaut werde. Ähnlich argumentiert Karen Heumann (2009) in ihrer Antwort auf die Frage, ob „Werbung“ immer noch etwas mit Manipulation zu tun habe – dabei argumentiert die damalige Strategievorständin der Hamburger Werbeagentur Jung von Matt nur berufsbedingt positiver als der Bielefelder Soziologe:

„Aber ja! Manipulation in ihrem verdeckten Sinne trifft es aber nicht ganz: Gute Werbung macht ihren Job mit offenem Visier. Die Furcht, manipuliert zu werden, die Vance Packard vor langer Zeit mit seinen ‚Geheimen Verführern‘ schürte, ist vorbei. Die Menschen [...] wissen: Das ist Werbung. Die will mich verführen. Tut sie das auf unterhaltsame, interessante Weise, lassen sich Menschen heute auch gerne darauf ein.“ (Heumann, 2009)

These WM.4:

Marketing bezieht seine Stärke aus seiner Glaubwürdigkeit. Um als glaubwürdig zu gelten, muss Marketing jedoch keineswegs gesellschaftlich anerkannte Wahrheiten abbilden, sondern es muss Bilder zeichnen, die (der jeweiligen Zielgruppe) gefallen. Kurzum: Wenn Marketing wirkt, ist es glaubwürdig; und nur vielleicht auch „wahr“.

4.1.5 Phase 2.2: Diagonale im Rechteck

Kategorie: Selbsterkenntnis; Wunsch nach Entwicklung

Beobachtung:

Die Elemente formieren sich als „Goldenes Rechteck“ (Seitenverhältnis 1:1,6), bei dem sich auf den Diagonalen jeweils Ethos & A-Marketing sowie Glaubwürdigkeit & BO-Marketing gegenüberstehen. A-Marketing erkennt im Ethos Aspekte seines Selbst: „Jetzt kann ich in Dir das sehen, was ich mich nicht traue zu sein.“ BO-Marketing entdeckt angesichts von Glaubwürdigkeit seine Neugier und Aufgeschlossenheit für Neues.

Interpretation:

Auf den Diagonalen zeigen sich die logischen Spannungsfelder im Marketingsystem. Gemäß den dem Eisbergmodell zugrundeliegenden Gesetzen sozialer Systeme (Müller-Christ & Pijetlovic, 2018:86 ff; vgl. ausführlich Müller-Christ 2016c) sind Polaritäten wichtige Entwicklungsachsen. Nach dieser Lesart gibt das Aufstellungsbild Hinweise darauf, wo der Fokus bei einer zukunftsorientierten Weiterentwicklung des Marketingsystems liegen muss: auf den Entwicklungslinien zwischen einerseits A-Marketing und Ethos und andererseits BO-Marketing und Glaubwürdigkeit.

Eine reine Formenanalyse führt mich zu derselben Interpretation. Die Formation des „Goldenen Rechtecks“ (vgl. ausführlich Abschnitt 15.2) interpretiere ich als selbstreferentielles Momentum; im Sinne Luhmanns als Ausdruck von Sinn, jener „Differenz von gerade Aktuellem und Möglichkeitshorizont“ (Luhmann, 1984/1991:100). So tauchen mit Eintritt von Glaubwürdigkeit erstmals Fragen nach dem Sinn auf: Das Marketingsystem beginnt, seinen systemischen Möglichkeitshorizont zu reflektieren. Sinn im Luhmannschen Sinne „porträtiert nicht Welt, er formiert sie“ (Emlein, 2012:372).

Auch mathematisch gesehen ist durch eine Diagonale das komplette Rechteck rekonstruierbar. Die Rechteck-Formation ermöglicht den beiden Marketing-Elementen tiefe (Selbst-)Erkenntnis.Auf den Diagonalen finden sie im jeweiligen Gegenüber ihre maßgebende Reflexionsinstanz. Unterstützt wird diese Interpretationslinie auch von den Wortaussagen der Stellvertretenden. So erkennt auf der einen Seite A-Marketing im Ethos eine eigene, bisher verd(st)eckte Qualität. Auf der anderen Seite kann das betriebswirtschaftliche BO-Marketing über die Auseinandersetzung mit der Instanz Glaubwürdigkeit wieder Vertrauen in die eigene Kraft („Vertrauen in Ethos“) und Offenheit „für Neues“ entwickeln.

Die erste Reflexionslinie verweist auf die Zukunftsaufgabe von Marketing, das eigene transformative Wirkpotenzial zu eruieren und ggf. entsprechende anschlussfähige Konzepte zu entwickeln. (Im nächsten Aufstellungsbild wird diese Aufgabe definiert.) Ich denke hier vornehmlich an (Pionier-)Unternehmen, deren Zweck nicht die Gewinnmaximierung ist, sondern – aus tiefster Überzeugung und innerster Quelle – einen sinnvollen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten: einen Purpose. Eine andere Sicht auf Marketing – die Analyse hinsichtlich dessen Potenzials für transformativen Wandel – kann diesen Unternehmen neue Möglichkeiten eröffnen, ihre gemeinwohlorientierten Ziele zu erreichen.

Die zweite Reflexionslinie konkretisiert meine vorherige These zum Ist-Zustand der Werbebranche. Wie ich zu These WM.2 ausführe, ist insgesamt eine nachlassende Werbewirkung zu beobachten, was jedoch von der Branche nur unzureichend reflektiert wird. Vor dem Hintergrund des zuvor herausgearbeiteten Zusammenhangs von Glaubwürdigkeit und Wahrheit im Marketing (vgl. These WM.4) lese ich das Aufstellungsbild als Hinweis darauf, dass die Legitimationskrise des Marketing nicht in einem Mangel an Authentizität begründet ist, sondern vielmehr in einem Mangel an tatsächlich „Neuem“.

Perspektiven-Triangulation:

Viele Unternehmen, die gemeinwohlorientiert wirtschaften wollen – namentlich Social Entrepreneurs und Postwachstum-Unternehmen, wie z. B. Premium Cola – verzichten bewusst auf Marketing. Dieses Diktum sei jedoch „ein ziemliches Hindernis, wenn es darum geht bekannter zu werden“, lautet auch das Resümee des Getränkeherstellers. Die Social Entrepreneure schreiben auf ihrer Website, dass sie daher in Zukunft nicht mehr komplett auf Marketing verzichten wollen. Allerdings sehen sie dabei ein grundsätzliches Dilemma:

„Wir wollen nur letztere [Pull-Kommunikation, also solche, die sich der Empfänger aktiv = freiwillig „zieht “] anbieten und hoffen [sic!] dass das gesehen wird; die meisten Menschen machen sich allerdings schon kaum bewusst Gedanken über Werbung [sic!] die sie sehen (und die durch stetige Belästigung leider auch wirkt), geschweige denn über Werbung [sic!] die sie nicht sehen ...“ (Premium Cola, o. J.)

Auch etablierte Player in der Nachhaltigkeitsbranche, wie die US-amerikanische Outdoormarke Patagonia, die sich bereits seit 1985 für Umweltschutz einsetzt, verzichten auf größere Werbebudgets, wie Alex Weller (2019), Marketing Director Europe in einem Brancheninterview berichtet:

„Wir haben nur ein kleines klassisches Werbebudget, das auf langjährige Partnerschaften mit einer ausgewählten Anzahl spezifischer Outdoor-Sportmedien ausgerichtet ist. Der Austausch mit Kunden aus der Outdoor-Sportbranche bleibt ein wichtiger Teil der Kommunikation. Ansonsten investieren wir weniger in Massenmedien. Und ich kann mir auch kein Szenario vorstellen, in dem sich das ändert. [Hervorhebung von mir] Denn in unserer Strategie spielen wie gesagt digitale Medien eine sehr wichtige Rolle. Die Kombination aus unseren Events, der Erstellung von Inhalten darüber und der digitalen Verbreitung dieser Inhalte ist alles, was wir brauchen, um uns mit unserer Community zu verbinden.“ (Weller, 2019)

Die Marketingbranche leidet an einem Problem; dem ihrer Glaubwürdigkeit. Im klassischen Marketing ist vor diesem Hintergrund eine „Renaissance des Vertrauens“ (Diekhöner, 2018:3 ff.) zu beobachten. Tatsächlich ist der Vertrauensbegriff eine recht junge Erscheinung im Marketing, der erst seit den letzten fünfzehn Jahren Verwendung findet (Kenning, 2018:92; Suchanek, 2018:431). Die Zeiten fantastischer Scheinwelten sei zu Ende, argumentiert auch Florian Haller (2017), CEO der Serviceplan Group, eine der größten inhabergeführten Werbeagenturgruppen in Europa:

„Gerade Marken, für die früher phantastische Scheinwelten und großspurige Claims ersonnen wurden, müssen heute ehrlicher und transparenter agieren denn je. In der heutigen als „postfaktisch“ gebrandmarkten Zeit, in der das zynische und gesellschaftlich gefährliche Geschäft mit Fake News floriert, dürfen sie sich nicht in den immer stärker werdenden Sog der Unglaubwürdigkeit hineinziehen lassen. Der Schaden an Kundenvertrauen und Umsatz wäre enorm. Stattdessen müssen sie Misstrauen standfest bekämpfen, mit wahrhaftiger, authentischer Kommunikation. Kluges Content-Marketing wird hier eine zentrale Rolle spielen.“ (Haller, 2017)

Die Beobachtung, dass Kund:innen hochtrabender Werbeversprechen überdrüssig sind, ist zweifelsfrei richtig. Der Grund dafür sind jedoch nicht die „fantastischen Scheinwelten“ an sich. Vor dem Hintergrund des zuvor herausgearbeiteten Zusammenhangs von Glaubwürdigkeit und Wahrheit im Marketing (vgl. These WM.4) – ist m. E. die Analyse einer „Versprechensinflation“ treffender, wie sie z. B. auch Matthias Horx (2015) vorträgt. Der Zukunftsforscher sieht verkaufsfördernde Scheininnovationen – im Zuge derer bspw. Rasierklingen zu „Dreifach-Vierfach-Achtfach-cross-cool-turbo-vibrations-Rasierklingen“ avancieren – als ursächlichen Kern der Legitimationskrise des Marketing:

„Der eigentliche Kern des Marktverhältnisses blieb auf der Strecke. Das Vertrauen. Die Veränderung. Das reale Neue.“ (Horx, 2015)

Ein augenfälliges Beispiel für solch verkaufsfördernde Scheininnovationen ist der E-Scooter. Empirische Studien widerlegen die Versprechungen der Anbieter, die Fahrzeuge würden den Straßenverkehr entlasten. Das Umweltbundesamt (2020) kommt zu dem Ergebnis, dass E-Scooter momentan keinen Beitrag zur Verkehrswende leisten würden. Auch andere Studien können durch die E-Scooter keine Vorteile für die Umwelt belegen. Gemäß einer in den Medien (u. a. Krohn, 2019) zitierten empirischen Studie aus Frankreich steigen nur acht Prozent der Nutzer:innen vom Taxi oder dem eigenen Auto auf den E-Scooter um. Alle anderen wären ohne E-Scooter umweltschonend zu Fuß gegangen (fast 50 Prozent), mit dem ÖPNV (rund ein Drittel) oder mit dem Rad (knapp 10 Prozent) gefahren. Die als „Mobilität für die letzte Meile“ beworbenen Gefährte erweisen sich damit als eine Schein-(Effizienz-)innovation.

These WM.5:

Ein essenzielles Evaluationsthema im Marketing heißt Glaubwürdigkeit. Um wieder an Wirkkraft zu gewinnen, muss sich das herkömmliche absatzorientierte Marketing öffnen für tatsächlich Neues. Kern der Krise ist nicht die Inszenierung von Scheinwelten, sondern vielmehr das Werben für Scheininnovationen, die für Kund:innen ohne Mehrwert und ohne Zusatznutzen sind.

These WM.6:

Ein anderes Marketing unterstützt (Pionier-)Unternehmen, deren Zweck nicht die Gewinnmaximierung ist, sondern einen sinnvollen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten. Marketing könnte diesem Zweck dienen. In der Praxis herrscht jedoch viel Misstrauen gegen „Werbung“ vor. Hier gilt es, Vorurteile abzubauen – sowie vor allen Dingen mit zukunftsorientierten Konzepten zu überzeugen.

4.1.6 Phase 3.1: Kunde

Kategorien: (Wissens-)Ressource; Außenperspektive

Beobachtung:

Der Kunde ist „ein lebendiges Element“ und „das Wissen, das wir brauchen“ (Formulierung des Ethos). Der Kunde bringt als „Bindeglied“ die Außenperspektive ins System und verfügt über systemrelevante Informationen. Er ist weder Anweiser (nicht der „Chef“), noch ist er die Aufgabe selbst („Es geht nicht um mich.“), seine Aufgabe sei vielmehr zu „helfen, dass Ihr Euren Zweck erfüllt.“ Auf die Frage des Aufstellungsleiters, ob vielleicht noch etwas hinter dem Kunden stehe, weist dieser vor sich, in die Mitte des Feldes: „Ja, ich weiß nicht genau, aber das, was dort [Handbewegung in das Feldinnere] entsteht“.

Interpretation:

Meine erste Intuition bei der Auswertung dieses Bildes war, dass sich hier eine zusätzliche Betrachtungsebene öffnet. Auch jetzt, in der reflektierten Analyse erscheint es mir plausibel, dass ich an diesem Punkt meinen theoretischen Bezugsrahmen erweitere und den Auftritt des Kunden auch aus einer systemtheoretischen Perspektive betrachte:

Der Kunde trägt als ein von den aufgestellten Marketingelementen verschiedenes, „lebendiges Wesen“ und „Bindeglied“ – eine Außenperspektive ins Feld. In dieser Sequenz zeigt sich eine gegenseitige Durchdringung personaler und sozialer Systeme, wie sie mittels der Luhmannschen Systemanalyse (durchausFootnote 4) abgebildet werden kann.Aus einer systemtheoretischen Sicht erkenne ich im Wechsel des Kunden von der rechten zur linken Seite von A-Marketing eine Allegorie des „crossing“ (Spencer-Brown, 1969/1997:1), das die Beobachtung der anderen Seite ermöglicht. Der Kunde ist in dieser Lesart ein Beobachter 2. Ordnung, der nützlich ist, um „blinde Flecken“ im Marketingsystem aufzudecken.

Stimmig zu dieser Interpretationslinie ist die raumanalytische Betrachtung: Dem Kunden wird keine übergeordnete Führungsrolle (rechte Seite von A-Marketing) zugestanden. Nach dem Wechsel auf die linke Seite erkennt A-Marketing im Kunden jedoch eine (Wissens-)Ressource, die dann auch intern regulierend wirkt.

Vor diesem Hintergrund lese ich die Sequenz als eine Abkehr vom herkömmlichen Anbieter-Nachfrager-Dualismus. Die Wortaussage von Ethos, der Kunde sei ein lebendiges Wesen, nehme ich als direkten Verweis auf eine aktivere, vitalere Rolle von Kund:innen: Es geht um den Kunden als ganzen Menschen (Kopf, Herz und Hand) und nicht nur um dessen funktionelle Rolle (Kaufen).

Perspektiven-Triangulation:

Kund:innen sind eine wichtige Informationsquelle für Unternehmen. In der Literatur wurde das Innovationspotenzial von Kund:innen als erstes von Eric von Hippel (1988; 2005) beschrieben. Der US-amerikanische Ökonom und Professor an der MIT Sloan School of Management postuliert, dass „Unternehmen für den Innovationsprozess zunehmend an Bedeutung verlieren und sich langfristig ein neues Innovationsparadigma etablieren wird, dass durch Kollaboration unterschiedlicher Akteure und Modularität von Produkt- und Systemarchitekturen gekennzeichnet ist: das Modell der open collaborative innovation (vgl. Baldwin/von Hippel 2011)“ (zitiert nach Blättel-Mink & Menez, 2015:184). Auch andere Studien bringen empirische Belege, dass Kund:innen bei der Entwicklung von Innovationen effizienter sind als Unternehmen (Hienerth et al., 2014; Sichel & von Hippel, 2019).

Mit Blick auf soziale, ökonomische und ökologische Nachhaltigkeit wird die kollaborative Wertschöpfung in der Literatur kritisch hinsichtlich möglicher Chancen und Risiken diskutiert, u. a. von Koen Frenken und Juliet Schor (2017) sowie Gerd Scholl et al. (2018). C. Otto Scharmer und Katrin Käufer (2014) skizzieren in ihrem im Praxisband zur Theorie U ein Chancen orientiertes Denkmodell für eine veränderte Rolle von Kund:innen:

„Stünden die Kunden hingegen am Ausgangspunkt der Pipeline, wäre der Anfang des Wertschöpfungsprozesses durch eine gemeinsame Bewertung ihrer wahren Bedürfnisse, einschließlich der Bedürfnisse von denen, die in der Gesellschaft marginalisiert sind, gekennzeichnet. Das Ergebnis wäre eine größere Chancengleichheit zwischen Produzenten und Konsumenten/Verbrauchern, womit auch für beide Gruppen die Chance auf einen offenen, transparenten und inklusiven Dialog verbunden wäre – ein gemeinsamer Ausgangspunkt für Innovation und Unternehmensentwicklung.“ (Scharmer & Käufer, 2014:143 f.)

Diese Argumentationslinie findet sich auch beim US-amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler Philip Kotler (Kotler et al., 2010; 2017). Der Vordenker eines modernen Marketing postuliert die Entwicklung eines Marketing, das einen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und ökologischen Beitrag leistet. In diesem Zusammenhang beschreibt er auch eine Neuausrichtung in den Kundenbeziehungen, die sich u. a. am Übergang von den klassischen vier Ps hin zu den vier Cs festmachen ließe:

“In a connected world, the concept of marketing mix has evolved to accomodate more consumer participation. Marketing mix (the four P’s) should be redefined as the four C’s (co-creation, currency, communal activation, conversation.” (Kotler et al., 2017:50)

These WM.7:

Das Marketingsystem ist zukunftsfähig, wenn es ihm gelingt, seinen paradigmatischen Kern – die Kunden- und Marktorientierung – zu revitalisieren bzw. zu transzendieren: Ein Marketing, das Nachhaltigkeit bzw. die drängenden globalen Herausforderungen im Blick hat, heißt Konsumierende als Marktteilnehmer:innen in einer anderen, vitaleren Rolle willkommen. Der herkömmliche Anbieter-Nachfrager-Dualismus wird abgelöst bzw. ergänzt von einem offenen Wissensaustausch.

4.1.7 Phase 3.2: System

Kategorien: Erweitertes Systemfeld; veränderter Rahmen

Beobachtung:

Zunächst zeigt sich das Marketingsystem starr gegenüber dem Kunden. Infolge der Offenheit von A-Marketing werden auch die anderen Elemente zugänglicher für das „Wissen“ von außen. Im Zuge dieses Prozesses weitet sich das Systemfeld. Die Elemente des Marketingsystems verstehen, dass nun ein neues gemeinsames Aufgabenfeld entstanden ist. Es sei jetzt die Zeit zum Handeln, konstatiert Ethos. – Aus dieser Sequenz ergibt sich eine spannende Frage: Worin besteht diese zukünftige gemeinsame Aufgabe – „Euer Zweck“ (Kunde) –, bei der Kund:innen dem Marketing helfen können?

Interpretation:

Die Frage, worin die (neue) gemeinsame Aufgabe des Marketingsystems liegen könnte, kann – so deute ich das Zurücktreten aller Akteure um einen Schritt – aus einem erweiterten Blickwinkel beantwortet werden: Die bisherige kurzfristige, vorrangig auf Gewinn fokussierte Sicht im Marketing transzendiert zu einer zeitlich und räumlich erweiterten Perspektive. Die basale Konzeptionsgrundlage von Marketing sind jetzt nicht mehr ausschließlich betriebswirtschaftliche Daten, es sind jetzt zuvörderst gesamtgesellschaftliche Kennzahlen. Diese Interpretation wird unterstützt durch die Aussage von BO-Marketing „Der Kunde steht an meiner Stelle“.

Auch aus einer systemtheoretischen Perspektive präsentiert sich das Marketingsystem als ein Funktionssystem, dessen Systemzweck (auch) gesamtgesellschaftlicher Natur sein kann. Denn in der Sequenz zeigt sich in der „Selbstbeweglichkeit des Sinngeschehens … Autopoiesis par excellence“ (Luhmann, 1984/1991:101). Das Marketingsystem erhält einen Input von außen (übermittelt vom Kunden als „Bindeglied“), doch ohne dadurch im Inneren gelenkt zu werden: Der Kunde ist nicht der „Chef“. Vielmehr reagiert das System begrenzt offen gegenüber dem Kunden und selbstreferenziell, gemäß seinen eigenen Strukturen. Der klare Verweis des Kunden in die Mitte des Systems als Entstehungsort der neuen Aufgabe unterstreicht sinnbildlich diese Unterscheidung zwischen Selbstreferenz und Fremdreferenz in autopoietischen Systemen.

In dem Bild zeigt sich somit nicht weniger als ein veritabler Paradigmenwechsel. Die beobachtete Entwicklung des Marketingsystems bedeutet den Bruch mit dem aktuell herrschenden Monopol der Neoklassik. Damit kann Marketing sich dem ursprünglichen Zweck wirtschaftlicher Unternehmung wieder annähern: dem Gemeinwohl. Ökonomie – wie auch Ökologie – ist etymologisch zurückzuführen auf den griechischen Begriff oikos und hat damit im ursprünglichen Wortsinne das Wohl der Haus- und Wirtschaftsgemeinschaft zum Ziel (Müller-Christ, 2014:115 ff.; Richarz, 1991).

In der beobachtbaren Handlungslogik eines autopoietischen System erweist sich Marketing als ein System, das gesamtgesellschaftlich positiv wirken kann. In der Sequenz erkenne ich jedoch nicht, dass in dieser Wirkung die zukünftige gemeinsame Aufgabe – der Zweck – des Marketingsystems begründet ist. Denn der Kunde ist sehr klar in seiner Aussage, dass die Aufgabe weder ihn selbst noch etwas anders im Außen betreffe, sondern nur „das, was dort [Handbewegung in das Feldinnere] entsteht“.

Bevor ich auf diesen Aspekt eingehe, möchte ich festhalten, dass sich Ethos bereit erklärt, die neue gemeinsame Aufgabe mit „meiner Kraft“ zu unterstützen. Das bedeutet, der beobachtete Paradigmenwechsel steht nicht im Widerspruch zum wesentlichen Zweck von Marketing; im Gegenteil: Marketing ist bereit, transformativen Konsumwandel zu fördern.

Perspektiven-Triangulation:

Marketing hat also das Potenzial, einen Beitrag zum Gemeinwohl leisten? Existiert gar ein gesamtgesellschaftliches Bedürfnis nach Marketing? Diese Fragen sind nicht so absurd, wie sie für manche zunächst klingen mögen und sie werden in der Forschung kontrovers diskutiert. So zeigt sich in der systemtheoretischen Literatur zwar die Tendenz, Marketing bzw. Werbung nicht als ein autonomes soziales Funktionssystem einzuordnen, sondern als Teil der „Massenmedien“ (Luhmann, 1995a/2017), als Teil der Wirtschaft (Schmidt, 1991) oder als Programmbereich eines jeden sozialen Systems (Kohring & Borchers, 2013; Hoffjann, 2007). Doch es gibt auch Autoren, die Marketing bzw. Werbung die Eigenschaft der Autopoiesis attribuieren, wie z. B. der deutsche Medienforscher Guido Zurstiege (2007; vgl. Kohring & Borchers, 2013:227 ff.). Der Vorstellung eines gesellschaftlichen Bedarfs an Marketing bzw. Werbung widersprechen Matthias Kohring und Nils Borchers (2013:232) mit folgender systemtheoretischer Begründung:

„Ein autonomes Funktionssystem Werbung wäre ein unabhängiges System, das ganz bestimmte Anschlusskommunikationen bzw. Anschlusshandlungen in anderen Systemen zur Teilnahme empfiehlt. Dazu müsste Werbung die Sinnstruktur dieser Systeme simulieren können, ohne ihnen zu folgen. Worin könnte aber das gesamtgesellschaftliche Interesse bestehen, unabhängig vom betroffenen System, aber dennoch aus dessen Perspektive und in dessen Interesse über dessen jeweils systemspezifische Anschlusskommunikationen zu befinden? [Hervorhebung von mir] Wir sehen diesen gesellschaftlichen Bedarf nicht.“ (Kohring & Borchers, 2013:229)

Diese Analyse haben die Medien- und Kommunikationswissenschaftler Kohring & Borchers mit Blick auf das klassische betriebswirtschaftlich-orientierte Marketing verfasst. Vor dem Hintergrund der Aufstellungsbilder lese ich das Zitat nicht als systemtheoretische Argumentation gegen die Möglichkeit von Marketing als autopoietisches System; vielmehr erscheint mir die von mir beschriebene Aufstellungssequenz als eine erste Antwort auf die im obigen Zitat formulierte Frage, nach der Möglichkeit eines gesamtgesellschaftlichen Interesse nach Marketing.

Anschlussfähigkeit meiner Lesart der Aufstellungsdaten entdecke ich überdies bei den Überlegungen von Andreas Suchanek (2018), ein Schüler des deutschen Wirtschaftsethikers Karl Homann. Zur Frage einer zukünftigen Perspektive bzw. wünschenswerten Ausrichtung im Marketing führt er die Spielmetapher mit der Differenzierung des Theologen James P. Carse (1986) ins Feld, der endliche von unendlichen Spielen unterscheidet:

„Im Fall des endlichen Spiels ist es die Leitidee, das Spiel zu gewinnen, im Fall des unendlichen Spiels die der Fortsetzung des Spiels mit der Sicherung von Randbedingungen. Die Differenz beider Perspektiven zeigt sich vor allem darin, dass bei der ersten Perspektive die Voraussetzungen, in die das Spiel eingebettet ist, nicht thematisiert werden – aus dem plausiblen Grund: denn der Fokus ist auf den Gewinn des Spiels gerichtet. Demgegenüber rücken bei der zweiten Perspektive diese Voraussetzungen mit in den Blick, mehr noch: auch die künftigen Voraussetzungen künftiger Spiele, die durch das heutige Handeln beeinflusst werden (können), werden Gegenstand der Betrachtung.“ (Suchanek, 2018:432)

Auch die auf Nachhaltigkeitsmarketing spezialisierten europäischen Wissenschaftler Frank-Martin Belz und Ken Peattie (2012) führen aus, dass ein „Marketing der Zukunft“ das bisherige Mindset – die herrschende gewinn- bzw. absatzmaximierende Denkweise – endgültig überwinden wird:

„The debates about postmodern marketing, marketing panaceas and the various forms of ‘new’ marketing share a common theme: the marketing of the future will have to be different from the marketing of the past. In a world that is coming to understand the social and environmental consequences of the unsustainable economic growth of the twentieth century, it is clear that we need alternative approaches to production and consumption for the future. Changing our production and consumption systems cannot be achieved without changing marketing mindsets and practices, and forever abandoning the assumption that the issue at the root of marketing activity is ‘how to sell more stuff to people’ [Hervorhebung von mir].“ (Belz & Peattie, 2012:15 f.)

These WM.8:

Ein zukunftsorientiertes Marketingsystem richtet sich neu aus. Die bisher dominierenden kurzfristigen betriebswirtschaftlichen Ziele werden innerhalb eines neuen Bezugsrahmens eingeordnet, der nach Kennzahlen des (globalen) Gemeinwohls ausgerichtet ist. Ein solcher Paradigmenwechsel steht nicht im Widerspruch zum wesentlichen Zweck von Marketing; im Gegenteil: Marketing ist von seinem inneren Wesen her zur Transformation bereit.

These WM.9:

Marketing verfügt über ein besonderes Potenzial für transformativen Konsumwandel. Es kann einen Beitrag zu der notwendigen Umorientierung der Gesellschaft in sozialer, wirtschaftlicher sowie technologischer Hinsicht leisten.

4.1.8 Phase 3.2: Beziehung von A-Marketing und BO-Marketing

Kategorien: Muttertier; eigenständige Kraft

Beobachtung:

Die Beziehung von A- und BO-Marketing untereinander gewinnt an Klarheit, wie BO-Marketing formuliert: „Ich bin eine Identität, die Du, A-Marketing, jetzt viel besser wahrnimmst. Ich nehme Dich jetzt auch viel besser wahr.“ Mit der neuen Ausrichtung des Systems fühlt sich BO-Marketing „als etwas Eigenständiges“ und „größer“. – Diese Aussage erscheint zunächst paradox, angesichts der Tatsache, dass BO-Marketing infolge der Führungsübernahme von A-Marketing relativiert wird.

Interpretation:

In dieser Sequenz klären sich die Identitäten von BO-Marketing und A-Marketing. AO-Marketing vertritt die Rationalität der Haushaltsökonomie bzw. Substanzerhaltung (Nachhaltigkeit). Ihre Aufgabe ist es, die Ressourcensubstanz zu erhalten (vgl. Selbstauskunft des Elementes in Phase 1.1; Abbildung 7.1: „Ich bin eine bewahrende Kraft.“) BO-Marketing dient dazu, den wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens zu unterstützen – „Ich bin etwas Unterstützendes“ (ebd.). – und ist dem Erwerbs- bzw. Effizienzprinzip verpflichtet. Damit wirken im Marketingsystem zwei unverträgliche Polaritäten, denn auf Dauer ist es unmöglich, gleichzeitig die Ressourcenbasis zu erhalten und ein Maximum an Ertrag herauszuholen (Müller-Christ, 2014:421). Aus dieser Konstellation ergibt sich ein schwieriges Spannungsfeld.

In der repräsentierenden Wahrnehmung zeigt sich nun eine Möglichkeit, mit diesem Spannungsfeld umzugehen, und zwar frappierend genauso, wie es Georg Müller-Christ als Voraussetzung eines Sustainable Leadership beschrieben hat: Ein Ausbalancieren zwischen den beiden Polen funktioniere „nur dann, wenn Haushaltsökonomie als Rationalität für alle Ressourcenarten mehr Bedeutung verschafft wird und zugleich das Erwerbsprinzip in seiner überhöhten Bedeutung relativiert wird“ (Müller-Christ, 2014:421). Genau dies ist in der Aufstellungssequenz zu beobachten, als A-Marketing zum „Muttertier“ avanciert und den neuen (Bezugs-)„Rahmen“ bestimmt.

Nach dieser Lesart zeigt sich als zukünftige Herausforderung des Marketingsystems, das unternehmerische Ziel zu unterstützen, sowohl effizient mit den Ressourcen umzugehen als auch mit diesen zu haushalten. „Ökonomische Zweisprachigkeit“ nennt Georg Müller-Christ (ebd.:420) diese Fähigkeit. In der Gegenwart hingegen stellt sich das Marketingsystem weitgehend als ein rein materiell-orientiertes System dar und folgt als solches einer „relativ einfachen Erfolgslogik: Hauptsache der Output stimmt und die Zwecke werden maximal erreicht“ (Müller-Christ & Pijetlovic, 2018:70). Diese einseitige Zielausrichtung ignoriert die Haushaltlogik. Aus dieser Indifferenz des Marketing gegenüber seiner Umwelt ist eine Krise erwachsen (vgl. These WM.5), die aus einer haushälterischen, ganzheitlich-systemischen Perspektive nur logisch ist: Wenn Ressourcen auf Dauer schneller verbraucht werden als sie sich regenerieren können, wird wirtschaftlicher Erfolg zunehmend schwierig.

Vor diesem Hintergrund wird die beobachtete Paradoxie erklärlich, dass BO-Marketing mit der neuen (Unter-)Ordnung unter A-Marketing an „Größe“ gewinnt und wieder als „eigenständige Kraft“ wirken kann: Die Erweiterung der Perspektive auf den Erhalt der Ressourcenbasis schafft die Voraussetzung dafür, dass Marketing seine betriebswirtschaftlichen Ziele wieder – und auch dauerhaft – erreichen kann.

In dem neuen weitsichtigeren Mindset des Marketingsystems entfalten sich Effizienz und Nachhaltigkeit als zwei eigenständige, doch voneinander abhängige, komplementäre Rationalitäten: „Beide können nur leben in der vollständigen Anerkennung des anderen, der Unterschiedlichkeit und des Dilemmahaften“ (Müller-Christ, 2014:420). Sie stehen in einem antagonistischen Verhältnis zueinander, bei dem beide einander ergänzen und wirkungsvoll zusammenspielen – ähnlich wie zwei Muskeln im Körper oder wie Licht und Schatten. Die ökonomische Syntax eines anderen, modernen Marketing ist zweisprachig.

In diesem dritten Bild finde ich somit schlussendlich eine Erklärung für die irritierende Beobachtung aus Phase 1, als Ethos die Liaison aus BO-Marketing und A-Marketing als ein „schönes Paar“ beschreibt.

Wichtig erscheint mir an dieser Stelle noch die Feststellung, dass eine zukunftsorientierte Neuausrichtung des Marketing weder ein moralisches Gebot der gesellschaftlichen Verantwortung – wie auch die Wortaussage des Kunden „Es geht nicht um mich“ attestiert – darstellt und auch in keinem profitorientiertem Business Case begründet ist. Die Inspektion des Marketing durch eine ressourcenorientierte Nachhaltigkeitsperspektive ist zunächst einmal eine rationale, das eigene System erhaltende Entscheidung.

Perspektiven-Triangulation:

Die Beobachtung eines Spannungsfeldes im Marketingsystem findet Anschluss an Analysen von Philip Kotler. Der US-amerikanische Wirtschaftstheoretiker beschreibt bereits in Marketing 3.0, dass sich ein modernes Marketing im Spannungsfeld zwischen unternehmerischer Verantwortung und Rentabilität bewegen wird.

“Over the past 60 years, marketing has moved from being product-centric (Marketing 1.0) to being consumer-centric (Marketing 2.0). Today we see marketing as transforming once again in response to the new dynamics in the environment. We see companies expanding their focus from products to consumers to humankind issues. Marketing 3.0 is the stage when companies shift from consumer-centricity to human-centricity and where profitability is balanced with corporate responsibility.“ (Kotler et al., 2010: xif.)

Philip Kotler beschreibt die Balance zwischen Rentabilität und unternehmerischer Verantwortung als neue Herausforderung im Marketing. In einem ähnlichen Sinn argumentieren die deutschen Marketingwissenschaftler Manfred Kirchgeorg und Manfred Bruhn (2018) hinsichtlich einer „gesellschaftlichen Transformationsfunktion des Marketing“:

„Die Verantwortung für eine nachhaltige Entwicklung der Weltgemeinschaft führt in der Marketingdisziplin zu der Notwendigkeit, Theorien, Modelle und Instrumente in den Dienst eines beschleunigten Wandels zu stellen. (…) Letztlich kommt hierin die Verantwortung für die langfristige Sicherung der Wohlfahrt von Kunden und Gesellschaft zum Ausdruck. Dies betrifft somit die Langfristperspektive der Kundenorientierung [Hervorhebungen von mir].“ (Kirchgeorg & Bruhn, 2018:443)

Auch die Marketingwissenschaftler Frank-Martin Belz und Ken Peattie (2012) beschreiben einen neuen konzeptionellen Rahmen von Marketing, der sich aus einer Nachhaltigkeitsperspektive ergibt und begründen diesen mit einem systemerhaltenen Aspekt für das Marketingsystem selbst:

“The economies and lifestyles that the global consumer class enjoys at the beginning of the twenty-first century are achieved at the expense of others and are not sustainable. It is a simple, if often overlooked, truism, that if something is not sustainable then it cannot be sustained. A new approach to economics, business and marketing for the future is required, and that approach needs to be more sustainable. This requires us to reframe marketing principles, practice and education from the perspective of sustainability, however uncomfortable that feels to marketers and consumers (…) [Hervorhebungen von mir].“ (Belz & Peattie, 2012:315)

These WM.10:

Die ökonomische Syntax eines zukunftsorientierten Marketing ist zweisprachig. Es hat den Willen und die Fähigkeit ausgebildet, sowohl erwerbsökonomisches als auch haushaltsökonomisches Handeln als zwei widersprüchliche Rationalitäten zu erkennen. Das antagonistische Wechselspiel der beiden Polaritäten ist für die Struktur eines zukunftsorientierten Marketing wesentlich.

These WM.11:

Der Rahmen eines anderen, zukunftsorientierten Marketing wird durch das Ziel des aktiven Ressourcenerhalts bestimmt. Das neue Mindset ist nicht zuletzt – im Sinne autopoietischer Selbsterhaltung – eine wirtschaftlich rationale Entscheidung: Es sichert die eigene, existentielle Ressourcenbasis.

4.1.9 Phase 3.2: Funktion von Glaubwürdigkeit

Kategorien: neue Aufgabe; Übersetzerin zwischen Ethos und Kunde

Beobachtung:

Glaubwürdigkeit fühlt sich in der neuen Konstellation anders gefordert: „Meine Ausgleichsfunktion wird jetzt weniger gebraucht. Für mich gibt es eine neue Aufgabe.“ – BO-Marketing beschreibt die Aufgabe von Glaubwürdigkeit als „Übersetzerin zwischen Ethos und Kunde.“

Interpretation:

Aus systemtheoretischer Sicht nimmt ein System seine Umwelt nur als ein irritierendes „Rauschen“ (Luhmann) wahr. Relevante Informationen entstehen erst durch die systeminterne Interpretation. Diese Aufgabe übernimmt im Marketingsystem Glaubwürdigkeit als „Übersetzerin“ zwischen Innen (Ethos) und Außen (Kunde).

Das klassische betriebswirtschaftliche Marketing benötigt diese Übersetzungsleistung für Markt- und Kundendaten: Welche Auswirkungen haben z. B. Preisentwicklungen auf dem Rohstoffmarkt, Gesetzesänderungen oder Konsum-Trends für den eigenen Absatzmarkt? Dafür zuständig ist die Marktforschung. Mit einem Marketing, das auch Nachhaltigkeit bzw. die Herausforderungen der globalen Vielfachkrise im Blick hat, rückt nun neben der Angebotsseite auch die Beschaffungsseite in den Analysefokus: Die „neue Aufgabe“ von Glaubwürdigkeit besteht jetzt zusätzlich darin, ein besseres Verständnis von der eigenen Umwelt zu entwickeln. Die erweiterte Perspektive ermöglicht dem Marketingsystem die Beobachtung der eigenen Wirkungen – also eine Beobachtung 2. Ordnung; Marketing kann analysieren, ob es womöglich gesellschaftliche oder ökologische Nebenwirkungen (externe Kosten) verursacht, die von der Umwelt nicht (länger) toleriert werden. Dies betrifft gleichermaßen materielle und immaterielle Ressourcen und reicht von z. B. der Verunstaltung öffentlichen Raums durch Werbetafeln über die Verbreitung bestimmter Stereotype, die soziale Ungleichheiten verfestigen, bis hin zur THG-Bilanz der beworbenen Produkte. Diese Kontrolle der sozialökologischen Rückwirkungen ist für (autopoietische, selbstreferentielle) Systeme essenziell, weil sie ermöglicht, aktiv in den Ressourcenerhalt zu investieren und somit die für das eigene Überleben wichtige Ressourcenbasis zu sichern.

Die ökologische Tragfähigkeit der Erde ist dabei genauso eine Ressource wie die soziale Belastbarkeit der Gesellschaft und wie die ökonomische Entwicklungsfähigkeit der Wirtschaft. Aus dieser Ressourcenperspektive lebt eine Gesellschaft dann nachhaltig, wenn sich alle ressourcenverbrauchenden Systeme haushaltsökonomisch verhalten: So begreift sich auch ein zukunftsorientiertes Marketing als Teil eines größeren Systems. Aus der erweiterten Perspektive ergibt sich ein neues Aufgabenfeld in der Praxis eines zukunftsorientierten Marketing: Es muss die wahren Kosten seines Handelns in den Blick nehmen, und zwar indem es die existenzgefährdenden Rückwirkungen seines Umfeldes kontrolliert. Nur so kann das Marketingsystem seine Existenzberechtigung, seine „licence to operate“ behalten. Dementsprechend formuliert Ethos: „Erst die Glaubwürdigkeit macht mein Leben lebenswert“.

In systemtheoretischer Lesart definiert Marketingsystem mit der Perspektiverweiterung seine System-Umwelt-Grenze neu. Das System erhält über die Kontrolle existenzgefährdender Rückwirkungen Informationen über die „wahren“ Kosten seines eigenen Handelns: ob die Kosten im Produktionsprozess, die der Umwelt auferlegt werden, für diese noch tragbar sind oder nicht. Der bisherige, auf Glaubwürdigkeit basierende Code des klassischen absatzorientierten Marketing („zahlen vs. nicht zahlen“) bleibt dabei im Prinzip erhalten. Die spezifische Selektivität eines zukunftsorientierten Marketing kann gelesen werden als „tragbar vs. untragbar“ für die Systemumwelt.

Damit wird deutlich, dass die Qualität von Glaubwürdigkeit tiefer als die Beziehungsebene (vgl. Eisbergmodell; Abbildung 4.2) reicht: Sie ist im Marketingsystem eine essenzielle Handlungsrationalität und erfasst auch systemische Zusammenhänge. Bei Glaubwürdigkeit im Marketing geht es also nicht „nur“ darum, verspieltes Vertrauen der Kund:innen wiederzugewinnen, zur Aufgabe gehört auch, die eigenen Umweltbelastungen zu kontrollieren und den materiellen und immateriellen Lebensgrundlagen des Marketingsystems ausreichend Zeit zur Regeneration zu verschaffen.

Perspektiven-Triangulation:

Beim Blick in die Marketingliteratur finde ich viele Hinweise darauf, dass Konzepte zu Glaubwürdigkeit bzw. Vertrauen in Wirtschaft und Marketing zunehmend in den Fokus rücken (Kenning, 2018:92; Suchanek, 2018:431). Allerdings wird Glaubwürdigkeit hier diskutiert auf der Beziehungsebene und – soweit ich es überblicke – nicht auf der Systemebene.

Aus der Sicht der modernen Managementlehre beschreibt jedoch Georg Müller-Christ (2014:423 ff.), dass Unternehmen hinsichtlich der Ressource Legitimität neue Kompetenz erwerben müssten. Hinweise darauf, dass dies in der Praxis auch bereits ansatzweise geschehe, macht er in der CSR-Diskussion aus:

„Aus der Sicht der modernen Managementlehre ist die CSR-Diskussion ein Indikator dafür, dass die Überlebensbedingungen von Unternehmen sich ändern. Aus der ehemaligen Formel ‚Überleben durch Gewinn!‘, die letztlich alles Handeln auf Marktstrategien reduziert, muss langsam eine Managementstrategie werden, die der Formel folgt: Überleben durch Legitimation (Remer, A. (2009)). Ansatzweise wird dies in der Praxis schon als ‚licence to operate‘ bezeichnet (Hansen, U./Schrader, U. (2005)).“ (Müller-Christ, 2014:112)

Wie bereits weiter oben ausgeführt, ist in der Literatur umstritten, ob es sich bei Marketing um ein soziales Funktionssystem handelt (Kohring & Borchers, 2013:229) und somit überhaupt über eigene Selektionsmechanismen verfügt, um autonom (selbstreferentiell) auf gesellschaftliche Veränderungen zu reagieren. Meine obige Interpretationslinie bezüglich Glaubwürdigkeit unterstützt meine Annahme von Marketing als autopoietisches System.

Daraus folgt eine Frage, die sich auf die Systemtheorie selbst bezieht, nämlich ob eine semantische Erweiterung der Codewerte – wie von mir behauptet – überhaupt grundsätzlich konsistent zum systemtheoretischen Denken ist. Diese Frage hat der Bildungsforscher und Systemtheoretiker Franz Kasper Krönig (2007:33 f.) positiv beantwortet. Er wertet die Unentschiedenheit von Niklas Luhmann in dieser Frage als implizite Bestätigung:

„Interessant ist, daß Luhmann selbst in dieser Frage nicht so eindeutig gegen eine Varibalität des Codes argumentiert, wie man das vielleicht erwarten würde. (…) Bemerkenswert ist, daß er sich nicht gegen die Möglichkeit eines Austausches von Codewerten – eine im Übrigen sehr weitgehende Modulation – wendet, sondern lediglich, diese also zugestehend, gegen den Erfolg solcher Änderungen. (…) Man kann vermuten, daß Luhmanns evolutionstheoretisches Denken (diachron) hier mit seinem kommunikationstheoretischen Ansatz (synchron) ringt.“ (Krönig, 2007:33)

Der Soziologe Christian Schuldt führt zu der Frage aus, dass Funktionssysteme eine variable Programmierung der unvariablen Codewerte vornehmen:

„Während der binäre Code für die Schließung des Systems sorgt, ermöglichen Programme seine Offenheit. In der Politik sind das Regierungs- und Parteiprogramme, in der Kunst bestimmte Stilprinzipien, im Recht Gesetze, in der Wissenschaft bestimmte Theorien, in der Wirtschaft Budgets und Preise. „Der Code ist für ein Subsystem der blinde Fleck, den es selbst nicht beobachten kann, ohne sich in Paradoxien zu verstricken; Programme dagegen ermöglichen den Einbau der Umwelt.“ (Schuldt, 2005:39)

Ich folgere aus diesen systemtheoretischen Überlegungen und vor dem Hintergrund der Aufstellungsbilder, dass ein zukunftsorientiertes Marketing sein bisheriges (variables) Programm „Werben, um (immer mehr) zu verkaufen“ umbaut. Der bisherige, auf Glaubwürdigkeit basierende (strikte) Code bleibt dabei im Prinzip unverändert. Ein zukunftsorientiertes Marketing erweitert jedoch seine Perspektive und schafft sich auf der Programmebene neue Möglichkeitsräume, um sich auf die wachsenden Herausforderungen angesichts der globalen Vielfachkrise besser einstellen zu können.

These WM.12:

Marketing wird seine Existenzberechtigung, seine „licence to operate“ dauerhaft nur behalten, wenn es glaubwürdig ist. Glaubwürdigkeit bezieht sich dabei nicht allein darauf, verspieltes Vertrauen der Kund:innen zurückzugewinnen. Notwendig ist zudem, die „wahren“ Kosten des eigenen Handelns in den Blick zu nehmen. Mit anderen Worten: Nur wenn Marketing materielle und immaterielle Ressourcen aktiv schützt und nie über das Maß beansprucht, wie sich diese regenerieren, dann ist Marketing glaubwürdig – und auch zukunftsfähig.

These WM.13:

Ein zukunftsorientiertes Marketing basiert – wie auch das klassische Marketing – auf Glaubwürdigkeit. Ein zukunftsorientiertes Marketing „programmiert“ sich jedoch um. Statt sich auf „Werben, um (immer mehr) zu verkaufen“ zu fokussieren, erweitert es seine Perspektive und begreift sich als Teil eines größeren (globalen) Systems. Das Programm eines zukunftsorientierten Marketing heißt Ressourcenorientierung.

5 Zusammenfassung der Aufstellung „Das innere Wesen des Marketing“

Eine Übersicht der entwickelten Thesen ist im elektronischen Zusatzmaterial einsehbar.

Die Aufstellung „Das innere Wesen des Marketing“ ist für mich eine wunderbare Illustration davon, wie mittels dieser innovativen Forschungsmethode ein unvermittelter Zugang in das Innen von Systemen möglich wird. Statt als Bild aus der Außenwahrnehmung Dritter – z. B. via Interview – gezeichnet zu werden, hat sich das System – über die repräsentative Wahrnehmung der Stellvertretenden – selbst präsentiert. (Eine detaillierte Methodenreflexion finden Sie, liebe Lesende, im Abschnitt 15.2) Dieser nahezu unvermittelte Blick in tiefste, unsichtbare Ebenen eröffnet eine neue Sicht: Marketing zeigt sich nicht nur so, wie ich es in seiner aktuellen Praxis wiedererkennen kann, sondern lässt mich überdies entdecken, dass es auch anders sein kann.

Marketing genießt aktuell kein gutes Image. Seine vorrangige Aufgabe scheint darin zu bestehen, ein fortwährendes Bedürfnis nach immer mehr Konsum zu wecken, und um Wirkung zu erzielen bedarf Marketing eines immer höheren Mitteleinsatzes. In der Aufstellung präsentiert sich das Ethos des Marketing hingegen als kraftvoll und voller positiver Energie. Der Aufstellungsverlauf mag für einige Beobachter:innen sehr überraschend gewesen sein, weil sich in ihm ein Möglichkeitsraum von Marketing jenseits der Konsumsteigerungslogik entfaltet. Die Flexibilität, die das Ethos des Marketing damit beweist, beschreibt keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Ein Ethos kann auch komplett starr und unbeweglich sein, wie Forschungsarbeiten mit dem Eisbergmodell zeigen (Müller-Christ & Pijetlovic, 2018:98 f).

Die Beobachtung, dass Marketing seine Wirkkraft grundsätzlich auch aktiv für den Ressourcenerhalt einsetzen kann, ist für mich das zentrale Ergebnis der Aufstellung, denn sie markiert eine erste Antwort auf meine initiale Forschungsfrage und damit eine Weichenstellung für den weiteren Arbeitsverlauf. Eine solche Entwicklungsmöglichkeit steht nicht im Widerspruch zum wesentlichen Zweck von Marketing. Vielmehr: Die Transformation erscheint notwendig, wenn Marketing seine Existenz(berechtigung) sicherstellen will.

Dies ist ein weiterer fundamentaler Unterschied, der sich in der Aufstellung zeigt. In der Literatur finde ich zwar eine Reihe an Quellen, in denen eine gesamtgesellschaftliche Notwendigkeit für einen Wandel des Marketingsystems beschrieben ist und in der Regel moralisch-ethisch begründet wird. Die Begründung einer innersystemisch bedingten existentiellen Dringlichkeit, so wie sie sich aus der repräsentierenden Wahrnehmung herleiten lässt, überschreitet Argumentationslinien, wie sie z. B. im Bereich der CSR (Nachhaltigkeit als business case) gelten.

Irritierend – im Vergleich mit der vorhergehenden Aufstellung – ist die widersprüchliche Rolle von Verbraucher:innen. Im „Konsumsystem“ zeigt sich die Figur in einer äußerst passiven Rolle. In der Aufstellung zum Marketingsystem treten Konsumierende hingegen lebendig und selbstbewusst auf. Im Konsumkontext fehlt Kund:innen jede Souveränität, in Bezug auf Marketing sind sie Bindeglied und Wissensressource. Dieser Widerspruch verweist – das wird sich im weiteren Untersuchungsverlauf noch zeigen – auf die komplexe Rolle von Konsumierenden in einem zukunftsorientierten Marketingsystem.

5.1 Diagramm „Das innere Wesen des Marketing“

Auf Basis der dreizehn vorläufigen Thesen zum „Wesen des Marketing“ habe ich ein Diagramm entwickelt, das die neu gefundenen, provisorisch-hypothetischen Kategorien und Beziehungsgefüge in einem Gesamtbild visualisiert (Abbildung 7.4).

Das Verhältnis zwischen klassischem erwerbsorientiertem Marketing und einem Marketing, das Nachhaltigkeit bzw. den Ressourcenerhalt im Blick hat, stellt sich in der repräsentierenden Wahrnehmung vollkommen anders dar, als es in der aktuellen Marketingpraxis (und -theorie) zu Grunde gelegt ist. Herkömmliche Konzepte von „Nachhaltigkeitsmarketing“ gehen davon aus, dass Nachhaltigkeit mit den klassischen betriebswirtschaftlichen Erwerbszielen der Gewinn- und Umsatzmaximierung vereinbar ist. In der repräsentierenden Wahrnehmung wird dieses Win-Win-Postulat nicht bestätigt, vielmehr zeigt sich in der repräsentierenden Wahrnehmung eine völlig andere Beziehungsqualität:

In einem zukunftsorientiert aufgestellten Marketingsystem ist „Nachhaltigkeit“ nicht einfach dem bisherigen Zielkatalog als ein bloßes „Add-on“ hinzugefügt. Stattdessen sind klassische Erwerbsziele und Nachhaltigkeit i. S. von Ressourcenerhalt deutlich als zwei getrennte, widersprüchliche Handlungsrationalitäten ausgewiesen. Als eine mögliche Strategie im Umgang mit diesem Spannungsfeld zeigt sich in der repräsentierenden Wahrnehmung eine Neuausrichtung des Marketingsystems nach einem antagonistischen Wirkprinzip. Dabei übernimmt das haushaltsökonomische Denken, das den Substanzerhalt im Blick hat, die Führung und setzt einen neuen, erweiterten Rahmen. Das (bislang übersteigerte) Ziel der Erwerbs- und Effizienzsteigerung wird dadurch relativiert, aber es wird keineswegs unbedeutend. Denn das Ziel des Ressourcenerhalts ist auf seinen erwerbswirtschaftlichen Gegenspieler angewiesen und umgekehrt. Mit anderen Worten: Die bisherige marktorientierte Unternehmensführung (Meffert et al. 2019) wird in einem zukunftsorientierten Marketingsystem neugerahmt von einer Ressourcenorientierung (Müller-Christ 2014).

Mit der Perspektiverweiterung definiert Marketing seine System-Umwelt-Grenze neu und erweitert die Prüfkriterien für Glaubwürdigkeit. Marketing misst die Rückwirkungen seines Handelns nun nicht allein über die Verkaufszahlen, sondern nimmt auch die „wahren“ Kosten in den Blick, also die Kosten im Produktionsprozess, die der Umwelt auferlegt werden. Der bisherige, auf Glaubwürdigkeit basierende Code des klassischen absatzorientierten Marketing („zahlen vs. nicht zahlen“) bleibt dabei im Prinzip erhalten. Die spezifische Selektivität eines zukunftsorientierten Marketing kann gelesen werden als „tragbar vs. untragbar“ für die Systemumwelt.

Glaubwürdigkeit ist und bleibt im Marketingsystem die zentrale Kategorie. Sie entscheidet über die Anschlussfähigkeit von Marketing: Stärke, Wirkkraft und letztlich Zukunftsfähigkeit von Marketing.

Das neue, weitsichtigere Mindset eines zukunftsorientierten Marketing bringt eine neue Außensicht mit sich, die auch den bisherigen Anbieter-Nachfrager-Dualismus verändert. Kund:innen sind nun nicht nur in ihrer klassischen Rolle als Käufer:innen wichtig, sondern spielen im Rahmen co-kreativer Prozesse eine vitale Rolle als „Wissensressource“.

Abbildung 7.4
figure 4

(Eigene Abbildung; Icon:freepik; linector/flaticon)

Ein zukunftsorientiertes Marketing basiert – wie bereits das klassische Marketing – auf Glaubwürdigkeit. Neu ist das „Programm“.

5.2 Weiterführende Überlegungen und Fragen

In der Gesamtschau geben die in der Systemaufstellung gefundenen Kategorien und Beziehungsgefüge erste Hinweise auf

  1. (1)

    Kernkategorien und systemische Strukturen eines zukunftsorientierten Marketing sowie

  2. (2)

    die wesentlichen Funktionen; wie Marketing anders, i. S. eines transformativen Wandels nützlich sein kann

ad 1: Es ist möglich, die dem Marketing innewohnende Kraft – eine starke, positive Energie – im Sinne transformativen Wandels zu nutzen. Marketing kann einen Beitrag zu der angesichts der globalen Vielfachkrise notwendigen Neuorientierung der Gesellschaft leisten. Dies ist eine starke These, die Marketingwissenschaft und -Praxis zum Nachdenken einlädt über die Frage:

Was ist die Essenz von Marketing; die ursprüngliche Bestimmung seines Tuns?

Bei der Entwicklungsaufgabe, die sich in der repräsentierenden Wahrnehmung gezeigt hat, geht es letztlich um ein Revitalisieren bzw. ein Transzendieren des paradigmatischen Kerns von Marketing: die Kunden- bzw. Marktorientierung. In den Bildern lässt sich eine Weiterentwicklung akademischer Marketingdefinitionen erkennen, die Marketing als ein duales Konzept einer marktorientierten Unternehmensführung (nach Heribert Meffert) beschreiben. Gemäß dem Grundverständnis dieses marktorientierten Ansatzes sind im Marketing – wie auch im Aufstellungsbild – zwei Teilbereiche zu unterscheiden: zum einen der Absatzbereich und zum anderen eine erweiterte Managementperspektive. Der Unterschied: Anstelle einer marktorientierten Koordination tritt eine weitsichtigere und umfassendere, ressourcenorientierte Koordination aller betrieblichen Funktionsbereiche.

In diesem Bild deutet sich somit die Möglichkeit eines starken, in seiner Reichweite nicht zu unterschätzenden Paradigmenwechsels an. Das Marketingsystem steht vor der Herausforderung, seinen bisherigen Zielhorizont zu erweitern und sich als Teil eines größeren Systems – einer Ressourcengemeinschaft – zu begreifen. Voraussetzung dafür ist, dass es ihm gelingt, sich selbst mit Abstand zu betrachten; systemtheoretisch formuliert: die Fähigkeit zur Beobachtung 2. Ordnung auszubilden. Dazu muss Marketing in Resonanz mit seiner Umwelt gehen. Diese Feststellung ist nicht trivial:

Ein zukunftsorientiertes Marketing braucht mehr Sensibilität für seine (Ressourcen-)Umwelt. Welche (neuen) Anforderungen stellt dies an Know-how, Methoden, Strukturen?

Ein erster Lösungsweg, der sich hierfür in der Aufstellung zeigt, führt über eine veränderte Rolle von Kund:innen. Kund:innen treten auf als „Wissensressource“. Dieses neue Kundenbild – auch in Verbindung mit dem Widerspruch zum passiven Auftreten in der vorherigen Aufstellung „Konsumsystem“ – fordert erneut zum Nachdenken über die „Verbraucherrolle“ bzw. die Funktion von Kund:innen auf:

Welche Rolle spielen Kund:innen für ein zukunftsorientiertes Marketing?

ad 2: Ein zukunftsorientiertes Marketing richtet sich als Gesamtsystem neu aus. Mit einer anderen Struktur verändert sich auch die spezifische Funktion von Marketing. Dies betrifft nicht nur den neuen, rahmengebenden haushaltsökonomischen Bereich. Auch die herkömmlichen erwerbsorientierten Marketingziele können jetzt frisch justiert werden. In dem neuen Mindset ist es Marketing möglich, sich wieder auf seine ureigene Aufgabe zu besinnen und Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln, die einen tatsächlichen Nutzen für Kund:innen haben. Hier liegen neue, kreative Aufgaben für Marketing. Die Erwerbslogik wird dabei nicht aufgegeben, jedoch auf ein (ressourcenge)rechtes Maß justiert. Auch aus strategischer Sicht und Eigeninteresse bietet ein zukunftsorientiertes Marketing der Branche, insbesondere den Marketern, die in bzw. für Unternehmen oder Agenturen tätig sind, neue Perspektiven. Infolge der Digitalisierung sind Marketingabteilungen gegenüber den Vertriebsabteilungen zunehmend ins Hintertreffen geraten. Mit dem „anderen“ Mindset könnte dieser Downshift gestoppt werden, weil sich entlang der Supply Chain neue Aufgaben stellen, für die Marketing die Kompetenzen hat. Ein solch farbenfrohes Zukunftsbild provoziert natürlich die Frage:

Wie kann der hier skizzierte Möglichkeitsraum eines anderen Marketing in die Welt kommen? Womöglich existiert ein solches zukunftsorientiertes Marketing bereits, und in der Praxis lassen sich Case Studies entdecken?

Das neue Marketing-Mindset ist kein Gebot der Unternehmensethik. Es ist die Voraussetzung dafür, in einer sich schnell wandelnden sozialen, ökonomischen und ökologischen Umwelt integrierbar zu bleiben und die eigene licence to operate zu erneuern. Ein erweiterter Wahrnehmungshorizont ermöglicht dem Marketingsystem nicht nur, an die gesamtgesellschaftliche Entwicklung anschlussfähig zu bleiben. Mit einer Neuausrichtung hat Marketing auch das Potenzial, einen gesamtgesellschaftlichen Nutzen zu erfüllen. Aus diesen neuen Denk- und Handlungsmöglichkeiten ergeben sich weitere Fragen:

Worin besteht konkret das gesamtgesellschaftliche Interesse, das ein zukunftsorientiertes Marketing bedienen kann? In welche Ziele, Strategien und Mittel lässt es sich adäquat übersetzen?

Als Luhmannsches „Massenmedium“ prägt Marketing maßgeblich Bilder gesellschaftlicher Wirklichkeit. Im Unterschied zu anderen verbraucherpolitischen Akteuren ist Marketing – ähnlich wie die Kunst – jedoch nicht an die Realität gebunden. Vor diesem Hintergrund taucht in mir (abduktiv) die Frage auf:

Liegt in dem besonderen Verhältnis, das Marketing zur Wirklichkeit hat, vielleicht ein besonderes Potenzial für eine zukunftsorientierte Neuorganisation des Konsumsystems?