Konsum ist für Volkswirtschaften wie Deutschland konstitutiv: Mehr als 70 Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung basieren auf Konsum (Statistisches Bundesamt, 2020:13). Wie sehr Konsum unseren Alltag tatsächlich bestimmt, ließ sich wie durch ein Brennglas in den Wochen des ersten Corona-Shutdown im Frühjahr 2020 beobachten. Wir leben in einer „Konsumgesellschaft“ (Baudrillard, 1970/2014). Bei der anstehenden sozialökologischen Transformation ist Konsum unbestreitbar eines der zentralen gesellschaftspolitischen Handlungsfelder. So wurde im Rahmen der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie (BMUB, 2019) das Nationale Programm für nachhaltigen Konsum aufgelegt, und in der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen ist Konsum (UN, 2015) als ein eigener Zielbereich definiert (SDG 12).

1 Erkenntnisinteresse der Aufstellung „Konsumsystem“

Im wissenschaftlichen (und auch im politischen) Diskurs besteht Konsens, dass nachhaltigerer Konsum nur im Wechselspiel der verschiedenen voneinander abhängigen Akteure möglich ist. Die Verantwortungsfrage für nachhaltigen Konsum verteilt sich somit auf mehrere Schultern, wobei den Verbraucher:innen jedoch eine zentrale Position zugeteilt wird (Abbildung 6.1).

Dieses Bild ist Ausgangspunkt der ersten Aufstellung, in der ich die Wechselbeziehungen im Konsumsystem zwischen Unternehmen, Konsumierenden, Staat, Wissenschaft, Medien sowie NGOs erkundet habe. Mein initiales Erkenntnisinteresse bei dieser Aufstellung gilt allgemein dem systemischen Beziehungsgefüge: Wer verfolgt welche Interessen, welche Akteure interagieren, welche Kräfteverteilung zeigt sich? Ein besonderer Analysefokus liegt außerdem – mit Bezug auf meine in der Einleitung (Abschnitt 1.4) formulierten erkenntnisleitenden Fragen – auf den systemischen Veränderungen bei einer „notwendigen Entwicklung des Konsumsystems hin zu Nachhaltigkeit“.

Abbildung 6.1
figure 1

(Eigene Abbildung nach Schrader, 2013:21)

Wissenschaftliches Modell des Konsumsystems.

2 Steckbrief der Aufstellung „Konsumsystem“

Die Aufstellung „Konsumsystem“ wurde am 27. Juni 2015 in den Seminarräumen eines buddhistischen Zentrums in Berlin realisiert. Die Leitung der Aufstellung hatte Prof. Dr. Georg Müller-Christ. Stellvertretende waren Teilnehmende eines Fortbildungskurses zur Aufstellungsleitung, also in der Aufstellungsarbeit erfahrene Personen.Footnote 1

2.1 Format

Als Format wurde eine Dilemma-Aufstellung gewählt, d. h. es ist ein systemischer Kontext mittels zweier Polaritäten definiert (vgl. Abschnitt 2.3.5). Der Kontext „Konsumsystem im Spannungsfeld aus Einkommen und Nachhaltigkeit“ war den Stellvertretenden bekannt. Doch weder die Repräsentanten der Akteure noch die der Pole wussten, welches Element sie jeweils repräsentierten. Die Aufstellung wurde also einfach-verdeckt durchgeführt. Die Rollen wies ich den Stellvertretenden intuitiv zu. Zur Einweisung legte ich den Stellvertretern jeweils meine rechte Hand auf die Schulter und sagte im Stillen: „Du stehst für…[z. B.] den prototypischen Konsumierenden im Konsumsystem.“

Die Stellvertretenden hatten weiterhin keine Kenntnisse zur Qualität der Kontextveränderungen, die im Aufstellungsverlauf induziert wurden. Übergänge zur nächsten Phase erfolgten jeweils ohne die Stufe (die Farbe gemäß der Spiral Dynamics-Theorie) explizit zu benennen. Die Aufstellungsleitung sagte lediglich zu einem Stellvertretenden: „Hiermit versetze ich Dich und damit das ganze Bild in die nächste Stufe!“

2.2 Theoretischer Bezugsrahmen: Theorie der Spiral Dynamics

Einen geeigneten theoretischen Bezugsrahmen, um Transformationsprozesse mittels Aufstellungen zu simulieren, bietet die Theorie der Spiral Dynamics, ein auf breiter empirischer Basis gewonnenes Modell zu kollektiven und individuellen Entwicklungsprozessen (Beck & Cowan, 2007/2014; vgl. Abschnitt 4.3). Die auch als „Graves-Modell“ bekannte Theorie beschreibt einen gesetzesmäßigen spiralförmigen Wandel entlang unterschiedlicher Stufen der Komplexitätsbewältigung. Dabei wird nicht zwischen guten oder schlechten Stufen unterschieden; es existieren nur zum jeweiligen Kontext stimmige oder weniger stimmige Problemlösungsmodi.

2.3 Inszenierungsraum

Volkswirtschaftlich gesehen bedeutet Konsum „Einkommen“. Mit dem Weltgipfel in Rio de Janeiro 1992 ist „Nachhaltigkeit“ als zusätzliche Handlungsprämisse – auch in das Konsumsystem – eingeführt worden. Der Wirtschaftswissenschaftler Georg Müller Christ (2014) beschreibt in seinem ressourcenorientierten Nachhaltigkeitsansatz ein systemisches Spannungsfeld, das zwischen volkswirtschaftlichem Einkommen und Nachhaltigkeit besteht. Das herkömmliche Nachhaltigkeitsverständnis, das bislang den wissenschaftlichen und politischen Diskurs bestimmt, analysiert demgegenüber keinen Widerspruch zwischen diesen beiden Zieldimensionen. Ein Ausdruck dieses Win-Win-Postulats ist u. a. der Begriff „grüner Konsum“. Der Inszenierungsraum, den ich für diese Aufstellung gewählt habe, übernimmt a priori keinen dieser beiden Nachhaltigkeitsansätze, sondern gibt dem Konsumsystem die Möglichkeit, sich selbst im Raum zu positionieren: Es konnte sich zwischen den Polen NachhaltigkeitFootnote 2 und Einkommen ausbalancieren (und somit die Win-Win-Hypothese bestätigen) oder auch ganz anders zeigen.

2.4 Elemente

Das Konsumsystem wird in der Literatur als ein Beziehungsgefüge mit unterschiedlichen prototypischen Akteuren gezeichnet, in deren Mittelpunkt in aller Regel Konsumenten und Unternehmen stehen. Um das Zentrum herum sind Staat, Wissenschaft, Medien sowie NGOs gruppiert (vgl. Abbildung 6.1). Auf Grundlage dieses Bildes habe ich die sechs prototypischen Akteure für das Aufstellungssetting bestimmt.

3 Ablauf der Aufstellung „Konsumsystem“

Einladung: Lassen Sie sich irritieren!

Bevor Sie in die erste Aufstellung einsteigen, möchte ich Sie, liebe Leserin, lieber Leser, dazu einladen, kurz innezuhalten und sich die Leitfrage in Erinnerung zu rufen, die ich Ihnen in der methodologischen Einführung als nützlichen roten Faden für die Auswertung von Systemaufstellungen vorgestellt habe:

Welcher gehaltvolle Unterschied ist auf der eigenen inneren Landkarte entstanden, der vorher nicht da war?

Denn beim Lesen von Aufstellungsbildern hat es sich bewährt, die Aussagen der Repräsentanten nicht als richtig oder falsch zu bewerten, sondern als stimmig oder irritierend. Lassen Sie die folgenden Strukturbilder deshalb einfach auf sich wirken und entdecken Sie den „Unterschied, der einen Unterschied macht“ (Bateson, 1972/2014:582)!

Die Aufstellung des Konsumsystems dauerte 60 Minuten und durchlief insgesamt fünf Phasen. Das erste Bild diente dem Beobachten, wie sich die einzelnen Akteure generell im Spannungsfeld von Einkommen und Nachhaltigkeit positionieren. In den anschließenden Phasen folgte eine Analyse des systemischen Veränderungspotenzials. Dazu wurde das Konsumsystem sukzessive in die Bewusstseinsebenen der Spiral Dynamics versetzt, die aktuell in westlichen Gesellschaften vorherrschen: Blau, Orange, Grün und Gelb.

Die Aufstellung begann mit dem verdeckten Einweisen der Repräsentanten in ihre Rollen. Dazu erhielten die Stellvertretenden jeweils eine Ansteckkarte mit einem Buchstaben bzw. einer Zahl. Danach wurde das Spannungsfeld zwischen Einkommen und Nachhaltigkeit im Raum definiert, indem der Aufstellungsleiter die beiden Repräsentanten der Pole einander gegenüber, mit etwa drei Meter Abstand positionierte. Die Stellvertretenden der Akteure des Konsumsystems suchten sich innerhalb dieses Feldes ihre Position selbst, indem sie nur auf ihre innere Wahrnehmung achteten. Aus ihren mentalen Karten konnten sie keine sinnvolle Position ableiten, da sie ja keine Kenntnis darüber hatten, welches Element sie repräsentierten.

3.1 Phase 1: Das System entsteht

  • Die Akteure benötigen etwas Zeit, um einen guten Platz zu finden und erzeugen nahezu ein harmonisches Kreisbild.

  • Der Pol Einkommen fühlt sich von allen Elementen respektiert und hat das Gefühl, die Fäden in der Hand zu halten.

  • Der Pol Nachhaltigkeit zeigt sich irritiert, dass die Konsumenten so desinteressiert sind.

  • Anfänglich stehen die Unternehmen genau in der Mitte zwischen den Polen. Dort halten sie es aber nicht aus und wählen eine Position außerhalb des Spannungsfeldes. Auch in der neuen Position wollen die Unternehmen wissen, was Nachhaltigkeit tut und behalten diesen Pol genau im Blick: „Ihre Reaktion ist wichtig für mein Handeln.“

  • Die Konsumenten wissen nicht genau, ob sie zu dem System dazugehören und verspüren den Drang, sich zurückzuziehen. Sie sind ganz deutlich auf Einkommen ausgerichtet.

  • Der Staat könnte mehrere Plätze in dem Spannungsfeld einnehmen, ist aber nur auf den Pol Einkommen ausgerichtet. Die NGOs als Partner sind ihm wichtig. (In einer späteren Sequenz geht der Staat näher an das Spannungsfeld heran.)

  • Die Medien haben sich am schnellsten und klarsten positioniert und in Nachhaltigkeit einen festen Bezugspunkt gefunden. Die Medien hätten am liebsten die Wissenschaft an ihrer Seite.

  • Die NGOs haben ihren Platz danach gesucht, wo es am wenigsten weh tut und haben die Tendenz, von außen zu beobachten. Sie suchen in einer späteren Sequenz den Platz der größtmöglichen Sicherheit, sind aber im System gebunden.

  • Die Wissenschaft ist wenig verbunden mit dem Spannungsfeld des Konsumsystems. Der Repräsentant von Wissenschaften zeigt einen starken körperlichen Impuls, sich um sich selbst zu drehen.

  • In der Stärken-Schwächen-Analyse werden Einkommen und der Staat als starke Elemente wahrgenommen. Das schwächste Element im Konsumsystem sind die Konsumenten.

Abbildung 6.2
figure 2

(Eigene Darstellung)

Das Konsumsystem im Spannungsfeld von Einkommen und Nachhaltigkeit.

Die Abbildung 6.2 zeigt das 3D-Raumbild der initialen Phase mit Invivo-Kodes der Repräsentanten. Die einzelnen Akteure sind sehr unterschiedlich mit dem Konsumsystem im Kontext des Spannungsfeldes von Einkommen und Nachhaltigkeit verbunden. Einkommen und Staat sind zentrale, starke Akteure. Medien fühlen sich mit dem Pol Nachhaltigkeit verbunden. Konsumenten, NGOs und die Wissenschaft stehen im Feld der losen Bindung. Konsumenten nehmen die schwächste Position ein.

3.2 Phase 2: Blaue Entwicklungsstufe

  • Das Feld bewegt sich ein wenig auseinander.

  • Der Pol Einkommen genießt Aufmerksamkeit vom Staat.

  • Der Pol Nachhaltigkeit ist verwirrt; versteht die Veränderungen nicht.

  • Für die Unternehmen ändert sich nicht viel.

  • Die Konsumenten wechseln auf die gegenüberliegende Seite des Feldes, damit sie Einkommen im Blick behalten.

  • Der Staat rückt näher in die Mitte des Spannungsfeldes und fühlt sich noch inniger mit dem Einkommen verbunden. Er blendet alles aus, was hinter ihm steht.

  • Die Medien stellen sich hinter Nachhaltigkeit; zunächst im Glauben, Nachhaltigkeit stärken zu können, jedoch zunehmend in der Erkenntnis, sich verstecken zu müssen.

  • Die NGOs verlieren den Bezug zum System; sie fühlen sich irrelevant.

  • Die Wissenschaft verändert sich nicht, fühlt aber einen etwas geringeren Impuls, sich um sich selbst zu drehen.

Abbildung 6.3
figure 3

(Eigene Darstellung)

Das Konsumsystem auf der blauen Entwicklungsstufe.

Die Abbildung 6.3 zeigt das 3D-Raumbild mit Invivo-Kodes der Repräsentanten auf der blauen Entwicklungsstufe. In dieser Phase, die geprägt ist vom zielbewussten, autoritären Mem, wird das Konsumfeld hauptsächlich von der Einkommensperspektive aus betrachtet. Präsenz zeigen Unternehmen, Konsumenten sowie der Staat. Die Akteure Medien, NGOS und Wissenschaft halten sich hingegen im Hintergrund bzw. verschwinden ganz aus dem Feld.

3.3 Phase 3: Orange Entwicklungsstufe

  • Das Feld verändert sich deutlich.

  • Der Pol Einkommen bemerkt die große Stärke von Staat.

  • Der Pol Nachhaltigkeit benennt seine Verbundenheit zu Unternehmen.

  • Die Unternehmen haben eine klare Selbstwahrnehmung und fühlen eine Allianz mit der Wissenschaft und Staat. Ihre Aufmerksamkeit gilt weiterhin dem Pol Nachhaltigkeit.

  • Die Konsumenten konzentrieren sich jetzt ausschließlich auf den Pol Einkommen; die anderen Akteure sind bedeutungslos geworden.

  • Der Staat fühlt mehr Kraft von der Wissenschaft und will Einkommen weiter fixieren.

  • Die Medien fühlen sich erstarkt und nehmen einen bedrohlichen Aspekt im Feld wahr.

  • NGOs haben den Impuls, sich zu erhöhen und von oben zu schauen. Dabei ist ihnen wichtig, außerhalb des Systems zu stehen.

  • Die Wissenschaft findet den Zustand lockerer, das Spannungsfeld interessiert sie nicht.

Abbildung 6.4
figure 4

(Eigene Darstellung)

Das Konsumsystem auf der orangen Entwicklungsstufe.

Die Abbildung 6.4 zeigt das 3D-Raumbild mit Invivo-Kodes der Repräsentanten auf der orangefarbenen Entwicklungsstufe. Die Reaktionen spiegeln deutlich das erfolgsorientierte, rationale Mem. Unternehmen und Staat bilden zusammen mit Wissenschaft eine auf Einkommen ausgerichtete, erfolgsorientierte Allianz der rationalen Welterklärung. NGOs und Medien bauen sich als aktive Elemente des Konsumfeldes auf, die das Feld kritisch-distanziert beobachten. Die Konsumenten sind strikt auf Einkommen fokussiert.

3.4 Phase 4: Grüne Entwicklungsstufe

  • Es zeigt sich ein stark verändertes Bild.

  • Der Pol Einkommen empfindet alle Akteure als sehr viel selbstbewusster. Gleichwohl sich Einkommen nicht mehr als „die Dirigentin“ fühlt, werde es von allen Akteuren angemessen respektiert – mit Ausnahme der NGOs, die den Pol Einkommen nicht wahrnehmen.

  • Der Pol Nachhaltigkeit erkennt beim Staat ein Potenzial, das System grundsätzlich zu verändern; die Voraussetzung dafür wäre, dass sich der Staat dem Pol Nachhaltigkeit zuwendet.

  • Die Unternehmen spüren ihre große Verbundenheit zur Nachhaltigkeit und suchen jetzt gleichzeitig aktiv Kontakt zu den NGOs.

  • Die Konsumenten sind wieder näher an das System herangerückt; sie befinden sich in einer „Suchbewegung“. Sie nehmen jeden, außer den NGOs wahr.

  • Der Staat bleibt mit der Wissenschaft verbunden und bedauert, dass die Unternehmen das gemeinsame Feld verlassen haben.

  • Die Medien, die sich in dieser Phase noch besser fühlen, bezeichnen sich als „Dienerin von Nachhaltigkeit“.

  • Die NGOs fühlen sich mächtig und können kaum erwarten, zur Systemveränderung beizutragen.

  • Die Wissenschaft fühlt sich selbstbewusst als das Zentrum von allem.

Abbildung 6.5
figure 5

(Eigene Darstellung)

Das Konsumsystem auf der grünen Entwicklungsstufe.

Die Abbildung 6.5 zeigt das 3D-Raumbild mit Invivo-Kodes der Repräsentanten auf der grünen Entwicklungsstufe. Diese Phase, die von einem gemeinschaftlichen, egalitären WMem geprägt wird, ist eine Transformationsphase. Die Unternehmen ziehen sich aus dem Machtfeld zurück und versuchen sich auf die Nachhaltigkeitsanforderungen einzustellen, die ihnen über die NGOs vermittelt werden. Staat und Wissenschaft bleiben beständige Hüter der Einkommens- und Verwertungsperspektive. Medien und NGOs sind jeweils bereit, eine aktivere Rolle einzunehmen. Die Konsumenten befinden sich noch auf der Suche.

3.5 Phase 5: Gelbe Entwicklungsstufe

  • Das System verschiebt sich deutlich zur Seite des Pols Einkommen.

  • Einkommen fühlt sich ganz „satt“ und nicht mehr im Zentrum der Aufmerksamkeit.

  • Für Nachhaltigkeit ist es in Ordnung, dass sich die Dynamik bei Einkommen abspielt, das die Qualität des Gegenpols behalten hat. Nachhaltigkeit empfindet jedoch den freien Raum vor sich als „unangenehm“.

  • Die Unternehmen machen als einer der ersten Akteure den Wechsel zur Einkommensseite. Doch letztlich positionieren sie sich auf der Seite von Nachhaltigkeit. Von dort suchen sie eine intensive Verbindung zu den NGOs, fühlen sich aber durch die Medien gestört.

  • Die Konsumenten nehmen mehr wahr. Sie erkennen erstmals das „Gesicht“ von Nachhaltigkeit; Wissenschaft erleben sie als wohltuend.

  • Der Staat fühlt sich unverändert im Macht-Dreieck zusammen mit Einkommen und Wissenschaft.

  • Die Medien fühlen sich dem „Machtzentrum“ zugehörig und haben daher die Seiten gewechselt.

  • NGOs sind aufmerksame Beobachter und bleiben auch weiterhin auf Distanz. Bei sich selbst erkennen sie einen Entwicklungsrückstand.

  • Wissenschaft hat ihr Wahrnehmungsfeld verbreitert.

Abbildung 6.6
figure 6

(Eigene Darstellung)

Das Konsumsystem auf der gelben Entwicklungsstufe.

Die Abbildung 6.6 zeigt das 3D-Raumbild mit Invivo-Kodes der Repräsentanten auf der gelben Entwicklungsstufe. Mit dem Übergang in die 2. Tier wird die Fähigkeit zur systemisch-integrativen Sicht ausgebildet; auch widersprüchliche Sichtweisen können nun (an-)erkannt werden. Alle Akteure, außer Unternehmen, positionieren sich auf der Einkommensseite. Der Einkommensbegriff ändert sich radikal. Das Machtzentrum bleibt im Dreieck aus Einkommen, Staat und Wissenschaft bestehen und steht in engerer Beobachtung durch Konsumenten und NGOs sowie insbesondere den Medien. Der Pol Nachhaltigkeit ist mit der Entwicklung grundsätzlich einverstanden.

4 Auswertung der Aufstellung „Konsumsystem“

Die Beschreibung des Aufstellungsverlaufs im vorhergehenden Kapitel illustriert, dass bei Aufstellungen viele Informationen über systemische Zusammenhänge bereits in der Phase der Datenerhebung an die Oberfläche gelangen. Erste modellhafte Verbindungen lassen sich somit bereits aus dem dort dokumentierten 3D-Raumbild ablesen. Mit dem Ziel, die erfassten Codes und Beziehungsgefüge miteinander abzugleichen, zu verdichten und zu präzisieren, arbeite ich im Übergang zur zweiten Kodierphase mittels einer (modifizierten) Paradigma-Darstellung weiter. Mit den darin ge/erfundenen systemischen Verflechtungen und Kategorien, bei denen ich Antworten auf meine initiale Fragestellung vermute, setze ich mich nun in der zweiten Kodierphase mittels der Memo-Technik auseinander. Dieses „systematisierte Nachdenken“ (Breuer et al., 2018:137) über die in der Aufstellung gewonnenen Daten(-fülle) habe ich im Folgenden – erneut nicht zuletzt zum Zweck der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit – dokumentiert.

4.1 Memos

Die in der Paradigma-Darstellung (vgl. elektronisches Zusatzmaterial) strukturierten Kodierungsansätze führe ich beim Memo-Schreiben zu hypothetischen Ideen aus, die ich wiederum mittels Perspektiven-Triangulation reflektiere. Bei der Aufstellung „Konsumsystem“ nutze ich die triangulierende Perspektive vorrangig um die wissenschaftliche Anschlussfähigkeit meiner Analyseansätze zu prüfen. Divergente Aussagen der Forschungsliteratur nutze ich dabei als wertvolle heuristische Quellen. Im Ergebnis dieses gedanklichen Hin und Her entstehen erste, provisorisch-vorläufige Thesen und Ad-hoc-Hypothesen zum „Konsumsystem“.Footnote 3

4.1.1 Pol Einkommen

Kategorien: Dirigentin; Machtzentrum; Satt-Sein; Transformation

Beobachtung:

Das Schlussbild der Aufstellung irritiert die allgemeine Vorstellung von einem notwendigen „Wandel in Richtung Nachhaltigkeit“: Das System verlagert sich nicht in Richtung des Pols Nachhaltigkeit, stattdessen vollzieht das vormals system-bestimmende Element, der Pol Einkommen, eine grundlegende Transformation. Er gibt seinen Führungsanspruch auf und kann plötzlich „satt“ sein.

Interpretation:

Das verbraucherpolitische System ist (und bleibt) auf die Generierung von Einkommen ausgerichtet. Eine zukunftsfähige Transformation geschieht nicht durch einen Blickwechsel aller Akteure in Richtung Nachhaltigkeit. Stattdessen verändert der Pol Einkommen im Verlauf einer Entwicklung zunehmender Komplexität sein Bewusstsein und verfügt nun über die Fähigkeit, Hunger-Satt-Signale wahrzunehmen. Satt-Sein bedeutet nicht Verzicht. Es ist vielmehr ein wohliges Gefühl. Der Begriff dafür auf volkswirtschaftlicher Ebene heißt „Gemeinwohl“. Gleichzeitig steht die Metapher des Satt-Seins für das Erkennen, wann genug ist. Ich interpretiere die Sequenz daher als einen Hinweis auf die Grenzen des (quantitativen) Wachstums und den damit verbundenen Suffizienz-Gedanken. Das Aufstellungsbild liefert eine wirklich starke Information: Zukunftsorientierter Konsumwandel geht mit einer Transformation des Einkommensbegriffs einher. Das bisherige Ziel unbegrenzter Wachstumssteigerung wird abgelöst durch ein Bewusstsein dafür, dass ein Genug existiert! Der systemische Auftrag, Konsum (i. S. des volkswirtschaftlichen Wachstums) immer weiter zu steigern, ist nicht zukunftsweisend. Vielmehr gilt es, neu zu verhandeln, was gesellschaftlichen Wohlstand – Gemeinwohl – heute tatsächlich ausmacht.

Perspektiven-Triangulation:

In den 1970er Jahren veröffentlichte der Club of Rome „The limits to growth“ (Meadows et al., 1972) und der deutsche Ökonom Ernst Friedrich Schuhmacher (1973/2013) landete mit „Small is beautiful“ – im deutschen Titel „Die Rückkehr zum menschlichen Maß“ einen Bestseller. Obwohl die Daten also seit langem bekannt sind, haben Politik, Wirtschaft und Gesellschaft weitgehend an dem Ziel festgehalten, prioritär die Wirtschaftsleistung – immer weiter – zu steigern. Die „Culture of Growth“ ist auch in Deutschland institutionell tief verankert. So trägt bspw. der Schlussbericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages (2013) die Überschrift „Wachstum [Hervorhebung von mir], Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft“, oder der offizielle Titel der von der Bundesregierung eingesetzten Kohlekommission heißt Kommission „Wachstum [Hervorhebung von mir], Strukturwandel und Beschäftigung“ (2019).

Gleichzeitig gibt es eine wachsende globale Bewegung, die jenseits des Wachstumsparadigma Antworten auf die systemische Krise sucht und „die in ihrer Vielfalt doch einen gemeinsamen Wärmestrom für eine bessere Zukunft von Mensch und Natur darstellen“ (Schneidewind, 2016:32): Einflussreiche Strömungen sind u. a. Buen Vivir (Acosta, 2015), Commons-Ökonomie (Ostrom, 2011), Donut-Ökonomie (Raworth, 2018), die Gemeinwohlökonomie (Felber, 2010), Postwachstum (Paech, 2012; Seidl & Zahrnt, 2019) und Verantwortungseigentum (Thomsen, 2017). (Vgl. für einen Literaturüberblick auch Latouche, 2015; Meyer et. al., 2012; Petschow et al., 2018; Schneidewind, 2016.)

These KS. 1:

Bei einer zukunftsfähigen Transformation des Konsumsystems ist der Fokus „hin zu Nachhaltigkeit“ nicht zielführend. Der Schlüssel liegt nicht auf der Nachhaltigkeitsseite, sondern auf der des Einkommens.

These KS. 2:

Der bisherige systemische Auftrag, Konsum respektive das volkswirtschaftliche (quantitative) Wachstum immer weiter zu steigern, ist nicht länger zukunftsweisend. Es steht vielmehr an, mit einigen Tabus der Wachstumserzählung zu brechen und die Frage, was gesellschaftlichen Wohlstand – Gemeinwohl – heute tatsächlich ausmacht, neu zu verhandeln.

These KS. 3:

Suffizienz muss nicht Verzicht bedeuten.

4.1.2 Pol Nachhaltigkeit

Kategorie: Irritation; Unsicherheit; reaktiv; unangenehmer Freiraum; Gegenpol

Beobachtung:

Der Pol Nachhaltigkeit erscheint verwirrt, irritiert und verunsichert. Er reagiert eher auf Veränderungen im System, als dass er aktiv eine Richtung vorgibt – wie die landläufige Formulierung „hin zu Nachhaltigkeit“ hätte erwarten lassen können. Gegen die Metamorphose von Einkommen hat Nachhaltigkeit nichts einzuwenden, allerdings empfindet sie den dadurch entstandenen Freiraum als „unangenehm“. Einkommen bleibt ihr Gegenpol.

Interpretation:

IM Konsumsystem ist Nachhaltigkeit keine richtungsweisende Kraft. Kaum konturiert, defensiv und reaktiv, fehlt „Nachhaltigkeit“ ein fester Grund. Das Unbehagen von Nachhaltigkeit mit dem in der gelben Phase entstandenen Freiraum interpretiere ich als Hinweis auf konzeptionelle Lücken im herkömmlichen Nachhaltigkeitsverständnis, das eine Win-Win-Situation für soziale, ökonomische sowie ökologische Belange postuliert. Eine solche Zielvorgabe geht offenbar von falschen Annahmen aus. Die damit verbundenen Erwartungshaltungen (wie z. B. die von Nachhaltigkeit an Staat; vgl. grüne Phase) werden deshalb auch regelmäßig enttäuscht.

Im Konsumsystem scheint vielmehr ein (unauflösbares) Dilemma zwischen Einkommen und Nachhaltigkeit zu existieren. Denn Einkommen bleibt der Gegenpol von Nachhaltigkeit. In dieser Beobachtung sehe ich eine Bestätigung des ressourcenorientierten Nachhaltigkeitsansatzes. Ein Dilemma lässt sich im Gegensatz zu Konflikten nicht lösen, sondern nur bewältigen (Müller-Christ, 2014:280 ff.). Im Aufstellungsverlauf entlang der Entwicklungsspirale findet sich zwischen den beiden Polen keine (Konflikt-)Lösung etwa i. S. eines Kompromisses oder eines (wie im bisherigen Nachhaltigkeitsdiskurs postulierte) Win-Win. Vielmehr kommt es zu einem Zielkonflikt, der einen Ausgleich fordert. In der gelben Phase wird deutlich, wie der Trade-off zwischen Nachhaltigkeit und Einkommen ausgeglichen werden kann: Der Pol Einkommen gibt sein bisheriges Ziel des stetigen Wachstums auf. Die Tatsache, dass Nachhaltigkeit mit diesem „Ausgleichsangebot“ einverstanden ist, bedeutet, dass eine solche Entwicklung zukunftsweisend ist und wirkt, denn: „Der Empfänger des Ausgleichs entscheidet über seine Wirkung“ (Müller-Christ & Pijetlovic, 2018:97).

Perspektiven-Triangulation:

Der Aufstellungsverlauf bestätigt die grundlegende Annahme des ressourcenorientierten Nachhaltigkeitsansatzes von Müller-Christ (2014). Der in herkömmlichen Nachhaltigkeitsmodellen postulierte Interessensausgleich zwischen Wirtschaftswachstum und Nachhaltigkeit durch eine abwägende Steuerung ist auch in der Außenwahrnehmung empirisch nicht belastbar. In der (Transformations-)Literatur finden sich einige Quellen, die das Win-Win-Narrativ hinterfragen und dabei ähnlich argumentieren, wie Dennis Meadows, einer der Autoren des Berichtes an den Club of Rome von 1972, es pointiert formuliert:

„Nachhaltige Entwicklung ist eine unsinnige Vokabel wie friedlicher Krieg. Es gibt keine Entwicklung mit Nachhaltigkeit.“ (Meadows, 2012:1)

These KS. 4:

Der herkömmliche Nachhaltigkeitsbegriff geht von falschen Annahmen aus: Im Konsumsystem existiert keine Win-Win-Situation für soziale, ökonomische und ökologische Belange, sondern ein (unauflösbares) Dilemma zwischen (quantitativem) Wachstum und Nachhaltigkeit. Ressourcenerhalt ist unvereinbar mit einem andauernden Mehr an Konsum.

These KS. 5:

Konzepte, die auf „nachhaltigen (bzw. grünen) Konsum“ setzen, sind nicht zukunftsorientiert. Die Situation erfordert vielmehr Trade-offs bezüglich bestehender Konsumansprüche respektive herrschender Wachstumsziele. Im Konsumsystem ist ein Perspektivenwechsel notwendig, der statt des bisherigen „Immer mehr“ ein „Genug“ in den Mittelpunkt rücken lässt.

4.1.3 Unternehmen

Kategorien: Schusslinie (zwischen den Polen); Fokus auf Nachhaltigkeit; (potenzieller) Treiber von Nachhaltigkeit

Beobachtung:

Die Aufstellung irritiert eine Reihe von als evident geltenden Einsichten zum Verhalten von Unternehmen. Der Pol Nachhaltigkeit bringt den Unternehmen durchgehend Vertrauen entgegen – und bei genauem Hinsehen scheint dieses Vertrauen durchaus begründet zu sein: Denn in jeder Phase betonen Unternehmen die besondere Bedeutung, die Nachhaltigkeit für sie hat. Unternehmen zeigen sich zudem überraschend vorsichtig: Sie vermeiden sich in der „Schusslinie“ zwischen den Polen zu exponieren. Als sich der Schwerpunkt des Konsumsystems zur Einkommensseite verlagert, vollziehen Unternehmen als einer der ersten Akteure den Wechsel zur Einkommensseite, doch letztlich ziehen sie sich (aufgrund der machtvollen Medien) zurück (auf die Seite von Nachhaltigkeit).

Interpretation:

In der überraschenden Beobachtung, dass sich Unternehmen nicht ausschließlich auf das Ziel Gewinnmaximierung fokussieren, finde ich die Grundannahmen des ressourcenorientierten Nachhaltigkeitsansatzes bestätigt, der Nachhaltigkeit „als Prämisse eines rationalen Wirtschaftens“ definiert (Müller-Christ, 2014:73). Entsprechend benennen Unternehmen die Bedeutung des Pols Nachhaltigkeit als Grundlage ihres Handelns in der erfolgsorientierten, rationalen blauen Phase mit größter Klarheit. Aus Sicht des ressourcenorientierten Nachhaltigkeitsansatzes befinden sich Unternehmen in einer Dilemma-Situation zwischen den Polen Einkommen und Nachhaltigkeit. Vor diesem Hintergrund erscheint es auch plausibel, wenn sich der Stellvertretende von Unternehmen in dieser Position in der „Schusslinie“ fühlt.

Die Metapher der „Schusslinie“ führt mich (abduktiv) zur Entdeckung einer weiteren entscheidenden Handlungsprämisse für Unternehmen im heutigen Konsumkontext: die Prämisse der Reputation bzw. Glaubwürdigkeit. Grundsätzlich wird in der Aufstellung die große Flexibilität deutlich, dass Unternehmen aufmerksame Analytiker des Zeitgeistes sind. Ihr Wissensvorsprung befähigt Unternehmen, sich immer wieder erfolgreich auf wandelnde Systemerfordernisse einzustellen. Doch nicht immer können Unternehmen ihre Ideen in progressives Handeln umsetzen. So zeigen sich Unternehmen in der gelben Phase innovationsbereit und machen als einer der ersten Akteure den Wechsel zur Einkommensseite. Doch sie ziehen sich wieder zurück – offensichtlich ausgebremst von den Medien. Ich lese das Bild als Hinweis auf die Bedeutung von Unternehmenskommunikation und Stakeholder-Dialogen bei der anstehenden Transformation des Konsumsystems.

Perspektiven-Triangulation:

Gemäß ressourcenorientiertem Nachhaltigkeitsansatz (Müller-Christ, 2014) erfordert nachhaltige Unternehmensführung – unter den heutigen Rahmenbedingungen – ein Ausbalancieren widersprüchlicher Handlungsprämissen:

„Nachhaltigkeit und Effizienz sind … zwei eigenständige Rationalitäten, die von wirtschaftenden Akteuren unter den heutigen Bedingungen [Hervorhebung von mir] beide zugleich verfolgt werden müssen. (…) Ihre Anwendungen auf Entscheidungen im Ziel-Mittel-Kontext führen zu unterschiedlichen und teilweise … dilemmahaften Gestaltungsaussagen. (…) Je mehr Effizienz als Instrument der Gewinnerzielung eingesetzt wird, desto mehr Nebenwirkungen auf die Ressourcenquellen werden erzeugt, desto mehr wird die Gewinnerzielung der Zukunft beeinträchtigt. Unternehmen können dieses Dilemma nicht umgehen.“ (Müller-Christ, 2014:240)

Unternehmen bringen nicht nur systemlogisch die Motivation mit, sozialökologischen Wandel voranzubringen, sie sind, wie Gerd Scholl und Heike Mewes (2015a:14) konstatieren, auch mit den essenziellen Eigenschaften „Innovationsfähigkeit, Risikobereitschaft und Umsetzungsorientierung“ ausgestattet, um eine pro-aktive Rolle zu übernehmen. Vor diesem Hintergrund fragen die beiden Wissenschaftler:innen am Institut für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW), warum Unternehmen ihr offensichtliches Potenzial als Treiber einer notwendigen Transformation kaum nutzen:

„Dieser blinde Fleck ist fatal, weil Unternehmen als Teil der Volkswirtschaft unter anderem das Innovationsgeschehen und die effiziente Allokation von Ressourcen weitgehend bestimmen. Der notwendige Wandel kann also gar nicht ohne sie realisiert werden.“ (Scholl & Mewes, 2015b:15)

Georg Müller Christ (2014) verfolgt mit dem ressourcenorientierten Nachhaltigkeitsansatz die Hypothese, dass die Ursache dafür, dass Nachhaltigkeit im Unternehmen so selten intensiv angestrebt wird, in den Unklarheiten über das „Prämissengerangel“ (ebd.:364 ff.) liegt.

Der Wirtschaftswissenschaftler Klaus Gourgé (2017) erinnert daran, dass es sich beim Wachstumsparadigma um eine vereinfachende Annahme der Wirtschaftstheorie handelt, die heute fälschlicherweise als eine ökonomische Tatsache behandelt werde.

„Oft sogar in der verschärften Formulierung, jedes Unternehmen müsse wachsen und seine Gewinne steigern, um zu überleben. Für eine bestimmte Unternehmensform mag dies zutreffen, nämlich börsennotierte Aktiengesellschaften. Doch das sind nicht einmal 0,1 Prozent aller Unternehmen in Deutschland! Dagegen könnten viele der übrigen 99,9 Prozent, von inhabergeführten GmbHs bis zu Genossenschaften, das Wachstumsparadigma durchaus in Frage stellen. Dass dies auch geschieht, zeigt zum Beispiel die steigende Zahl von Unternehmen der Gemeinwohlökonomie (GWÖ).“ (Gourgé, 2017:58)

Glaubwürdigkeit bzw. Reputation ist eine zentrale Handlungsprämisse von Unternehmen. Im Gabler Wirtschaftslexikon ist „Glaubwürdigkeit“ folgendermaßen definiert:

„Glaubwürdigkeit bedeutet als zentrales Leitmotiv unternehmerischen Handelns, dass sich die Unternehmung das Vertrauen und die Akzeptanz ihrer Anspruchsgruppen erhalten oder erhöhen muss (Social Responsiveness), um langfristig überleben zu können.“ (Thommen, o. J.)

These KS. 6:

Wenn sich Unternehmen für den Erhalt der sozialen und ökologischen Ressourcenbasis einsetzen, dann handeln sie wirtschaftlich rational. Die Ursache, dass Unternehmen sich dennoch nicht oder wenig für Nachhaltigkeit einsetzen, liegt u. a. auch daran, dass vielen Unternehmen ein klares Bild über ihren tatsächlichen Handlungsspielraum – der nicht vom Wachstumsparadigma bestimmt sein muss – fehlt.

These KS. 7:

Entscheidende Handlungsprämissen von Unternehmen sind Einkommen und Nachhaltigkeit sowie Reputation.

4.1.4 Konsumenten

Kategorien: schwächster Akteur; Peripherie; Beobachter; Suchbewegung

Beobachtung:

Konsumenten sind der schwächste Akteur im verbraucherpolitischen System. Mitnichten treten sie als der souveräne, (mit-)bestimmende „König Kunde“ auf, auf dem bisherige Nachhaltigkeitskonzepte in der Regel aufbauen. Konsumenten sind vielmehr passive Beobachter am Rande, deren Fokus lange auf den Einkommenspol gerichtet ist. Spät machen sie sich auf die Suche nach einer anderen Ausrichtung (grüne Phase). In der gelben Phase erkennen sie erstmalig den Pol Nachhaltigkeit.

Interpretation:

Nachhaltigkeitskonzepte, wie sie häufig etwa in Verbraucherpolitik und Nachhaltigkeitsmarketing anzutreffen sind, basieren häufig auf dem Axiom der Konsumentensouveränität und setzen den strategischen Hebel entsprechend auf der Nachfrageseite an. In der Aufstellung zeigt sich jedoch ein grundsätzlich anderes Bild: Konsumenten sind keine bestimmende Kraft im Konsumsystem, sondern ausgesprochen schwach. Vom Leitbild der Konsumentensouveränität wird somit ein normativer Anspruch an die Rolle von Konsumierenden abgeleitet, der nur enttäuscht werden kann. Diese überhöhte Erwartungshaltung zeigt sich beispielhaft im Anfangsbild in der Irritation beim Pol Nachhaltigkeit über das Desinteresse der Konsumenten ihr gegenüber.

Nachhaltigkeitskonzepte, die eine Transformation beim Konsum in den hauptsächlichen Verantwortungsbereich der Konsumierenden legen, haben keine belastbare empirische Basis. Dies spiegelt die Alltagserfahrung als Konsumierende in einem konventionellen Supermarkt wider, z. B. in der Gemüseabteilung: Hier habe ich die Wahl zwischen unverpackten Gurken aus der Region, Bio-Gurken in Plastikverpackung aus den Niederlanden und unverpackten Bio-Gurken aus Spanien. Die Produktionsbedingungen und Transportwege, die Zusammensetzungen der Verpackung sind nicht transparent. Wenn die ökologischen und sozialen Kosten kaum nachvollziehbar sind, wird mir eine souveräne Entscheidung als Konsumentin unmöglich.

Die Beobachtung, dass die Konsumenten stark auf Einkommen fixiert sind, ist kongruent mit gängigen wirtschaftstheoretischen Annahmen. Dass die Konsumenten jedoch erst in der 2. Tier erstmals überhaupt ein Bewusstsein für Nachhaltigkeit entwickeln, wirkte zunächst einmal stark irritierend auf mich. Sollte es Konsumierenden etwa erst ab einer sehr hohen Bewusstseinsstufe möglich sein, sich „nachhaltig“ zu verhalten? Auch wenn diese nach der Theorie der Spiral Dynamics nicht notwendigerweise in allen (Lebens-)Bereichen erreicht sein muss, so ist es dennoch ein sehr weites Ziel für eine Gesellschaft, die vom orange-grünen WMem geprägt ist. Für einen solch langfristigen gesellschaftlichen Kultur- und Wertewandel ist die Zeit angesichts der drängenden globalen Vielfachkrise vermutlich zu knapp. Doch ein Blick in die Praxis gibt mir wieder Hoffnung: Die Gründe, warum Menschen zu nachhaltigen Konsumentscheidungen kommen, sind unterschiedlich. Nicht jede nachhaltige Konsumentscheidung, z. B. der Verzicht aufs Auto, muss mit den systemischen Verwerfungen, die unser westlicher Konsum- und Lebensstil weltweit verursacht, begründet sein, es kann auch schlichtweg schneller, entspannter und kostengünstiger ein, auf öffentliche Verkehrsmittel umzusteigen. Eine solcher Grund ist sogar wahrscheinlicher, denn – so lese ich die Aufstellungsbilder – Konsumierende treffen Entscheidungen, die auch nachhaltig sind, regelmäßig, wenn diese für sie keine unmittelbaren negativen Einkommenseffekte haben, also mit keinem höheren Aufwand an Zeit und/oder Geld verbunden sind. Bewusste Konsumentscheidungen, die zuvörderst nachhaltig sind, setzen einen Planungshorizont auf einer Komplexitätsstufe voraus, von der gemeinhin, zumal in der Hektik alltäglicher Einkaufsroutinen nicht auszugehen ist.

Perspektiven-Triangulation:

Die Aufstellungsdaten stehen im Widerspruch zu Axiomen bezüglich der Verbraucherrolle, die aktuell Nachhaltigkeitsforschung und –praxis bestimmen. Ein aktueller Literaturüberblick (Fischer et al., 2021) zeigt, dass nachhaltiger Konsum in der Forschung weitgehend als ein Feld individueller Verhaltensänderung konzeptualisiert wird. Auch in der Praxis appellieren Unternehmen und Politik sehr häufig an die individuelle Verantwortung von Verbraucher:innen. Viele Nachhaltigkeitskampagnen basieren auf dem Leitbild der Konsumentensouveränität. Ein Beispiel ist die Plakatserie des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) zur Grünen Woche im Januar 2020:

„Sortenvielfalt oder Einheitsapfel? Du entscheidest!“(BMEL, 2020)

Ein weiteres Beispiel ist der Slogan zur Initiative „Zu gut für die Tonne!“, die für einen nachhaltigen Umgang mit Lebensmitteln sensibilisieren soll:

„Du entscheidest, wie viele Lebensmittel im Müll landen!“ (ebd.)

Diese Kampagnenbeispiele suggerieren, der:die einzelne Konsumierende könne unmittelbar über jede individuelle Konsumentscheidung Einfluss nehmen. Auf den Topos der Konsumentensouveränität setzt auch Utopia, eine große Online-Plattform zum Thema Nachhaltigkeit. Ursprünglich hieß das Motto „Die Verbrauchermachtzentrale – Dein Konsum verändert die Welt“ (Marchand, 2015:162). Die Änderung des Slogans in „Verbrauchermacht – Unser Konsum verändert die Welt“ hält am Topos grundsätzlich fest, betont jedoch, dass sich die Marktmacht der Konsumierenden erst in der Summe der Konsumentenentscheidungen zeige. Heute heißt der Slogan der Plattform: „Utopia.de hilft dir, einfach nachhaltiger zu leben.“

Adressat von Nachhaltigkeitsmarketing bleibt der:die individuelle Konsumierende auch für Christoph Werner (2021), Vorsitzender der Geschäftsführung von dm-drogerie markt:

Wir plädieren für Bildung für nachhaltige Entwicklung und Freiwilligkeit durch Einsicht, gesetzliche Regelungen betrachten wir immer kritisch. Wir sollten auf Sog statt auf Druck setzen. Deshalb stellen wir unseren Kunden lieber Informationen zur Verfügung, die es ihnen leicht machen, sich freiwillig für ein ethisch und ökologisch nachhaltig produziertes Produkt zu entscheiden.“ (Werner, 2021:67)

Von Wissenschaftler:innen wird die Annahme einer Konsumentenmacht bereits seit längerem kritisch hinterfragt, wie folgende Streiflichter der Forschungsliteratur zeigen. So führt der Wissenschaftliche Beirat beim BMELV aus:

„In der Politik taucht der mündige Verbraucher in zwei Varianten auf: Mal ist er erstrebenswertes Ziel, mal ist der mündige Verbraucher Ausgangspunkt der Betrachtung. Ist er Ausgangspunkt, soll sich der Gesetzgeber auf „mündige Verbraucher“ stützen, die selbst entscheiden können. Die Politik suggeriert der Öffentlichkeit dadurch Einfachheit und Klarheit, während ein Teil der Forschung längst auf die Vielfalt des Verbraucherverhaltens verweist.“ (Strünck, et al., 2012:2)

Das Bild vom souveränen (oder häufig synonym benutzt: mündigen) Konsumierenden beruht auf marktwirtschaftlichen Prämissen, wie rationales Verhalten, vollständige Information, vollkommener Wettbewerb. Ein Wissenschaftler, der diesen Topos hinterfragt, ist der deutsche Sozialwissenschaftler Fritz Reheis (2015). Er führt aus, dass es keine „Konsumentensouveränität“ gibt, weil Konsumierenden dazu oft 1. die nötige Kaufkraft, 2. die nötigen Informationen, 3. das nötige Angebot fehle sowie 4. die nötige Widerstandskompetenz, die überdies vom Marketing der Unternehmen zusätzlich geschwächt werde:

„Wer aber den Konsumenten für das ökologisch und sozial verträgliche Wirtschaften verantwortlich macht, tut dies in der Regel aus dem Vertrauen auf die Ideologie von der Souveränität des Konsumenten. Diese Ideologie von der Konsumentensouveränität wird durch jeden Appell zum ethischen Konsumieren erneut bekräftigt. Zunächst ist es ziemlich zynisch, jemanden für ein Verhalten, zu dem er keine Alternative hat, verantwortlich zu machen. Und dieser Zynismus hat zudem Langzeitwirkungen. Er erzeugt auf Dauer Abstumpfungseffekte. Wer ständig zur Moral aufgefordert wird, aber dieser Aufforderung aus den aufgeführten Gründen nicht nachkommen kann, der wird moralisch irgendwann gleichgültig. Er wird sich mit dem Gegensatz zwischen moralischem Anspruch und unmoralischer Realität abfinden. Und ein Gewissen, das nicht mehr ernst genommen wird, wird sich über kurz oder lang auch nicht mehr melden, und zwar auch dann nicht, wenn tatsächlich einmal Verhaltensalternativen existieren sollten und das Gewissen dringend gebraucht würde.“ (Reheis, 2015:4)

Zu einer ähnlich kritischen Einschätzung bezüglich herrschender Annahmen in der Nachhaltigkeitsforschung kommt ein Forscher:innen-Team um Seonaidh McDonald und Caroline Oates (2016):

“The path that our collective, unexamined assumptions have ushered us down has turned out to be a dead end street. We have done our best to examine it in minute detail. We have learned a lot but essentially we are looking in the wrong place. It is time to admit that we have navigated into a cul-de-sac and look together for new paths.” (McDonald et al., 2016:164)

Der deutsche Physiker Armin Grunwald (2014) kritisiert ebenfalls eine „konzeptionelle Engführung“ auf das Konsumentenverhalten, die verhindere, Möglichkeiten und Grenzen „nachhaltigen Konsums“ sinnvoll zu analysieren:

„Stärker formuliert: die Erwartung, dass die Konsumentinnen und Konsumenten Nachhaltigkeit über privaten Konsum realisieren, ist ein Kategorienfehler – das individuelle und in liberalen Systemen der Privatsphäre überantwortete Konsumhandeln würde missbraucht, um politische und öffentliche Ziele wie Nachhaltigkeit zu erreichen.“ (Grunwald, 2014:20)

These KS. 8:

Die Konsumentensouveränität, die einen vollständig informierten Konsumierenden voraussetzt, ist eine theoretische Annahme der ökonomischen Theorie, die empirisch nicht belastbar ist. Nachhaltigkeitskonzepte, die auf „Verbrauchermacht – Unser Konsum verändert die Welt“ aufbauen und das Thema eines zukunftsorientierten Konsums in den hauptsächlichen Verantwortungsbereich der Konsumierenden legen, führen in eine konzeptionelle Sackgasse. Für transformativen Konsumwandel ist eine andere Sicht auf die Rolle von Verbraucher:innen dringend erforderlich.

These KS. 9:

Die Gründe, warum Menschen zu nachhaltigen Konsumentscheidungen kommen, sind unterschiedlich. Bewusste Konsumentscheidungen, die zuvörderst nachhaltig sind, setzen einen Planungshorizont auf einer Komplexitätsstufe voraus, von der gemeinhin, zumal in der Hektik alltäglicher Einkaufsroutinen nicht auszugehen ist. Ein erfolgversprechenderer Ansatzpunkt für zukunftsorientierte Konzepte der Konsumsteuerung liegt womöglich in dieser Beobachtung: Konsumierende treffen Entscheidungen, die nachhaltig sind, regelmäßig dann, wenn dies für sie keine negativen Einkommenseffekte hat, also mit keinem höheren Aufwand an Zeit und/oder Geld verbunden ist.

4.1.5 Staat

Kategorien: Machtzentrum; Fokus auf Einkommen; Irrelevanz von Nachhaltigkeit

Beobachtung:

Der Staat ist der einzige Akteur, der im Spannungsfeld der beiden Pole stehen kann. Allerdings hat er Nachhaltigkeit dabei nicht im Blick. Der Staat bleibt in machtvoller Position trotz des sich abzeichnenden Paradigmenwechsels auf der Seite von Einkommen ab der grünen Phase.

Interpretation:

In der Aufstellung ist der Staat der einzige Akteur, der eine starke Mittlerposition zwischen den beiden Polen einnehmen kann. Diese Beobachtung widerspricht dem gängigen Modellbild, das in den Wirtschaftswissenschaften vom Konsumsystem gezeichnet wird (vgl. Abbildung 6.1): Im Mittelpunkt stehen Unternehmen und Konsumenten, als die zentralen Marktakteure, die Angebot und Nachfrage ausbalancieren. Der Staat kommt nur als Randakteur vor. Warum ist das die herrschende Vorstellung, selbst in Modellen, anhand derer eine Transformation des Konsumsystems diskutiert wird? Immerhin verfügt der Staat über den verfassungsmäßigen Auftrag, das Gemeinwohl seiner Bürger:innen sowie die natürlichen Lebensgrundlagen im Interesse zukünftiger Generationen zu schützen.

„Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.“ (Art. 20a GG)

Die Aufstellungsdaten machen eine Ambivalenz zwischen herrschenden wirtschaftstheoretischen Modellen und verfassungsmäßiger Zuständigkeiten des Staates deutlich.Footnote 4 Die Aufstellungsbilder zeigen weiterhin, dass der Staat bei der Transformation des Konsumsystems eine zentrale Rolle übernimmt. Der Weg scheint dabei nicht über – wie auch immer gestaltete – Programme zur Förderung von Nachhaltigkeit zu führen. (In der Aufstellung bezeichnet der Staat den Pol teilweise sogar namentlich als „irrelevant“.) In den Aufstellungsbildern sehe ich vielmehr den deutlichen Hinweis darauf, dass der Fokus auf einer gesellschaftlichen Re-Definition von gesellschaftlichem „Wohlstand“ liegt: Was ist wichtig? Eine Aufgabe von Politik wird es dabei sein, den ordnungspolitischen Rahmen neu zu bestimmen. Wichtig erscheint mir die Beobachtung, dass die Abkehr vom herrschenden Wachstumsparadigma keinen Machtverlust beim Staat nach sich zieht. Ich ziehe aus den Aufstellungsbildern den Schluss, dass Politik sich mehr zutrauen kann, um seinen verfassungsmäßigen Auftrag besser wahrzunehmen! – Wie kann Politik dabei unterstützt und ermutigt werden?

Perspektiven-Triangulation:

Ein kurzer Blick auf politisch richtungsgebende Studien zeigt, dass in der Politik das Wachstumsparadigma weiterhin unangefochten gilt. So sind im SR1.5, dem jüngsten IPPC-Sonderbericht (IPPC, 2018) alle zugrunde gelegten Modelle Wachstumsszenarien. Auch weitere international maßgebliche Studien und Berichte – von den planetaren Belastbarkeitsgrenzen (Rockström et al., 2009) bis hin zu den SDGs – gehen von Wachstumsszenarien auch in den industrialisierten Ländern aus. Das achte Ziel der Sustainable Development Goals lautet:

„Dauerhaftes, inklusives und nachhaltiges Wirtschaftswachstum [Hervorhebung von mir], produktive Vollbeschäftigung und menschenwürdige Arbeit für alle fördern.“ (UN, 2015)

Das ist eine Politik gegen die langfristige Entwicklung, denn das Wirtschaftswachstum in Europa ist bereits seit längerem rückläufig. Einschlägige Studien und Analysen prognostizierten bereits vor der Corona-Pandemie die Fortsetzung dieses Trends (Galbraith, 2014; Gordon, 2012; 2017). Hält der Staat ungeachtet dessen am bisherigen Wachstumskurs fest, riskiert er, seinen demokratischen Spielraum immer weiter, gefährlich weit einzuengen. Wissenschaftler:innen aus den 28 EU-Mitgliedsstaaten haben vor den Folgen dieser Politik in einem offenen Brief gewarnt (Research & Degrowth, 2018)

„Growth is also becoming harder to achieve due to declining productivity gains, market saturation, and ecological degradation. If current trends continue, there may be no growth at all in Europe within a decade. Right now the response is to try to fuel growth by issuing more debt, shredding environmental regulations, extending working hours, and cutting social protections. This aggressive pursuit of growth at all costs divides society, creates economic instability, and undermines democracy.“ (Research & Degrowth, 2018)

Auch in einem Diskussionspapier, das im Auftrag des Umweltbundesamtes erstellt wurde, verweisen Wissenschaftler:innen auf einen Zusammenhang zwischen Wachstum, Einkommen und politischen Gestaltungsspielraum:

„Würde es gelingen, gesellschaftliche Institutionen wachstumsunabhängig(er) zu gestalten, könnte die Politik notwendige (Umwelt-)Politikmaßnahmen unabhängiger von ihren vermeintlich negativen Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum gestalten. Die Spielräume für eine ambitionierte Umwelt-und Nachhaltigkeitspolitik würden sich ausweiten.“ (Petschow et al., 2018:11)

Einen Wechsel der Denkrichtung von der Politik fordern auch Führungskräfte in Unternehmen, die eine einseitige Ausrichtung auf Wachstum und Produktivitätssteigerung zunehmend als Sackgasse erkennen. Der deutsche Umweltwissenschaftler Michael Kopatz (2016:39) berichtet von einer UN-Studie, nach der sich 80 Prozent der CEOs radikalere Vorgaben von der Politik wünschen, um beim Thema Nachhaltigkeit voranzukommen. Auch die OECD stellt im Rahmen der New Approaches to Economic Challenges Unit (NAEC, 2021) neue Fragen zur Zukunft des globalen Wirtschaftssystems.

Schlussendlich decken sich die Beobachtungen aus der Aufstellung für mich auch sehr genau mit der Analyse zum gesellschaftlichen Strukturwandel von Andreas Reckwitz (2019). Der Kultursoziologe prognostiziert in „Das Ende der Illusionen“ für die westlichen Gesellschaften den Anfang einer neuen Epoche, in der Politik (wieder) auf soziale Ordnungsbildung ausgerichtet sei. Der neue Politikstil, den Recknitz als „einbettenden Liberalismus“ (239 ff.) bezeichnet, will die Freiheitszuwächse der vergangenen Jahrzehnte sichern und setzt dabei zugleich stärker auf Regeln als Ausgleich für den „Mangel an Ordnungsbildung gegenüber maximal freisetzenden Märkten, multinationalen Akteuren, individuellen Rechten und kulturellen Identitäten“ (Reckwitz, 2019:286).

These KS. 10:

Eine zukunftsorientierte Konsumsteuerung erfordert eine aktivere Rolle (trans-) staatlicher Akteure, weil nur sie über das Mandat verfügen, den notwendigen neuen ordnungspolitischen Regelrahmen zu setzen. Die politische Stellschraube liegt dabei zuvörderst in der Abkehr vom bedingungslosen Wachstumsdenken und einer anderen, gerechteren Verteilung von Einkommen.

These KS. 11:

Wenn der Staat, die volkswirtschaftlichen Ziele neu ausrichtet, muss dies die politische und wirtschaftliche Stabilität nicht gefährden. Mit einem Festhalten am Wachstumskurs hingegen produziert der Staat Nebenfolgen, die sich nicht allein fatal auf den Ressourcenschutz auswirken, sondern die sich auch rasch zu einer Krise seiner eigenen Existenz ausweiten können. Der demokratische Staat riskiert mit seinem Nichthandeln, seinen Spielraum immer weiter, gefährlich weit einzuengen.

5 Zusammenfassung der Aufstellung „Konsumsystem“

Eine Übersicht der entwickelten Thesen ist im elektronischen Zusatzmaterial einsehbar.

Die Aufstellung „Konsumsystem“ ist für mich ein sehr eindrückliches Beispiel für die enorme Kraft der Aufstellungsmethode, die inneren Landkarten – auch von Kenner:innen eines Systems – zu irritieren. Das gemeinsame Rätseln über einige Aussagen der Stellvertretenden, der Abgleich mit der eigenen mental map sowie mit der Forschungsliteratur ist ein intensiver, rekursiver Prozess, der neue, andere Gedanken produziert und bisherige Sichtweisen z. T. komplett auf den Kopf stellt. (Eine detaillierte Methodenreflexion finden Sie, liebe Lesende, im Abschnitt 15.1.) Im Ergebnis habe ich eine Sammlung unterschiedlicher, erfreulich überraschender und neuer Perspektiven auf mein Untersuchungsfeld gewonnen.

Ein besonderer Analysefokus bei dieser Aufstellung lag, wie ich einleitend ausgeführt habe, auf den systemischen Veränderungen bei einer Transformation des Konsumsystems „hin zu Nachhaltigkeit“. Die Entwicklungsdynamik, die das System in der repräsentierenden Wahrnehmung dann tatsächlich zeigte, war eine riesige Überraschung für mich. Die Transformation vollzieht sich nicht in Richtung Nachhaltigkeit – wie es ja gemeinhin heißt – sondern als Transformation des Pols Einkommen einhergehend mit der Verlagerung des gesamten Systems hin zu Einkommen. Die Aufstellung macht einen „blinden Fleck“ im Diskurs um „nachhaltigen Konsum“ sichtbar: die Unvereinbarkeit der herrschenden Wachstums- und Steigerungslogik mit Nachhaltigkeitszielen. Der Aufstellungsverlauf bestätigt damit die grundlegende Annahme des ressourcenorientierten Nachhaltigkeitsansatzes von Müller-Christ (2014): Die bisherige Win-Win-Hypothese ist nicht haltbar. Die Herausforderung angesichts des unauflöslichen Zielkonflikts im Konsumsystem besteht darin, wie gesellschaftlicher Wohlstand – Gemeinwohl – zukünftig anders definiert werden kann.

Ein weiterer fundamentaler Unterschied, der sich in der Aufstellung zeigt, ist die Rolle von Verbraucher:innen im Konsumsystem. Das Leitbild der Konsumentensouveränität, auf dem wohl die meisten Konzepte der Nachhaltigkeitskommunikation beruhen, lässt sich in der repräsentierenden Wahrnehmung nicht nachweisen. In der Forschungsliteratur finde ich auch vielfach bestätigt, dass das Leitbild vom souveränen „König Kunde“ eine unzureichende Konzeptualisierung des systemischen Wirkungsgefüges im Konsumkontext darstellt. Strategien für dringend erforderliche Transformationen im Konsumsystem sollten die Existenz einer „Verbrauchermacht“ also besser nicht voraussetzen.

Die stärkste Reaktion hat bei mir persönlich die Beobachtung ausgelöst, dass die Konsumenten erst mit einer systemisch-integrativen Sicht fähig waren, ein Bewusstsein für Nachhaltigkeit zu entwickeln. – Hier meldete sich warnend die Politikwissenschaftlerin in mir: Aus diesem Bild zu schließen, dass Konsumwandel die Entwicklung der Konsumierenden zu einer ganzheitlichen Bewusstseinsstufe erfordert, greift gefährlich kurz. Denn eine solche „Lösung“ – quasi die Erschaffung des neuen Konsumierenden – widerspricht dem freiheitlich-demokratischen Menschenbild mit der Projektion souveräner und autonomer Bürger:innen. Beim Reflektieren meiner Gedanken und Empfindungen an diesem Punkt ist mir ein bedeutender Unterschied bewusst geworden: Konsumierende sind Akteure im Bereich der Wirtschaft. Davon zu differenzieren sind Bürger:innen als Akteure des politischen Bereichs. Diese Unterscheidung ist überhaupt nicht trivial und im Untersuchungskontext – wie sich in den folgenden Kapiteln noch zeigen wird – offenbar notwendig, um das Wesentliche in den Blick zu nehmen.

5.1 Diagramm „Konsumsystem“

Auf Basis der elf vorläufigen Thesen zum Konsumsystem habe ich ein Diagramm entwickelt (Abbildung 6.7). Die Visualisierung hilft beim Erkennen der wesentlichen Kategorien und Beziehungsgefüge. Die systemischen Wechselbeziehungen zwischen den prototypischen Akteuren stellen sich in der repräsentierenden Wahrnehmung vollkommen anders dar als in dem Bild (Abbildung 6.1), das der Literatur zu entnehmen ist und auf der Außenwahrnehmung des Konsumsystems beruht: Das Diagramm, das auf den Aufstellungsdaten basiert, zeigt nicht Verbraucher:innen und Unternehmen im Mittelpunkt, stattdessen bildet das Einkommen zusammen mit dem Staat das Machtzentrum. Die Verbraucher:innen nehmen hingegen eine schwache Randposition als Beobachtende ein. Im Verhältnis zwischen Einkommen und Nachhaltigkeit deutet sich auch kein ausgleichender Kompromiss an, wie das Win-Win-Narrativ postuliert, sondern das Spannungsfeld erweist sich in allen Entwicklungsphasen, die im Verlauf der Aufstellung simuliert worden sind, als konstant. Im Konsumkontext existiert zwischen Einkommen und Nachhaltigkeit ein Dilemma, das unauflösbar ist. Der Einkommenspol wandelt sich vom Macht- zum Transformationszentrum.

Die Ausrichtung der übrigen Akteure in dem Spannungsfeld mag z. T. zunächst überraschend erscheinen: Unternehmen sehen ihren eigentlichen Platz zwischen den Polen und haben Nachhaltigkeit stets im Fokus. Die Aufmerksamkeit der Konsumenten ist unveränderlich auf Einkommen gerichtet. Die Medien erweisen sich als loyale Unterstützerin von Nachhaltigkeit. NGOs nehmen im Konsumsystem eine auf Distanz achtende Beobachterposition als Watch Dogs ein. Die Wissenschaft, die sich anfänglich um sich selbst dreht, gewinnt im Transformationskontext von Einkommen eine einflussreiche Position neben dem Staat. Insgesamt wird deutlich, dass die Resonanz- sowie Durchgriffsfähigkeit jedes einzelnen Akteurs begrenzt ist und ein transformativer Wandel nur im systemischen Wechselspiel gelingt.

Abbildung 6.7
figure 7

(Eigene Abbildung)

Neue Perspektiven aus der repräsentierenden Wahrnehmung: Wechselbeziehungen innerhalb des Konsumsystems.

5.2 Weiterführende Überlegungen und neue Fragen

In der Gesamtschau geben die gefundenen Kategorien und provisorisch-vorläufigen Thesen respektive Ad-hoc-Hypothesen zum Konsumsystem Hinweise auf zwei wesentliche Fragen, wie transformativer Wandel gelingen können; und zwar

  1. (1)

    „was – mit welchem Ziel – überhaupt verändert werden soll; (…)

  2. (2)

    wie gesteuert werden kann und soll“ (Brand, 2017:120 f.)?

ad 1: Das Wandlungsziel im aktuellen Nachhaltigkeitsdiskurs basiert maßgeblich auf dem Win-Win-Narrativ. Doch es gibt überzeugende empirische Belege – in der repräsentierenden Wahrnehmung wie auch in der Außenwahrnehmung –, dass dieses Postulat nicht länger haltbar ist. Der Pol Einkommen tritt von seiner Vorrangstellung zurück und besinnt sich auf ein rechtes Maß. Nachhaltigkeit hat gegen diese Metamorphose ihres Gegenpols nichts einzuwenden, allerdings empfindet sie den freien Raum, der dadurch vor ihr entsteht, als „unangenehm“. Diese Sequenz lese ich als Hinweis auf eine Leerstelle im gesellschaftlichen Transformationsdiskurs im Konsumkontext, in der Gesamtschau führt sie mich zu der zentralen Frage:

Was kommt nach der bisherigen Erzählung von „Nachhaltigkeit“? Welches gesellschaftliche Narrativ ist besser geeignet, um die dringend erforderliche Neuorganisation (im Konsumsystem) zu unterstützen?

Die Abkehr von dem Win-Win-Narrativ und der ausschließlichen Wachstumsorientierung berührt unmittelbar das Selbstverständnis wohlhabender Konsumgesellschaften. Wir müssen eine andere Vorstellung von gesellschaftlichem Wohlstand – Gemeinwohl – entwickeln.

Was bedeutet (in wohlhabenden Konsumgesellschaften) ein „Genug“?

ad 2: Die Aufstellung gibt auch erste Hinweise auf einen möglichen Beitrag, den die unterschiedlichen gesellschaftlichen Akteure bzw. Bereiche bei transformativen Konsumwandel jeweils leisten können. Dabei stellen sich die Spielräume, die einzelne Akteure im Konsumsystem haben, anders dar als sie der Praxis der Nachhaltigkeitskommunikation i. d. R. zugrunde gelegt sind, womit weitreichende Folgen für mögliche Strategien einer zukunftsorientierten Konsumsteuerung verbunden sind. Für die Bearbeitung meines Untersuchungsfeldes im Rahmen dieser Arbeit muss ich eine Auswahl treffen. Auf Basis der in der Aufstellung gewonnenen Erkenntnisse halte ich im Rahmen dieser Arbeit die Konzentration auf die Akteure bzw. Bereiche Konsumierende und Unternehmen sowie ferner Politik für sinnvoll und leistbar.

Hinsichtlich der Rolle von Konsumierenden zeigt sich in der repräsentierenden Wahrnehmung (sowie in Teilen der Forschungsliteratur), dass das Leitbild der Konsumentensouveränität eine unzureichende Konzeptualisierung des systemischen Wirkungsgefüges darstellt. Das Argument des an der Umwelt- und Klimakrise „schuldigen Konsumenten“ wird durch diese Beobachtung außer Kraft gesetzt – und der moralische Appell (dessen Wirkungslosigkeit ohnehin bekannt ist) erscheint gänzlich obsolet. Stattdessen rücken neue Fragen in den Mittelpunkt:

Es ist wichtig zu verstehen, weshalb Konsumentenhandeln engen Grenzen unterliegt. Deshalb: Wer tritt an die Stelle des bisherigen „souveränen Konsumenten“? Oder mit Luhmann gefragt: „Wie konstruiert man in eine Welt, die so ist wie sie ist, Freiheiten hinein“ (zitiert nach Bardmann, 1997:72)?

Für die Rolle von Unternehmen im Transformationsprozess des Konsumsystems zeigt sich, dass der Handlungsspielraum wesentlich größer ist als es unter dem Eindruck des herrschenden Wachstumsparadigmas erscheinen mag. Unternehmen handelten vielmehr wirtschaftlich vernünftig, wenn sie sich verantwortungsvoll gegenüber Gesellschaft und Natur verhielten. Sie haben also größtes Potenzial, als Treiber für transformativen Wandel zu agieren. Aus dieser Beobachtung leitet sich als neue erkenntnisleitende Frage ab:

Wie können Unternehmen ihr Potenzial als Katalysator für eine dringend erforderliche, grundlegende Neuorganisation im Konsumsystem (besser) nutzen – und was fördert solche Möglichkeiten?

Die Steuerleistung von Politik ist noch immer groß. Das zeigen die Aufstellungsbilder vom KonsumkontextFootnote 5. Der Staat steht deshalb in vorderster Verantwortung, den Transformationsdiskurs im Konsumkontext aktiv zu gestalten. Mit einem Nicht-Handeln riskiert der demokratische Rechtsstaat hingegen seinen eigenen Spielraum immer weiter, ja sogar gefährlich weit einzuengen. Wenn die Politik ihren Gestaltungsraum jedoch nutzt, um der jahrzehntelangen Entwicklung einer zunehmenden Ökonomisierung unter dem Wachstumspostulat jetzt klare Grenzen zu setzen, bleiben politische Stabilität und demokratischer Spielraum erhalten. Die Frage ist:

Wodurch wird Politik ermutigt, ihren demokratischen Gestaltungsraum pro-aktiv und tatkräftig zur Förderung von transformativen Konsumwandel zu nutzen?