Theoretische Bezugsrahmen sorgen in der Forschung mit Aufstellungen für die notwendige theoretische Sensibilität. Denn „theorieloses Experimentieren mit Aufstellungen verkommt leicht zu Beliebigkeit oder Manipulation“ (Müller-Christ & Pijetlovic, 2018:71). In der Vorbereitung auf die Phase der Datenerhebung und -analyse habe ich eine Reihe jüngerer Gesellschafts- und Systemtheorien studiert. Sie dienen mir als „Bezugsrahmen und Ordnungsangebote, die helfen vitale Fragen zu stellen, innovative Formate zu entwickeln und die Ergebnisse von Aufstellungen zu interpretieren“ (ebd.).

Die herangezogenen Theorien beschäftigen sich mit der Bewältigung von Komplexität. Gemein ist ihnen, dass sie sich vom Kant’schen „Korrelationismus“ abwenden, nach dem die Welt und die in ihr existierenden Dinge immer nur vom wahrnehmenden Subjekt aus zu denken sind. Während Luhmanns Blick auf die System-Umwelt-Grenze ausgerichtet ist und das Individuum analytisch scharf von der Gesellschaft trennt, gehen die jüngeren Ansätze von einer systemisch-integralen bzw. holonischen Denkweise aus: Sie kennen neben der Ich-Perspektive auch einen Wir-Modus, die sie „intelligenter miteinander abstimmen wollen“ (Müller-Christ & Pijetlovic, 2018:72). In diesem „Wir“ liegen nach Charles Sanders Peirce größte Erkenntnispotenziale:

„Einstweilen wissen wir, dass der Mensch keine Ganzheit ist und dass er wesentlich ein mögliches Mitglied der Gesellschaft ist. Insbesondere ist die Erfahrung eines Menschen, solange sie alleine steht, nichts. Wenn er etwas sieht, was andere nicht sehen können, nennen wir es Halluzination. Es ist nicht ‚meine‘ Erfahrung, sondern ‚unsere‘ Erfahrung, an die zu denken ist; und dieses „wir“ hat unbegrenzte Möglichkeiten.“ (zitiert nach Rynkiewicz, 2012:329)

Liebe Leser:innen, Sie können dieses Kapitel zunächst überspringen und später in der Phase der Datenerhebung und -analyse – in den Abschnitten III. und IV. – wieder hierher zurückkommen, um die skizzierten Theorien in ihrem jeweiligen Anwendungszusammenhang zu lesen. Zur leichteren Orientierung habe ich bei jeder der im Folgenden vorgestellten Theorie vermerkt, bei welchen Aufstellungen ich sie als theoretischen Bezugsrahmen herangezogen habe. Für das Verständnis reicht es, die Theorien grob zu skizzieren.

1 Systemtheorie

Anwendung in dieser Arbeit: Bei der Arbeit mit Aufstellungen ist eine systemische Sicht immer schon, wie weiter oben ausgeführt, implizit. Deshalb nehme ich bei der Analyse fast jeder Aufstellung im Rahmen dieser Arbeit auf systemtheoretische Konzepte Bezug; insbesondere bei der Aufstellung „Das innere Wesen des Marketing“ (Kapitel 7) sowie der Aufstellung „Attitude Behaviour Gap“ (Kapitel 10).

Ein nützliches theoretisches Gerüst beim Beobachten und Erkunden von Systemen bietet die Systemtheorie des Soziologen Niklas Luhmann (1927–1998) (zur Einführung Baraldi et al., 2011; Becker & Reinhard-Becker, 2001; Berghaus, 2011; Kneer & Nassehi, 2009; Reese-Schäfer, 1999; Schuldt, 2005). Ich beziehe mich in dieser Arbeit – neben der Schrift „Die Realität der Massenmedien“ (Luhmann, 1995a/2017) – insbesondere auf „Ökologische Kommunikation“ (Luhmann, 1986/2008). Dieses Buch ist nicht nur thematisch relevant für mein Forschungsthema, sondern bietet gleichzeitig eine komprimierte Übersicht zur Systemtheorie, die Luhmann zuvor in seinen Hauptwerken „Soziale Systeme“ (1984)Footnote 1 sowie „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ (1997) entfaltet hat. (Simon, 2008:4620)

Die Luhmannsche Systemtheorie markiert einen Paradigmenwechsel in der Soziologie und auch in der Systemtheorie selbst. Den Menschen sieht Niklas Luhmann als ein Konstrukt bestehend aus psychischem, biologischem und sozialem System (Abbildung 4.1). Aus dieser Perspektive besteht Gesellschaft nicht aus Menschen, sondern aus Kommunikationen dieser Systeme. Kommunikation im Luhmannschen Sinne bedeutet somit nicht die Übertragung von Information zwischen Sender und Empfänger sondern die – hochkomplexe – Operation sozialer Systeme.

Luhmann, ein Schüler des US-amerikanischen Systemtheoretikers Talcott Parsons (1902–1979), setzte als grundlegende Prämissen anstelle von „Struktur“ und „Funktion“ die Konzepte der „Selbstreferentialität“ und „Autopoiesis“. Autopoiesis respektive Autopoiese ist eine WortschöpfungFootnote 2 der Biologen Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela (1982). Sie bezeichnen damit ein kybernetisches Organisationsprinzip, das für alle Lebewesen gilt: Alle lebendigen Systeme – ob Mensch, Tier, Pflanze, Pilz und Bakterie oder Virus – haben die Fähigkeit zur Selbstregulation, d. h. sie stellen in einem rekursiven Reproduktionsprozess die Elemente, aus denen sie bestehen, selbst her. Sie können ihr inneres Gleichgewicht selbstreferentiell, d. h. nach Maßgabe interner Strukturen steuern.

Abbildung 4.1
figure 1

(Eigene Abbildung in Anlehnung an Berghaus, 2011:62)

Operationsweisen unterschiedlicher Systemtypen.

Wichtiges Merkmal autopoietischer Systeme ist ihre Geschlossenheit gegenüber ihrer Umwelt. Sie können nicht außerhalb ihrer Systemgrenzen, also auch nicht innerhalb anderer Systeme operieren. Auch soziale Systeme sind gemäß der Luhmannschen Systemtheorie selbstreferentielle autopoietische Systeme:

„Die Vorstellung der Elemente des Gesellschaftssystems muß von substantiellen Einheiten (Individuen) auf selbstreferentielle Operationen umgestellt werden, die nur im System und nur mit Hilfe eines Netzwerks von gleichen Operationen hergestellt werden können (Autopoiesis). Für den Fall von sozialen Systemen im allgemeinen und von Gesellschaftssystemen im besonderen scheint sich hierfür die Operation der (immer selbstreferentiellen) Kommunikation am besten zu eignen.“ (Luhmann, 1986/2008:17)

Die Gesellschaft – respektive ihre verschiedenen Teilsysteme – kann sich auf eine sich (bedrohlich) verändernde Umwelt, wie z. B. die Klimakrise anpassen. Sie tut dies jedoch nicht aus Sorge um das Klima, Tiere oder Pflanzen; autopoietische Systeme streben zuvörderst nach der „Fortsetzung der Autopoiesis ohne Rücksicht auf Umwelt“ (Luhmann, 1986/2008:25). Sie operieren kurzsichtig, auf den nächsten Schritt fokussiert und kaum zukunftsorientiert. Ich werde auf diese Frage an anderer Stelle zurückkommen. Wichtig in diesem Zusammenhang erscheint mir Luhmanns „Äquivalenzfunktionalismus“:

„Für soziale Systeme ist kennzeichnend, dass sie nicht unbedingt auf spezifische Leistungen angewiesen sind, mit denen sie stehen und fallen. Wichtige Beiträge zu ihrer Erhaltung werden durch Leistungen erbracht, die durch andere, funktional äquivalente Leistungen ersetzbar sind.“ (Luhmann, 1970/2017:42)

Vor diesem Hintergrund lautet die Frage von Transformation nicht mehr „Wie kann die Bestandserhaltung von Systemen gesichert werden?“, sondern „Welche Funktionen erfüllen bestimmte Systemleistungen, und durch welche gleichwertigen Funktionen können sie ersetzt werden“ (Schuldt, 2005:20)?

Die moderne Gesellschaft ist in der Luhmannschen Systemtheorie ein funktional differenziertes Gesamtsystem, in dem autonome Funktionssysteme – z. B. Politik, Wirtschaft, Recht und Kunst – jeweils selbstbestimmt entscheiden, welche Kommunikationen aneinander anschließen. Dennoch bilden sich Strukturen aus, „die zu bestimmten Umwelten passen und sich auf diese Weise spezialisieren, also Freiheitsgrade, die ihre Autopoiesis an sich bereithielte, einschränken“ (Luhmann, 1978/2002:24). Wie ist das möglich?

Luhmann erklärt dies mit dem Begriff der „strukturellen Kopplung“. Autopoietische Systeme sind zwar geschlossen, aber durchaus sensibel für Umweltreize. Sie steuern ihre Umweltkontakte selbst, nach Maßgabe interner Strukturen und zwar so, wie sie für das Überleben, die eigene Autopoiesis notwendig sind. Alle Beziehungen darüber hinaus sind Energieverschwendung. Strukturelle Kopplungen sind Symbiosen zu beidseitigem Nutzen (Schuldt, 2005:31) und können sehr unterschiedlich gestaltet sein. Die Funktionssysteme Politik und Wirtschaft sind z. B. über Wirtschafts- und Steuergesetze gekoppelt, und gleichzeitig beeinflusst die Wirtschaftsstimmung auch Wahlen.

Von besonderer Bedeutung ist die strukturelle Kopplung sozialer und psychischer Systeme. Beide Systeme operieren (im Unterschied zu Maschinen und Organismen) auf der Basis von Sinn.Footnote 3 Luhmann verwendet „Sinn“ nicht im teleologischen Sinne, wozu etwas da ist, sondern definiert den Begriff grundsätzlich neu, nämlich formal bzw. funktional: Sinn ist für Luhmann die Gesamtheit dessen, was in einem System möglich ist. Der jeweilige Sinnhorizont ist dabei – neben der Eigenkomplexität – für psychische Systeme durch das überhaupt Denkbare, für soziale Systeme durch das überhaupt Kommunizierbare bestimmt. (Becker & Reinhard-Becker, 2001:46)

Die Schnittstelle, an der sich psychische und soziale Systeme begegnen, ist der Mensch. Beide Systemtypen sind stark aufeinander bezogen und angewiesen: ohne Bewusstsein keine Kommunikation und umgekehrt. Dennoch sind beide geschlossene Systeme; sie operieren getrennt voneinander. Nur das Bewusstsein kann denken, nur die Kommunikation kann kommunizieren. Die Konsequenz führt Niklas Luhmann (1986/2008) aus:

„Realistisch gesehen wird man deshalb die übliche Vorstellung, erst müsse ein ‚Subjekt‘ sich bewußt zur Kommunikation entschließen und dann könne es kommunikativ handeln, umkehren müssen. Erst wenn, aus Gründen, die nicht einem Bewußtsein zugerechnet werden können, ökologische Kommunikation in Gang kommt und die Autopoiesis gesellschaftlicher Kommunikation mitzubestimmen beginnt, kann erwartet werden, daß Themen dieser Kommunikation mehr und mehr auch Bewußtseinsinhalte werden. Auch dies heißt dann nur, daß die gesellschaftliche Kommunikation ihre Umwelt, hier: Mentalzustände, verändert. Was daraus für die Gesellschaft folgt, läßt sich wiederum nur in einer Analyse möglicher Kommunikation, in einer Analyse der Resonanzfähigkeit des Gesellschaftssystems, erfassen.“ Luhmann (1986/2008:43)

Im systemtheoretischen Denken ist Bewusstsein als solches keine soziale Tatsache, sondern eine psychische. Auch diese Luhmannsche Unterscheidung ist – wie sich im weiteren Verlauf meiner Arbeit noch mehrfach zeigen soll – für meinen Analysefokus und Weichenstellungen im Untersuchungsverlauf hochrelevant.

2 Eisbergmodell

Anwendung in dieser Arbeit: Das Eisbergmodell unterstützt mich bei der Analyse der Aufstellung „Das innere Wesen des Marketing“ (Kapitel 7). Die Aufstellung ist zwar ohne theoretisches Bezugssystem konzipiert, doch während des Auswertungsprozesses hat sich das Eisbergmodell mir von sich aus – im Rahmen eines abduktiven Prozesses – als Ordnungsmodell angeboten.

Gemäß der Systemtheorie nach Luhmann lassen sich Gesellschaft und gesellschaftliche Teilsysteme auch ohne menschliche Beziehungen beschreiben. Diese Perspektive ist sehr nützlich, um komplexe Systeme verstehen zu lernen. Die Aufstellungsmethode ermöglicht, systemtheoretisch gewonnene Einsichten noch zu vertiefen bzw. zu erweitern. Denn mittels Aufstellungen lassen sich Systeme nicht nur von außen, durch Beobachtung und Messung beschreiben, sondern auch von innen heraus erkunden. An der Universität Bremen im Fachbereich Nachhaltiges Management ist ein Modell entwickelt worden, das die Tiefenstruktur von Systemen darstellt, wie sie sich in unzähligen Aufstellungen präsentiert hat: das Eisbergmodell. (Müller-Christ & Pijetlovic, 2018:83 ff.)

Die Abbildung 4.2 zeigt das Eisbergmodell. Auf der Sachebene wirken Steuerungsmechanismen, die für alle sichtbar sind. Dazu gehören u. a. formale Rollenerwartungen, Funktionszuschreibungen, Zielvereinbarungen. Mit zunehmender Komplexität steigt die Bedeutung persönlicher Verbindungen, und es rücken die informalen Ansprüche der Beziehungsebene in den Vordergrund. Auf einer tieferliegenden Ebene, im Übergang zur Systemebene lassen sich dann die unveränderlichen Zusammenhänge erkennen, die erstmals der Kieler Quantenphysiker und Coach Dieter Bischop (2010) als „Systemgesetze“ beschrieben hat: 1. Recht auf Zugehörigkeit (das Gegenteil wäre Ausschluss) (Person, …); 2. Anerkennung, Wertschätzung, Respekt (Person, Kultur, Ordnung…); 3. Gleichgewicht von Geben und Nehmen; 4. früher vor später; 5. höhere Verantwortung/höherer Einsatz hat Vorrang; 6. mehr Kompetenz/mehr Wissen hat Vorrang; 7. neues System vor altem System; 8. Gesamtsystem vor Einzelperson oder Untersystem; 9. aussprechen/anerkennen, was ist sowie 10. Ausgleich schaffen. Im Rahmen von Forschungsaufstellungen an der Universität Bremen sind zwei weitere Systemgesetze beobachtet worden (Müller-Christ & Pijetlovic, 2018:86 ff.). Beide beziehen sich auf die logischen Spannungsfelder in Systemen:

„Neu: Recht auf Aufrechterhaltung von Polaritäten

Jedes System ist durchzogen von Polaritäten, die teilweise als Kontinuum, teilweise als logische Dilemmata auftreten. Diese Spannungsfelder sind die Energiequellen aller Systeme, weil sie nach einem Ausgleich drängen und das System damit weiterentwickeln. Werden logische Spannungsfelder ignoriert und in ihrem Beitrag zur Weiterentwicklung des Systems nicht gesehen, treten sie als zwischenmenschliche Konflikte wieder auf und führen zu erheblichen Reibungsverlusten auf der Beziehungsebene. Polaritäten und Spannungsfelder können nicht gelöst, sondern nur bewältigt werden. Alle systemischen Lösungen müssen bei Aufrechterhaltung der Polaritäten entwickelt und umgesetzt werden. Konflikte sind nach ihrer Lösung entfernt, Polaritäten nach ihrer Bewältigung immer noch energiebringend vorhanden.

(…)

Neu: Ausgleiche müssen sich über einen längeren Zeitraum ausgleichen

Weil die Polaritäten und Spannungsfelder allseits präsent sind, müssen die Trade-offs laufend ausgeglichen werden. Damit dieser Ausgleich jedoch nicht immer dieselben belastet, muss ein System eine innere Buchführung des Ausgleichshandelns aktivieren, damit Ausgleiche über einen längeren Zeitraum ausgeglichen auf alle Systemelemente verteilt werden.“ (Müller-Christ & Pijetlovic, 2018:88 f.)

In der Tiefe des Eisbergmodells herrscht das Ethos. Es ist der Träger aller essenziellen Informationen, quasi die DNA des Systems. Mit der Annahme einer „unverrückbaren Tiefenstruktur“ ist eine „starke Hypothese“ verbunden, schreiben Georg Müller-Christ und Denis Pijetlovic (ebd.:98f): Das Ethos fungiert auch als Schaltstelle, die ähnlichen Systemen ermöglicht, untereinander Informationen auszutauschen. In der Abbildung 4.2 ist diese Vorstellung eines morphogenetischen Feldes durch Pfeile angedeutet.Footnote 4

Abbildung 4.2
figure 2

Das Eisbergmodell (Müller-Christ, 2016c)

3 Spiral Dynamics

Anwendung in dieser Arbeit: Auf die Theorie Spiral Dynamics nehme ich (mit Ausnahme der Aufstellung „Das innere Wesen des Marketing“) in jeder Aufstellung Bezug. Besonders bei den Aufstellungen „Konsumsystem“ (Kapitel 6) sowie „Kommunikationsstrategien“ (Kapitel 9) stellen Spiral Dynamics den theoretischen Bezugsrahmen und sind damit wichtige theoretische Referenzen in der Analyse.

Die Theorie der Spiral Dynamics basiert auf der Ebenentheorie der Persönlichkeitsentwicklung nach Clare W. Graves (2005). Die US-amerikanischen Management-Berater Donald Edward Beck und Chris Cowan (2005; 2007/2014) haben Graves’ Arbeiten mit dem Konzept der „Meme“Footnote 5 kombiniert, welches wiederum auf den britischen Soziobiologen Richard Dawkins (1976) zurückgeht. (Beck & Cowan, 2007/2014:78 f.)

Spiral Dynamics beschreiben die Bewusstseinsentfaltung zu höheren Niveaus der Komplexitätsbewältigung. Im Zentrum der Spiral Dynamics-Theorie stehen Bewusstseinsebenen und Wertesysteme, die zusammen ein sich spiralförmig verschränktes Gesamtsystem bilden. Den unterschiedlichen Bewusstseinsebenen sind bestimmte Glaubenssätze, Überzeugungen und Verhaltensweisen zugeordnet, mit denen die Herausforderungen des jeweiligen (Zeit-)Kontextes bewältigt werden können. Den Schlüssel zu persönlicher und gesellschaftlicher Entwicklung bilden die Meme bzw. die Stufen oder Wellen der BewusstseinsentwicklungFootnote 6:

„Versuche, das Denken von Menschen oder die Gründe hierfür zu ändern, sind sowohl naiv als auch unwirksam, solange sie die Rolle der Meme außer Acht lassen. Wenn es tatsächlich von Bedeutung ist, dass Prioritäten im Denken einem Wandel unterliegen und bestimmte Verhaltensweisen unterbunden oder verändert werden, dann muss man die jeweils zu Grunde liegenden Meme beachten und mit ihnen arbeiten.“ (Beck & Cowan, 2007/2014:114 f.)

Die Theorie der Spiral Dynamics unterliegt keinem Zyklus, sondern folgt dem spiralförmigen Pfeil der Evolution – vom weniger komplexen zu hochkomplexen Formen. Zwischen den einzelnen Wertesystemen gibt es keine Rangfolge oder Bewertungen im Sinne von gut und schlecht. Das Entwicklungsmodell ist bewusst als Spirale und die einzelnen Wertememe (WMeme) in neutralen Farbcodes dargestellt.

Die folgende Abbildung 4.3 zeigt die neunFootnote 7 Wertesysteme, die sich in den letzten 100.000 Jahren entwickelt haben. Innerhalb der Spirale ordnen sich die WMeme in zwei Gruppen. Die Wellen der Bewusstseinsentfaltung durchlaufen einen Wechsel der Aufmerksamkeit zwischen Innenwelt und Außenwelt. Sie pendeln zwischen einer Ich- und einer Wir-Perspektive hin und her.Footnote 8 Die WMeme bis Stufe Grün bilden die erste Ordnung (1. Tier); mit der Stufe Gelb beginnt die zweite Ordnung (2. Tier). Während Meme der ersten Ordnung jeweils nur ihre eigene Problemlösungslogik verstehen und miteinander konkurrieren, vollzieht sich mit dem Übergang von der Bewusstseinsstufe Grün zu Gelb nach Graves „ein bedeutsamer Sprung“ (Beck & Cowan, 2007/2014:436): Ab der 2. Tier wird die Bedeutung und Legitimität der anderen Wertesysteme erfassbar. (ebd.:101 f.) Das alte Paradigma ist bestimmt von Ängsten der Existenz-Ebene. Mit dem neuen Paradigma beginnt die Seins-Ebene. In diesem vollkommen neuen Kontext des Hyperraums der 2. Tier wiederholen sich die wesentlichen Themen der vorangegangenen Ebenen: Die beige Stufe der 1. Tier korrespondiert mit der gelben Stufe der 2. Tier. Türkis ist die höhere Ausprägung von Purpur.

Abbildung 4.3
figure 3

(Eigene Abbildung nach Beck & Cowan, 2007/2014; Symbolbild: pngegg.com)

Entwicklungsebenen nach Spiral Dynamics.

Die Theorie Spiral Dynamics ist auf alle menschlichen Entwicklungs- und Organisationsformen, ob Individuen, Unternehmen, Staaten, Gesellschaften oder Milieus, anwendbar. Die Persönlichkeit eines Menschen oder einer Gruppe setzt sich in der Regel aus verschiedenen Memen zusammen. Je nach Lebensbereich des Menschen oder Abteilung eines Unternehmens dominieren unterschiedliche Denk- und Verhaltensweisen. So befindet sich die Geschäftsführung eines Unternehmens, das nach Gewinnmaximierung strebt, auf der orangenen Ebene, während seine CSR-Abteilung den Stakeholder-Dialog mit Strategien der grünen Phase bestreitet. (Beck & Cowan, 2007/2014:100 f.)

Die Bewusstseinsebenen, die aktuell in den westlichen Gesellschaften vorherrschen, sind Blau, Orange und Grün sowie in Teilbereichen Gelb, ferner Türkis. (Beschreibung der Bewusstseinsebenen ausführlich bei u. a. Küstenmacher et. al., 2010/2015; One Mind; o. J.)

Mit der blauen Stufe erwacht das Bewusstsein von Konsequenz: Das heutige Handeln hat Auswirkungen auf spätere Ereignisse. Moralvorstellungen entstehen (und damit einhergehend Schuldgefühle) sowie Tugenden wie Fleiß, Pünktlichkeit und Ordnung. Das Recht zur Machtausübung verschiebt sich von der Frage der persönlichen Stärke hin zur Frage der Legitimation qua Heiliger Schrift, Gesetz, Amt etc. Das blaue Denken wähnt sich im Besitz der „absoluten Wahrheit“. Vielschichtigkeit und Ambivalenz haben da nur wenig Raum. Eine große Gefahr auf der blauen Bewusstseinsebene ist deshalb das Erstarren von Regeln zum Dogmatismus. Blaues Denken ist vorherrschend in hierarchisch organisierten Institutionen, wie Behörden, das Militär, Kirchen und Sekten.

Mit der orangefarbenen Stufe beginnt das Zeitalter des rationalen Denkens. Im Klima der Aufklärung und Moderne wird geforscht und alles hinterfragt. Niemand muss mehr an Gott glauben. Der mündige Bürger wird geboren. Wissenschaft ermöglicht technische Fortschritte, Aggressionen werden in Form des Wettbewerbs kultiviert. Die Welt zeigt sich voller unbegrenzter Möglichkeiten. Die Optionen werden daraufhin geprüft, wo der (materielle) Erfolg am größten erscheint. Eine große Gefahr auf der orangefarbenen Bewusstseinsebene ist Sinnleere. Die Reduktion auf das Materielle führt letztlich zur Erschöpfung der planetaren Ressourcen. Orangefarbenes Denken ist vorherrschend in wettbewerbsorientierten Bereichen, wie z. B. vielen Sportarten und der (Markt-)Wirtschaft.

Mit der grünen Stufe etabliert sich eine neue Art von Verbundenheit, die alle Menschen unabhängig von Geschlecht, Alter, Herkunft oder Religion gleichermaßen umfasst. Konkurrenz und Materialismus als vorherrschende Problemlösungsmuster werden abgelöst durch Kooperation. Die große Innovationskraft dieser Phase liegt in der Vernetzung von Institutionen und Menschen. Eine große Gefahr auf der grünen Bewusstseinsebene sind zum einen Stillstand infolge ausbleibender Entscheidungen und zum anderen eine nachgerade militante Ablehnung – in Gestalt des „ätzenden grünen Mems“ (Wilber, 2008) – gegen alles, was die eigene grüne, „politisch korrekte“ Ideologie nicht teilt. Grünes Denken ist vorherrschend in gemeinnützigen und basisdemokratischen Organisationen und Netzwerken, wie bspw. Entwicklungshilfe- und Umweltschutzorganisationen und Verbänden einer nachhaltigen Wirtschaft.

Mit der gelben Stufe beginnt der Hyperraum des sekundärschichtigen Bewusstseins: Jetzt wird zum ersten Mal die Fähigkeit ausgebildet, den Wert und Sinn anderer Wertesysteme zu erkennen. Diese Fähigkeit wird als 2. Tier-Denken bezeichnet, während alle vorangegangenen Wellen dem 1. Tier-Denken zugeordnet werden.

Mit der gelben Stufe entsteht eine neue Sehnsucht nach persönlicher Freiheit und Selbstverantwortung. Statt Ideologien zu vertreten oder nach der „für alle Beteiligten besten“ Lösung zu suchen, wird nach der Funktionalität oder dem Sinn gefragt. Wissen und Kompetenz haben Vorrang vor Status und Gruppeninteressen. Gelbes Denken eröffnet einen neuen Horizont für das Wahrnehmen von Realität: Der freie Wille relativiert sich angesichts der Akzeptanz dessen, was sonst noch ist. Eine große Gefahr auf der gelben Bewusstseinsebene liegt jedoch in einer gewissen Unverbindlichkeit zweckgebundener Netzwerke, die ein adäquates Reagieren auf globale Herausforderungen erschwert. Gelbes Denken ist vorherrschend in Institutionen mit einem systemisch-integrativen Ansatz wie Peter Senges lernende Organisationen, Soziokratie 3.0 und Holokratie.

Mit der türkisfarbenen Stufe schärft sich das Bewusstsein dafür, dass alles mit allem verbunden ist – Gefühl und Wissen, Geist und Materie. Im holistischen Denken ist die Welt ein vielfältiges Puzzle, bei dem sich jedes Teil in sinnvoller Weise in das Gesamtbild einfügt. Türkis nutzt die positiven Kräfte aller Bewusstseinsebenen: die Naturverbundenheit von Purpur, die Energie von Rot, die Strukturen von Blau, die Kreativität und Zielorientierung von Orange sowie den Gemeinsinn von Grün und die Flexibilität von Gelb. Die Herausforderung auf der türkisfarbenen Bewusstseinsebene liegt im Unterscheiden zwischen Zwang und Freiheit: Ist die Entscheidung eine verantwortungsbewusste Wahl oder wird mit ihr das Selbst aufgeopfert? Türkisfarbenes Denken findet sich in Organisationen, die sich in ihrer Vision und Strategie an holistisch-globalen Entwicklungszielen ausrichten.

Die Qualität der Stufe Koralle ist eine komplexere Version der roten dritten Ebene. Beck & Cowan (2007/2014:105 f.) beschreiben sie als einen „Sprung in die ‚Ära des Denkens‘, in der wir möglicherweise schon bald die biologische Evolution durch die Bioethik verändern werden“. Ken Wilber (2001a/2010:163) beschreibt Koralle als „psychisch-mediale Welle“ (ausführlich Wilber, 2001b).

Zwischen den einzelnen Wertesystemen gibt es keine Hierarchie: Jede Stufe übernimmt essenzielle Funktionen, die von darauffolgenden Stufen nicht umgangen werden können, sondern einbezogen werden müssen. Deshalb führen Missachtung und Diskriminierung einzelner Stufen zu schwerwiegenden Folgen für das Ich und die Gesellschaft. Ken Wilber (2001a/2010) postuliert als „Hauptdirektive“ integralen respektive holistischen Denkens, „die Gesundheit der Gesamtspirale und nicht die Gesundheit einer bestimmten Ebene“ zu beachten:

„Eine wahrhaft integrale Erziehung zwingt nicht einfach jedem einzelnen vom ersten Tage an das grüne Mem auf, sondern begreift vielmehr, dass Entwicklung sich in phasenspezifischen Wellen zunehmender Einbeziehung entfaltet. (…) Das Bewusstsein fließt geschmeidig von der archaischen zur magischen zur mythischen zur rationalen zur integralen Welle, und eine wirklich integrale Erziehung würde nicht nur die letzte Welle hervorheben, sondern sich um die angemessene Entfaltung aller sukzessiven Wellen kümmern.“ (Wilber, 2001a/2010:111)

Das Modell der Spiral Dynamics nennt mehrere Bedingungen, die das Herausbilden neuer WMeme beeinflussen. (Beck & Cowan, 2007/2014:145 ff.) Das Klären existentieller Fragen und Dissonanz sind dabei jedoch die zwei Grundvoraussetzungen, damit Wandel überhaupt nur denkbar wird. Daraus lassen sich Schlüsse für das Anstoßen von Change-Prozessen ziehen, z. B. „Missklang in eine Situation zu bringen, damit sich die Leute in Bewegung setzen und handeln, bevor die Lage wirklich schlecht wird“ (ebd.:130). Dies war nach einer Schilderung von Don Beck z. B. auch die Idee, die Ken Wilber (2008) mit seinem Buch „Boomeritis“ verfolgt hat: Es sollten Dissonanzen im grünen WMem erzeugt werden.

„Die ganze Idee vom ‚Fiesen Grünen Mem‘ ist eine rhetorische Strategie. Ken und ich fragten uns: wie [sic!] öffnen wir GRÜN? Wie erhalten wir es in Bewegung? Weil aus unserer Sicht soviel [sic!] an ihm ein stehender Tümpel ist. So sagten wir, erfinden wir doch das „Fiese Grüne Mem“: beschämen wir es doch ein wenig. Halten wir ihm einen Spiegel vor Augen und zeigen wir ihm, was es tut, in der Hoffnung, dass wir dadurch das „Fiese Grüne Mem“ vom legitimen „gesunden GRÜN“ trennen. Setzen wir doch genügend viele Leute ihrem eigenen Wertesystem von Doppelbödigkeit, Künstlichkeit und Selbsterfüllung rund um die politische Korrektheit aus, um sie schließlich dahin zu kriegen, dass es noch etwas dahinter gibt. Es ist eine drastische Maßnahme, eine rhetorische Strategie – ein Symbol zu erschaffen, das hoffentlich den Menschen aufzeigt, wie gerade das, was sie tun, das verhindert, was sie eigentlich wollen.“ (Beck, zitiert nach Larsen, o. J.)

Die Spiral Dynamics-Theorie beschreibt unterschiedliche Wege entlang der Spirale. Die Tabelle 4.1 zeigt die sieben Variationen von Veränderung, die im Modell der Spiral Dynamics unterschieden werden.

Tabelle 4.1 Entwicklung entlang der Spirale. (Eigene Zusammenfassung in Anlehnung an Beck & Cowan, 2007/2014:145 ff.)

Ein System kann sich weiterentwickeln zu einer höheren Komplexitätsstufe, es kann aber auch stagnieren. Die WMeme im Wir-Modus zeigen dabei andere Krisensymptome als die WMeme im Ich-Modus: Im Wir-Modus (Purpur, Blau, Grün) wird sämtliche Energie auf den Erhalt des Status quo verwendet. Die Unterordnung des Individuums unter die Gruppe führt zur Stagnation der persönlichen Entwicklung und letztlich zur Auszehrung des Gesamtsystems. Demgegenüber tendieren die WMeme im Ich-Modus (Beige, Rot, Orange) seltener zu Rigidität. Krisenauslöser sind hier Situationen, in denen die vertikale Mobilität innerhalb der Gesellschaftshierarchie gehemmt ist, so dass Elitebildungen erschwert sind und Einzelpersonen an Einfluss verlieren.

Entwicklung kann sich sowohl horizontal und diagonal, über neues Verhalten innerhalb des aktuellen WMemes als auch vertikal als eine Aufwärtsbewegung in ein neues System hinein vollziehen. Möglich ist auch die Rückkehr zu Problemlösungsmodi geringerer Komplexität.

4 AQAL-Modell

Anwendung in dieser Arbeit: Das Vier-Quadranten-Modell nutze ich als theoretischen Bezugsrahmen der Aufstellung „Attitude-Behaviour Gap“ (Kapitel 10).

Die Integrale Theorie von Ken Wilber ist nicht unumstrittenFootnote 9, doch Wilbers Grundmodell der vier Quadranten, das er zum ersten Mal in dem Buch „Sex, Ecology, Spirituality“ (Wilber, 1995) skizzierte, bietet einen sehr nützlichen Rahmen, um integrales Denken zu veranschaulichen.

Das Vier-Quadranten-Modell (Abbildung 4.4) basiert auf zwei grundsätzlichen Perspektivwechseln, die man ständig, wenn auch meist unbewusst, vollzieht: innerlich vs. äußerlich sowie individuell vs. kollektiv. Aus der Zusammenführung dieser zwei elementaren Unterscheidungen ergeben sich 2 × 2 Felder, von diesen ordnet Wilber die beiden linken Quadranten den Innen-Aspekten zu: oben individuell; unten kollektiv. Die beiden rechten Quadranten sind als Außen-Aspekte definiert: oben im Sinne der Einzelphänomene; unten im Sinne vernetzter Systeme. Jeder Quadrant bezeichnet eine unterschiedliche Perspektive von und auf Wirklichkeit. Doch die vier Dimensionen sind gleichberechtigt, da sie einander bedingen: Kein Innerliches existiert ohne ein Äußerliches, kein Äußerliches ohne ein Innerliches, kein Singular ohne Plural und kein Plural ohne Singular.

Im Einzelnen sind die „vier wichtigsten Dimensionen des KOSMOS“Footnote 10 (Wilber, 2001a/2010:57) wie folgt charakterisiert (vgl. Zusammenfassung u. a. bei Esbjörn-Hargens, 2013; Küstenmacher et al., 2015:209 f.):

  • oben/links (OL bzw. ICH): Dieser Quadrant beschreibt die individuelle Innensicht. Im Fokus stehen Erfahrung und Erleben im Bewusstsein des Individuums. Hierzu zählen beispielsweise Absichten, Gefühle und körperliche Wahrnehmungen sowie mentale Vorstellungen, Ethik, subjektive Normen und Werte. In diesem Quadranten gilt die Ich-Sprache.

  • unten/links (UL bzw. WIR): Diese Position bezieht sich auf Muster im kollektiven Bewusstsein. Diese Perspektive erfasst intersubjektive Wertemuster, geteilte Weltsichten und semantische Standorte. Im Zentrum stehen Ich-Du-Beziehungen, wie die Einstellung von Familie und Freunden sowie gesellschaftliche und soziale Sichtweisen, wie die Akzeptanz alternativer Lebensentwürfe, kollektive Werte, Moral und Traditionen. Hier wird die Wir-Sprache gesprochen.

  • unten/rechts (UR bzw. SIE): Diese Position beschreibt das kollektive Außen. Erfasst werden die äußeren, materiellen Rahmenbedingungen, die ein System prägen. Diese reichen vom Klima über Geschäftsmodelle, Infrastruktur und Institutionen bis zu Staats- und Wirtschaftsformen inklusive rechtlicher, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Zielvorgaben. Hier wird – wie auch folgenden Quadranten OR – die „wissenschaftliche“ Es-Sprache verwendet.

  • oben/rechts (OR bzw. ES): Diese Position ist der objektiven Außenperspektive eines individuellen Ereignisses zugeordnet. Gemeinhin gilt dies als die „wissenschaftliche Sicht“. Im Fokus stehen äußere und materielle Aspekte, wie empirische Daten, experimentelle Nachweise, biologische Zustände. Diese Perspektive erfasst Kompetenzen, Fähigkeiten, Leistung. In diesem Quadranten wird die Es-Sprache gebraucht.

Abbildung 4.4
figure 4

(Eigene Abbildung; Symbolbilder: icon-icons.com; freepik)

Das Vier-Quadranten-Modell nach Ken Wilber.

Sein Vier-Quadranten-Modell hat Wilber mit dem Ebenen-Modell der Spiral Dynamics-Theorie verbunden. Dazu erweitert er die Definition der WMeme respektive der Wellen der Bewusstseinsentwicklung, indem er das Konzept des „Holon“Footnote 11 einführt, das er von Arthur Koestler übernimmt (Wilber, 2001a/2010:53 u. 66). Die Kombination ermöglicht, die unterschiedlichen Ebenen menschlicher Existenz in den vier elementaren Dimensionen zu betrachten. Wilber nennt diese integrale Sicht das AQAL-Modell („all quadrants, all lines“) – oder auch „holonisches Modell“.

Das AQAL-Modell verdeutlicht, dass „jedes Mem – jede Ebene des Bewusstseins und jede Welle der Existenz – in seiner gesunden Form ein absolut notwendiges und wünschenswertes Element der Gesamtspirale [Hervorhebung im Original] ist, des gesamten Spektrums des Bewusstseins“ (Wilber, 2001a/2010:70). Kurzfristig könnten zwar „monologische“ Visionen, also Konzeptionen, die nur eine Seite berücksichtigen, durchaus notwendig sein, schreibt Wilber (ebd.:116). Doch langfristig müssen wirkungsvolle Konzepte immer jede der vier Perspektiven einbeziehen, da sie sonst von Kräften und Faktoren aus den nicht berücksichtigten Quadranten sabotiert“ (Wilber, 2001a/2010:11). Die Reduktion auf einseitige Perspektiven bezeichnet Wilber gern als „Flachland“ (ebd.:183). Bezogen auf die Nachhaltigkeitsdiskussion fordert Wilber beispielsweise, über systemtheoretische Analysen, die nur den Quadranten UR abdecken würden, hinauszugehen:

„Versuche, den Prozeß von Wandel, Transformation oder Entwicklung zu verstehen, ohne ein Verständnis der Natur der Evolution oder Entfaltung des menschlichen Bewußtseins zu gewinnen, haben wenig Aussicht auf Erfolg.“ (Wilber, 2001a/2010:116)

5 Theorie U

Anwendung in dieser Arbeit: Die Theorie U ist der theoretische Bezugsrahmen der Aufstellung „Narrativ“ (Kapitel 11).

Die Theorie U hat der deutsche, am Massachusetts Institute of Technology (MIT) tätige Aktionsforscher Claus Otto Scharmer (2007; 2009/2011) entwickelt. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass bisherige Methoden und Ansätze, um Wandel zu gestalten, der sozialen Komplexität nicht mehr gerecht werden. „Warum schaffen wir kollektiv eine Wirklichkeit, die niemand will?“, fragen Scharmer und seine MIT-Kollegin, die Ökonomin Katrin Käufer (Scharmer & Käufer, 2014).

Die Theorie U beschreibt einen Weg, die individuelle und kollektive Handlungsfähigkeit zu erweitern. Der Prozess lenkt den Fokus auf einen bisherigen blinden Fleck in sozialen Veränderungsprozessen: den „schöpferischen Quellort“ von Handlung. Scharmer illustriert den Begriff am Beispiel der schöpferischen Tätigkeit eines:einer Maler:in. Der blinde Fleck bezeichne den Moment vor der leeren Leinwand, von außen ist die Intuition des:der Künstler:in nicht sichtbar. Im Kern geht es bei der Theorie U darum, diesen inneren Ort von Handlung bewusst zu machen, zu öffnen und zu erweitern. Im Spitzensport sei es bereits eine anerkannte Methode, die sportliche Leistung sozusagen von „innen heraus“ zu verbessern (Scharmer & Käufer, 2008:4). Ansatzpunkt der Theorie U ist eine Aufmerksamkeitsfokussierung auf die inneren Quellen, aus denen sich die Intentionen, Haltungen und Identitäten bilden, die soziale Beziehungen und gesellschaftliches Handeln bestimmen.

Abbildung 4.5
figure 5

(Eigene Abbildung in Anlehnung an Scharmer, 2009/2011:56)

Der U-Prozess des Wandels nach Claus Otto Scharmer.

Die Abbildung 4.5 illustriert den U-Prozess nach Claus Otto Scharmer. Der U-Prozess umfasst insgesamt sieben Phasen (Scharmer, 2009/2011:54 ff.). Der „Weg nach unten“ beschreibt drei Phasen der Verschiebung der inneren Quelle bis am tiefsten Punkt des Us neue Ideen und Visionen entstehen, die auf dem „Weg nach oben“ verdichtet und konkretisiert werden:

  1. 1.

    Downloading: „Muster der Vergangenheit wiederholen sich – die Welt wird mit den Augen des gewohnheitsmäßigen Denkens betrachtet“ (ebd.). Bei der ersten Verschiebung ist jede Handlungs- und Lösungsoption einzig aus der Vergangenheit abgeleitet. Benannt wird dieser Zustand als „Erstarren im eigenen Ego“.

Die Schwelle, die auf die nächste Stufe vorbereitet, beschreibt Scharmer als „innehalten bezüglich Gewohnheiten und Routinen“.

  1. 2.

    Seeing: „Ein mitgebrachtes Urteil loslassen und die Realität mit frischem Blick betrachten – das beobachtete System wird als von dem Beobachter getrennt wahrgenommen (ebd.). Auf der zweiten Stufe verschiebt sich der innere Ort der Wahrnehmung zur System-Umwelt-Grenze; die Welt wird mit neuen Augen gesehen.

Der Halte- oder Umschlagpunkt zur dritten Verschiebung beschreibt Scharmer als „umwenden“, als „Wendung nach innen“.

  1. 3.

    Sensing: „Sich mit dem Feld verbinden, eintauchen und die Situation aus dem Ganzen heraus betrachten – die Grenze zwischen Beobachter und dem Beobachteten verschwimmt, das System nimmt sich selber wahr“ (ebd.). Mit der dritten Verschiebung beginnt eine Phase des empathischen Zuhörens: Die Interessen anderer rücken in den Aufmerksamkeitsfokus.

Die Schwelle, die auf die nächste Stufe vorbereitet, beschreibt Scharmer als „loslassen“.

  1. 4.

    Presencing: „Sich mit dem Quellort – dem inneren Ort der Stille – verbinden, von dem aus die im Entstehen begriffene Zukunft wahrnehmbar werden kann“ (ebd.). Der Begriff ist eine Wortschöpfung aus presence (Anwesenheit) und sensing (spüren). Mit der vierten Verschiebung verlagert sich der innere Quellort ins Ökosystem-Bewusstsein, das sich am Wohl des Ganzen orientiert.

Ab dem tiefsten Punkt des U-Prozesses beginnt der Weg hinauf mit der nächsten Schwelle „kommen lassen“.

  1. 5.

    Crystalizing: „Verdichten der Vision und Intention – Kristallisieren und Bewusstmachen der Intention und Vision, die aus der Verbindung zu dem tieferen Quellort entstehen“ (ebd.).

Die beiden letzten Stufen führen über die Schwellen „ausführen“ und „Prototyping erproben“.

  1. 6.

    Prototyping: „Erproben des Neuen in Prototypen, in denen die Zukunft durch praktisches Tun gemeinsam erkundet und entwickelt wird“ (ebd.).

  2. 7.

    Performing: „Das Neue praktisch anwenden und institutionell verkörpern: das Neue durch beispielsweise Infrastrukturen und Alltagspraktiken in eine Form bringen“ (ebd.).

Scharmer beschreibt den U-Prozess zusammenfassend als einen Bewusstseinswechsel, mit dem sich der Quellort von der Ich-Perspektive zur Wir-Perspektive verschiebt:

„Es ist der Umschwung von einem Egosystem-Bewusstsein, das auf das Eigenwohl konzentriert ist, zu einem Ökosystem-Bewusstsein, das auf das Wohl aller, auf das Gemeinwohl ausgerichtet ist. Wenn wir aus einem Egosystem-Bewusstsein heraus handeln, werden wir von den Interessen und Zielen unseres kleinen Ego-Selbst gesteuert. Wenn unser Handeln auf einem Ökosystem- Bewusstsein basiert, dann werden unsere Impulse von unserem werdenden oder höheren Selbst angetrieben – das heißt von einem Interesse, das sich am Wohl des Ganzen orientiert.“ (Scharmer & Käufer, 2014:13)

Der U-Prozess ermöglicht die Verbindung mit der Quelle des höchst Zukunftspotenzials. Statt vom Status quo der Vergangenheit auszugehen wird die im Entstehen-begriffene (emergente) Zukunft zur Lernquelle für Wandel. Damit rücken bisher ungesehene Möglichkeiten und Chancen ins Wahrnehmungsfeld: Es ist ein „Anwesendwerden im Sinne unserer höchsten zukünftigen Möglichkeit“ (Scharmer, 2009/2011:29).