Eine theoretische Erörterung kann das eigene Erleben einer Aufstellung nicht ersetzen. In Berichten findet sich „nichts von der Atmosphäre, nichts von der Magie des Augenblicks, nichts vom inneren Wachsen der Sätze, nichts von der emotionalen Berührung, wenn etwas Stimmiges geschieht“, beschreibt die Organisationsaufstellerin Diana Drexler (2015:10). Nichtsdestotrotz versuche ich in diesem Kapitel, die Wirkungsweise von Aufstellungsarbeit kognitiv nachvollziehbar darzustellen. Dies ist notwendig, um Aufstellungen als Forschungsmethode einzuordnen und meine methodische Wahl, die ich für den empirischen Teil meiner Arbeit getroffen habe, zu begründen.

1 Geschichte der Aufstellungsarbeit

Die methodischen Wurzeln der Aufstellungsarbeit reichen weit bis in die 1920er Jahre zurück (eine Übersicht geben Daimler, 2008:25 ff.; Klein & Limberg-Strohmeier, 2012:68 ff.). Damals entwickelte der österreichische Arzt und Psychotherapeut Jacob Levy Moreno (1889–1974) die Methode des Psychodramas. Moreno war einer der Pioniere, die psychologische Fragen mittels Rollenspiel inszenierten. Impulsgebend für die Aufstellungsarbeit waren weiterhin Methoden, die ab den 1950er Jahren die US-amerikanische Psychotherapeutin und Familientherapeutin Virginia Satir (1916–1988) entwickelte. Auch die Hypnotherapie nach dem US-amerikanischen Psychiaters Milton H. Erickson (1901–1980), die kontextuelle Therapie des ungarischen Arztes und Psychotherapeuten Iván Böszörményi-Nagy (1920–2007) sowie die Lösungsfokussierte Kurztherapie nach dem US-amerikanischen Psychotherapeuten Steve de Shazer (1940–2005) zählen zu Methoden, die Einfluss auf die (Weiter-)Entwicklung der Aufstellungsarbeit genommen haben.

An diese historischen Vorläufer der Aufstellungsarbeit zu erinnern, ist wichtig, weil die Methode in Deutschland lange Zeit sehr eng mit der Person Bert Hellingers (1925–2019) assoziiert wurde – mit negativen Folgen für die Anschlussfähigkeit der Methode. Im Verlauf der 1970er und -80er Jahre entwickelte Hellinger (2018) das Familienaufstellen als gruppendynamisches Verfahren. Die öffentlichen Aufstellungen und Vorträge des ehemaligen Missionars machten „Aufstellungsarbeit nach Hellinger“ in weiten Teilen der Bevölkerung populär. In therapeutischen Fachkreisen hingegen stießen sein „pastorales Auftreten“ und die „zum Teil apodiktisch und normativ anmutenden Aussagen über Ordnungen in Familien“ auf – teils sehr heftige, auch unsachliche – Ablehnung, beschreibt Diana Drexler (2015:15 ff.) die frühen Jahre. Im Jahr 1993 erschien das erste Buch über die Aufstellungsarbeit mit dem Titel „Zweierlei Glück“ (Weber, 1993). An dem – damaligen, inzwischen verändertenFootnote 1 – Untertitel „Die systemische Psychotherapie Bert Hellingers“ entzündete sich ein Streit zwischen systemisch-konstruktivistischen Positionen und der phänomenologischen Ausrichtung der Aufstellungsarbeit à la Hellinger, der mit der Potsdamer Erklärung zur systemischen Aufstellungsarbeit (Systemische Gesellschaft, 2004) ihren Höhepunkt erreichte.

Mittlerweile haben sich die Diskussionen versachlicht und viele Aufsteller:innen erkennen heute im phänomenologischen und konstruktivistischen Denken einander ergänzende Ansätze (Weber, 2016:25). Die Professionalisierung der Aufstellungsarbeit zog die Gründung berufsübergreifender Fachverbände auf nationaler und internationaler Ebene nach sich. Im Jahr 2003 schlossen sich vor allem Coaches und Organisations- bzw. Unternehmensberater:innen im Internationalen Forum für Systemaufstellungen in Organisationen und Arbeitskontexten (Infosyon) zusammen. Im Jahr 2005 wurde die International Systemic Constellation Association (ISCA) gegründet und zwei Jahre später die Deutsche Gesellschaft für Systemaufstellungen (DGfS).

Ursprünglich im Bereich der Familientherapie von Virginia Satir als Familienstellen entwickelt, zeigt sich die Aufstellungsarbeit heute sehr differenziert mit einer Reihe weiterer spezifischer Aufstellungsformate und Settings (vgl. Übersicht bei Lockert, 2018:162 ff.; Drexler, 2015:97 ff.; Klein & Limberg-Strohmeier, 2012:269 ff.) Die Themenfelder, in denen mit Aufstellungen gearbeitet wird, reichen von Bildung (Franke-Gricksch, 2016) über Politik bzw. Friedens- und Versöhnungsarbeit (Mahr, 2003; 2016; Sander, 2007) bis hin zu Kunst, z. B. bei Drehbuchaufstellung (Varga von Kibéd, 2012; Varga von Kibéd & Sparrer 2016:149 ff.).

Bereits früh hat die Methode den Weg in die Wirtschaft gefunden. Der Beginn kann auf das Jahr 1998 datiert werden, als der Psychiater und Systemische Familientherapeut Gunthard Weber eine erste Aufstellungs-Tagung in Wiesloch organisierte. Parallel erschien der Grundsatzartikel, in dem er zusammen mit der Psychotherapeutin und NLP-Trainerin Brigitte Gross die Grundzüge des Aufstellens von Organisationen erstmalig zusammenfasste (Weber & Gross, 1998). Heute sind Aufstellungen eine anerkannte Managementmethode (Gminder, 2006; Kohlhauser & Assländer, 2009). Die Anwendungsgebiete im unternehmerischen Kontext sind vielfältig und reichen von Coaching und Einzelberatung, Führungskräftetraining (Assländer, 2016) bis hin zum Marketing (Cremer, 2013). Eine Übersicht zu Organisationsaufstellungen bieten Gunthard Weber & Claude Rosselet (2016).

Ein vergleichsweise junges Feld, das an der Universität Bremen im Fachgebiet Nachhaltiges Management untersucht wird, ist der Einsatz von Aufstellungen in Forschung und Lehre (Hussmann & Müller-Christ, 2015; Müller-Christ, 2016a; 2016b; Müller-Christ & Pijetlovic, 2018). Die Forschungsarbeiten unter der Leitung von Professor Dr. Georg Müller-Christ (www.uni-bremen.de/nm/forschung/publikationen; siehe auch Dissertationen von Ahel, 2020; Borchardt-Ramonat, 2019; Buhr, 2017; Bulling, 2019; Deimling, 2016; Heine, 2020; Mussack, 2019; Pijetlovic, 2019; Scholtz, 2015; Tegeler, 2020; Windels, 2019; Woithe, 2018) zeigen das Potenzial von Aufstellungen als Instrument der qualitativen Sozialforschung.

2 Grundbegriffe der Aufstellungsarbeit

Repräsentanten oder Stellvertretende

Stellvertreter:innen sind Personen, die in einer Aufstellung die Elemente eines Systems (konkrete, abstrakte, menschliche, nicht-menschliche) repräsentieren. Bei klassischen Gruppenaufstellungen wird mit „Stranger Groups“ gearbeitet, d. h. als Stellvertretende fungieren Personen, die nicht am Anliegen selbst beteiligt sind. Für die Phase der Aufstellung erfahren Repräsentanten spontan Informationen und Wahrnehmungen, die ihnen selbst fremd erscheinen, aber auf das System – häufig frappierend genau – zutreffen. Für dieses Phänomen, das alle Aufstellungsformen verbindet, hat sich der Begriff der „repräsentierenden Wahrnehmung“ etabliert.

Auswahlmethode der Repräsentanten

Bei der Auswahl der Repräsentanten gibt es verschiedene methodische Möglichkeiten. Im klassischen Verfahren wählt der:die Anliegengebende bzw. Forschende gezielt oder intuitiv die Repräsentanten. Möglich ist auch, dass sich die Stellvertreter:innen ihre jeweilige Rolle selbst aussuchen. Bei einer weiteren Variante, die häufig im Forschungskontext zum Einsatz kommt, wählen die Repräsentanten ihre Rolle „blind“ mittels verdeckt-liegenden Karten.

Repräsentierende Wahrnehmung

Die „repräsentierende Wahrnehmung“ ist ein zentraler Aspekt von Aufstellungsarbeit und bezeichnet das Phänomen, dass Repräsentanten während der Dauer einer Aufstellung spontan Veränderungen der körperlichen Selbst- und Fremdwahrnehmung erleben. Die Wahrnehmungen der Stellvertreter:innen spiegeln die Zustands- und Beziehungsqualitäten des von ihnen jeweils repräsentierten Systemelementes. Der Begriff „repräsentierende Wahrnehmung“ wurde von Matthias Varga von Kibéd und Insa Sparrer in die Aufstellungsarbeit eingeführt und hat vorherige, im Familienstellen geprägte Bezeichnungen wie „fremde Gefühle“ und „fremdes Wissen“ weitestgehend ersetzt (Varga von Kibéd & Sparrer 2016:207 f.).

Fokus

In der Regel gibt es eine:n Anliegengeber:in, der:die eine bestimmte Frage oder Thema aufstellen lassen möchte. Im klassischen Setting des Familienstellens oder bei Organisationsaufstellungen wird in der Regel für diese Person ein eigenes Element – der sogenannte „Fokus“ – aufgestellt. In Forschungsaufstellungen ist die Person, die das Anliegen einbringt, identisch mit dem:der Forschenden. Das Aufstellen eines Fokus ist auch hier möglich und z. B. in der Themenfindungsphase einer Dissertation sinnvoll, es ist jedoch nicht die Regel.

Die Aufstellungsleitung

Die Aufstellungsleitung ist die Person, die bei einer systemischen Aufstellung den Prozess leitet bzw. begleitet. Sie klärt den Auftrag, leitet die Repräsentanten an und moderiert durch die einzelnen Phasen. Im traditionellen Familienstellen ist die Rolle der Aufstellungsleitung sehr direktiv. In Forschungsaufstellungen nimmt die Aufstellungsleitung eine weitaus weniger steuernde Rolle ein als z. B. im traditionellen Familienstellen. Die Bezeichnung „Facilitator“ beschreibt diese Rolle der Prozessbegleitung m. E. sehr treffend. In dieser Arbeit verwende ich dennoch die üblichere Bezeichnung „Aufstellungsleitung“.

Setting

Das klassische Aufstellungssetting sind Gruppenaufstellungen. Bekannt ist die Familienaufstellung, bei der Beziehungskonstellationen der Familienmitglieder nachgestellt werden. Ähnlich funktioniert es in der Aufstellungsarbeit in anderen Kontexten, wenngleich mit spezifischen Fokussierungen und Vorgehensweisen. Das klassische Setting für Organisationsaufstellungen sind „Stranger Groups“ im Rahmen von offenen Gruppenseminaren (Drexler, 2015; Klein & Limberg-Strohmaier, 2012; Weber, 2016). Mittlerweile werden Organisationsaufstellungen auch organisations- bzw. teamintern durchgeführt (Riepl, 2016; Rosselet, 2012; Rosselet et al., 2007). Geschlossene Workshops sind häufig in systemische Coaching-Prozesse eingebettet (Senoner, 2016; Whittington, 2016). Heute wird mit Aufstellungen auch gern bei Einzel- und Gruppensupervisionen und z. T. bei teaminternen Fallberatungen gearbeitet (Koch, 2016). In der Einzelberatung werden Systeme häufig mithilfe von Bodenankern (Daimler, 2008) oder dem Systembrett (Ludewig & Wilken, 2000; Polt & Rimser, 2006) aufgestellt. Forschung mittels Aufstellungen kann die gesamte Vielfalt der entwickelten Verfahren nutzen. Ein Beispiel für die Forschung mit Systembrett liefert z. B. die Dissertation von Elisa Marie Mussack (2019). Kai Bulling (2019) hat in seiner Dissertation mittels organisations- bzw. teaminternen Aufstellungen gearbeitet. In der Regel kommen bei Forschungsaufstellungen jedoch Gruppenaufstellungen zur Anwendung.

3 Aufstellung als Forschungsmethode

Forschung mit Aufstellungen eröffnet vollkommen neue Wege, ein System in seiner Tiefe zu beobachten und zu beschreiben. Die Vorstellung, dass die Erforschung eines Systems nicht nur von außen möglich ist, sondern sich auch nicht-menschliche Elemente eines Systems zu einem Selbstausdruck bewegen lassen, wird erst dann umfassend verständlich, wenn Menschen einmal selbst Stellvertreter:innen waren und die Wirkungen von Aufstellungen unmittelbar erfahren haben. Repräsentierende Wahrnehmung wird oft als Trance-Phänomen beschrieben (Weber, 2016:39), doch vollumfänglich könne das Phänomen nicht simuliert werden, schreibt Matthias Varga von Kibéd (2005):

„Die repräsentierende Wahrnehmung kann zwar in reduzierter Form durch komplexere Formen der hypnotherapeutischen Trance partiell in Einzelsettings rekonstruiert werden; dennoch wissen alle mit Aufstellungsprozessen etwas Vertrauten, dass wir, im Bild stehend und in Abhängigkeit von den anderen RepräsentantInnen, in ganz anderer und erheblich umfassenderer Weise über die aufstellungsspezifischen Empfindungen und Wahrnehmungen verfügen als außerhalb der Aufstellung, z. B. unmittelbar danach.“ (Varga von Kibéd, 2005:208)

Systemaufstellungen sind zudem eine stark intuitionsfördernde Methode mit dem Potenzial, Forschende zum Out-of-the-box-Denken zu inspirieren. Mittels Aufstellungen ist es möglich, neue Perspektiven zu entdecken, die sich von den bislang Bekannten tatsächlich unterscheiden:

„Abgesehen davon, dass die Bilder lange in Erinnerung bleiben, ermöglicht gerade die Raum-Zeit-Verdichtung in der Darstellung des Systems eine Erfahrung, die kaum eine andere Methode ermöglicht: mit einem Blick zu erfassen, wie viele Elemente zu einem System gehören, wie diese zueinander stehen und miteinander agieren. (…) Auch diejenigen, die diese Beschreibung der Aufstellung lesen, werden merken, dass in ihrem Kopf Bilder über das oben dargestellte System entstehen, die vorher nicht da waren: Assoziationen und andere Interpretationen entstehen sofort – vermutlich eben eher intuitiv.“ (Müller-Christ, 2016b:297)

Die mittels Aufstellung gewonnenen Informationen sind also in gleich mehrfacher Hinsicht keine durch rationales Denken vermittelte Fakten, sondern haben – weil sie sich nicht auf ein psychisches Urteilen stützen – eine nach C. G. Jung „irrationale Qualität“ (Rafalski, 2018). Somit ergibt sich mit der Entscheidung für Aufstellungen als Forschungsmethode eine Vielzahl an Fragen bezüglich der Qualität im Forschungsprozess. In der folgenden Methodendiskussion konzentriere ich mich auf die Fragen, die mir von wissenschaftlicher Seite auf Tagungen und während Publikationsverfahren im Rahmen meiner Dissertation begegnet sind.

3.1 Das Phänomen der repräsentierenden Wahrnehmung – Zur wissenschaftlichen Anschlussfähigkeit der Methode

Das, was in Aufstellungen passiert, ist für Menschen westlichen Denkens rätselhaft. Mit herkömmlichen Kausalitätsvorstellungen und Informationsübertragungskonzepten lässt sich das Phänomen der repräsentierenden Wahrnehmung nicht erklären. Der Umstand, dass es keine wissenschaftlich abgesicherten Erklärungen gibt, ist selbstredend kein Beleg dafür, dass repräsentierende Wahrnehmung nicht existiert.Footnote 2 Der italienische Arzt Roberto Assagioli (1992/2008:21), einer der ersten Psychotherapeuten in Italien, warb für ein phänomenologisch unvoreingenommenes Vorgehen gegenüber Berichten über andere Bewusstseinsformen, die man „ebenso ernst nehmen [müsse]…, wie man bereit ist beispielsweise den Bericht einer Gruppe von Forschern ernst zu nehmen, die behaupten, ein unbekanntes, an Rohöl und Edelmetall reiches Gebiet entdeckt zu haben.“

Varga von Kibéd vermutet, dass sich in dem Fehlen einer wissenschaftlichen Plausibilität ein „blinder Fleck unserer Kultur“ zeigt:

„Zunächst ist es nämlich, hat man einmal gesehen, wie außerordentlich leicht sich das genannte Phänomen erzeugen lässt, fast unglaublich, wieso die Betrachtung und Nutzung des Phänomens – jedenfalls in unserer Kultur – so wenig selbstverständlich ist, dass z. B. sogar erst eine neue Terminologie geprägt werden muss, um überhaupt darauf Bezug zu nehmen. Aus der Sicht der Strukturaufstellungsarbeit vermuten wir, dass die Idee nichteinzelpersonenspezifischer Wahrnehmungs- und Empfindungsformen ein kultureller blinder Fleck ist, der seit einiger Zeit immer durchsichtiger wird.“ (Varga von Kibéd, 2005:207)

Der Vater der modernen Psychologie, der Religionspsychologe William James (1842–1910) beschrieb vor über einhundert Jahren die terminologischen Begrenzungen, die bezüglich anderer Bewusstseinsformen existieren. Im Widerspruch dazu stehe ihre Bedeutung für die menschliche Erkenntnis:

„Es ist der Sachverhalt, daß unser normales waches Bewußtsein, das rationale Bewußtsein, wie wir es nennen, nur ein besonderer Typ von Bewußtsein ist, während überall jenseits seiner, von ihm durch den dünnsten Schirm getrennt, mögliche Bewußtseinsformen liegen, die ganz andersartig sind. Wir können durchs Leben gehen, ohne ihre Existenz zu vermuten; aber man setze den erforderlichen Reiz ein, und bei der bloßen Berührung sind sie in ihrer ganzen Vollständigkeit da: wohlbestimmte Typen von Mentalität, für die wahrscheinlich irgendwo ein Bereich besteht, in dem sie angewendet werden können und passen. Keine Betrachtung des Universums kann abschließend sein, die diese anderen Bewußtseinsformen ganz außer Betracht läßt.“ (James, 1902/1979:366)

Erklärungsansätze für das Phänomen der repräsentierenden Wahrnehmung, die in der Aufstellungsszene diskutiert werden, wie z. B. die „Wissenden Felder“ des deutschen Systemaufstellers Albrecht Mahr (2003), basieren auf der Theorie der morphogenetischen/morphischen Felder vom englischen Biologen Rupert Sheldrake.Footnote 3 Vor über 30 Jahren provozierten Sheldrakes Thesen den Wissenschaftsbetrieb ganz außerordentlich. Als sein Buch „A New Science of Life“ (Sheldrake, 1981) erschien, nannte das Wissenschaftsmagazin Nature (1981) es „A Book for Burning“ – „ein Buch für den Scheiterhaufen“.

Die Erwartungen der Aufstellungsszene, über die Quantenphysik eine wissenschaftliche Erklärung für das Phänomen der repräsentierenden Wahrnehmung zu bekommen, haben sich zwar nicht erfüllt.Footnote 4 Dennoch kann heute eine höhere Anschlussfähigkeit für eine holistische Sicht des Universums, nach der alle Dinge miteinander verbunden sind, vorausgesetzt werden können als noch vor vierzig Jahren, als Rupert Sheldrake als „Feind der Vernunft“ (zitiert nach dpa, 2012) diskreditiert wurde. Die Quantenphysik lässt die cartesische Spaltung der Wirklichkeit in Materie und Geist, in „res extensa“ und „res cogitans“ hinter sich. Damit haben sich nicht nur in der Naturwissenschaft Weltsichten verändert; auch in den Geisteswissenschaften, von der Theologie bis zur Philosophie beginnen Wissenschaftler:innen ein Verständnis für eine ganzheitliche Wirklichkeit (wieder-)zuentdecken (Mann & Mann, 2017). Auch der Wiener Quantenphysiker Anton Zeilinger (2012) ist der Auffassung, dass die spekulative Physik des 20. Jahrhunderts „eigentlich“ über herkömmliche Denkweisen in Naturwissenschaft und/oder Alltag hinausführen müsse – ähnlich wie das die mechanistische Physik zwei Jahrhunderte vorher gemacht habe – weil „das Paradigma zu jeder Zeit war, zu versuchen, Gehirn und Bewusstsein anhand der Leitwissenschaft in der Physik zu erklären“.

Nun sind Beschreibungen von Bewusstseinsformen, die sich von unserem alltäglichen, rationalen Bewusstsein unterscheiden, nicht nur aus allen Religionen bekannt, auch führende Naturwissenschaftler des 20. Jahrhunderts, wie Erwin Schrödinger, Max Planck, Wolfgang Pauli, Werner Heisenberg, Niels Bohr, Albert Einstein und Max Born berichten von „Begegnung mit dem Wunderbaren“ (Dürr, 2010).

Vor diesem Hintergrund ist für mich die vorläufige „Hypothese einer neuen Wahrnehmungsmöglichkeit“ (Sparrer, 2014:104) für die „Phänomene“, die sich in Aufstellungen zeigen, schlüssig und im Rahmen dieser Arbeit, in der ich mit (und nicht über) Aufstellungen forsche – völlig ausreichend.

3.2 Zur Datenqualität in der Forschung mit Aufstellungen

Die in Aufstellungen gewonnenen Informationen besitzen, wie ich bereits ausgeführt habe, eine gewisse „irrationale Qualität“. Vor diesem Hintergrund ist zu klären, ob in Aufstellungen überhaupt „Daten“ im wissenschaftlichen Sinn produziert werden? Ken Wilber (2001a/2010) verweist in seinen Ausführungen zu guter Wissenschaft auf eine Anmerkung von William James, dass die wirkliche Bedeutung von datum „unmittelbare Erfahrung“ ist:

„Man kann also physische Erfahrungen (oder physische Daten) haben, mentale Erfahrungen (oder mentale Daten) und spirituelle Erfahrungen (oder spirituelle Daten). Alle gute Wissenschaft, sei sie eng oder weit – ist bis zu einem gewissen Grad in Daten oder erfahrenen Beweisen verankert.“ (Wilber, 2001a/2010:90)

In diesem Sinn können Daten, die mittels repräsentierender Wahrnehmung in Aufstellungen gewonnen werden, als „repräsentierende Daten“ bezeichnet werden. Im Vergleich mit Daten, die mit anderen Methoden der empirischen Sozialforschung, bspw. mittels Expert:innen-Interview gewonnen werden, sind „repräsentierende Daten“ unmittelbarer in der Aussagekraft, weil das untersuchte System über die repräsentierende Wahrnehmung unvermittelt zum Ausdruck kommt. Im wissenschaftlichen Prozess wirkt dies vorteilhaft, da sich die sonst übliche doppelte Hermeneutik (Interpretation der Interpretationen der Systembeteiligten) in einen Akt des einfachen Interpretierens wandelt (Müller-Christ, 2016a:75; Müller-Christ & Pijetlovic, 2018:78).

Jedes Forschungsinstrument kann immer auch Artefakte produzieren, also Daten, die dem Untersuchungsfeld nicht gerecht werden. Bei einem so innovativen Ansatz wie der Aufstellungsmethode ist eine Reflektion möglicher methodischer „Stolpersteine“ umso wichtiger.

Die Formate, die an der Universität Bremen im Fachgebiet Nachhaltiges Management für den Einsatz von Aufstellungen in Forschung und Lehre entwickelt worden sind, favorisieren ein hypothesenarmes Vorgehen in Aufstellungen (Müller-Christ & Pijetlovic, 2018). Dieser „phänomenorientierte“ Ansatz fördert das Entdecken tatsächlich neuer, überraschender Erkenntnisse. Die entwickelten Prinzipien (ebd:15 ff.) schützen gleichzeitig vor Artefakten durch beispielsweise falsche Annahmen der Aufstellungsleitung, Fehler in der Interpretation des Prozessgeschehens oder durch bewusste und unbewusste Erwartungshaltungen der Repräsentanten. Im Folgenden zeige ich auf, an welchen Stellen im Aufstellungsprozess eine Gefahr unerwünschter „Kunstprodukte“ besteht und skizziere, welche Konfigurationen, die in Forschungsaufstellungen (eine z. T. spezifische) Anwendung finden, dazu beitragen, die Datenqualität zu sichern.

3.2.1 Die Rolle der Aufstellungsleitung

Systemaufstellungen sind ein stark leitungszentriertes Verfahren. Auch wenn die Aufstellungsleitung im therapeutischen und im Organisationskontext eine direktivere Rolle einnimmt als im Forschungskontext, so bleibt eine professionelle Leitung auch hier zentral für das Gelingen des Prozesses.Footnote 5 Die Kompetenz von Aufstellungsleiter:innen geht weit über ein fundiertes methodisches Wissen hinaus, gleichermaßen entscheidend ist die innere HaltungFootnote 6:

„Das, was sich in der Aufstellung realisiert, ist vom Bewusstsein … auch und vor allem des Aufstellers abhängig. Seine Art der Wahrnehmung, der eigenen und der Wahrnehmung der Aufstellung, der Stellvertreter, des Klienten, die Fähigkeit zur Reflexion dessen, was in der Aufstellung geschieht, die Qualität des Austauschs, des Dialogs hat Einfluss auf (…) die Art und Weise seiner Intervention und beeinflusst damit wesentlich den Verlauf der gesamten Aufstellung.“ (Klein & Limberg-Strohmeier, 2012:379)

Die Aufstellungsleitung muss sich souverän zwischen Abstinenz auf der inhaltlichen Ebene einerseits und Präsenz auf der Prozessebene andererseits bewegen können und flexibel hin- und her wechseln zwischen bewusstem Steuern des Prozesses und der Offenheit für alles, was sich in dem jeweiligen Moment zeigt. Die geforderte innere Haltung der Absichtslosigkeit entspricht dem konstruktivistisch-systemischen Prinzip der Neutralität sowie dem phänomenologischen Prinzip der Urteilsenthaltsamkeit bzw. Allparteilichkeit (Simon & Weber, 2004:23 f.; Sparrer, 2001:79). Neben intuitiven Eingebungen kann die Aufstellungsleitung auch bewusst phänomenologische Verfahren nutzen. Die Phänomenologische Wesensschau ist ein aktiver, kontinuierlicher Abstraktionsvorgang, der ein aufmerksames Wahrnehmen fördert und vor zu schnellen Interpretationen schützt (Drexler, 2015:27; Sparrer, 2001:89). Nicht zuletzt schult eine phänomenologische Haltung „nicht nur die Wahrnehmung mit allen Sinnen, sondern schützt auch vor unbewusstem Ausagieren eigener (Omnipotenz-)Fantasien und Gegenübertragungen“ (Drexler, 2015:112).

Die phänomenologische Wesensschau ist keine Eingebung, sondern eine „reflexive Untersuchung der Verstehensstrukturen“ (Zahavi, 2007:13). Der Erkenntnisweg führt über eine phänomenologische Reduktion mittels Epoché und eidetischer Reduktion. Epoché bezeichnet nach Husserl das Prinzip der Urteilsenthaltsamkeit bezüglich der ontologischen Wirklichkeit, d. h. absolute Urteile unter dem Aspekt Wahrheit oder Falschheit sind nicht möglich, sondern es kann jeweils nur noch geprüft werden, ob Aussagen miteinander verträglich oder widersprüchlich sind. Die eidetische (=anschauliche, bildhafte) Reduktion ist ein Analyseprozess, um Gegenstände auf ihre Konstituenten hin zu analysieren. Ein mögliches Verfahren dabei ist die „eidetische Variation“, bei der (real oder in der Vorstellung) Variationsmöglichkeiten einer Sache durchgespielt werden. Dabei werden Abhängigkeitsbeziehungen zwischen den Elementen untersucht und Grenzen ausgelotet. Die sich im Analyseprozess herausbildenden Invarianten bilden das Wesen des analysierten Gegenstandes. Wenn das Ergebnis identisch mit der Wahrnehmung ist, spricht Husserl von Evidenz. Mit dem Evidenzbegriff beantwortet Husserl die Frage, wie eine über Subjektivität hinausgehende Erkenntnis möglich ist, wenn doch die ontologische Wirklichkeit selbst nicht erkennbar ist. (Kühn & Staudigl, 2003) Im phänomenologischen Denken sind Evidenzen „gewissermaßen die Basis von Erkenntnis und nur korrigierbar durch tiefere Evidenzen“ (Sparrer, 2001:81).

Epoché und eidetische Reduktion können die Aufstellungsleitung in der aufmerksamen Wahrnehmung unterstützen und vor zu schnellen Interpretationen bewahren. Etwas, das die Aufstellungsleitung sieht, aber von den Repräsentanten negiert wird, hat keine Evidenz (Sparrer, 2001:89).

Im therapeutischen und auch im Organisationskontext ist die Aufgabe der Aufstellungsleitung, den Prozess mehr oder weniger direktiv in eine lösungsorientierte Richtung zu steuern. Im Unterschied dazu hält sich die Aufstellungsleitung bei Forschungsaufstellungen mit Interventionen viel stärker zurück und begleitet den Prozess in phänomenologischer Haltung. In Forschungsaufstellungen wird das System befragt, ohne es verändern zu wollen.

„In der Aufstellung selbst verwenden wir keine Hypothesen, sondern hören nur dem System zu. Erst wenn wir eine Veränderung simulieren oder eine Intervention durchführen wollen, brauchen wir wieder Hypothesen. Hier liegt ein maßgeblicher Unterschied zu den Familien- und Organisationsaufstellungen vor.“ (Müller-Christ & Pijetlovic, 2018:17)

Um die Gefahr manipulativer Eingriffe seitens der Aufstellungsleitung zu vermeiden, hat sich die Konzentration auf Unterschiede mittels Fragen nach „besser“ anstelle von „gut“ bewährt. (Sparrer, 2001:91). Diese Fragetechnik, die auch in Forschungsaufstellungen zum Einsatz kommt, ermöglicht den Repräsentanten, auf inhaltliche Bewertungen zu verzichten und trotzdem Veränderungen zu benennen. Zur Veranschaulichung dienen Skalen von eins bis zehn, mit deren Hilfe ein „besser“ qualifiziert werden kann, auch ohne zu benennen, was „gut“ bedeutet. Zur Beobachtung von Unterschieden sind zudem Interventionen seitens der Aufstellungsleitung möglich, wie z. B. ein Umstellen von Repräsentanten. Weiterhin haben sich in der Aufstellungsarbeit Techniken aus der Systemischen Therapie bewährt, wie z. B. das zirkuläre („um die Ecke“) Fragen, das auf die italienische Psychoanalytikerin und systemische Familientherapeutin Mara Selvini Palazzoli zurückgeht (Selvini Palazzoli et al., 1981; Simon & Rech-Simon, 2015) sowie lösungsorientierte Fragetechniken („Wunderfrage“) nach dem amerikanischen Psychotherapeuten Steve de Shazer (De Shazer & Dolan, 2016; Sparrer, 2014).

3.2.2 Die Auswahl der Repräsentanten

„Es hat sich herausgestellt, dass es nicht wichtig ist, wen man als Stellvertreter auswählt!“ Diese Erfahrung von Gunthard Weber (2016:36) gilt als Konsens unter Aufsteller:innen. Auch empirische Studien haben gezeigt, dass die Wahrnehmung der Position im Raum einer Semantik folgt, die vergleichbar einer Sprache, unabhängig von der individuellen und kulturellen Sozialisation gleichsinnig verstanden wird (Schlötter, 2005; 2015). Die repräsentierende Wahrnehmung funktioniert bei jeder Person unabhängig ihrer individuellen, sozialen oder kulturellen Disposition.Footnote 7 Die Repräsentanten einer Aufstellung sind somit „im Prinzip“ austauschbar (Varga von Kibéd, 2005:209).

Im Widerspruch dazu steht die Beobachtung, die regelmäßig in Aufstellungen gemacht wird, dass es plausibel erscheint, warum eine Person in einer bestimmten Repräsentantenrolle steht. Mit anderen Worten: Die Repräsentanten-Auswahl erscheint sehr oft als nicht-zufällig. In der Literatur finden sich dazu viele Erfahrungsbeispiele (Drexler, 2015; Weber, 2005).

Bei der Repräsentanten-Auswahl deutet sich also ein Paradox an bzw. ein zunächst unauflösbar erscheinender Widerspruch: Die Auswahl der im Prinzip austauschbaren Stellvertreter:innen erscheint als nicht-zufällig. Diana Drexler (2015:88) vermutet, dass bei der Stellvertreter:innen-Auswahl unbewusst Kriterien, wie z. B. äußerliche Ähnlichkeiten, Sympathie/Antipathie und komplexere Übertragungen, eine Rolle spielen. Allerdings beobachten wir bei Forschungsaufstellungen an der Universität Bremen, dass auch bei Aufstellungen, bei denen die Stellvertreter:innen-Zuordnung verdeckt anonymisiert erfolgt, das Ergebnis sehr oft als nicht-zufällig erscheint. Eine mögliche Erklärung wäre, dass Menschen „nicht so unterschiedlich (sind), so dass häufig fremde Empfindungen mit eigenen in Resonanz treten“ (Varga von Kibéd & Sparrer, 2016:106).

Diese konstruktivistische These möchte ich an dieser Stelle stehen lassen.Footnote 8 Es gibt jedoch einen anderen Aspekt der Repräsentanten-Auswahl, der auf die Ergebnisqualität einwirkt: Einen wichtigen Unterschied machen die spezifischen Eigenschaften der Personen, die als Stellvertreter:innen stehen. So mögen die wahrgenommenen Körperempfindungen noch überindividuell sein, doch die Auswahl, welche der Wahrnehmungen mitgeteilt werden, ist subjektiv (Sparrer, 2001:89). Mit zunehmender Erfahrung als Stellvertreter:in wächst zudem das Vertrauen in das Erleben und Wahrnehmen von Körpersignalen und Emotionen sowie das Unterscheidungsvermögen zwischen fremden und eigenen Empfindungen (Weber, 2016:30). Des Weiteren sind geübte Stellvertreter:innen oft besser darin, über das bloße Beschreiben des Körpergefühls hinauszugehen und die empfangenden Informationen in eine anschauliche, häufig metaphorische Sprache zu übersetzen (Müller-Christ & Pijetlovic, 2018:164). Bei Forschungsaufstellungen ist deshalb darauf zu achten, dass die Stellvertreter:innen in der Aufstellungsarbeit erfahrene Personen sind, da dies die Informationstiefe ihrer Aussagen erhöht.

3.3 Transverbale Raumsprache: Formenanalytische Auswertung

Bei der Auswertung von in Forschungsaufstellungen erzeugten Raumbildern sind die Aussagen der Stellvertretenden zentral. Doch nicht alle Informationen über das Beziehungsgefüge des aufgestellten Systems, die mittels Raumsprache zum Ausdruck kommen, werden von den Stellvertreter:innen auch verbal formuliert. Deshalb kann die Analyse der Positionen, die Stellvertretende zueinander einnehmen, wichtige zusätzliche Erkenntnisse hervorbringen (Rosselet, 2012:56). Georg Müller-Christ und Denis Pijetlovic (2018:375) vermuten, „dass erst die formenanalytische Auswertung das volle Erkenntnispotenzial der Raumsprache erschließt“. Besonders wertvoll habe ich die Formenanalyse bei der Auswertung von Aufstellungen im freien Format erfahren, wie z. B. in dieser Arbeit bei der Aufstellung „Das innere Wesen des Marketing“ (Kapitel 7). Auch bei Aufstellungen mit definiertem Kontext und theoretischen Bezugsrahmen gleiche ich meine Interpretationen regelmäßig mit der raumsprachlichen Analyse ab.

Die folgende Tabelle 2.1 zeigt eine Übersicht formanalytischer Lesarten von Aufstellungsbildern, wie sie in der jahrelangen Arbeit im Kontext von Familien- und Organisationsaufstellungen (Rosselet, 2012:56 f.) und im Rahmen von Forschungsaufstellungen (Müller-Christ & Pijetlovic, 2018:279; Woithe, 2018:72 f.) entwickelt worden sind. Die Vorschläge zur raumsprachlichen Analyse von Rechteck-Formationen basieren auf eigenen Beobachtungen (vgl. Kapitel 7 sowie insbesondere die dazugehörige Methodenreflexion in Abschnitt 15.2).

Inhalt und Nutzen der nachfolgenden Übersicht erschließen sich spielerischer in der praktischen Anwendung. So können Sie, liebe Lesende, die verschiedenen formanalytischen Lesarten an dieser Stelle zunächst auch überspringen bzw. nur kurz überfliegen, um sie später – ab Kapitel 6 – bei der Interpretation von Aufstellungsbildern als Orientierung heranzuziehen sowie auch kritisch mit Ihren eigenen Analysen zu vergleichen.

Tabelle 2.1 Formanalytische Lesarten von Aufstellungsbildern. (Eigene Darstellung; auf Basis von Müller-Christ & Pijetlovic, 2018; Rosselet, 2012; Woithe, 2018 sowie eigener Beobachtungen)

3.4 Konfigurationen des Aufstellungsprozesses

Intention

Das Erkenntnisinteresse, das am Anfang einer Aufstellung steht, bestimmt die Grundkonfiguration des Prozesses. Bei Forschungsaufstellungen geht es weniger um eine zielorientierte Intention, sondern eher um ein absichtsloses Erkunden bzw. um ein „emergentes Hören oder Sehen“ (Müller-Christ & Pijetlovic, 2018:24). Auch wenn während des Aufstellungsprozesses weitestgehend auf Hypothesen verzichtet wird, so kommt die initiale Entscheidung für ein bestimmtes Format doch nicht ganz ohne theoretische Vorannahmen aus. Die anspruchsvolle Aufgabe der Forschenden liegt darin – gemeinsam mit der Aufstellungsleitung – innerhalb eines bestimmten theoretischen Bezugsrahmens (vgl. Kapitel 4) einen Kontext der Aufstellung zu wählen, der ihm:ihr geeignet erscheint, nützliche Daten hervorzubringen. Die Anzahl der in einer Aufstellung zugrunde gelegten Kontexte – dies sind die Elemente, das/die (Spannungs-)felder sowie ggf. Zeit- oder Entwicklungsphasen – ist jedoch überschaubar. Die Auswahl kann daher im Rahmen der Aufstellungsdokumentation übersichtlich und transparent dargestellt und begründet werden.

Anfangsbild

In Forschungsaufstellungen wird das Anfangsbild im Unterschied zu Familien- und Organisationsaufstellungen nicht nach dem inneren Bild des:der jeweiligen Anliegengebenden (bzw. der Vorannahmen des:der Forschenden) gestellt. Stattdessen zeigt sich das System selbst durch die Stellvertreter:innen, die ihren Platz im Aufstellungsfeld mithilfe repräsentierender Wahrnehmung finden. Die subjektiv bewertete Abbildungsgüte, also die Nähe an der mentalen Landkarte des:der Anliegengebenden, ist dabei regelmäßig sehr hoch: auf einer Skala von 1 bis 10 liegen die genannten Werte „so gut wie immer zwischen 7 und 10“ (Müller-Christ & Pijetlovic, 2018:159). Auch objektiv lässt sich eine hohe Abbildungsgüte belegen. So hat ein Experiment gezeigt, dass die Anfangsbilder in zwei voneinander unabhängig durchgeführten Aufstellungen zu ein und demselben System nahezu identisch sind (Müller-Christ, 2016a:78).

Verdeckte Aufstellungen

Ein weiteres Prinzip, das sich für hypothesenarme Erkundungsaufstellungen bewährt hat, ist das sogenannte „verdeckte“ Arbeiten. Bei einfach-verdeckten Aufstellungen wissen die Repräsentanten nicht, für welches Element sie stehen. Bei doppelt-verdeckten Settings sind überdies weder Kontext noch Thema der Aufstellung bekannt. Verdeckte Aufstellungen sind nach Matthias Varga von Kibéd der „Königsweg zur Vorurteilsfreiheit“ (zitiert nach Müller-Christ, 2016b:294): Das System kann sich ungestört zeigen, da die mentalen Muster der Stellvertreter:innen bzw. Aufstellungsleitung nicht aktiviert werden können. Aus eigener Beobachtung als Stellvertreterin kann ich bestätigen, dass es entlastend ist, sich in verdeckten Aufstellungen nur auf die eigene Wahrnehmung zu konzentrieren, ohne in der ständigen Versuchung zu sein, diese mit eigenen Vorannahmen abzugleichen. Die Gefahr des Confirmation Bias, von Bestätigungsfehlern, ist in verdeckten Aufstellungen minimal. Einen weiteren positiven Effekt berichtet Mathias Varga von Kibéd aus seiner jahrzehntelangen Erfahrung mit verdeckten Aufstellungssettings: Die Bilder werden nicht ungenauer, wie man vielleicht annehmen könnte, sondern präziser: Je weniger Informationen die Repräsentanten über das System haben, desto mehr gleicht das aufgestellte System dem Original. (Varga von Kibéd, 2014:´10)

Arbeit mit Prototypen

Die Idee, mit Aufstellungen implizites Wissen – das „tacit knowledge“ (Polanyi, 1966/2009) – hörbar zu machen, beruht auf der phänomenologischen Prämisse, dass auch nicht-menschliche Elemente und abstrakte Kontexte autonom sind. Auf Grundlage seiner Beobachtungen in Aufstellungen hat Georg Müller-Christ das „Eisbergmodell“ entwickelt (vgl. Abschnitt 4.2). Demnach sind nicht nur konkrete Entitäten, sondern auch Gedanken und Konzepte über konkrete Entitäten – wie bspw. Prototypen, Prinzipien, Entscheidungsprämissen, Theorien und Fiktionen – gehören zur Wirklichkeit eines Systems:

„Ich gehe davon aus, dass auch nicht-humane Elemente oder Entitäten eine Tiefe haben. Prinzipien, Institutionen, Entscheidungsprämissen, Ereignisse, Objekte, Theorien und alle anderen Entitäten haben nicht bloß eine Oberfläche, sondern auch eine Tiefe, mithin ein Innen, welches eine Art Selbstzuschreibung an Bedeutung ist. Dieses Innen der nicht-humanen Entitäten wirkt in allen sozialen Handlungen von Menschen mit, kann sich aber nicht mitteilen.“ (Müller-Christ, 2016a:75)

In der gegenwärtigen Wissenschaftslandschaft mag sich die Annahme, dass Menschen über keinen ontologischen Sonderstatus verfügen, (noch) befremdlich ausnehmen. Für Menschen, die Aufstellungen bereits mehrmals miterlebt haben, besitzt diese Hypothese jedoch a posteriori Gültigkeit. Sehr oft hatte ich die Möglichkeit, in verdeckten Aufstellungen den eindrücklichen Selbstbeschreibungen nicht-humaner Elemente zuzuhören. So spricht z. B. eine Stellvertreterin mit im schwäbischen Dialektraum typischen Diminutiven. Im Nachgespräch wird aufgedeckt, dass sie als Repräsentantin für eine Innovations-Strategie eines Stuttgarter Technologieunternehmens gestanden hat. Die Repräsentantin merkt an, dass sie selbst aus dem Norddeutschen stamme und eine süddeutsche „Mundart“ persönlich nicht gebrauche.

3.5 Aufstellungsformate im Forschungskontext

Aufstellungen ermöglichen, Daten über komplexe Systemzusammenhänge und -merkmale zu generieren und diese gleichzeitig in den Blick zu nehmen. Das Überlagern von Kontexten in dreidimensionalen Raumbildern erlaubt Systemanalysen auf einer höheren Komplexitätsstufe:

„Durch Aufstellungen entsteht eine Partitur von Kontexten, deren von Aufstellungsleiter/innen arrangiertes szenisches Zusammentreffen für die Beteiligten neue Bilder und neue Ideen für das Verständnis von sozialem Geschehen und/oder komplexen Systemen liefern.“ (Müller-Christ & Pijetlovic, 2018:16)

In dieser Arbeit wende ich drei unterschiedliche Aufstellungs-Formate an. Im Abschnitt der analytischen Untersuchung (III. Systemwissen) verwende ich zum einen das herkömmliche freie Format, in dem es zu keinem expliziten „szenischen Zusammentreffen“ von Kontexten kommt, zum anderen das Format der sogenannten „Dilemma-Aufstellung“. Im Abschnitt IV. Orientierungswissen nutze ich zum Erkunden möglicher zukunftsfähiger Innovationen das Dilemma2-Format mit überlappenden Spannungsfeldern.

Das Format der Dilemma-Aufstellung ist eine Weiterentwicklung, die an der Universität Bremen geleistet worden ist. Die Innovation liegt nicht darin, dass Spannungsfelder und Polaritäten in die Aufstellungsarbeit einbezogen werden, sondern dass Dilemmata und damit unvermeidliche Trade-offs in unserer hochkomplexen Gesellschaft thematisiert werden. „Dilemmata erkennt man logisch immer am Trade-off“, definieren Müller-Christ & Pijetlovic (2018:15). Im Unterschied zum Tetralemma, das sich auflösen lässt (Varga von Kibéd und Sparrer, 2016:75 ff.), kann ein Trade-off nur bewältigt werden und verlangt nach einem Ausgleich (vgl. ausführlich zu einem Widerspruchsmanagement Müller-Christ, 2014:280 ff.). In Aufstellungen sind für bestimmte Systeme wiederkehrende Spannungsräume erkennbar, z. B. eine Autonomie-Bindungs-Polarität oder das Dilemma von Nachhaltigkeit und Effizienz. Bei systemischen Spannungsfeldern handelt es sich sehr häufig um Variationen des Zweck-Mittel-Dilemmas. (Müller-Christ & Pijetlovic, 2018:96)

In Aufstellungen ist es möglich, das Überlagern von (Spannungs-)Feldern zu simulieren. So können zwei Polaritäten auch gekreuzt werden – das Format heißt dann entsprechend Dilemma2 (ebd.:96). Kontextkonstellationen mit sich überschneidenden Feldern sind ein Beispiel für den besonderen Analyserahmen, den Aufstellungen für das Entdecken des tatsächlichen Neuen bieten können. Georg Müller-Christ und Denis Pijetlovic nennen diesen Aufstellungstypus deshalb auch mit Verweis auf die Feldtheorie „Feldaufstellungen“:

„Es geht uns in den nächsten Jahren darum, Muster von Kontextkonstellationen zu finden, die genau diese Überlagerung von Feldern simulieren und damit Aktivierungsräume schaffen, um das Neue zu locken. Wenn das gelingt, wären Feldaufstellungen ein wirkungsvolles Instrument des Innovationsmanagements, des kreativen Marketings oder des sozialen Erfindens, weil sie ein Setting bieten, den Geistesblitz zu locken und uns einen Blick in emergierende Zukünfte zu ermöglichen, ein Prozess, den Scharmer Presencing nennt (Scharmer 2011).“ (Müller-Christ & Pijetlovic, 2018:14 f.)

3.6 Einordnung der dinghaften „Wirklichkeit“ in Aufstellungen

Akzeptiert man die Idee, dass Menschen keinen ontologischen Sonderstatus besitzen und sich Systeme mittels Aufstellungen direkt zum Sprechen bringen lassen, dann stellt sich die Frage, welche Art von „Wirklichkeit“ sich dabei im Raum zeigt.

Eine Antwort fällt je nach wissenschaftstheoretischem Zugang unterschiedlich aus. So ist im konstruktivistischen wie im phänomenologischen Denken die ontische Wirklichkeit, das tatsächlich Seiende nicht direkt erkennbar, doch die Konzepte divergieren in der Frage, ob und in welcher Form eine ontologische Wirklichkeit, ein unverrückbares Sein existiert. Damit erscheinen Konstruktivismus und Phänomenologie zunächst einmal als konträre Denkrichtungen, ihre philosophischen Grundlagen weisen jedoch innere Zusammenhänge auf, die in der Aufstellungsarbeit mittlerweile als sich ergänzend angesehen werden (Drexler, 2015:26 ff.; Weber, 2016:25 ff.; Sparrer, 2001:71). Auch bei der Interpretation von Aufstellungsbildern vervollständigen sich die beiden Ansätze – aus meiner wissenschaftstheoretischen Perspektive (Abschnitt 1.3.1) – zu einer wenngleich vorläufigen, so doch nützlichen Antwort.

Bert Hellinger, der Begründer des Familienstellens, interpretierte Aufstellungen als „phänomenologische Wahrheit“. Seine Lesart des phänomenologischen Erkenntnisweges ist in der Aufstellungsarbeit schon längst nicht mehr „state of the art“. Apodiktische Standpunkte („So ist es!“) werden heute vermieden (Klein & Limberg-Strohmeier, 2012:325). Ob nun in der systemisch-konstruktivistischen oder eher in der phänomenologischen Tradition stehend – unter Aufstellern herrscht weitgehend Einigkeit darin, dass Aufstellungsbilder keine Eins-zu-Eins-Abbildungen der Wirklichkeit darstellen (Drexler, 2015:27).

Denn aus spezifischen Fragestellungen ergeben sich jeweils verschiedene Blickwinkel und abhängig vom jeweils definierten Kontext werden somit unterschiedliche Ansichten und Verläufe im Aufstellungsprozess sichtbar. Aussagen von Stellvertreter:innen sind somit auch nicht wörtlich zu nehmen, sondern immer im Zusammenhang zu verstehen.

„Eine konkretistische Übernahme von Aussagen der Stellvertreter leistet meines Erachtens unseriösen und gefährlichen mystischen Tendenzen Vorschub … So ist z. B. die Aussage ‚Ich bin nicht Dein Vater‘ nicht zwangsläufig ein Hinweis auf eine verschwiegene Adoption. Möglich ist auch, dass der Stellvertreter des Vaters mit dem Satz vielmehr das Gefühl zum Ausdruck bringt, bei seiner Frau nie an erster Stelle gestanden zu haben, weil diese ihre Jugendliebe niemals ganz vergessen hat.“ (Drexler, 2015:46)

Im Konstruktivismus wie in der Phänomenologie gleichermaßen (wenn auch unterschiedlich begründet) gilt, dass es keine vom Beobachtenden unabhängig zu beobachtende Wirklichkeit gibt. Aus konstruktivistischer Perspektive produzieren Aufstellungen einen „bunten Strauß aus verschiedenen perspektivischen Bildern von verschiedenen konstruierten Wirklichkeiten“ (Sparrer, 2001:88). In eher phänomenologisch-orientierter Lesart zeigen Aufstellungsbilder „keine Wirklichkeits-Standpunkte, sondern vielmehr Wirklichkeits-Fließpunkte“ (Klein & Limberg-Strohmeier, 2012:379).

In Aufstellungen wird also nicht „das reale System“ dargestellt; sondern es wird sichtbar, unter welchen Bedingungen Elemente in welcher Weise reagieren. Dieser Konsens von Konstruktivismus und Phänomenologie endet jedoch dort, wo Aufstellungen die herkömmlichen Grenzen des im Alltag empirisch Erfahrbaren verschieben. So gibt es viele glaubhafte Berichte, dass Stellvertreter etwas wahrnehmen, was sich – wie sich dann im Nachhinein erweist – tatsächlich in der Vergangenheit ereignet hat. Zur Illustration ein Beispiel von vielen, die ich selbst miterlebt habe: „Ich lebe auf dem Land zusammen mit Ziegen und Schafen. Meine Tiere sind mir näher als die Menschen.“ Diese Aussage eines Stellvertreters gibt detaillierte Beschreibungen über eine – ihm völlig unbekannte – Person in einer verdeckten Aufstellung wieder. Als die Anliegengeberin bestätigt: „Ja, das ist meine Ur-Großmutter. Sie hatte mit den Menschen gebrochen und lebte tatsächlich allein mit ihren Tieren“, dann fühlen sich alle Beteiligten berührt von etwas Unbekanntem. Annahmen, dass sich bei Familienaufstellungen etwa die Seelen der toten Ahnen melden, können nach Sparrer (2014:104) als widerlegt gelten. Zumindest erklärt die These nicht, warum solche Momente tief empfundener Wahrheit auch in Aufstellungen mit abstrakten und nicht-humanen Entitäten nicht ungewöhnlich sind. So beobachtete ich z. B. Selbstbeschreibungen des prototypischen Elementes „Ethos“ in voneinander unabhängigen Aufstellungen, bei denen verdeckt gearbeitet wurde und es auch keine personalen Überschneidungen bei den Stellvertreter:innen gab, mit frappierend ähnlichen Attributen („fruchtbar“, „Urkraft“, „reine Energie“). Solche Erfahrungen – weitere eindrückliche Beispiele werden Sie, liebe Lesende, in den prototypischen Aufstellungen dieser Arbeit entdecken – ist für mich ein genereller Verweis darauf, dass sich in Aufstellungen – neben subjekt- und kontextabhängigen Abbildungen der Realität – Wirklichkeitsebenen andeuten, die sich unserer gewöhnlichen Wahrnehmung entziehen. Die Methode bringt unverrückbare, beständige Grundstrukturen der Wirklichkeit zum Vorschein. Auch wenn die eine ontologische Wirklichkeit dabei unfassbar bleibt, so ermöglichen Aufstellungen doch, viel „tiefer zu graben“ als herkömmliche wissenschaftliche Methoden. Aus phänomenologischer Sicht existiert eine solche ontologische, von uns unabhängige Wirklichkeit, der Konstruktivismus lehnt diese Möglichkeit ab.

Beim Familienstellen, aber auch im Organisationskontext zählt die „heilende“ Wirkung von Aufstellungen auf das Originalsystem zum methodischen Kern.Footnote 9 Die Beobachtung, dass Aufstellungsprozesse dabei auch unmittelbar, gleichsam synchron mit dem Jetzt-Raum korrespondieren können, ist hierbei weniger zentral als sie zur Mystifizierung der Aufstellungsarbeit beigetragen hat.

Für die vorliegende Forschungsarbeit klammere ich die Perspektive etwaiger Wirkungen von (Forschungs-)Aufstellungen auf die (soziale) Realität aus. In meinem Forschungszusammenhang liegt der Fokus vielmehr auf einer anderen Frage, die sich an das Phänomen der Synchronizität anknüpft: Inwiefern korrespondieren Aufstellungen mit der Zukunft? Wie sind Zukunftsbilder zu lesen, die mittels Aufstellungen generiert werden? Ein nützliches Konzept, mit dem in der Aufstellungsszene wie auch im Bereich der Forschungsaufstellungen gearbeitet wird, ist das Bild aus der Theorie U einer „im-Entstehen-begriffenen“ Zukunft. Die emergente Zukunft ist das Gegenteil der geplanten Zukunft. Sie ist nicht von uns aus in die Zukunft gerichtet, sondern die entstehende Zukunft kommt auf uns zu. (Scharmer, 2009/2011; vgl. Abschnitt 4.5) In Aufstellungen generierte Zukunftsbilder zeigen nach dieser Lesart Möglichkeitsräume zukünftiger Entwicklungen.

Die folgende Abbildung 2.1 zeigt modellhaft unterschiedliche Arten von „Wirklichkeit“, die mittels prototypischen Forschungsaufstellungen beobachtbar sind. In einem (immer nur annähernd) hypothesenfreien Raum zeigt das System Schattenrisse seines ontischen Seins. Im hypothesenarmen Raum, in dem Kontexte, z. B. vermutete Spannungsfelder, Raum-Zeitkontexte bewusst definiert sind – wird die funktionelle Wirksamkeit des Systems in unterschiedlichen Wirklichkeits-Fließpunkten dinghaft. Auf der Zeitachse zeigen sich auf der einen Seite unterschiedliche kontextbezogene Abbilder sozialer Realität, auf der anderen Seite werden kontextbezogene Möglichkeitsräume einer emergenten Zukunft sichtbar.

Für Aufstellungsdaten gibt es die dargestellten eher phänomenologisch und eher konstruktivistisch orientierten Lesarten – und vielleicht ist alles noch ganz anders. Doch letztlich ist es m. E. unwichtig, anhand welcher Beobachtung sich eine nützliche wissenschaftliche Erkenntnis entzündet.Footnote 10 Tatsächlich entscheidend für die wissenschaftliche Interpretation von Aufstellungen ist die (unabhängig jedweder epistemologischen Positionierung) geteilte Erfahrung, dass mittels Aufstellungen vollkommen neue Perspektiven und überraschende Erkenntnisse gewonnen werden können:

„Die durch Systemaufstellungen gewonnenen Informationen haben nicht den Charakter von Fakten, Ratschlägen oder Vorgaben, sondern ermöglichen allen Beteiligten einen kreativen Prozess des Reflektierens und des Intuierens. Es sind genau die Spielräume der Deutungen, die diese kreativen Prozesse auslösen.“ (Müller-Christ & Pijetlovic, 2018:81 f.)

Abbildung 2.1
figure 1

(Eigene Abbildung)

Unterschiedliche Arten von „Wirklichkeit“, die sich in Aufstellungen zeigen können.

Vor diesem Hintergrund geht es im Analyseverfahren, das ich in Kapitel 3 erläutere, auch nicht um die Destillation einer falschen oder richtigen Lesart, sondern im Gegenteil darum, kontrastive Perspektiven zu entdecken und spielerisch auf mögliche Interpretationen zu untersuchen. Ein nützlicher roter Faden für die Auswertung von Systemaufstellungen ist deshalb die Frage, welcher gehaltvolle Unterschied auf der eigenen inneren Landkarte entstanden ist, der vorher nicht da war? Denn eine tatsächlich neue Information ist nur im „Unterschied, der einen Unterschied macht“ (Bateson, 1972/2014:582) zu entdecken.

3.7 Die besondere Leistungsfähigkeit der Methode für die Forschung

Im Familienstellen und in Organisationsaufstellungen geht es meist um das Lösen eines spezifischen Problemzustands. Auch wenn „Problem“ dabei wertfrei zu verstehen ist, wie z. B. bei Teamaufstellungen oder Drehbuchaufstellungen, so verfolgen Aufstellungen in diesen Anwendungsfeldern gleichwohl einen lösungsfokussierten Ansatz. Im Unterschied dazu ist die Intention von Aufstellungen im Forschungskontext, so wie ich sie auch im Rahmen dieser Arbeit anwende, eher explorativ orientiert.

Zwar eignen sich Forschungsaufstellungen prinzipiell für die Forschung im „Entdeckungszusammenhang“ wie auch für die Forschung im „Begründungszusammenhang“ (Popper, 1934/2002; Reichenbach, 1938/2006), doch das einzigartige Potenzial der Aufstellungsmethode zeigt sich nicht beim Bestätigen bestehender Theorien, sondern vor allem beim Entdecken von tatsächlich Neuem und dem Intuieren anderer möglicher Potenziale eines Systems. Georg Müller-Christ & Denis Pijetlovic (2018) bezeichnen Aufstellungen in diesem explorativen Zusammenhang als „Erkundungsaufstellungen“:

„Der Begriff des Erkundens gefällt uns so gut, weil er auch im Alltag für eine ergebnisoffene und gleichwohl neugierige Tätigkeit steht. Erkunden beinhaltet zudem die Haltung eines unbewerteten Findenwollens von Unerwartetem. Am Ende eines Erkundungsprozesses steht häufig ein erstes Staunen über das Gefundene und ein gutes Gefühl, etwas Neues gefunden zu haben.“ (Müller-Christ & Pijetlovic, 2018:24)

Bislang ist die qualitative Sozialforschung darauf angewiesen, mit indirekt gewonnenen Daten zu arbeiten, indem Menschen über ihre Vermutungen und Beobachtungen befragt werden. Die prototypische Aufstellungsarbeit erlaubt, Sinnebenen eines Systems zur Sprache zu bringen, die bei herkömmlichen sozialwissenschaftlichen Methoden verdeckt bleiben. In der sozialwissenschaftlichen Literatur finde ich keine Methode beschrieben, die ermöglicht, ein System zu einem Selbstausdruck zu bewegen. Mittels Aufstellungen werden Wirklichkeitsebenen sichtbar, die sich gemeinhin unserer alltäglichen Wahrnehmung entziehen. Darin liegt gleichermaßen die Irritation als auch die besondere Leistungsfähigkeit der Methode. Denn das Entdecken neuer Zusammenhänge ist unabdingbar verbunden mit der Bereitschaft zu einem vorgängigen anderen Denken, wie der Quantenphysiker Werner Heisenberg (1901–1976) beispielhaft formulierte:

„Wenn man wirklich Neuland betreten will, kann es vorkommen, dass nicht nur neue Inhalte aufzustellen sind, sondern dass auch die Struktur des Denkens sich ändern muss, wenn man das Neue verstehen will.“ (zitiert nach Warnke, 2017:206)

Ein weiteres Potenzial für die Forschung besteht darin, mittels Raum-Zeit-Verdichtung Systemmerkmale gleichzeitig in den Blick zu nehmen und somit eine Gesamtschau vielschichtiger, dynamischer Systemzusammenhänge zu generieren, die neue, zuvor noch unbekannte Daten enthält. Damit sind Aufstellungen „systemischer“ (Sparrer, 2001:69) als viele andere Forschungsmethoden. Wenn komplexe Sachverhalte methodisch bedingt nur nacheinander darstellbar sind, kann das zu verkürzten, linearen Beschreibungen verführen. Denn kausales Denken geht dem „Gehirn wie Butter von den Synapsen“ (Wehling, 2018) und weil es so leicht ist, lassen wir uns gern dazu verlocken. Die in der Aufstellungsarbeit angelegte systemische Perspektive kann Forschende vor dieser Falle einfacher Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge schützen. In Aufstellungen werden Systeme in kraftvolle 3D-Raumbildern übersetzt. In diesen wird deutlich, wie die Repräsentanten zueinander in Wechselbeziehung stehen und dass an mehreren Stellen gleichzeitig etwas passieren kann. So werden komplexe Dynamiken und vielfältige Perspektiven eines Systems, zum Teil sogar zeit- und raumübergreifend auf einen Blick sichtbar. Die Aufstellungsmethode schützt nicht nur vor vereinfachenden Schlüssen, sie wirkt auch in einem hohen Maße intuitionsfördernd. Aufstellungen bieten ein ideales Setting zur „Entzündung des Möglichkeitssinns“ (Simon & Weber, 2004:47 ff.). Bei einer durchschnittlich eine Dreiviertelstunde dauernden Aufstellung erhalten Forschende mehr Informationen zu einem System als manchmal in vielen Jahren empirischer Beobachtung. Diese Erfahrung machen auch Anliegengeber:innen in anderen Aufstellungskontexten, wie z. B. der Drehbuchautor Florian Henckel von Donnersmark (2012):

„Wir sind viel klüger, als wir in unseren trüben Momenten denken, wenn wir allein in unserer Schreibstube sitzen. Die Art, wie jemand im Raum steht, enthält fast unbegrenzt viele Informationen. Bei der Drehbuchaufstellung zapfen wir diese Ressourcen an, aktivieren wir diese feinen Sensoren und kommen so in einer Dreiviertelstunde weiter als manchmal in einem Dreivierteljahr.“ (Henckel von Donnersmark, 2012:9)

Ihr kreatives Potenzial macht Aufstellungen nicht zuletzt auch zu einem geeigneten Instrument transformativer Forschung, die nach neuen Einsichten und Lösungsansätzen für gesellschaftliche Prozesse sucht. Zusätzlich befördern die in Aufstellungen produzierten 3D-Raumbilder den co-kreativen Austausch auf einem hohen Niveau. Denn die interdisziplinär les- und interpretierbare transverbale Raumsprache ermöglicht, die während des Forschungsprozesses beobachteten Aspekte für Dritte – jenseits fachlicher Grenzen – verständlicher darzustellen.

Die Anforderung der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit ist bei neuen Methoden, für die noch keine Regeln zu Dokumentation und Bericht existieren, ein wichtiges Argument der wissenschaftlichen Güte. Diesen Aspekt führe ich im folgenden Kapitel weiter aus und beschreibe mein methodologisches Vorgehen en détail.