Das Ergebnis meiner Erkundungsreise hat mich positiv überrascht. Die Aufstellungsbilder unterstützen meine implizite Vorannahme, Marketing verfüge über ein besonderes Potenzial für transformativen Konsumwandel und stellen dazu in Aussicht, dass Marketing auch zu einer gesamtgesellschaftlichen Neuorientierung beitragen könne. Das Modell, das aus den Daten emergiert ist, zeichnet ein komplexes Wirkungsgefüge eines zukunftsorientierten Marketing, wie ich es mir zu Beginn meiner Erkundungsreise nicht hätte ausmalen können.

Der Zweck von Marketing verändert sich. Die Zukunftsfähigkeit der Profession liegt nicht in einer Fortsetzung des herkömmlichen Mindset, wie es in Komposita wie „Nachhaltigkeitsmarketing“ respektive „Green Marketing“ semantisch zum Ausdruck kommt. Notwendig scheint vielmehr, Marketing radikal anders zu denken. Der Zweck von Marketing transzendiert, in dessen Folge sich eine neue, ökonomisch zweisprachige Struktur (Syntax) und erweiterte marketingpolitische Möglichkeitsräume (Strategie) herausbilden.

1 Heuristik zur Modellierung

Das Modell eines zukunftsorientierten Marketing, das sich im Prozessverlauf herausgebildet hat, ist nicht zuletzt das Ergebnis meiner systemischen Herangehensweise. Aus dieser Perspektive rückt quasi automatisch in den Fokus, dass sich die unterschiedlichen Teilsysteme im Konsumsystem in einer wechselseitigen Abhängigkeit befinden und entwickeln. Ein solches ganzheitliches Verständnis schließt an Forderungen an, wie sie u. a. Frank-Martin Belz und Ken Peattie (2012) für das Marketing bereits formuliert haben:

„Understanding the responses of individual consumers to the solutions offered by individual companies is vital in sustainability marketing. (…) However, understanding sustainability marketing as a whole also requires an appreciation of the nature and implications of the total systems of consumption and production that exist to meet our needs. It also requires an understanding of the world itself, not from the conventional marketing perspective of geopolitical boundaries, sales territories and the distances between producers and consumers but as a complex and dynamic set of interlocking physical systems which our lifestyles and economies depend on.“ (Belz & Peattie, 2012:312)

Die Heuristik, die ich in Abbildung 13.1 zur Modellierung eines zukunftsorientierten Marketing entwickelt habe, veranschaulicht meine systemisch-integrale Herangehensweise. Die Matrix ermöglicht, die im Forschungsprozess entdeckten Unterschiede pointiert zusammenzufassen, wodurch die zum Beschreiben des komplexen Systems benötigte Datenmenge abermals drastisch reduziert wird. Gleichzeitig werden Zusammenhänge und Strukturen sichtbar, die ich im Auswertungsprozess bis dato in dieser Klarheit noch nicht erkannt hatte.

Das heuristische Modell ist eine Kombination aus einem Instrument der GTM; die Bedingungsmatrix (Strauss & Corbin, 1996:135 ff.; Corbin & Strauss 2008/2015:160 ff.; Breuer et al., 2018:292 ff.) mit dem integralen AQAL-Modell – alle Quadranten, alle Ebenen – von Ken Wilber (2001a/2010:46ff; 81 ff.) in Verbindung mit dem Entwicklungsebenen der Spiral Dynamics (Beck & Cowan, 2007/2014). Im Ergebnis erhalte ich ein multidimensionales Diagramm (Abbildung 13.1), das mir erlaubt, die vielschichtigen Wechselwirkungen im Wirkraum eines zukunftsorientierten Marketing auf den unterschiedlichen ineinandergreifenden Kontextebenen in sehr vereinfachter Form zu erfassen.

Die entwickelte Heuristik zur Modellierung eines zukunftsorientierten Marketing unterscheidet zum einen vier Quadranten (in Anlehnung an das integrale AQAL-Modell):

  • Die beiden linksseitigen Quadranten beschreiben innerliche Dimensionen (Bewusstsein), die beiden rechtsseitigen Quadranten äußere (Materie).

  • Die beiden oberen Quadranten sind bezogen auf individuelle Kontexte, die beiden unteren auf kollektive.

Das integrale AQAL-Modell ergänzt die vier Quadranten um eine vertikale Dimension, mit der unterschiedliche Ebenen der Komplexität nach Spiral Dynamics erfasst werden können. Diese zeitliche Unterscheidungsmöglichkeit erscheint mir für die Heuristik als ausgesprochen nützlich.

Des Weiteren unterscheidet die Matrix vier kontextuelle Kreislinien (in Anlehnung an die Bedingungsmatrix der GTM).

  • Die beiden äußeren Kreislinien beschreiben die Makroebene mit exogenen Entwicklungen sowohl nationaler als auch internationaler Reichweite. Sie umfasst u. a. Bereiche zum internationalen Politik-, Wirtschafts- und Finanzsystem sowie die planetaren Grenzen zu Biodiversität, Treibhausgasen etc. pp. Die materielle Dimension umfasst hier u. a. Ressourcenfragen, die innere Dimension adressiert Kultur und Werte, wie z. B. Fragen zur (sozialen und globalen) Klimagerechtigkeit. Themen nationaler Reichweite sind auf der materiellen Seite z. B. Gesetze und auf der inneren Seite z. B. das Wertesystem des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats.

  • Die folgende Kreislinie repräsentiert den Bereich unterschiedlicher gesellschaftlicher Teilsysteme. Hier ist der Kontext zu verorten, der im Mittelpunkt meiner Untersuchung steht: das Produktions- und Konsumsystem mit seinen unterschiedlichen Strukturen und Akteuren. Auf der materiellen Seite wird z. B. über Angebot und Nachfrage entschieden und – auf den gegenüberliegenden, inneren Dimensionen – entwickeln sich konsumbezogene kollektive und individuelle Wertvorstellungen und Bedürfnisse.

  • Der innere Kreis repräsentiert auf der Mikroebene gesellschaftliche Nischen. Sie sind oft Keimzelle für neue gesellschaftliche Bewegungen und soziale Innovationen.

Abbildung 13.1
figure 1

Heuristik zur Modellierung eines zukunftsorientierten Marketing. (Eigene Abbildung; Symbolbild: pngegg.com)

2 Herausforderungen eines transformativen Konsumwandels

Das Nachdenken über ein anderes, zukunftsorientiertes Marketing beginnt mit der Frage nach Ziel und Inhalt einer zukunftsfähigen Transformation des Konsumsystems. Die Begriffe „Transformation“ und „Wandel“ werden im gesellschaftlichen Diskurs ähnlich unspezifisch gebraucht wie der Begriff „Nachhaltigkeit“. So meinen alle – Forschende, Politiker:innen, Unternehmer:innen oder auch Konsumierende – etwas anderes, wenn sie von einer „Transformation zur Nachhaltigkeit“ oder dem „Wandel hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft“ sprechen. In der inhaltlichen Unbestimmtheit der Begriffe liegt jedoch womöglich keineswegs das Kernproblem. Die erhobenen Aufstellungsdaten lassen mich vermuten, dass der ursächliche Kategorienfehler vielmehr in der zugrundeliegenden Denkweise der Konzepte: „weg von – hin zu“ liegt. Sie erinnern sich, liebe Lesende, an die erste Aufstellung, als sich das Konsumsystem überraschend anders ausrichtet (Kapitel 6; Abbildung 6.6): Die Entwicklung vollzieht sich nicht in Richtung Nachhaltigkeit – wie es ja gemeinhin heißt – sondern als Transformation des Einkommensbegriffs („Ich fühle mich satt.“). Aus der Beobachtung der Aufstellungsbilder folgt ein grundlegender Wechsel der Blickrichtung – im wortwörtlichen Sinne:

Bei einer Transformation des Konsumsystems geht es nicht um das Überwinden eines nicht-nachhaltigen „Ist-Konsum“ hin zu einem nachhaltigen „Soll-Konsum“. Eine solch linear-kausale Zielvorstellung verkennt sowohl das Wesen der Konsumgesellschaft als komplexes Wirkungsgefüge als auch die (Un-)Logik des herrschenden Wirtschaftsdenkens.

In der Aufstellung „Konsumsystem“ zeigt sich, dass Absatzmaximierung und Ressourcenerhalt widersprüchliche Handlungsrationalitäten darstellen. Die Bilder sagen: Unendliches Wachstum ist in einer endlichen Welt nicht möglich. Diese Erkenntnis klingt geradezu banal und ist gleichwohl von weitreichender Bedeutung Grundlegende Kategorien des ökonomischen Mindset bedürfen vor diesem Hintergrund einer Neubewertung – so auch das Paradigma eines grünen Wachstums, die Vorstellung, dass Nachhaltigkeit und fortwährende Einkommenssteigerung miteinander vereinbar seien.

Eine zukunftsfähige Transformation des Konsumsystems erfordert letztlich die Abkehr vom (quantitativen) Wachstumsparadigma und damit ein grundlegendes gesamtgesellschaftliches Umdenken.

Vor diesem Hintergrund stellt sich meine Annahme, Marketing könne ressourcenorientierten Konsumwandel unterstützen, noch um ein Vielfaches herausfordernder dar. In den Daten, die ich im Rahmen dieser Arbeit mittels Aufstellungen erhoben habe, zeigt sich eine mögliche Neuausrichtung des Marketingsystems.

3 Eine neue, ökonomisch zweisprachige Struktur (Syntax)

Ein zukunftsorientiertes Marketing unterscheidet sich signifikant von der Strategie des herkömmlichen Nachhaltigkeitsmarketing, das sich mit seiner Win-Win-Rhetorik geschmeidig der herrschenden Konsumsteigerungslogik einfügt. Die Botschaft „Grüner Konsum rettet die Welt!“ „erlaubt“ Konsumierenden ein Weiter so. Der belgische Geograf Erik A. Swyngedouw (2010) bringt das Narrativ vom „Grünen Konsum“ auf den Punkt:

„In other words, we have to change radically, but within the contours of the existing state of the situation – ‘the partition of the sensible’ in Rancière’s (1998) words, so that nothing really has to change“. (Swyngedouw (2010:2019)

Nachhaltigkeitsmarketing leistet keinen Beitrag zum notwendigen Konsumwandel. Im Gegenteil: Es unterstützt die irreführende Win-Win-Rhetorik vom „nachhaltigen Konsum“ und trägt somit dazu bei, dass sich die Spirale der Konsumsteigerungslogik weiterdreht.

Im Gegensatz dazu erkennt ein zukunftsorientiertes Marketing Erwerbsorientierung und Ressourcenerhalt als widersprüchliche Handlungsrationalitäten (an). Im Sinne des ressourcenorientierten Nachhaltigkeitsansatzes begreift sich ein zukunftsfähiges Marketingsystem als Teil einer „Haushalts- bzw. Wirtschaftsgemeinschaft“ (Müller-Christ, 2014:178 ff.). Systemtheoretisch bezeichnet dieser Perspektivwechsel einen Wechsel zur Beobachtung zweiter Ordnung; das System erkennt sich als Teil des Kontextes, den es beobachtet. Aus dieser systemischen Perspektive ist die ökonomische Unvernunft des aktuellen (Marketing-)Systems klar zu erkennen: Zum kurzfristigen Zweck der Absatzmaximierung werden Ressourcen dauerhaft zerstört, die – wie sich an vielen Beispielen bereits unmittelbar beobachten lässt – letztlich auch für den eigenen Fortbestand essenziell sind. Die (gar nicht mehr so) langfristigen Folgen des heutigen Handelns rücken damit in das zentrale Blickfeld eines zukunftsorientierten Marketing:

Im Spannungsfeld von Erwerbsorientierung und Ressourcenerhalt richtet sich das System radikal neu aus: Einem zukunftsorientierten Marketing geht es nicht zuvörderst um kurzfristige Vertriebserfolge. Der führende Zweck heißt nun Erhalt der materiellen und immateriellen Ressourcenbasis.

Das Modell eines zukunftsorientierten Marketing, das aus den Aufstellungsdaten emergiert ist, beschreibt einen deutlichen Paradigmenwechsel. Gleichwohl ist das Modell aus meiner Sicht prinzipiell gut anschlussfähig an etablierte akademische Marketingkonzepte, bei dem das duale Konzept der marktorientierten Unternehmensführung nach Heribert Meffert (Meffert et al., 2019) wichtige Standards gesetzt hat. Gemäß dem Meffertschen Ansatz sind im Marketing zwei Teilbereiche zu unterscheiden: zum einen die Austauschprozesse mit Nachfragern als betriebswirtschaftliche Grundfunktion und zum anderen die marktorientierte Koordination aller betrieblichen Funktionsbereiche als ein Leitkonzept der Unternehmensführung (ebd.:12 f.). Diese duale Struktur wird von einem zukunftsorientierten Marketing übernommen, allerdings vollzieht sich mit der Perspektiverweiterung ein qualitativer Wandel: Das ressourcenorientierte Denken übernimmt die Führung und setzt dem betriebswirtschaftlichen Denken einen neuen Leitrahmen. Wichtig erscheint mir dabei die Beobachtung, dass die bisherige Marktorientierung von der Ressourcenorientierung nicht abgelöst wird, sondern im erweiterten Rahmen aufgeht (und sich zukunftsfähig entfalten darf).

In der dualen Struktur eines zukunftsorientierten Marketing zeigt sich ein zentraler Unterschied zum herkömmlichen Green Marketing: Ein zukunftsorientiertes Marketing subsumiert Nachhaltigkeitsziele nicht einfach dem herrschenden Zielsystem der reinen (Absatz-)Marktorientierung, vielmehr öffnet es sich für eine neue, erweiterte Zielausrichtung, ohne dabei den Widerspruch zwischen Nachhaltigkeit bzw. Ressourcenerhalt und erwerbswirtschaftlichen Wachstumszielen auflösen zu wollen. Im Gegenteil: Beide Kräfte ergänzen einander und bilden zusammen – so die Formulierung von Ethos des Marketing (Kapitel 7; Abbildung 7.1) –„ein hübsches Paar“.

Bei einem zukunftsorientierten Marketing sind Ressourcenorientierung und Erwerbsorientierung in einem antagonistischen Wechselspiel aufeinander bezogen. Das Spannungsverhältnis zwischen den beiden gegensätzlichen Kräften ist fruchtbar.

Beim Visualisieren der aus den Aufstellungsdaten emergierten Kategorien ist ein Bild entstanden, das mich an einen mit Eiswasser gefüllten Flaschenkühler erinnert. Die Abbildung 13.2 zeigt einen Kübel, in dem sich eine Getränkeflasche befindet. Die Flüssigkeit in der FlascheFootnote 1 symbolisiert die betriebswirtschaftliche Grundfunktion des Marketing. Der äußere mit Eiswasser gefüllte Kübel beschreibt Marketing in seiner Leitfunktion der ressourcenorientierten Koordination aller betrieblichen Funktionsbereiche. Das Eiswasser sorgt dafür, dass sich der Flascheninhalt – das erwerbsorientierte Marketing – abkühlt und damit überhaupt genießbar wird. Denn in den vergangenen Jahren hat sich das Marketingsystem stark überhitzt: Unter immer höherem Einsatz der zur Verfügung stehenden Mittel und ständig neuer Instrumente versucht die Branche, sich in einem immer schneller wandelnden Umfeld aus gesättigten Märkten, Kostendruck und Digitalisierung zu behaupten. Die Erfindung immer neuer Buzzwords im Marketing – sei es Growth Hacking, Immersive Storytelling, Snackable Content oder UX Strategy – ist vor diesem Hintergrund als „semantischer Reflex auf eine neue Problemlage“ (Kenning, 2018:93) sicherlich zutreffend interpretiert. Bei solch hohen Außentemperaturen braucht es ganz klar: mehr Eis im Kübel.

Eine stärkere Ressourcenorientierung des Systems wirkt ausgleichend auf eine überhitzte, maßlose Erwerbsorientierung. Entscheidend für das Zusammenspiel der beiden widersprüchlichen Kräfte ist eine dynamische Balance. Marketing wird dadurch wieder „genießbar“ – und somit auch effizienter.

Das Eiswasser darf den Flascheninhalt keineswegs zu weit herunterkühlen, denn zu viel Kälte hat eine betäubende Wirkung auf die Geschmackspapillen.Footnote 2 So muss auch ein zukunftsorientiertes Marketingsystem einen gewissen (Temperatur-)Ausgleich schaffen zwischen Erwerbsorientierung auf der einen Seite und Ressourcenorientierung auf der anderen. Diese Strategie eines zukunftsorientierten Marketing, wie sie sich in der Aufstellung „Das innere Wesen des Marketing“ gezeigt hat, beschreibt ganz ähnlich Georg Müller-Christ (2014) als Bewältigungsform:

„Die Bewältigungsform der Kompensation hat als Lösungsprämisse ebenfalls die Balance. Gleichwohl wird von einem viel komplexeren Gestaltungsansatz ausgegangen, letztlich mit dem Ziel, ein soziales System oder eine wirtschaftende Einheit auf widersprüchliche Umweltanforderungen auszurichten, indem das Management selbst widersprüchlich wird. Die Aufforderung zu einem solchen spannungsgeladenen Vorgehen stammt aus der modernen Managementlehre, die weniger die Elemente eines Unternehmens oder des Managements als deren Beziehungen zueinander in den Vordergrund der Gestaltung stellt (Remer, A. (2004), S. 446).“ (Müller-Christ, 2014:279)

Spannungserhaltung durch Kompensation ist ein dynamischer Prozess, der nur gelingt, „wenn das System in sich widersprüchlich gestaltet wird. … Wirtschaftende Systeme müssen folglich idealistisch und realistisch, geschlossen und offen … sowie nachhaltig und effizient sein“ (ebd.). In diesem Widerspruchsmanagement zeigt sich der grundlegende Unterschied eines zukunftsorientierten Marketing zum herkömmlichen Nachhaltigkeitsmarketing. Green Marketing sucht mit seiner Win-Win-Strategie die Goldene Mitte von erwerbswirtschaftlichen Wachstumszielen und Nachhaltigkeit. Dieses Widerspruchsmanagement, das typisch für das westliche Managementdenken ist, führt zu einem Zustand, „wo aufgrund der fehlenden Spannung keine kreativen Kräfte mehr wirken können“ (Müller-Christ, 2014:266 mit Verweis auf Pascale, 1990).

Abbildung 13.2
figure 2

Das herkömmliche Marketing (links) und ein zukunftsorientiertes Marketing haben Unterschiedliches im Angebot. (Eigene Abbildung; Symbolbilder: thenounproject.com)

In Abbildung 13.2 ist der Unterschied zwischen dem herkömmlichen Marketingsystem und einem zukunftsorientierten Marketingsystem illustriert: In dem einem wird Champagner serviert – mit zu viel Eis und ohne Perlage. Das andere präsentiert einen erfrischend anderen (Marketing-)Mix aus fruchtbaren (Ideen-)Zutaten.

Mit dem innersystemischen Widerspruch erhält sich ein zukunftsorientiertes Marketing die notwendige Kreativität lebendig, um sich auf dynamische Umweltanforderungen einzustellen. Ihr antagonistisches Wechselspiel ist ein Motor für neue, überraschend andere Entwicklungen.

Um die bisherigen Fehlentwicklungen im Marketing zu korrigieren, ist es nicht ausreichend, einfach immer mehr Eis in den Kübel zu schütten. Die Champagnerflasche wandelt sich zur Wasserkaraffe. Metapher dafür, dass die betriebswirtschaftliche Zielausrichtung innerhalb des neuen Mindset eine Transformation durchläuft: Es geht jetzt um das Entwickeln ressourcenorientierter Angebote, die zuvörderst (tatsächliche) Kundenbedürfnisse sowie die Grenzen des Planeten im Blick haben. Gewinnmaximierung ist nicht länger das höchste betriebswirtschaftliche Ziel.

Das System zeigt sich jetzt weit geöffnet für das, was von außen an Informationen ankommt. Mit der Perspektiverweiterung rücken nun auch die beobachtenden Systeme – insbesondere die Kunden – in den Fokus (und nicht mehr, wie in der Beobachtung erster Ordnung nur die beobachteten Systeme). Anstatt vornehmlich nach außen zu senden und die Austauschprozesse mit Kund:innen über einen engen Flaschenhals zu kanalisieren, lässt ein zukunftsorientiertes Marketing den herkömmlichen Anbieter-Nachfrager-Dualismus hinter sich zugunsten eines offenen, co-kreativen Wissensaustauschs in beide Richtungen: Ein echter Dialog beginnt. Im Ergebnis entstehen – anstelle bisheriger Scheininnovationen – Ideen für ressourcenorientierte Geschäftsmodelle. Ein Beispiel sind Angebote zum „Nutzen statt Kaufen“, die das Bedürfnis nach flexibler individueller Mobilität, modischer Garderobe oder einfach nach einem langlebigen Teppichboden mit Abo-Modellen befriedigen. Produkte werden zu Services und Co-Kreationen. Solche Modelle sind ein Anfang, um die bisherige Entwertungsspirale von Ressourcen zu durchbrechen und den Produktionsprozess zunehmend zu einer tatsächlichen Wertschöpfungskette – perspektivisch konsistenten Wertschöpfungskreislauf – zu entwickeln.

Mit dieser Neuausrichtung kann Marketing ein breiteres Spektrum betriebswirtschaftlicher Ziele bedienen. Damit wird auch die scheinbare Paradoxie plausibel, die sich in der Aufstellung „Das innere Wesen des Marketing“ (Kapitel 7, Abbildung 7.3) gezeigt hat: Mit dem neuen Mindset relativiert sich die Bedeutung der betriebswirtschaftlichen Funktion, doch gleichzeitig steigt sie zu einer „eigenständigen Kraft“ auf und gewinnt an „Größe“. (Die beobachtete Kompetenzerweiterung, die mit dem neuen Mindset einhergeht, verweist auf Möglichkeiten, Marketer für eine zukunftsorientierte Neuausrichtung ihrer Disziplin zu gewinnen, auch wenn letztlich grundsätzliche Rahmenbedingungen entscheidend sind, auf die ich weiter unten (Abschnitt 13.5.2) noch eingehen werde.)

Das neue Marketing-Mindset geht einher mit einem Revitalisieren des paradigmatischen Kerns von Marketing: die Kunden- und Marktorientierung. Damit erfährt die betriebswirtschaftliche Perspektive – parallel zur Relativierung ihrer bisherigen Bedeutung – eine funktionelle Aufwertung : Das bisher funktional verengte, stark auf Absatzmaximierung fokussierte Marketing kann sich in dem erweiterten Mindset neu orientieren und endlich wieder kreativ entfalten.

Ein zukunftsorientiertes Marketing gewinnt in den Augen von Verbraucher:innen an Glaubwürdigkeit, weil es sich an deren Bedürfnissen orientiert. Verspieltes Vertrauen der Kund:innen wiederzugewinnen, ist jedoch nicht die einzige Aufgabe eines zukunftsfähigen Marketingsystems. Ein zukunftsorientiertes Marketing zielt auf die langfristige „Fortsetzung des Spiels mit der Sicherung von Randbedingungen“ (Suchanek, 2018:432): Es weiß um seine Abhängigkeit von der es umgebenden (Ressourcen-)Umwelt. Ein zukunftsorientiertes Marketing definiert sich nicht nur als Akteur des Wirtschaftssystems, sondern begreift sich als Teil eines größeren Ganzen. Mit diesem neuen Mindset verschieben sich auch die Erfolgskriterien von Marketing – wie es Glaubwürdigkeit in der Aufstellung „Das innere Wesen des Marketing“ (Kapitel 7; Abbildung 7.3) pointiert formuliert hat: „Für mich gibt es eine neue Aufgabe.“

Ein zukunftsorientiertes Marketing bewertet das Ergebnis seines Handelns nicht prioritär über die Verkaufszahlen, sondern nimmt zuvörderst die eigene Ressourcenbilanz in den Blick. Erfolg misst sich damit weniger über Klicks, Views oder Verkaufszahlen. Key Performance Indicator sind stattdessen (globale) Ressourcenbudgets.

Die zentrale Herausforderung, der sich ein zukunftsorientiertes Marketing gegenübersieht, besteht darin, die Umweltbelastungen seines eigenen Handelns zu kontrollieren (Abbildung 13.3). Damit rücken die bisherigen „Neben“ kosten – die „wahren“ Kosten im Produktionsprozess – in den Fokus. Um in guten Resonanzbeziehungen mit seiner Ressourcengemeinschaft zu bleiben, muss Marketing eine neue Sensibilität für seine Umwelt entwickeln. Es braucht ein Gespür für mögliche Temperaturschwankungen und Wetterwechsel – um zum Bild des Eiskübel-Modells zurückzukehren (Abbildung 13.2).

Abbildung 13.3
figure 3

Ein zukunftsorientiertes Marketing erkennt sich als Teil eines größeren Ganzen. (Eigene Abbildung; Symbolbilder: thenounproject.com)

Marketing (treibende Unternehmen) sowie die anderen Akteure im Konsumsystem bewegen sich in einer Umwelt aus Holarchien. So brauchen Unternehmen neben materiellen Ressourcen auch immaterielle Ressourcen, wie z. B. ein stabiles gesellschaftspolitisches Umfeld. Verbindliche, demokratisch ausgehandelte gesetzliche Rahmenbedingungen bieten wichtige Orientierung für das eigene (ressourcenorientiert-betriebswirtschaftliche) Planen und Handeln. Umgekehrt können sich soziale Disruptionen – wie sie infolge der ökologischen Vielfachkrise und wachsender Ungleichverteilung von Kapital und Vermögen auch in westlichen Wohlstandsgesellschaften zunehmen – politisch in anti-demokratischen Kursverschiebungen und entsprechenden gesetzlichen Veränderungen niederschlagen.

Ein zukunftsorientiertes Marketing hat verstanden, dass erst das holarchische Eingebettetsein ihm ermöglicht, seine „licence to operate“ dauerhaft zu erhalten. Der Zweck eines zukunftsorientierten Marketing ist deshalb – einschließlich einer reformierten betriebswirtschaftlichen Neuorientierung – die konsequente, gleichwohl dynamische Ausrichtung des gesamten Unternehmens an den Bedürfnissen der (materiellen wie immateriellen) Ressourcengemeinschaft. Diese Definition ist aus meiner Sicht anschlussfähig an das klassische Marketingdenken, wonach der Zweck von Marketing die konsequente Ausrichtung des gesamten Unternehmens an den Bedürfnissen des Marktes ist (Meffert et al. 2019). Gleichzeitig entspricht die in den Aufstellungsdaten beobachtete Praxis dem Handeln agiler Unternehmen, wie sie Frédéric Laloux beschreibt:

„Die Welt ist derart komplex geworden, dass das Beste, was wir tun können, nicht im Planen und Kontrollieren (‚predict and control‘) besteht, sondern im Wahrnehmen und Ermöglichen (‚sense and respond‘).“ (Laloux, 2018)

4 Das spezifische, erweiterte Aufgabenfeld von Marketing

Ein zukunftsorientiertes Marketing transzendiert seinen ursprünglichen marktorientierten Zweck und erweitert seine Perspektive auf die (globale) Ressourcengemeinschaft. Wie im vorhergehenden Abschnitt beschrieben, ist dazu eine besondere Sensibilität für die Ressourcenumwelt wichtig. Auf der Folie des ressourcenorientierten Nachhaltigkeitsansatzes (Müller-Christ, 2014) – gestützt von den beobachteten Aufstellungsdaten – lässt sich diese Aufgabe spezifizieren.

Gemäß dem ressourcenorientierten Nachhaltigkeitsansatz ist Nachhaltigkeitshandeln immer ein spezifisches Dilemmapotenzial inhärent. Zielkonflikte bestehen darin, eigene Handlungsoptionen zu sichern und gleichzeitig zukünftige Wahlmöglichkeiten für sich selbst oder für andere zu erhalten. Georg Müller-Christ (2014:369 ff.) unterscheidet vier Präferenzen mit unterschiedlich hoher Entscheidungskomplexität: „Jetzt-für-selbst“, „Jetzt-für-Andere“, „Jetzt-für-dann-für-selbst“ sowie „Jetzt-für-dann-für-andere“. Analog dieser Ordnung (vgl. ebd.:384; Tabelle) sieht sich ein zukunftsorientiertes Marketing, das transformativen Konsumwandel unterstützen will, folgenden Zielkonflikten gegenüber:

  • Die Umstellung auf eine ressourcenorientierte Wertschöpfung erfordert weitsichtige Jetzt-für-dann-für-selbst-Entscheidungen: Es besteht ein innerbetrieblicher Zielkonflikt zwischen aktuellem erwerbswirtschaftlichen Erfolg und langfristiger Substanzerhaltung bzw. unternehmerischen Zukunftschancen.

  • Globale Verteilungsgerechtigkeit bedeutet in wohlhabenden Gesellschaften Jetzt-für-andere- sowie Jetzt-für-dann-für-andere-Entscheidungen: Der Zielkonflikt für den Globalen Norden besteht zwischen eigenem (Über-)Konsum und der bereits heute gefährdeten Lebenschancen und Handlungsmöglichkeiten der Menschen im Globalen Süden sowie künftiger (bzw. heute junger) Generationen weltweit andererseits.

Die Beschreibung unterschiedlicher Komplexitätsstufen verdeutlicht, auf welchen Ebenen die Zielkonflikte bei einem transformativen Konsumwandel entstehen und wo dabei die besonderen Herausforderungen liegen. „Das Nichtzuerreichende ist nicht einfach eine Nichtwirkung, die keiner merkt; es sind fast immer Menschen als Betroffene, die mit weniger Ressourcen alte Zwecke erreichen müssen“, schreibt Müller-Christ (2014:384). Als besonders herausfordernd charakterisiert er die Legitimation der Trade-offs, die durch Jetzt-für-dann-für-andere-Entscheidungen entstehen. Zu dem gleichen Ergebnis komme ich auf Grundlage der beobachteten Aufstellungsdaten in Bezug auf die Herausforderungen, denen sich ein zukunftsorientiertes Marketing gegenübersieht (vgl. dazu auch meine Ausführungen zum Zweck eines anderen, zukunftsorientierten Marketing in den Abschnitten 8.3 und 12.1).

Jetzt-für-dann-für-selbst Entscheidungen sind auf Seiten der Unternehmen zunehmend anschlussfähig. Mit dem Zuspitzen der Ressourcenfrage wird langsam auch Führungskräften der Wirtschaft klar: Eine weitsichtige Ressourcenperspektive ist kein ethisches Gebot der gesellschaftlichen Verantwortung und sie begründet auch keinen Business Case. Zuvörderst stellt Nachhaltigkeit eine systemerhaltende, wirtschaftlich rationale Entscheidung dar. In der aktuellen globalen Vielfachkrise wird spürbar, wie sehr unternehmerischer Erfolg abhängig ist von einer funktionierenden Wirtschaft, stabilen gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen und einem gesunden Klima- und Ökosystem. Die Zeit ist vorbei, in der Wirtschaft darüber diskutiert, ob Ökologie etwas kosten darf, konstatiert Maja Göpel (2019:‘38:30) mit Verweis auf Zahlen des World Economic Forum: CEOs und wirtschaftliche Entscheider:innen nennen als die TOP 5 Risiken ökologische Themen – vor Massenvernichtungswaffen auf Rang 6 (vgl. auch Civey, 2021; NAEC, 2021). Angesichts der Gefahr von Kipppunkten mit irreversiblen Folgen im Erdsystem erscheint die Jetzt-für-dann-für-selbst-Präferenz zunehmend als materiell-erwerbswirtschaftliche Handlungsrationalität. Auch in der Aufstellung „Das innere Wesen des Marketing“ (Kapitel 7; Abbildung 7.2) ist anschaulich geworden, wie dringlich ein Zurückstellen der Erwerbslogik zugunsten des Ressourcenerhalts aus ureigenem Interesse ist.

Ein zukunftsorientiertes Marketing orientiert sich nicht an einer kurzfristigen Erwerbslogik, gleichwohl nährt es die betriebswirtschaftliche Perspektive. Unter dem Primat des langfristigen Ressourcenerhalts gedeihen aussichtsreiche Geschäftsmodelle mit Zukunftspotenzial. Mit diesem Argument der Innovationskraft lassen sich – mit zunehmender Krise auch zunehmend leicht – mögliche Trade-offs, die bei der Umstellung auf eine ressourcengerechtere Wertschöpfung unausweichlich auftreten, unternehmensintern rational begründen.

Wesentlich anspruchsvoller sind Entscheidungen der Komplexitätsstufe Jetzt-für-andere sowie Jetzt-für-dann-für-andere, die auf der gesellschaftlichen Ebene zu legitimieren sind: Transformativer Konsumwandel bedingt unausweichliche Trade-offs von weniger Konsum respektive Einkommen „zugunsten“ der Menschen im Globalen Süden sowie zukünftiger Generationen. Weniger Konsum führt zu einem geringerem volkswirtschaftlichen Einkommen. Dies wird – zumindest innerhalb des bestehenden Rahmens – zu massiven sozialen Einschnitten in westlichen Wohlstandsgesellschaften führen (Petschow et al., 2020): So macht das Kapitaldeckungssystem Versicherungen, Renten- und Pensionsfonds abhängig vom Wachstum, und die Verringerung der Steuereinnahmen führt zu Einschnitten in öffentlichen Institutionen, z. B. im Bildungs-, Gesundheits- und Verkehrssystem. Suffizienz im Konsum führt auch zu unmittelbaren Einschnitten im persönlichen Konsum und Lebensstil, die häufig als eine soziale De-Privilegierung empfunden werden. Die hitzigen Debatten um den „Veggie Day“, ein Tempolimit auf der Autobahn oder die Erhöhung der Spritpreise machen anschaulich, wie stark Konsummuster und mentale Infrastruktur in einer Konsumgesellschaft miteinander verwoben sind (Schmelzer & Vetter, 2019:173). Überdies – und das scheint (nicht nur) im Marketingkontext häufig aus dem Blick zu geraten – leben auch in reichen Gesellschaften wie Deutschland viele Menschen, die von ihrem Arbeitslohn nicht oder nur knapp leben können. In Berlin beispielsweise lebt jedes dritte Kind in einer Familie, die Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II/Hartz IV) erhält. Für das tägliche Essen sind oft weniger als vier Euro übrig. Transformativer Konsumwandel bedeutet bis auf weiteres Konsumsuffizienz (vgl. zur Rhetorik vom „nachhaltigen Konsum“ Abschnitt 8.2). Das hohe gesellschaftspolitische Anforderungsniveau einer solchen Kursänderung wird auch in den Aufstellungsbildern deutlich. Im zweiten Forschungsteil (Denksystem Exploration) zeigt sich die potenzielle Sprengkraft in unterschiedlichen Facetten; erstmals und besonders eindrücklich in der Dynamik, die sich rund um das Auftreten der „Suffizienz-Strategie“ in der Aufstellung „Kommunikationsstrategien“ (Kapitel 9; Abbildung 9.3) entwickelt.

Zukunftsfähiger Wandel ist eine komplexe gesamtgesellschaftliche Aufgabe, bei der die massive Spaltung zwischen Arm und Reich ebenso virulent ist wie die drängende Klimakrise. Im Konsumkontext rücken unweigerlich Einkommensfragen (nicht nur globaler) Verteilungsgerechtigkeit in den Mittelpunkt. Als eines der zentralen Aufgabenfelder erweist sich die „Legitimation“ notwendiger Trade-offs, namentlich von Konsumsuffizienz. Hierfür ist ein differenziertes, sensibles Vorgehen erforderlich, das sehr feine Antennen für gesellschaftspolitische Stimmungslagen verlangt. Aus dieser Beobachtung ergibt sich für ein zukunftsorientiertes Marketing ein erweitertes, völlig neues Anforderungsprofil.

Ein zukunftsorientiertes Marketing muss die Komplexität des kulturellen, sozialen sowie politischen Kontextes, in dem es agiert, adäquat analysieren können und mögliche gesamtgesellschaftliche Wechselwirkungen im Blick behalten. Im herkömmlichen marktorientierten Mindset konnte diese Kompetenz naturgemäß kaum ausgebildet werden. Dieser „blinde Fleck“ wird aus meiner Sicht jedoch gefährlich, sobald Marketing beginnt, in Nachhaltigkeitskontexten zu agieren. Die Botschaft „Grüner Konsum rettet die Welt!“ sowie undifferenzierte Suffizienzbotschaften in Verbindung mit den höheren Preisen nachhaltiger Produkte unterstützen das Bild, dass Nachhaltigkeit ein Privileg höherer Einkommensschichten sei. Die Aufstellungsdaten erhalten diesbezüglich, wie bereits ausgeführt, mehrfach eindrückliche demokratietheoretische Warnungen. Das Grundrecht auf Teilhabe erweist sich bei der anstehenden Transformation jedoch als zentral (wie ich im Folgenden noch weiter ausführen werde). Kurzum:

Das unreflektierte Vorgehen des herkömmlichen Nachhaltigkeitsmarketing vertieft bestehende gesellschaftspolitische Spannungen, schwächt das Wertesystem der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und behindert somit letztlich notwendige Transformationsprozesse.

Der Zweck eines zukunftsorientierten Marketing unterscheidet sich grundlegend von den Zielen im herkömmlichen Nachhaltigkeitsmarketing. Green Marketing zielt unverändert auf mehr Konsum nachhaltiger Produkte und Dienstleistungen. Ein zukunftsorientiertes Marketing hingegen will einen Beitrag leisten zu transformativem Konsumwandel. Dies erfordert eine andere, komplexere Strategie.

5 Marketingpolitische Möglichkeitsräume (Strategie)

Die Gesellschafts- und Systemtheorien (vgl. Kapitel 4), die ich als Bezugsrahmen meiner Arbeit nutze, betonen allesamt einen gesellschaftlichen Bewusstseinswandel als Voraussetzung von Transformation. Die Grundidee der Theorie U zum Beispiel beschreiben Carl Otto Scharmer und Katrin Käufer (2014) wie folgt:

„Die Qualität der Ergebnisse, die von einem beliebigen System hervorgebracht werden, hängt von der Qualität des Bewusstseins ab, aus dem heraus die Menschen im System handeln. Die Formel für einen erfolgreichen Veränderungsprozess lautet nicht ‚Form folgt der Funktion‘, sondern ‚Form folgt dem Bewusstsein‘. Die Struktur des Bewusstseins und der Aufmerksamkeit bestimmt, wie sich eine Situation entfaltet.“ (Scharmer & Käufer, 2014:32)

Auch Clare W. Graves (zitiert nach Beck & Cowan, 2007/2014:468) war davon überzeugt, dass „für das Gesamtwohl aller Menschen auf der Welt höhere Ebenen langfristig besser als niedrigere sind und dass das oberste Ziel der Führungskräfte in jeder Gesellschaft darin bestehen sollte, den weiteren Aufstieg der Menschen durch die Ebenen ihrer Existenz zu fördern.“ Ich hatte daraus den – viel zu kurzen – Schluss gezogen, dass ein zukunftsorientiertes Marketing seine transformative Wirkkraft auf der Bewusstseinsebene von Konsumierenden entfalten müsse. (Und hier den entscheidenden Unterschied zum herkömmlichen Nachhaltigkeitsmarketing vermutet, das den Fokus auf das individuelle Verbraucherverhalten legt.)

Die Möglichkeitsräume und strategischen Wege für transformativen Konsumwandel haben sich in der repräsentierenden Wahrnehmung jedoch überraschend anders dargestellt:

Der strategische Fokus eines zukunftsorientierten Marketing liegt weder auf der (im AQAL-Modell linksseitigen) Bewusstseinsebene noch – wie beim herkömmlichen Nachhaltigkeitsmarketing – bei dem:der einzelnen Konsumierenden, sondern auf der Ebene des kollektiven Außen (dem Quadranten unten rechts im AQAL-Modell). Auf der Ebene des individuellen Verbraucherhandelns (dem Quadranten oben rechts) ist vielmehr das grundlegende Handlungsmotiv eines zukunftsorientierten Marketing verortet: dass jede:r Einzelne ressourcenorientiert handelt. (Abbildung 13.4).

Die beobachteten Unterschiede sind bei der Konzeption eines zukunftsorientierten Marketing zu berücksichtigen. Zudem habe ich aus den Aufstellungen eine völlig neue Sicht auf einige verbraucherpolitische Akteure gewonnen. Die größten Unterschiede sind bei der Rolle der Konsumierenden zu beobachten. Auch der Staat präsentiert sich in der repräsentierenden Wahrnehmung in einer überraschenden Position. In der Aufstellung „Konsumsystem“ zeigt sich die systemische Einflussgröße der beiden Akteure jeweils genau umgekehrt zu der, wie sie in herrschenden wirtschaftstheoretischen Modellen dargestellt wird (vgl. Thesen KS. 8KS. 11): Der Staat souverän und mächtig, die Konsumierenden in einer marginalen Randposition.

Abbildung 13.4
figure 4

(Wo)Anders als gedacht: Der strategische Fokus eines zukunftsorientierten Marketing. (Eigene Abbildung)

Das Axiom der Konsumentenmacht ist ein zentraler „Kategorienfehler“ (Grunwald, 2014:20) im bisherigen Mindset. Diese Analyse sehe ich in den Aufstellungsbildern wiederholt bestätigt. Konsumierende unterliegen systemischen Begrenzungen und sind deshalb in ihrer herkömmlichen Rollenzuweisung nicht in der Position, wirkungsvolle transformative Impulse ins Konsumsystem hineinzugeben.Footnote 3

In den Aufstellungsbildern ist eine mögliche, andere Idee zur Rolle von Kund:innen respektive Konsumierenden sichtbar geworden (vgl. Abschnitt 12.2). Zusammenfassend lassen sich zur neuen Verbraucherrolle zwei unterschiedliche Kategorien unterscheiden:

  • Empfänger sind Konsumierende, die auf transformativen Konsumwandel – je nach individueller Disposition bzw. WMem in ganz unterschiedlicher Weise – reagieren. Ein zukunftsorientiertes Marketing geht mit Konsumierenden in Resonanz: Zum einen erkundet es die tatsächlichen Kundenbedürfnisse (was etwas anderes ist, als neue Bedürfnisse zu wecken: Kund:innen stehen nicht am Ende sondern am Ausgangspunkt der Wertschöpfungskette). Zum anderen entwickelt Marketing Sensibilität dafür, dass Verbraucher:innen im Zuge transformativen Konsumwandels „mit weniger Ressourcen alte Zwecke erreichen müssen“ (Müller-Christ, 2014:384) und versucht, die unvermeidlichen Trade-offs zielgruppensensibel zu vermitteln.

  • Sender sind Konsumierende, genauer: kollektive, kollaborative Netzwerke, die den Transformationsprozess pro-aktiv vorantreiben, indem sie z. B. als Prosumierende zukunftsorientierte Produktions- und Konsumweisen erproben. Transformative Akteursgruppen erkennen in einem zukunftsorientierten Marketing einen Partner, der sie in ihren Anliegen wirkungsvoll unterstützt. Andersherum erkennt ein zukunftsorientiertes Marketing in den pro-aktiven Akteur:innen zum einen eine wichtige Wissensressource beim Entwickeln zukunftsfähiger Geschäftsmodelle und zum anderen eine wegweisende (Inspirations-)Quelle für transformativen Wandel, die es sichtbar zu machen gilt.

Kund:innen nehmen in der Strategie eines zukunftsorientierten Marketing eine Schlüsselposition ein. Allerdings nicht in der Rolle des mächtigen und damit auch verantwortlichen Konsumierenden; Konsumierende sind vielmehr wichtige Partner:innen in einem partnerschaftlichen, d. h. zu beiden Seiten offenen Dialog. Konsumierende sind in transformativen Kommunikationsprozessen in einer doppelten Rolle von sowohl Empfänger als auch Sender.

Mit dieser neuen Sicht auf Konsumierende besinnt sich ein zukunftsorientiertes Marketing – in einer völlig neuen Qualität und Dimension – auf die Essenz von Ökonomie, wie sie Adam Smith (1776/1976) formuliert hat. Der Urvater der Nationalökonomie forderte vor knapp 250 Jahren, dass Produzenteninteressen nur soweit berücksichtigt werden sollen, wie es zum Erfüllen der Konsumenteninteressen nötig sei: „Consumption is the sole end and purpose of all production.“ Zeitgemäß formulieren C. Otto Scharmer und Katrin Käufer (2014) diesen ökonomischen Grundgedanken aus einer integralen Sicht:

„Der ultimative Sinn einer Wirtschaft liegt darin, die Bedürfnisse ihrer Mitglieder zu erfüllen.“ (Scharmer & Käufer, 2014:141)

Der strategische Ansatz eines zukunftsorientierten Marketing unterscheidet sich grundlegend vom Vorgehen im herkömmlichen Nachhaltigkeitsmarketing. Die Ebene des individuellen Verbraucherverhaltens hat ein zukunftsorientiertes Marketing zwar auch im Blick, doch nicht ausschließlich. In der Gesamtschau aller Aufstellungen zeigt sich für mich ein Modell mit erweiterten Möglichkeitsräumen:

Die Strategie eines zukunftsorientierten Marketing umfasst alle vier Ebenen des AQAL-Modells. Die unterschiedlichen Wirkebenen stehen in Wechselwirkung zueinander; die individuelle Ebene beeinflusst die kollektive Ebene; die äußere die innere Dimension und umgekehrt. Der strategische Fokus, um transformativen Konsumwandel zu unterstützen, liegt eindeutig im Bereich der äußeren, materiellen Rahmenbedingungen.

Der beobachtete Wirkungsmechanismus ist komplex. Die marketingpolitischen Instrumente respektive Möglichkeitsräume eines zukunftsorientierten Marketing im Überblick:

  1. 1.

    Es geht bei einem transformativen Konsumwandel im Wesentlichen darum, ressourcengerechte Handlungsoptionen zu entwickeln und umzusetzen, die jedem:r Einzelnen einen zunehmend karbonfreien Alltag ermöglichen. (QOR)

  2. 2.

    Dies erfordert auf der Angebotsseite ressourcengerechte Geschäftsmodelle, die auf tatsächliche Bedürfnisse ausgerichtet sind. Die Entwicklung und Verbreitung fällt in den reformierten betriebswirtschaftlichen Aufgabenbereich eines zukunftsorientierten Marketing (QUR).

  3. 3.

    Auf der Nachfrageseite erfordert ein ressourcenorientierter Lebensstil unverzichtbar Konsumsuffizienz (vgl. zu Konsistenz und Effizienz im Konsumsystem Abschnitt 8.2). Damit verbunden sind Trade-offs auf Seite der Konsumierenden. Zu den neuen Aufgaben eines zukunftsorientierten Marketing zählt, individuelle Trade-offs zielgruppensensibel zu „legitimieren“ (QOL).

  4. 4.

    Transformativer Konsumwandel ist auf staatliche Regulierung angewiesen: Eine entsprechende Ordnungspolitik beseitigt Marktbarrieren für ressourcengerechte Geschäftsmodelle. Fiskal- und Sozialpolitik verteilen die sozialen Folgen unvermeidlicher Trade-offs von unten nach oben um. Dazu ist es erforderlich, dass der Staat seine Lenkungsfunktion wahrnimmt. Hier liegt eine weitere neue Aufgabe eines zukunftsorientierten Marketing: Es geht um ein neues Narrativ; ein gesellschaftliches Klima, das Mut macht für Veränderung und die Machtdynamiken in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft bewegen kann (QUL).

Die Möglichkeitsräume eines zukunftsorientierten Marketing, die ich in den Aufstellungsdaten beobachtet respektive aus diesen abgeleitet habe, lassen sich organisch den vier Dimensionen des AQAL-Modells (QOR, QUR, QOL, QUL) zuordnen. Die Heuristik, die ich weiter oben zur Modellierung eines zukunftsorientierten Marketing entwickelt habe (Abbildung 13.1), hat mir damit – völlig unerwartet – den Blick auf die Zutatenliste eines „erfrischend anderen (Marketing-)Mix eröffnet“.Footnote 4

5.1 Zukunftsorientiert: Die 4 Z des Marketingmix

Ein Marketing-Mix ist die Kombination der marketingpolitischen Instrumente, die zum Erreichen der definierten Marketingziele erforderlich sind. Im klassischen Marketing-Mix werden vier Bereiche unterschieden: die sogenannten „vier P“ – englisch für Product, Price, Place, Promotion.

Die klassischen 4 P (Price, Product, Promotion, Placement) werden durch die 4 Z nicht abgelöst; vielmehr emergieren die klassischen Marketinginstrumente eine neue Qualität.

Im Marketing-Mix eines zukunftsorientierten Marketing (Abbildung 13.5) wandeln sich die klassischen 4 P zu den 4 Z:

  1. 1.

    Zielgruppengerechte, zukunftsfähige Handlungsoptionen für Kund:innen: Entwickeln ressourcenorientierter Geschäftsmodelle, die auf tatsächliche Verbraucherbedürfnisse ausgerichtet sind (QOR);

  2. 2.

    Zusammenarbeit mit transformativen Kundengruppen: Skalieren von in der Nische erprobten, sozialen Konsuminnovationen (QUR)

  3. 3.

    Zuhören: Sensible Legitimation der Trade-offs im Zuge von Konsumsuffizienz (QOL)

  4. 4.

    Zuversicht und Zusammenhalt: Fördern eines neuen Konsumnarrativs, das (nicht zuletzt der Politik) Mut macht zur Neuorientierung (QUL)

Abbildung 13.5
figure 5

(Eigene Abbildung)

Die 4 Z – Die vier Zutaten eines „erfrischend anderen (Marketing-)Mix“.

Ressourcenorientierung respektive Nachhaltigkeit ist kein marketingpolitisches Instrument, sondern das übergeordnete Prinzip eines zukunftsorientierten Marketing. Es gibt für den Marketing-Mix den Rahmen vor:

Das Leitprinzip der Ressourcenorientierung bildet den Rahmen eines zukunftsorientierten Marketing, der auch die (äußere) Glaubwürdigkeit bzw. die (innere) Authentizität bestimmt. Die Qualität des Rahmens ist entscheidend für die Wirkkraft der marketingpolitischen Instrumente.

Die 4 Z sind damit anschlussfähig an bestehende akademische Marketingkonzepte. Darüber hinaus erkenne ich Analogien zu Konzepten, die für ein neues, „disruptives“ (Meffert, 2015; 2018) Marketingdenken stehen; konkret zum Modell des Marketing 4.0 (Kotler et al., 2017:66) sowie zum Modell von Heribert Meffert. Der US-amerikanische Marketingwissenschaftler Philip Kotler hat die 4 Ps (product, price, promotion, place) ersetzt durch die vier Cs (co-creation, currency, communal cctivation, conversation). Heribert Meffert (2015; 2018) hat einen Mix aus den 4I-Prinzipien kombiniert: Integration (Orchestrierung von Marketinginstrumenten), Integrität (verantwortliches und ethisches Handeln), Innovation (Kreativität und Mut für Neues) und Individualität (passgenaue Angebote für Kunden). Meffert sieht Gemeinsamkeiten zwischen seinem eigenen System und Marketing 4.0, wie er am Beispiel der 4 P illustriert, die von Kotler durch die 4 C „ganz im Sinne“ seiner 4I ersetzt worden seien:

„Wenn ein ‚Produkt‘ zur Kokreation („Co-Creation“) wird, dann ist dies eben auch Ausdruck von Individualisierung und Integration sowie Innovation und auch Integrität. Das gilt analog für die anderen Gestaltungsmuster.“ (Meffert, 2015)

Die zugrunde gelegte Heuristik (Abbildung 13.1) hat sich als hilfreiche Orientierung erwiesen, den Fokus bei der Modellentwicklung nicht „monologisch“ auszurichten und im Blick zu behalten, wie individuelles Verbraucherbewusstsein und -verhalten (ICH-Raum) und gesellschaftliche Normen und Strukturen (WIR-Raum) miteinander in Wechselbeziehung stehen. Wirkungsvolle Konzepte müssen gemäß dem AQAL-Modell immer alle vier essenziellen Perspektiven – innerlich vs. äußerlich sowie individuell vs. kollektiv – einbeziehen, da sie sonst von Kräften aus den nicht berücksichtigten Dimensionen sabotiert werden. Gleichwohl kann es notwendig sein, bestimmte Perspektiven vorübergehend stärker zu bedienen (Wilber, 2001a/2010:116). Dies ließ sich auch in den Aufstellungsdaten beobachten: Ein zukunftsorientiertes Marketing legt seinen strategischen Fokus – wie bereits beschrieben – auf den Bereich der äußeren, materiellen Rahmenbedingungen (QUR). Die unterschiedlichen Bereiche des Marketing-Mix sind gleichwohl sorgfältig aufeinander abgestimmt. Die Strategie eines zukunftsorientierten Marketing behält das Ganze stets im Blick, wie ich im Folgenden beschreiben werde.

5.1.1 Zielgruppengerechte, zukunftsfähige Handlungsoptionen für Kund:innen

Ein zukunftsorientiertes Marketing ist von der Aussicht motiviert, dass jede:r Einzelne ressourcenorientiert handelt. Heute sind die Möglichkeiten dazu für Kund:innen begrenzt, wie jeder Besuch eines konventionellen Supermarktes vor Augen führt. Ressourcenorientierter Konsum erfordert einen Mehraufwand an Organisation, Zeit und/oder Geld, der im Alltag nicht leistbar ist. Oftmals sind Umwege oder ein Ausflug in Nischen erforderlich: Die Suche nach einer Paprika regionaler Herkunft in Bioqualität ist erst im dritten Geschäft erfolgreich, das Gemüse von der SoLaWi muss von einer Sammelstelle in einem anderen Stadtteil abgeholt werden, einen „Unverpackt-Laden“ gibt es noch nicht im heimischen Kiez. Omnipräsent hingegen sind die „Verlockungen“ nicht ressourcengerechter Konsumangebote, zumal zu viel niedrigeren Preisen. Nicht jede:r Kund:in kann und/oder will den Mehraufwand bewältigen, den ein ressourcengerechter Konsum erfordert. Vor diesem Hintergrund ist klar, was es statt des herkömmlichen Appells an Kund:innen, sich „nachhaltiger“ zu verhalten, tatsächlich braucht:

Es müssen viel mehr zielgruppengerechte, zukunftsfähige Handlungsoptionen für Kund:innen geschaffen werden, die auf echte Bedarfe (und nicht wie bisher auf künstlich geschaffene Bedürfnisse) ausgerichtet sind und die im Alltag auch realisierbar sind.

Der entscheidende Schritt, den ein zukunftsorientiertes Marketing vollzieht, um dieser Aufgabe zu begegnen, ist eine veränderte Sicht auf Konsumierende. Ihm ist bewusst, dass der „Kunde das Wissen [ist], das das System braucht“ (Kapitel 7; Abbildung 7.3). Kund:innen werden somit zu einer wichtigen Ressource im Wertschöpfungsprozess.

Ein ressourcenorientiertes Marketing erkundet die tatsächlichen Kundenbedarfe, was etwas grundsätzlich anderes ist, als Bedürfnisse nach neuen – vermeintlich – nachhaltigen Produkten zu wecken.

Kund:innen werden zu Partner:innen auf Augenhöhe, d. h. die Kommunikation fließt jetzt in beide Richtungen. Den Kundendialog im Rahmen eines zukunftsorientierten Marketing würde ich als Dialog im Sinne von David J. Bohm (1998/2019) beschreiben: Das Ziel des Dialogs ist weniger, das Gegenüber von der eigenen Meinung zu überzeugen, sondern wirklich neue Erfahrungen und Erkenntnisse zu gewinnen. Dies setzt die Fähigkeit der Suspension voraus, d. h. innehalten, die Erfahrungen vom Gegenüber anzuhören, ohne sofort zu bewerten. Ein solcher, zu beiden Seiten offener Kundendialog erfordert neue Wege im Marketing, der einem schon „wacklige Beine“ machen kann (Kapitel 10, Abbildung 10.4). Die Wünsche und Interessen von Konsumierenden tatsächlich ernst zu nehmen, erfordert von Unternehmen Mut.

In Unternehmen, die (noch) im klassischen gewinnorientierten Mindset agieren, sind der Freiheit, eigene Vorstellungen zu reflektieren und dazu zu lernen, enge Grenzen gesetzt. Exemplarisch illustriert das die Aussage eines Projektleiters bei Audi: „Von den Kunden kommt der klare Auftrag, umweltschonende Autos zu bauen“ (zitiert nach Dohmen et al., 2020:72). Das Grundbedürfnis von Kund:innen nach umweltschonender Mobilität wird vom Autobauer gleichgesetzt mit dem Wunsch nach einem umweltschonenden Auto. Das Beispiel macht deutlich, dass, solange Gewinn- und Absatzmaximierung das Denken dominieren, Ideen für umweltschonende Lösungen einen bestimmten Horizont nicht überschreiten (dürfen). Elektromobilität kommt ohne grundsätzliche Änderungen im Geschäftsmodell aus. Vermutlich wäre es zukunftsorientierter, den Wunsch von Kund:innen nach einer sauberen Umwelt mit neuen Mobilitätsdienstleistungen zu beantworten, doch erwerbswirtschaftliche Zwänge erlauben es nicht, Fragen zu den Folgen individueller Mobilität für das Klima wirklich zuzulassen. Eine solche Offenheit erfordert von Unternehmen eine klare Ressourcenorientierung als Leitprinzip, um unvermeidliche Trade-offs unternehmensintern legitimieren zu können, sowie den Mut, anders zu denken und tatsächlich Neues zu wagen.

Entscheidend für den Erfolg und die Glaubwürdigkeit von Kundendialogen ist der Umgang mit den Dialogergebnissen: Überwiegt die Angst vor Kontrollverlust bzw. betriebswirtschaftlichen Verlusten oder wird das unternehmerische Handeln von der Einsicht in notwendige gesellschaftliche Veränderungen und der Zuversicht auf zukunftsfähige Geschäftsmodelle geleitet?

Ein zukunftsorientiertes Marketing verteidigt unternehmensintern unbequeme Dialogergebnisse und setzt sich für neue Ideen auch dann ein, wenn sie vorübergehend betriebswirtschaftliche Verluste bedeuten oder gar eine radikale Abkehr vom bisherigen Geschäftsmodell.

Das Entwickeln respektive das Umstellen auf zielgruppengerechte, zukunftsfähige Geschäftsmodelle, die sich an der Lebenswirklichkeit und den Bedarfen von Kund:innen orientieren, erfordert von Unternehmen neben Ressourcenorientierung als Leitprinzip auch Mut und Beharrlichkeit. Ein zukunftsorientiertes Marketing kann – in der Kombination seiner marketingpolitischen Instrumente – dazu beitragen, dass marktpolitische Barrieren und gesellschaftliche Widerstände insgesamt weniger werden.

5.1.2 Zusammenarbeit mit transformativen Kundengruppen: Skalieren von in der Nische erprobten, sozialen Konsuminnovationen

Der strategische Fokus eines zukunftsorientierten Marketing liegt – zumindest vorerst – darauf, bessere äußere, materiellen Rahmenbedingungen für ressourcenorientierte Geschäftsmodelle zu schaffen. Wie das im vorigen Abschnitt bereits angeführte Beispiel Mobilität zeigt, tendieren Großkonzerne in der Autoindustrie gegenwärtig noch dazu, an ihrem konventionellen Kerngeschäft festzuhalten. Denn neue Mobilitätsdienstleistungen würden einen tiefen Strukturwandel bedeuten, der gleichzeitig umfangreiche Weichenstellungen auf politischer und gesetzgeberischer Ebene – von neuen Regeln für die Parkraumbewirtschaftung über Subventionen für den Autoverkehr bis hin zum Ausbau der digitalen Infrastruktur – beinhaltet. Solche ordnungspolitischen Entscheidungen liegen außerhalb der unmittelbaren, direkten Einflusssphäre von Marketing und betreffen eher das Aufgabengebiet klassischer Public Affairs. (Ich werde auf diesen Punkt weiter unten noch mal zurückkommen.) Innerhalb der ökonomischen Sphäre existieren andere Möglichkeiten, Bedingungen zu schaffen, die das Entwickeln und Verbreiten sozialer Konsuminnovationen fördern. Diese haben sich – wie ich im Rückblick feststelle – bereits in den Raumbildern der allerersten Aufstellung „Konsumsystem“ (Kapitel 6; Abbildung 6.6) angedeutet. In der Aufstellung „Attitude-Behaviour Gap“ (Kapitel 10; Abbildung 10.4) haben sich diese frühen Hinweise konkretisiert als Strategieansatz auf der kollektiven Handlungsebene:

Ein zukunftsorientiertes Marketing sucht die Kooperation mit transformativen Akteuren, die in Kundenkollektiven, Start-ups und neuen sozialen Bewegungen andere Produktions- und Konsumweisen erproben. Das Ziel dabei ist es, bereits erprobte, soziale Konsuminnovationen aus der Nische herauszuführen und auf das gesamte Produktions- und Konsumsystem zu skalieren.

Die erweiterte, ressourcenorientierte Perspektive eines zukunftsorientierten Marketing verändert den Blick auf Kund:innen.: Kund:innen werden zur „Wissensressource“ respektive „Auftrageber:innen“. Dabei steht nicht der:die einzelne Kund:in im Fokus, sondern Kund:innen, die sich in Kollektiven, Projekten und neuen sozialen Bewegungen zusammenschließen und alternative Konsum- und Produktionsweisen erproben. Soziale Pionier:innen, die andere Wege des (kollaborativen) Konsums und der (Ko-)Produktion erproben, gibt es spätestens seit den 1970er Jahren. Die Digitalisierung hat das Entstehen sozialer Innovationen im Konsumbereich in jüngster Zeit enorm befördert. Sharing, Collaborative Consumption, Do-It-Yourself und Upcycling-Online-Vermittlungsplattformen ermöglichen, Produkte und Dienstleistungen untereinander zu teilen und zu tauschen anstatt zu kaufen.

Kollaborationen über Unternehmensgrenzen hinaus sind nicht grundsätzlich neu. In der Literatur ist das Innovationspotenzial von Kund:innen beschrieben als Open bzw. User Innovation (von Hippel, 1988; 2005). Auch im Nachhaltigkeitskontext lassen sich für diese Strategie eine Reihe von Beispielen aus der Praxis finden. So machen z. B. sogenannte „Unverpackt-Läden“ seit einigen Jahren in der – stark wachsenden – Nische vor, wie Einzelhandel mit weniger Plastik funktioniert. Die großen Supermarktketten haben von den „Pionieren der Verpackungsvermeidung“ gelernt: Mehrwegbeutel bzw. -behälter in der Gemüseabteilung und an der Frischetheke, Selbstabfüllstationen für Müsli und Co. und vereinzelt auch schon Nachfüllstationen für flüssige Produkte wie Waschmittel und Shampoo. Gleichwohl zeigt sich in der Praxis, dass das Unverpackt-Konzept nicht 1:1 auf das Geschäftsmodell der Discounter übertragbar ist (Sattlegger et al., 2021). Denn solche Innovationsprozesse sind nicht nur hochkomplex, sie widersprechen auch dem Markenversprechen der Discounter, ein breites Angebot zum günstigsten Preis zu bieten: „Alle 11 Minuten verliebt sich ein Besucher in unsere Produktvielfalt“, wie die Marketingabteilung der Lebensmittel-Einzelhandelskette Kaufland (2021) textet. „Unverpackt“ bedeutet weniger Vielfalt im Angebot, denn der Verzicht auf Einzelverpackungen erfordert bei z. B. Obst und Gemüse kurze Transportwege, und viele regionale Produkte sind nicht ganzjährig verfügbar. Das Beispiel zeigt:

Unternehmen finden in Nischen co-kreativ entwickelten Konsum- und Produktionsmustern praxiserprobte Blaupausen für zukunftsfähige Geschäftsmodelle. Das Lernen von Pionier:innen stößt im herkömmlichen Mindset jedoch schnell an Grenzen. Die progressive Strategie der Unternehmensentwicklung setzt einen grundlegenden Perspektivwechsel im Sinne eines zukunftsorientierten Marketing voraus.

Unternehmen können von den Innovationen, die in Nischen transformativer, kollaborativer Bewegungen und Netzwerke gedeihen, stark profitieren. Doch haben die Pionier:innen ebenfalls Interesse an einem offenen Dialog im Sinne der Open bzw. User Innovation? Im Gegensatz zu anderen Innovationen, die in gesellschaftlichen Nischen existieren, wie z. B. Subkulturen von Musik oder Mode (vgl. zu stilistischen Innovationen Mohr, 2016), lehnen Pioniere transformativer Bewegungen es a priori nicht ab, wenn ihre Ideen Teil der „Populärkultur“ werden. Im Gegenteil, es ist ja ihr erklärtes Ziel, mit ihren Ideen die Gesellschaft zu verändern. Aus dieser Sinnorientierung sozialer Pionier:innen, die Eric von Hippel (Sichel & von Hippel, 2019) in Anlehnung an den US-amerikanischen Ökonomen Edmund Phelps (2013) als „human flourishing“ beschreibt, folgt jedoch keineswegs automatisch die Bereitschaft, mit „der Wirtschaft“ zu kooperieren. Dass es hier Vorurteile gibt, zeigt sich in den Bildern der Aufstellung „Das innere Wesen des Marketing“ (These WM.6). Ich werde auf diesen Aspekt der Glaubwürdigkeit weiter unten noch einmal zurückkommen.

Das marketingpolitische Ziel, soziale Konsuminnovationen aus der Nische herauszuführen, ist an mehreren Voraussetzungen gebunden, die nur im komplexen Zusammenspiel der Instrumente des zukunftsorientierten Marketing-Mix erreichbar sind. Eine Schlüsselfrage, die sich hier stellt (und sicher ein Thema für ein lohnendes Forschungsprojekt darstellt), ist wie die Zusammenarbeit mit transformativen Kundengruppen gestaltet werden kann?

Vorstellbar sind Dialog-Plattformen als Möglichkeit des Informationsaustausches und der persönlichen Begegnung. Dies ist aus meiner Sicht weniger eine Aufgabe einzelner Unternehmen, sondern von agilen, d. h. regional verankerten und überregional koordinierten Zusammenschlüssen bzw. Netzwerken. In einem solchen Verbund kann das Vertrauen wachsen, das für einen offenen, partnerschaftlichen Dialog im zuvor beschriebenen Sinne der Open bzw. User Innovation notwendig ist. Zudem könnten gemeinsame Interessen oder Positionen, z. B. Initiativen im Bereich der Forschung oder Allianzen auf Beschaffungsmärkten, gemeinsam besser und effektiver entwickelt, finanziert und umgesetzt werden.

Die Bilder aus der repräsentierenden Wahrnehmung haben bei mir zudem immer wieder die Assoziation von Beteiligungsräten geweckt: Ähnlich den „Bürgerräten“, die ein ergänzendes Instrument der parlamentarischen Demokratie darstellen, könnten „Kundenräte“ ein Beteiligungsformat sein, in dem Kund:innen über Fragen von Produktion und Konsum verhandeln, abstimmen und Vorschläge erarbeiten – und Marketing hört dabei genau zu. Konsequent weitergedacht führt die aus den Aufstellungsdaten entwickelte Kategoriennetz „Selbstermächtigung – Empowerment – Partizipation – Beteiligung – Teilen“ von der Idee der kommunikativen Beteiligungsformate hin zu der Vision struktureller Beteiligungsformen. Unternehmensbeteiligungen sind keine neue Idee, sie ist bereits Realität; in Genossenschaften sogar seit über 100 Jahren und auch in neuen Vertriebsmodellen wie der Solidarischen Landwirtschaft. Ein zukunftsorientiertes Marketing kann zu einem Wandel der Unternehmensstruktur führen, aus ganz ähnlichen Gründen, wie sie Christian Hiß, Gründer und Vorstand der von ihm gegründeten Regionalwert AG Freiburg, anführt:

„Ich brauche ein echtes Gegenüber. Es muss ein Echoraum, ein Resonanzraum, geschaffen werden, wo die Leute auch echt was zu sagen haben und Verantwortung dafür übernehmen. Ich wollte echte Betroffenheit und Beteiligung herstellen. Sodass Macht und Verantwortung zusammenfallen. Wenn die Aktionäre als Kapitalgeber in Abstimmung mit den Betriebsleitern entscheiden, wie die Betriebe der lokalen Landwirtschaft geführt und weiterentwickelt werden sollen, und sie dafür die Kapitalverantwortung übernehmen, dann ist unser Ziel der echten Partizipation erreicht.“ (zitiert nach Grober: 2016:294)

Es sind verschiedene Beteiligungswege im Rahmen eines zukunftsorientierten Marketing vorstellbar, die Kund:innen ermöglichen, Konsumwandel nicht als eine Entwicklung zu erleben, der sie ohnmächtig ausgeliefert sind, sondern an der sie sprichwörtlich – oder auch ganz konkret – Aktien haben.

Das Kooperationsprinzip gilt für ein zukunftsorientiertes Marketing auch auf der B2B-Ebene: Die strategische Allianz mit sozialen Pionier:innen pflegt es am besten im Verbund mit anderen Unternehmen. Ein gemeinsames Vorgehen bringt nicht allein betriebswirtschaftliche Vorteile – Skaleneffekte (Economies of Scale) und Verbundeffekte (Economies of Scope) bei der Beschaffung und Produktion sowie im Vertrieb – sondern es erhöht vor allem auch die mediale Schlagkraft, die angesichts starker Beharrungskräfte enorm wichtig ist.Footnote 5 Medienarbeit im Rahmen eines zukunftsorientierten Marketing ist nicht als zentral geplante Kampagne konzipiert, sondern als ein konzertiertes Vorgehen der vielen transformativen Akteur:innen im Konsumbereich:

Im Gegensatz zu marktradikalen Thinktanks braucht ein zukunftsorientiertes Marketing kein Millionen budget für Anzeigen. Seine Botschaft ist stärker : Millionen Menschen, die den Traum haben (und teils bereits leben), dass Konsum anders möglich ist.

5.1.3 Zuhören: Sensible Legitimation der Trade-offs im Zuge von Konsumsuffizienz

Transformativer Konsumwandel bedeutet unvermeidbare Trade-offs auf Seite der Konsumierenden. Die Veränderungen im persönlichen Konsum und Lebensstil werden häufig als Einschnitte in die persönliche Freiheit empfunden und als eine soziale De-Privilegierung empfunden. Die Furcht vor solch negativen Reaktionen – der „Veggie Day“ (vgl. Schmelzer & Vetter, 2019:173) steht hier exemplarisch für eine Reihe an Beispielen der jüngeren Geschichte – kann notwendige Veränderungen behindern. Dies zeigt auch das Beispiel der Supermärkte, die sich um weniger Verpackungen bemühen, doch letztlich vor der Konsequenz zurückschrecken, ihren Kund:innen weniger Angebotsvielfalt zu bieten. Doch müssten Kund:innen bei einem reduzierten Sortiment tatsächlich auf etwas verzichten? Vor dem Hintergrund übervoller Supermarktregale – bis zu 50.000 Artikel führen Märkte wie Edeka oder Kaufland im Sortiment, und Kund:innen können wählen aus beispielsweise acht Sorten Konfitüre von sechs unterschiedlichen Herstellern – könnte dies als rhetorische Frage erscheinen. Sie ist es jedoch mitnichten. Hier setzt ein zukunftsorientiertes Marketing an:

Die Faktizität der planetaren Grenzen beschränkt die bisherige „Konsumfreiheit“. Zu den neuen Aufgaben eines zukunftsorientierten Marketing zählt, unvermeidliche Trade-offs, die damit auf individueller Ebene entstehen, zielgruppensensibel zu „legitimieren“.

Ein weiteres wichtiges Ziel eines zukunftsorientierten Marketing ist das Empowerment – die Selbstermächtigung – von Konsumierenden. Seine sublime Botschaft an Kund:innen lautet: „Ihr könnt mehr, als passiv kaufen und konsumieren. Ihr könnt Eure Zukunft mitgestalten!“ Marketing stärkt damit die Motivation zu gesellschaftlicher Mitgestaltung und Teilhabe, die für die anstehenden Transformationsprozesse elementar ist.

Ein zukunftsorientiertes Marketing steht vor der Herausforderung, die vormals „unendliche Konsumwelt“ auf ein ressourcengerechtes Maß zu begrenzen und darin neue Entscheidungsfreiheiten zu konstruieren. Unmöglich?

Der Ansatz, den ein zukunftsorientiertes Marketing für diese Aufgabe wählt, erfordert eine besondere Sensibilität für Kund:innen: Strategien zum Konsumwandel dürfen nie aus dem Blick verlieren, dass auch in so reichen Gesellschaften wie Deutschland Menschen leben, die unter Armut leiden. Gleichwohl sind unterschiedliche Haltungen gegenüber Konsumsuffizienz nicht allein mit sozio-ökonomischen Parametern zu erklären, sondern auch in spezifischen Lebensweisen und Weltsichten begründet. Die Entwicklungslogik der Spiral Dynamics ist diesbezüglich nützlich: Vor dem Hintergrund unterschiedlicher WMeme wird erklärlich, dass Menschen auf ein und denselben Vorschlag, wie z. B. dem „Veggie Day“ sehr unterschiedlich reagieren. Auch in der Aufstellung „Narrativ“ (Kapitel 11) ließen sich deutliche Unterschiede beobachten, wie die Kunden verschiedener Bewusstseinsstufen auf Veränderungen reagierten. Transformativer Wandel vollzieht sich nicht als einheitliche Entwicklung, sondern passiert für jedes WMem anders. Neue Situationen wurden jeweils analog des jeweiligen Wertesystems verstanden. Die Aufstellungsbilder lassen mich vermuten, dass die im Marketing gängigen Zielgruppentypologien – Sinus-Milieus, Sigma-Milieus, Microm Typologie, Sozioökonomische Segmente etc. pp. – durch die Spiral Dynamics sinnvoll ergänzt werden können.

Ein zukunftsorientiertes Marketing überführt Konsumsuffizienz in die jeweilige Handlungslogik der unterschiedlichen Konsumentengruppen. Dadurch werden Trade-offs in die Sprache der unterschiedlichen Entwicklungsstufen übersetzt und für diese besser nachvollziehbar.

Ein besseres Verstehen ermöglicht Konsumierenden, Suffizienz nicht als Einschnitt in ihre individuelle Freiheit zu sehen, sondern als selbstgewählte, rationale Selbstbegrenzung: Die von den planetaren Grenzen auferlegte Mäßigung eigener (Konsum)-Wünsche kann so als selbstbestimmte Entscheidung verarbeitet werden. Dies wirkt einer wütenden Blockadehaltung entgegen, wie sie oft aus Gefühlen der Ohnmacht erwächst und auch sehr deutlich in der Aufstellung „Kommunikationsstrategien“ (Kapitel 9; Abbildung 9.2) in der Reaktion des grün-memischen Kunden auf Suffizienz zu beobachten war. Bei einer rückblickenden Gesamtschau aller Aufstellungen wird deutlich, dass Suffizienz „doppelt anders“ erzählt werden muss: erstens nicht als „Verzicht“ und zweitens für jedes WMem unterschiedlich.

Ein zukunftsorientiertes Marketing framt Suffizienz nicht als Verzicht, sondern betont die intrinsischen Motive für Mäßigung. Footnote 6 Dabei berücksichtigt es die Unterschiede der W Meme im Umgang mit Komplexität.

Die Zielgruppentypologie ist ein Herzstück der Marketingdisziplin, deshalb kann ich mir vorstellen, dass es bereits Forschungen dazu gibt, Kundengruppen mit den Entwicklungslinien der Spiral Dynamics zu einem neuen Modell zu verbinden. Ein solcher Ansatz wäre auf jeden Fall für die hier skizzierte Anwendung im Rahmen eines zukunftsorientierten Marketing wünschenswert.

In der folgenden Tabelle 13.1 sind zielgruppensensible Frames für Konsumsuffizienz dekliniert am Beispiel des „Veggie-Day“.

Tabelle 13.1 Zielgruppensensible Frames für Konsumsuffizienz. (Eigene Darstellung)

Ich habe bereits zuvor an verschiedenen Stellen festgestellt, dass es kein strategisches Ziel eines zukunftsorientierten Marketing ist, das Bewusstsein von Menschen gezielt zu beeinflussen oder gar „einen neuen Menschen“ zu kreieren. Das Ziel ist vielmehr, Kund:innen auf ihrem Weg „vom Wissen zu Handeln“ durch das Schaffen zielgruppengerechter, zukunftsfähiger Handlungsoptionen zu unterstützend zu begleiten. Mit seiner Strategie, unvermeidliche Trade-offs zielgruppensensibel zu legitimieren, unterstützt ein zukunftsorientiertes Marketing individuelle Entwicklungsprozesse, die für Transformationen elementar sind. Damit entspricht es der „Hauptdirektive“ integralen Denkens (Wilber, 2001a/2010:111) sowie der Entwicklungslogik gemäß Spiral Dynamics: „Veränderte Lebensbedingungen regen das Erwachen neuer WMeme an“ (Beck & Cowan, 2007/2014:160).

5.1.4 Zuversicht und Zusammenhalt: Fördern eines neuen Konsumnarrativs, das (nicht zuletzt der Politik) Mut macht zur Neuorientierung (QUL)

Transformativer Konsumwandel ist auf staatliche Regulierung angewiesen. Die Raumbilder der Aufstellung „Konsumsystem“ (Kapitel 6; Abbildung 6.5) zeigen deutlich, dass der Staat in der Verantwortung steht, seine Lenkungsfunktion wahrzunehmen. Es braucht eine zukunftsorientierte Ordnungspolitik, um Marktbarrieren für ressourcengerechte Geschäftsmodelle zu beseitigten sowie eine neue Fiskal- und Sozialpolitik, die soziale Folgen unvermeidlicher Trade-offs von unten nach oben umverteilt. Auf diesem Gebiet – so lese ich die Aufstellungsbilder – verfügt ein zukunftsorientiertes Marketing über ein hohes Wirkpotenzial.

Die notwendige Umorientierung im Konsumkontext wird nicht ohne politische und gesetzgeberische Weichenstellungen gelingen können. Ein eindrückliches Beispiel für die Gestaltungsmöglichkeiten, die Politik auch im Nachhaltigkeitskontext hat, ist das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) aus dem Jahr 2000. Nach Einschätzung von Carsten Körnig, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes Solarwirtschaft wird das EEG „als erfolgreichstes Klimaschutzgesetz in die Geschichte der Menschheit eingehen“ (zitiert nach Diermann, 2020).Footnote 7

Für ein grundlegendes Umdenken bezüglich der Wachstumslogik sind politische Weichenstellungen notwendig. Ein zukunftsorientiertes Marketing verstärkt den Handlungsdruck und unterstützt gesellschaftspolitische Machtdynamiken auf diesem Transformationsweg.

Ein zukunftsorientiertes Marketing nimmt Einfluss auf Entscheidungsprozesse an der Schnittstelle zu Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Ein Instrument zur politischen Einflussnahme, das in der modernen Lesart der AMA (2017; vgl. Abschnitt 1.2.3) direkt dem Marketingbereich zugeordnet werden kann, sind strategische Public Affairs. Auch die Übergänge zwischen einem zukunftsorientierten Marketing und modernen Public Affairs sind fließend. Der Unterschied zur klassischen Lobbyarbeit indes ist scharf:

Ein zukunftsorientiertes Marketing vertritt keine Partikularinteressen, sondern wirbt für einen neuen gesellschaftlichen Konsens, der die Gesellschaft zusammenhält und stark macht für anstehende Transformationsprozesse.

Ein zukunftsorientiertes Marketing wählt einen indirekten Weg, um die Politik zum Umdenken zu ermutigen: Es fördert das Entstehen neuer Konsumnarrative.

Die besondere Möglichkeit von Marketing, transformativen Konsumwandel über Zukunftsbilder zu fördern, hat sich in der Aufstellung „Attitude-Behaviour Gap“ zunächst mit der Metapher der „Fata Morgana“ angedeutet (Kapitel 10; Abbildung 10.4) und ist in der letzten Aufstellung dann bestätigt worden, namentlich in der Wortaussage Narrativ: „Ich konnte den Weg nur gehen, weil Ethos des Marketing da war als Begleiterin.“ (Kapitel 11; Abbildung 11.6)

Der Einfluss von Narrativen auf gesellschaftliche Entwicklung respektive Verharrung kann wohl nicht unterschätzt werden.Footnote 8 Der Wirtschafts-Nobelpreisträger Robert J. Shiller (2020) hat nachgezeichnet, wie stark Geschichten wirtschaftliche Entwicklungen beeinflussen. Narrative durchdringen das Denken und Handeln von Menschen. Ihre Botschaften tragen sich direkt und indirekt in den verschiedenen Teilsystemen fort und prägen die Gesellschaft. So kann auch ein neues Konsumnarrativ dazu beitragen, dass Politik mutiger wird, gesetzliche Weichen zu stellen oder dass die Judikative Politik an deren Auftrag erinnert.

Das vierte marketingpolitische Instrument, das ein zukunftsorientiertes Marketing wählt, um transformative Entwicklungen voranzubringen, ist aus meiner Sicht hochanschlussfähig an die Ideen von Antonio Gramsci (1932/1995).Footnote 9 Der italienische Intellektuelle betont in seinen Schriften den starken Einfluss, den Kultur und bestimmte Denk- und Verhaltensweisen beim Entstehen bzw. Verändern von gesellschaftlichen (Macht-)Strukturen haben. Politische Konzepte müssten sich wider Gegenmeinungen durchsetzen. Dies kann Gramsci zufolge sowohl über Macht als auch über die Produktion konsensfähiger Ideen erreicht werden. Die erste Strategie würde ich den Public Affairs zuordnen. In der zweiten Strategie erkenne ich das Vorgehen eines zukunftsorientierten Marketing.

Das in den Aufstellungsdaten beobachte indirekte Vorgehen eines zukunftsorientierten Marketing ist – so vermute ich vor dem Hintergrund der in dieser Arbeit genutzten theoretischen Bezugsrahmen (vgl. Kapitel 4) – sehr erfolgversprechend, da es sich am komplexen Zusammenspiel zwischen Innen und Außen orientiert, so wie es – frappierend ähnlich zu den beobachteten BildernFootnote 10 – Erich Fromm (1976/2011:163 f.) als Interaktion zwischen „Gesellschafts-Charakter“ und „Gesellschaftsstruktur“ beschrieben hat:

„Das Ergebnis der Interaktion zwischen individueller psychischer Struktur und sozio-ökonomischer Struktur bezeichne ich als Gesellschafts-Charakter. Die sozio-ökonomische Struktur einer Gesellschaft formt den Gesellschafts-Charakter ihrer Mitglieder dergestalt, daß sie tun wollen, was sie tun sollen. Gleichzeitig beeinflußt der Gesellschafts-Charakter die sozio-ökonomische Struktur der Gesellschaft: In der Regel wirkt er als Zement, der der Gesellschaftsordnung zusätzliche Stabilität verleiht; unter besonderen Umständen liefert er den Sprengstoff zu ihrem Umbruch.

Das Verhältnis zwischen Gesellschafts-Charakter und Gesellschaftsstruktur ist niemals statisch, da beide Elemente nie endende Prozesse darstellen. Eine Veränderung eines der beiden Faktoren hat eine Veränderung beider zur Folge.“ (Fromm, 1976/2011:164)

Ein zukunftsorientiertes Marketing schwingt sich auf das komplexe Zusammenspiel zwischen Innen und Außen ein, wodurch sein Vorgehen eine besondere Einflussstärke gewinnt. Daran schließt sich die Frage nach der Legitimation an: Hat Marketing das gesellschaftliche Mandat, die Entwicklung derart wirkmächtiger Narrative zu fördern?

Die Aufstellungsbilder zeigen deutlich, dass ein zukunftsorientiertes Marketing zwar die Entwicklung eines Konsumnarrativs explizit jenseits der bisherigen Wachstumslogik unterstützt – jedoch ohne dabei konkrete Details oder gar Inhalte auf der normativen Ebene vorwegzunehmen. Es wirkt vielmehr als Resonanzverstärker und unterstützt die Stimmen transformativer Bewegungen und progressiver (Kunden)Gruppen, die – wie der gelb-memische Kunde in der Aufstellung „Narrativ“ (Abbildung 11.4) – im gesellschaftlichen Entwicklungsprozess voranschreiten. Hier zeigt sich erneut der dezidiert emanzipatorische Ansatz eines zukunftsorientierten Marketing:

Ein zukunftsorientiertes Marketing verbreitet Bilder, die zeigen, das Konsumwandel möglich ist und vor allem, dass Zukunft veränderbar ist, wenn Menschen sie gemeinsam gestalten. Damit stärkt Marketing eine elementare Ressource transformativer Entwicklung: den offenen Dialog und das demokratische Miteinander.

Das neu entstehende Narrativ im Konsumsystem unterscheidet sich von der alten „Konsum-macht-glücklich“ Erzählung grundlegend: Es ist keine vollendete „große Erzählung“, die neue Glücksversprechungen macht. Gesellschaftliche Transformation und Konsumwandel brauchen vielmehr ein freies Spiel der Möglichkeiten. In diesem Sinne ist das emergente Narrativ eine offene, kollektive Suchbewegung: Erzählt werden viele, unterschiedliche Geschichten von den wundervollen Möglichkeiten jenseits des bisherigen Wachstumsdenkens. Ihre gemeinsame Kernbotschaft: Der Mut zu Weniger bedeutet ein Mehr an Vitalität.

Das Ziel des neuen Konsumnarrativs ist es, in der Gesellschaft und letztlich auch in der Politik Ängste abzubauen und Neugier auf neue Erfahrungsräume durch andere Konsum- und Lebensstile zu wecken. Die Geschichten, die es erzählt, setzen viele kleine, reichhaltige Impulse, um systemische Möglichkeits- respektive persönliche Handlungsräume neu zu erkunden. Denn Zuversicht ist eine Praxis, die durch Handeln entsteht!

Ein zukunftsorientiertes Marketing kreiert aus sich heraus keine neuen Bilder, sondern hilft in Nischen heranwachsenden Konsum- und Ko-Produktionsmustern – ganz wie eine Hebamme – ans Licht zu kommen. Mäeutik, die sokratische Hebammenkunst, ist eine Methode der Wahrheitsfindung. Die Wahrheit, die ein zukunftsorientiertes Marketing sichtbar werden lässt, ist eine mögliche gesellschaftliche Wahrheit, die noch im Entstehen begriffen ist. Marketing ist, anders als andere mediale Akteure im Konsumsystem, z. B. der JournalismusFootnote 11, nicht darauf angewiesen, Realität bzw. die „objektive Wahrheit“ abzubilden, um glaubwürdig zu sein. In diesem Unterschied liegt das besondere Potenzial von Marketing für transformativen Konsumwandel. Medien haben den gesellschaftlichen Auftrag zu informieren: Sie tragen die Probleme der globalen Vielfachkrise an das gesellschaftliche Bewusstsein heran. Doch nicht selten lassen Nachrichtenbilder von – auch geografisch immer näher rückenden – ökologischen Krisen die Zuschauenden ohnmächtig zurück. Marketing hingegen öffnet einen Blick hinter diesen Horizont. Seine Bilder stiften Zuversicht, weil sie Möglichkeiten einer gestaltbaren Zukunft aufzeigen. Das besondere Verhältnis von Marketing zur Wahrheit, für das die Branche – nicht erst seit Niklas Luhmann (1995a/2017:60) – in der Kritik steht, begründet somit paradoxerweise das einzigartige Potenzial von Marketing für Konsumwandel:

Die USP von Marketing gegenüber anderen medialen Akteuren im Konsumsystem besteht darin, dass Marketing nicht an eine „objektive Wahrheit“ gebunden ist. Wenn Marketing wirkt, ist es glaubwürdig; und nur vielleicht auch „wahr“. – Es ist diese Möglichkeit zum „schönen Schein“, die Marketing qualifiziert, einen besonderen und wirkungsvollen Beitrag für transformativen Konsumwandel zu leisten.

5.2 Der Rahmen: Leitprinzip Ressourcenorientierung

Ressourcenorientierung bildet den Rahmen eines zukunftsorientierten Marketing, der die (äußere) Glaubwürdigkeit bzw. die (innere) Authentizität bestimmt (vgl. Abbildung 13.5). Die Beschaffenheit dieses Rahmens ist entscheidend für die Wirkkraft der marketingpolitischen Instrumente. So ist z. B. eine co-kreative Zusammenarbeit mit Kund:innen keineswegs ein Automatismus. Die Basis für ein neues – vertrauensbasiertes – Mit- und Füreinander zwischen Marketing und transformativen Kundengruppen respektive sozialen Innovatoren ist Glaubwürdigkeit, die ein Unternehmen dadurch gewinnt, dass es bereit ist, das Ziel der Gewinnmaximierung unter die Interessen des Gemeinwohls zu stellen.

Mit dem Mindset der Ressourcenorientierung rücken die bisherigen „Neben“ kosten – die tatsächlich jedoch „wahren“ Kosten des eigenen unternehmerischen Handelns – in den Fokus. Die Motivation für Ressourcenorientierung ist in diesem systemisch-integralen Sinn nicht allein, dass Kund:innen dem Unternehmen Vertrauen entgegenbringen. Ressourcenorientierung beinhaltet neben dem Aspekt der Glaubwürdigkeit nach Außen auch den inneren Anspruch, die eigenen materiellen und immateriellen Lebensgrundlagen nur in dem Maße zu beanspruchen, wie sie sich regenerieren. Aus einer integralen Perspektive wird die Frage nach dem Sinn unternehmerischen Handelns zur Frage der eigenen Authentizität.

In einem Rahmen ressourcenorientierten Rahmen sind Absatzmaximierung und Profitstreben als oberste Unternehmensziele abgelöst. Gewinne sind jetzt vielmehr ein Mittel, das ermöglicht, natur- und gesellschaftsverträgliche , gemeinwohlstiftende Zwecke zu adressieren.

Ein ganzheitliches Denken, wie es sich in der repräsentierenden Wahrnehmung deutlich auch als Prämisse eines zukunftsorientierten Marketing gezeigt hat, markiert einen wichtigen Unterschied zu manchen „Social Entrepreneurship“. Der entscheidende Mindshift liegt nicht in der Hinwendung zu gesellschaftlichen oder ökologischen Bedarfslagen, sondern in der Abkehr vom Ziel der Gewinnmaximierung. Oder anders formuliert:

Entscheidend für die Wirkkraft eines zukunftsorientierten Marketing ist weniger das Produkt respektive das Geschäftsmodell, sondern die innere Ausrichtung des Unternehmens. Ein Unternehmen, das Kuchen und Gebäck herstellt, unterscheidet sich in seinem transformativen Potenzial a priori nicht von einem Anbieter biodynamischer Smoothies.

Die Vorstellung, dass Unternehmen auch einem anderen Zweck als der Kapitalvermehrung dienen können, ist heute noch eher ungewohnt – auch in der Welt der „Impact Start-ups“. Ein solcher Mindshift hat zur Konsequenz, dass keine maximalen Gewinne erwirtschaftet werden. Aus dieser schlichten Logik ergibt sich für manche Beobachtende aus der Praxis die kritische Frage, welche Unternehmen denn für einen radikalen Paradigmenwechsel tatsächlich bereit und in der Lage wären. So berichtet die Expertin im Interview 2 (vgl. elektronisches Zusatzmaterial):

„Aber die Unternehmen bedienen die SDG in aller Regel nicht mit ihrem Kerngeschäft. Und das ist das Gefährliche daran. Es scheint, als seien die Firmen sehr engagiert, sie sind es in Wirklichkeit aber nicht. Sie spenden, machen irgendwelche Aktionen, aber sie ändern nichts an ihrem Kerngeschäft.“

In seiner Gesamtheit handelt das Wirtschaftssystem nicht, als hätte es begriffen, dass ein Umdenken notwendig ist und es tatsächlich um das Überleben der Menschheit geht, genauer: um ein menschenwürdiges Weiterleben auf diesem Planeten. Doch es gibt auch eine wachsende globale Bewegung von Unternehmer:innen, die sich bemühen, die Idee der Nachhaltigkeit in ihre Geschäftsmodelle und internen Unternehmensabläufe zu integrieren. Einflussreiche Strömungen sind u. a. Buen Vivir (Acosta, 2015), Donut-Ökonomie (Raworth, 2018), Postwachstum (Paech, 2012; Seidl & Zahrnt, 2019), Commons-Ökonomie (Ostrom, 2011), die Gemeinwohlökonomie (Felber, 2010) sowie Reinventing Organizations (Laloux, 2015). (Vgl. für einen Literaturüberblick auch Latouche, 2015; Meyer et. al., 2012; Petschow et al., 2018; Schneidewind, 2016.) Der Prozess des Umdenkens hat in jüngster Zeit noch an Dynamik gewonnen. In Deutschland unterstützen z. B. das Modell der Gemeinwohlökonomie aktuell 640 Unternehmen.Footnote 12 Eine stetig wachsende Zahl von Unternehmer:innen in Deutschland engagiert sich zudem – z. B. im Rahmen der Purpose Stiftung, der Stiftung Verantwortungseigentum sowie des GTREU e. V. – für die Umsetzung von Verantwortungseigentum (Bruce & Jeromin, 2020; Purpose Stiftung, 2017; Thomsen, 2017). Diese neue Form des Eigentums an Unternehmen gewährleistet, dass Gewinne nicht als Selbstzweck angesehen werden, sondern als Mittel zum Zweck: Alle vom Unternehmen erwirtschafteten Gewinne werden zu Zwecken reinvestiert, die dem Menschen dienen und das Ökosystem stärken. In Verantwortungseigentum befinden sich in Deutschland bereits rund 200 UnternehmenFootnote 13.

In diesem – wachsenden – Kreis von Unternehmen vermute ich überzeugende Absender eines zukunftsorientierten Marketing.

6 Nützlichkeit des entwickelten Modells

Bei meiner Diskussion möglicher Kriterien zur Beurteilung der Nützlichkeit meiner Forschung (Abschnitt 3.2.2), war ein interessanter Aspekt in den Fokus gerückt: der Umgang mit Kontingenz, also der Möglichkeit, dass es immer auch anders sein könnte, als es ist respektive erscheint. Kontingenz beschreibt eine dritte – in der empirischen Wissenschaft lange vernachlässigte Perspektive – zwischen faktenbasierter Notwendigkeit und reiner Beliebigkeit bzw. bloßem Zufall. Im Laufe meines Forschungsprozesses mittels der Aufstellungsmethode hat sich Kontingenz zu einem zentralen Aspekt meiner Wahrnehmung entwickelt. Die Aufstellungsdaten erschienen mir in ihrem Sich-Zeigen-Wollen und ihrem wechselseitigen Zusammenspiel – wie ich an verschiedenen Stellen ausgeführt habe – regelmäßig als nicht zufällig, sondern als „gewollt“, somit als tief begründet kontingent. Vor diesem Hintergrund nehme ich Kontingenz für meine Forschungsergebnisse in Anspruch und möchte diese Perspektive folgerichtig auch bei der abschließenden Reflektion zur Nützlichkeit meiner Modellentwicklung eines zukunftsorientierten Marketing einnehmen – und verteidigen.

Aufstellungen liefern generell keine absoluten Antworten oder gar konkrete Vorhersagen; sie zeigen Möglichkeitsräume auf. Diese Perspektive der Kontingenz, von Leibniz als „Spielraum der Freiheit“ beschrieben (Schepers, 2014:18 ff.), hat mir als Forschende neue Möglichkeiten zur Bestimmung und Beschreibung des Untersuchungsfeldes eröffnet. So bildet auch das entwickelte Modell eine mögliche Perspektive auf ein in Zukunft entstehendes anderes Marketing ab. Dass sich diese Idee, die in der repräsentierenden Wahrnehmung sichtbar geworden ist, tatsächlich materialisiert, ist möglich, doch es ist keineswegs notwendig. Ich halte es sogar für unwahrscheinlich. Mein hypothetischer Modellentwurf eines zukunftsorientierten Marketing liegt vermutlich jenseits der Alltagserfahrung der meisten Marketer und muss im bisherigen Praxiskontext deshalb als falsch erscheinen. Das Merkmal der Kontingenz schließt eine solche Möglichkeit ausdrücklich mit ein. Meine Forschungsergebnisse sind deshalb auch nicht weniger nützlich. Im Gegenteil: Das entwickelte Modell erfüllt für mich das Gütekriterium der Nützlichkeit, gerade weil es herrschende Vorstellungen zum Machbaren übersteigt.

Mein Modell eines zukunftsorientierten Marketing kann in diesem Sinne auch als transzendent bezeichnet werden: nicht spirituell bezüglich verschiedener Seinsbereiche, sondern etymologisch – transcendere (lat.): hinübersteigen – als Hinüber- oder Übersteigen bestehender (Denk-)Mauern oder als Überschreiten herrschender Annahmen, Axiomen und Konventionen. Im allgemeinen Wortsinne (ausführlich Patzelt, 2013:14 ff.) bezeichnet Transzendenz keinen ontologischen Status, sondern ein „Zwischenergebnis“: etwas, das praktisch (noch) nicht verfügbar oder (be-)greifbar ist. Transzendente, das bisherige Denken übersteigende Ideen geben in einer kontingenten Welt wichtige Orientierung und Halt:

„(Vielerlei) Transzendenz liegt ‚der Wirklichkeit‘ gerade nicht voraus, sondern mitten in ihr, nämlich als unverzichtbare Ressource ihrer eigenen Konstruktion. Es verhält sich mit dem Transzendenten also wirklich wie mit dem Schlussstein eines Gewölbes: Er befindet sich in der Mitte jener Dienste, die sowohl ihn tragen – als auch ohne ihn einstürzten.“ (Patzelt, 2013:22)

Transzendenz kann als eine „unverzichtbare Ressource“ im Prozess (sozialer) Wirklichkeitskonstruktion begriffen werden: In einer kontingenten Welt stützen transzendente Ideen „die Wirklichkeit“ und werden zugleich von dieser getragen. In diesem Sinne verstehe ich auch das aus den Aufstellungsdaten emergierte Modell eines zukunftsorientierten Marketing: Es ist nicht die Wirklichkeit selbst. Es ist – um es mit Batesons Analogie zu verdeutlichen – nicht die Speise. Aber: Es ist auch nicht die Speisekarte, sondern vielmehr der Korb voller Lebensmittel plus Angabe der jeweils möglichen Garzeiten, wahlweise medium oder al dente.

Das Entscheidende – und Zuversicht stiftende – in einer kontingenten Welt ist, dass der Horizont des Denkmöglichen von den Beobachtenden selbst miterzeugt und mitbegründet wird, wie der Journalist Mathias Bröckers (2019) beschreibt:

„Wenn die Realität eigentlich eine Art ‚Wahrscheinlichkeitswolke‘ ist, wie Heisenberg es so schön ausdrückte, eine virtuelle Menge von Möglichkeiten, aus der sich erst dann eine Wirklichkeit herauskristallisiert, wenn ein Beobachter Maß nimmt, bedeutet das nichts anderes, als dass Geist, Seele und Psyche – kurzum: die unfassbare Entität ‚Bewusstsein‘ – eine entscheidende Rolle im Naturgeschehen spielen. Und dass angemessene Theorien über die Natur(gesetze) die geistige Dimension berücksichtigen müssen.“ (Bröckers, 2019:54)

Was auf der abstrakten Ebene der Quantenphysik gilt, gilt erst recht für soziale Systeme: Auch Marketing ist immer nur das, wie es sich die Branche, die Wissenschaft oder auch die Gesellschaft vorstellt. Hier bin ich wieder am Ausgangspunkt meiner initialen Frage zur Nützlichkeit meiner Forschung angelangt und hoffe, dass in diesem Sinne das entwickelte Modell der Marketingpraxis und -wissenschaft vielfältige Ansatzpunkte und Denkmöglichkeiten bietet.