Menschen treffen Entscheidungen niemals allein auf Grundlage sachlicher und objektiver Fakten. Das haben Wissenschaftler wie der Kognitionswissenschaftler Marvin Minsky, der Soziologe Erving Goffman und der Linguist Charles Fillmore bereits in den 1970er Jahren verstanden (vgl. Kann & Inderelst, 2018). Es sind vielmehr Bilder und Geschichten – Narrative, Frames – die unser Entscheidungsverhalten beeinflussen. Als erste haben diesen Zusammenhang die beiden Kognitionswissenschaftler Amos Tversky und Daniel Kahneman beschrieben (Wehling, 2018:45 f.). Der israelisch-US-amerikanische Psychologe Kahneman erhielt für seine Forschung 2002 den Nobelpreis in Wirtschaftswissenschaften. Robert J. Shiller (2020), ebenfalls Wirtschafts-Nobelpreisträger, hat nachgezeichnet, wie stark auch die wirtschaftliche Entwicklung von Geschichten beeinflusst ist.

1 Erkenntnisinteresse der Aufstellung „Narrativ“

Vor dem Hintergrund der vorherigen Analysen entscheide ich mich in der letzten Analyseeinheit für einen Blick auf das Konsumsystem, der die gesellschaftliche, politisch-kulturelle Ebene ins Zentrum rückt. Denn hier, auf dem Feld der äußeren Rahmenbedingungen bzw. der kollektiven Handlungsmöglichkeiten – so meine wiederholte Beobachtung – liegt aktuell der primäre strategische Fokus eines anderen, zukunftsorientierten Marketing. Diese Beobachtung, die eine tatsächlich neue Idee für Marketing im Nachhaltigkeitskontext beinhaltet, verbinde ich mit einer These von Niklas Luhmannn, die ich in den erhobenen Aufstellungsdaten zunehmend konkretisiert sehe, nämlich dass Marketing (im Unterschied zum Beispiel zum Journalismus) nicht an die Realität, i. S. einer „objektiven Wahrheit“ gebunden ist. In der repräsentierenden Wahrnehmung hat ein zukunftsorientiertes Marketing eine visionäre Strahlkraft gezeigt, die den individuellen und gesellschaftlichen Wunschhorizont für andere, zukunftsfähige Konsum- und Lebensstile weitet.

Meine Gesamtschau der Aufstellungsdaten führt mich somit zu Arbeiten der Frame-Forschung, die ein wichtiger Teil der modernen Kognitionswissenschaften sind. In der Transformationsforschung ist die starke Rolle gesellschaftlicher Narrative lange Zeit unterschätzt worden (Griesshammer & Brohmann, 2015:22; Welzer, 2019:16). Die Forschungsgruppe „Narrative und Bilder der Nachhaltigkeit“ am Institute for Advanced Sustainability Studies e. V. in Potsdam (IASS, 2021) hat ihren Fokus bei wissenschaftlichen und politischen Nachhaltigkeitsdiskursen. Im Marketing – eine Branche mit den besten Geschichtenerzähler:innen – ist das Potenzial für Konsumwandel bislang noch weitgehend unerforscht und ungenutzt (Libaert, 2020).

Ich werde zum vorläufigen Abschluss meiner Forschungsreise somit ein bislang kaum bekanntes Feld erkunden: das Wirkpotenzial von Marketing für transformative Narrative. Kann Marketing dabei unterstützen, dass ein neues, zukunftsorientiertes und gesellschaftlich anschlussfähiges Konsumnarrativ entsteht? Damit greife ich auch eine frühere, zentrale Frage dieser Arbeit wieder auf: Was kommt nach der bisherigen Erzählung von „Nachhaltigkeit“? Wie in Abschnitt 8.1 konklusiv erörtert, ist die (noch immer) herrschende Idee des „grünen Wachstums“ nicht zukunftsfähig. Welche Veränderungen braucht transformativer Wandel i. S. einer grundlegenden Neuorganisation des Konsumsystems stattdessen? Nicht zuletzt möchte ich auch in dieser Aufstellung den Kund:innen wieder genau zuhören: Wie erleben sie das Wechselspiel zwischen Narrativ und Marketing: Haben sie daran – wie ich vor dem Hintergrund der Beobachtungen aus den vorhergehenden Aufstellungen vermute – vielleicht auch einen aktiven Anteil?

2 Steckbrief der Aufstellung „Narrativ“

Die Aufstellung wurde am 8. Dezember 2018 im Rahmen eines Aufstellungs-Workshops an der Universität Bremen realisiert. Die Leitung der Aufstellung hatte Prof. Dr. Georg Müller-Christ. Stellvertretende waren Teilnehmende eines Fortbildungskurses zur Aufstellungsleitung, also in der Aufstellungsarbeit erfahrene Personen.

2.1 Format

Die Aufstellung simuliert den Entwicklungsweg des gesellschaftlichen Narratives von der rezenten Wohlstand-durch-Wachstum Erzählung hin zu einem entstehenden anderen, zukunftsfähigen Gesellschaftsbild. Dazu habe ich den U-Prozess von C. Otto Scharmer (Scharmer, 2009/2011; Scharmer & Käufer, 2014; vgl. Kapitel 4) kombiniert mit grundlegenden Spannungsfeldern der herkömmlichen Konsumgesellschaft und in das Format der Dilemma2-Aufstellungen (Abschnitt 2.3.5) übertragen.

Das Setting ist doppelt-verdeckt; die Repräsentanten hatten also weder Kenntnis zum Kontext noch zur eigenen Rollenzuschreibung. Die Stellvertretenden wählten sich ihre Rollen intuitiv selbst, indem sie jeweils eine Buchstaben- bzw. Zahlenkarte wählten, deren Zuordnung für sie verdeckt war. Die Einweisung der Rollen geschah nicht explizit, wie in den vorhergehenden Aufstellungen durch mich, sondern implizit mit Aufnehmen der Karte.

2.2 Theoretischer Bezugsrahmen: Theorie U

Um den Entwicklungsweg des Narratives und die systemischen Wechselwirkungen zu beobachten, habe ich die Theorie U als theoretischen Bezugsrahmen gewählt (Scharmer, 2009/2011; Scharmer & Käufer, 2014; vgl. ausführlich Abschnitt 4.5). Die Theorie U ist ein nützliches, sehr wirksames Rahmenmodell, das Möglichkeitsräume und Vorstellungswelten weit öffnet für – positive – bereits im Entstehen begriffene Zukunftsbilder.

Im U-Prozess unterscheidet Scharmer (2009/2011:54 ff.) sieben Phasen (vgl. Abbildung 4.5). Im Zentrum steht die Idee, nicht aus der Vergangenheit für die Zukunft zu lernen, sondern stattdessen das eigene höchste Zukunftspotenzial als Lernquelle für Wandel zu nutzen.

2.3 Inszenierungsraum

Den Inszenierungsraum für die Dilemma2-Aufstellung habe ich zwischen den Polaritäten von einerseits Haben und Sein und zum anderen von Wachstum und Suffizienz angesiedelt. Die Polarität von Wachstum und Suffizienz spiegelt das grundlegende, im herkömmlichen Nachhaltigkeitsdiskurs oft vernachlässigte Dilemma (vgl. Müller-Christ, 2014) eines ressourcenorientierten Konsums: Die notwendige Reduktion des Ressourcen- und Emissionsverbrauchs erfordert Maßhalten im Konsum. Da Konsum jedoch der wichtigste Wirtschaftsmotor ist, führt Maßhalten zu weniger Wachstum, was schlecht für die Volkswirtschaft ist und somit – zumindest nach herkömmlicher Lesart – auch für das Gemeinwohl.

Die Polarität von Haben und Sein stellt eine spezifische Erscheinungsform des Zweck-Mittel-Spannungsraumes dar. Auch hier handelt es sich um ein Dilemma, das im Diskurs wohlhabender Konsumgesellschaften verdrängt worden ist. Wenn das oberste Ziel ist, zu haben und immer mehr zu haben, wie kann es da eine Alternative zwischen Sein und Haben geben, fragte Erich Fromm (1976/2011) bereits vor über vierzig Jahren. In seinem Buch „Haben oder Sein“ beschreibt der deutsch-US-amerikanische Philosoph und Sozialpsychologe zwei entgegengesetzte Existenzweisen: das Besitzen-und Konsumieren-Wollen versus Erlebnisse, die „im Prinzip nicht beschreibbar“ sind:

„Die Voraussetzungen für die Existenzweise des Seins sind Unabhängigkeit, Freiheit und das Vorhandensein kritischer Vernunft. Lebendigkeit und Vernunft, Erkenntnis und Einsicht, Sensibilität und Solidarität.“ (Fromm, 1976/2011:110)

Der Sozialpsychologe unterscheidet zwischen einem charakterbedingten Haben – und einem existentiellen (funktionalen) Haben:

„Um überleben zu können, ist es erforderlich, daß wir bestimmte Dinge haben, behalten, pflegen und gebrauchen. Dies gilt für unseren Körper, für Nahrung, Wohnung, Kleidung und für die Werkzeuge, die zur Befriedigung unserer Grundbedürfnisse vonnöten sind. (…) Es ist ein rational gelenkter Impuls, der dem Überleben dient – im Gegensatz zum charakterbedingten Haben, (…). Dieser leidenschaftliche Trieb, sich Dinge anzueignen und sie zu behalten, ist nicht angeboren, sondern hat sich durch die Entwicklung der gesellschaftlichen Bedingungen für die Spezies Mensch entwickelt, so wie wenn er biologisch gegeben wäre.

Existentielles (funktionales) Haben gerät nicht in Konflikt mit dem Sein, wohl aber charakterbedingtes Haben.“ (Fromm, 1976/2011:108)

Der Inszenierungsraum, den ich für diese Aufstellung gewählt habe, gibt dem Narrativ die Möglichkeit, sich in verschiedenen Erzählrahmen auszuprobieren:

  • Die linke Seite markiert den Status-Quo, den Frame der sozialen Marktwirtschaft: „Wirtschaftswachstum und Wohlstand für alle“. Mit zunehmendem Wohlstand gerät die existenzsichernde Funktion in den Hintergrund und das Narrativ verändert sich zu „Konsum macht (mich) glücklich“.Footnote 1

  • Auf der rechten Seite des Inszenierungsraums bestimmt Suffizienz – als der Gegenpol zu Wachstum – einen anderen, ressourcenorientierten Frame. Hier ist Raum für Zukunftsbilder, die illustrieren, ob und vielleicht auch wie sich eine Beschränkung bzw. Mäßigung im Konsum konstruktiv bewältigen lässt.

2.4 Elemente

In dieser Aufstellung kommen die Kernelemente von Marketing zusammen, die sich in den vorhergehenden Aufstellungen überraschend anders gezeigt haben als es in Marketingpraxis und -forschung gemeinhin postuliert ist. Das ist zum einen das Ethos des Marketing, das in der Aufstellung „Das innere Wesen des Marketing“ (Kapitel 7) mit der Funktion eines anderen, zukunftsorientierten Marketing verschmilzt und mehr will als „werben und verkaufen“. Zum anderen sind das Kund:innen bzw. Konsumierende, die sich nicht als die souveränen, mächtigen Akteure zeigen, wohl aber als wertvolle Inputgeber. Die Unterscheidung spezifischer Zielgruppen – die Zielgruppentypologie – ist das Herzstück der Marketingdisziplin. Deshalb stelle ich nicht nur einen prototypischen Kunden auf, sondern unterscheide vier verschiedene WMeme gemäß Spiral Dynamics, die aktuell in westlichen Konsumgesellschaften vorherrschen: Blau, Orange, Grün – die jeweils miteinander konkurrieren – sowie Gelb, das als WMem der Seins-Ebene, der 2. Tier fähig ist, die Legitimität der anderen Wertesysteme zu erfassen (Beck & Cowan, 2014:101 f.).

NarrativeFootnote 2 waren schon immer Mittel der Sinnstiftung. Erzählen bedeutet, Wissen zu festigen. Erzählungen – oder eben Narrative – sind wegweisend und können und sollen Verhalten verändern. Dass Narrative wichtige Treiber von gesellschaftlichem Wandel sein können, rückt, wie bereits weiter oben beschrieben, zunehmend in den Fokus der Transformationsforschung. Das Element Narrativ steht somit für eine häufig gehörte Erzählung, die den Handlungsraum im Konsumkontext bestimmt bzw. als neue Erzählung dessen Möglichkeitsraum erweitert.

3 Ablauf der Aufstellung „Narrativ“

Die im Folgenden beschriebene Aufstellung „Narrativ“ dauerte 60 Minuten und gliederte sich in vier Phasen. In einem geleiteten U-Prozess wurde das Narrativ sukzessive auf einen Entwicklungsweg durch die vier Spannungsfelder geführt. Das Ethos des Marketing hält mit diesem Prozess Schritt und bewegt sich jeweils im selben Quadranten wie das Narrativ. Die Kunden der unterschiedlichen Bewusstseinsebenen – Blau, Orange, Grün sowie Gelb – sind in einer Beobachterrolle und können sich als freie Elemente jederzeit, ohne vorherige Aufforderung der Aufstellungsleitung bewegen. Den Inszenierungsraum der Aufstellung definierte der Aufstellungsleiter, indem er die vier Repräsentanten der Pole positionierte: Haben als Gegenpol von Sein sowie Wachstum als Gegenpol von Suffizienz.

3.1 Phase 1: Downloading

Das Narrativ wird vom Aufstellungsleiter gebeten, sich im ersten Quadranten zwischen Pol Haben und Pol Wachstum seinen Platz zu suchen.

  • Narrativ findet seinen Platz rechts neben Pol Haben. Er schaut sich um nach Ethos des Marketing.

  • Ethos des Marketing positioniert sich rechts von Narrativ und schaut es an.

  • Die Kunden bewegen sich nicht. Blau beobachtet (auf einem Stuhl sitzend) wohlwollend, aber mit Distanz, Orange ist von Beginn an „sehr wach“, Grün startet den Prozess mit „Kopfschmerzen“, Gelb benötigt etwas länger, sich auf das Geschehen zu konzentrieren.

  • Pol Haben geht es gut. Auf das Ethos des Marketing könne es verzichten, aber mit Narrativ an der Seite fühle es sich wohl.

  • Narrativ weiß, dass es sich mit dem Pol Haben auseinandersetzten müsste und bekennt, dass es dazu aber nicht den „Mum“ habe.

  • Narrativ erkennt im Ethos des Marketing etwas „Verlockendes“: Es sei ein „Begleiter, der aufpasst“.

  • Ethos des Marketing beschreibt sich in einer „wissenschaftlichen“ Beobachterrolle. „Ich bin keine Nanny von Narrativ; ich betütel es nicht. Ich beobachte es.

Abbildung 11.1
figure 1

(Eigene Darstellung)

Das Narrativ im Konsumkontext während der Phase des Downloading.

Die Abbildung 11.1 zeigt das 3D-Raumbild mit Invivo-Kodes der Repräsentanten in der ersten Phase des U-Prozesses: das Downloading. Hier zeigt sich das gewohnheitsmäßige Denken der Akteure: Die Kunden sind inaktiv, das gesellschaftliche Narrativ scheut die Auseinandersetzung mit dem Pol Haben. Das Ethos des Marketing schaut auf das Ensemble aus einer „wissenschaftlich“-beobachtenden Rolle.

3.2 Phase 2: Seeing

Der Aufstellungsleiter bittet Narrativ – in zwei Schritten –, sich gegenüber von Pol Wachstum zu stellen.

  • Ethos des Marketing bleibt an der rechten Seite von Narrativ.

  • Narrativ empfindet Pol Wachstum als wohlwollend. Jedoch ging Narrativ der Standortwechsel zu schnell; es hätte beim Pol Haben noch nicht alles geklärt: „Ich bin so, wie ich hier stehe, nicht ganz selbstbewusst.“

  • Pol Haben gibt Narrativ die Erlaubnis zu gehen: „Ich fühle mich wie eine Mama, die ihren Sohn in die Welt entlässt. Ich weiß, dass Ethos des Marketing ihn unterstützen kann.“

  • Narrativ ist bereit zu einer Kreuzfahrt“ mit Pol Wachstum. Es weiß jedoch: „Von Pol Haben komme ich und zu Pol Haben gehe ich auch wieder hin.“

  • Narrativ stellt von sich aus die Sinnfrage und fragt, wofür es diesen Weg gehe.

  • Ethos des Marketing ist erleichtert, dass sich Narrativ durch Pol Wachstum nicht vom eigentlichen Weg abbringen lässt.

  • Die Kunden bewegen sich – bis auf Gelb – nicht. Blau sitzt noch immer, ist „zwar wach, aber noch unbeteiligt“. Orange beschreibt Ethos des Marketing als Übersetzer: „Ich schalte ab, wenn Narrativ spricht. Wenn Ethos des Marketing spricht, kann ich dem Ganzen folgen.“ Grün hatte im Übergang der Phasen an Standfestigkeit verloren, doch „seit Narrativ und Pol Wachstum miteinander im Kontakt sind, stehe ich wieder fest.“ Kunde Gelb ändert seine unbeteiligte Haltung und wechselt zum Ende der Phase seine Position.

Die Abbildung 11.2 zeigt das 3D-Raumbild mit Invivo-Kodes der Repräsentanten in der zweiten Phase des U-Prozesses: das Seeing. Hier betrachten die Akteure ihre Umwelt mit frischem Blick: Narrativ beginnt, das Bestehende zu hinterfragen. Ethos des Marketing begrüßt die neue kritischere Haltung von Narrativ. Die Kunden Orange und Grün können sich, u. a. mithilfe von Ethos des Marketing als Übersetzerin, auf eine neue Sicht einlassen.

Abbildung 11.2
figure 2

(Eigene Darstellung)

Das Narrativ im Konsumkontext während der Phase des Seeing.

3.3 Phase 3: Sensing

Der Aufstellungsleiter dirigiert Narrativ in den nächsten Quadranten weg vom Pol Wachstum hin zum Pol Sein.

  • Ethos des Marketing bleibt an der rechten Seite von Narrativ.

  • Narrativ gewinnt angesichts des Pols Sein eine gute Wahrnehmung der Komplexität und beginnt von sich aus, seine Sicht auf die Kunden zu beschreiben: Mit dem Kunden Blau sei es nicht einfach. Orange empfindet Narrativ im Vergleich dazu als wohlwollender. Auch Grün nimmt Narrativ als sehr fordernd wahr. „Blau und Grün sind aus einem Holz geschnitzt.“ Den Kunden Gelb beschreibt Narrativ als „positive Irritation“.

  • Narrativ findet Gefallen an der neuen Situation: „Ich fühle mich wie ein Jongleur, der sich bemühen muss, verschiedene Dinge am Laufen zu halten. (…) Dieses Under-Pressure Stehen, gibt mir Energie.“

  • Ethos des Marketing begrüßt die neue Wachheit von Narrativ und dass es „jetzt so forschend unterwegs ist.“ Ethos des Marketing geht extra ein Stück zur Seite, damit Narrativ einen freien Blick auf den Kunden Gelb hat.

Abbildung 11.3
figure 3

(Eigene Darstellung)

Das Narrativ im Konsumkontext während der Phase des Sensing.

Die Abbildung 11.3 zeigt das 3D-Raumbild mit Invivo-Kodes der Repräsentanten in der dritten Phase des U-Prozesses: das Sensing. Das Narrativ beginnt, ein Gefühl für sein Umfeld zu entwickeln und kann präzise die unterschiedlichen WMeme der Kunden beschreiben. Das Ethos des Marketing unterstützt Narrativ bei dieser Entwicklung, in dem es den Blick frei macht für „positive Irritationen“.

3.4 Phase 4: Presencing

Der Aufstellungsleiter bittet Narrativ, sich gegenüber von Pol Sein zu stellen.

  • Ethos des Marketing bleibt an der rechten Seite von Narrativ.

  • Bewegung kommt ins gesamte Kundenfeld. Nur Blau bleibt unbewegt auf seinem Platz (sitzen). Grün beginnt, einmal den Raum zu umkreisen. An die Ausgangsposition von Grün stellt sich Orange.

  • Narrativ ist enttäuscht: „Ich entdecke nicht, was Pol Sein ist. Meine Hände gehen in die Erde und suchen, finden aber nichts.“

  • Narrativ ist überrascht: „Ich entdecke durch Pol Sein die Beobachter [Kunden].“

  • Ethos des Marketing empfiehlt Narrativ, nicht im Außen zu suchen, sondern bei sich zu bleiben: „Narrativ muss noch loslassen. Narrativ muss nicht suchen.“

  • Pol Sein hatte zuvor befürchtet, dass Narrativ „den Ernst der Lage“ nicht erkennen würde, jetzt sei es jedoch positiv überrascht: „Narrativ hält sich ganz gut. Und jetzt würde ich fast sagen: Weiter!“ Je länger Narrativ verweilt, desto schlechter geht es dem Pol Sein, es fleht: „Geh weiter, geh weiter. Geh weiter!“

  • Kunde Gelb antizipiert die weitere Entwicklung und wechselt seine Position – quer durch den Raum – zum Pol Suffizienz.

  • Kunde Blau fühlt sich von Narrativ wahrgenommen: „Narrativ ist hier erwachsen geworden. Entsprechend gibt es jetzt auch mehr Systeme, die dazu gehören. So wie ich auch. Es hat alles seine Richtigkeit.“

  • Kunde Orange sieht sich in Konkurrenz zu Grün: „Das Gequatsche von Kunde Grün nervt. Ich bin der Weg, dahin, wo immer es auch hingeht.“

  • Kunde Grün bestätigt die Unstimmigkeit mit Orange. Kunde Grün ist überdies ungeduldig: „Wenn Narrativ länger hier stehen will, kommt bei mir eine tierische Ungeduld hoch.“

  • Kunde Gelb sieht sich selbst als „Schützender von Narrativ“: „Ich bin aber froh, dass Ethos des Marketing mir das im Alltag abnimmt.“

Die Abbildung 11.4 zeigt das 3D-Raumbild mit Invivo-Kodes der Repräsentanten in der entscheidenden Phase des U-Prozesses: das Presencing. Das Narrativ verbindet sich mit dem Pol Sein, dem Quellort – dem inneren Ort der Stille – und entdeckt Überraschendes: Nichts. Und dann: die Kunden. Ethos des Marketing empfiehlt Narrativ, noch mehr loszulassen. Der Pol Sein drängt Narrativ zum Weitergehen. Der Kunde Gelb antizipiert die weitere Entwicklung und wechselt als erster Akteur im Feld seine Position.

Abbildung 11.4
figure 4

(Eigene Darstellung)

Das Narrativ im Konsumkontext während der Phase des Presencing.

3.5 Phase 5: Crystalizing

Der Aufstellungsleiter bittet – in zwei Schritten – Narrativ, sich gegenüber von Pol Suffizienz zu stellen.

  • Ethos des Marketing bleibt an der rechten Seite von Narrativ.

  • Nach Gelb verändern auch die anderen Kunden jetzt ihre Positionen. Selbst Blau erhebt sich erstmalig aus seiner Sitzposition und verändert seine Position.

  • Narrativ fühlt sich von Pol Suffizienz angezogen und überraschend wohl.

  • Pol Suffizienz beschreibt sein Verhältnis zu Narrativ mit „Liebe“.

  • Pol Sein geht es zunehmend schlechter. Während des Annäherungsprozesses von Narrativ an Pol Suffizienz nimmt sich die Stellvertretende des Pol Sein einen Stuhl, um sich zu setzen.

  • Ethos des Marketing ist erleichtert, dass Narrativ positiv auf Pol Suffizienz reagiert. „Als ich den Weg gegangen bin, hatte ich das Gefühl, ich müsste jetzt noch mehr mittragen für Narrativ.“

  • Narrativ beschreibt den Pol Suffizienz als etwas Nützliches, als „eine positive Grundidee“, als „ein Werkzeug“. Narrativ empfindet den Pol Suffizienz als ein Geschenk, das es gern annimmt – und auch auspackt: „Pol Suffizienz ist etwas Bewegliches, etwas Lebendiges wie eine Pflanze, nichts Starres – irgendetwas, worum ich mich kümmern kann. – Und ich bin der Gärtner.“

  • Ethos des Marketing kündigt die freudige Nachricht an bei Pol Haben: Ich schreibe schon mal die Postkarte an Pol Haben: Narrativ hat etwas gefunden, das jetzt zu ihm gehört und es weiterentwickeln kann.“

Abbildung 11.5
figure 5

(Eigene Darstellung)

Das Narrativ im Konsumkontext während der Phase des Crystalizing.

Die Abbildung 11.5 zeigt das 3D-Raumbild mit Invivo-Kodes der Repräsentanten in der fünften Phase des U-Prozesses: das Crystalizing. Das Narrativ findet beim Pol Suffizienz ein neues, noch zu entwickelndes Thema. Die zukünftige Botschaft von Narrativ ist nichts Starres, sondern etwas Bewegliches. Ethos des Marketing kündigt diese (erfreuliche) Botschaft beim Pol Haben an.

3.6 Phase 6: Rückblick auf den Entwicklungsweg von Narrativ

Der Aufstellungsleiter fordert alle Elemente auf, die Unterschiede wahrzunehmen, die mit dem Entwicklungsweg von Narrativ entstanden sind und einen stimmigen Platz einzunehmen.

  • Narrativ stellt sich zunächst gegenüber von Pol Haben. In Reaktion auf eine Aussage des Kunden Gelb wechselt Narrativ die Position hinter Pol Haben mit Blick ins System.

  • Ethos des Marketing folgt und stellt sich links hinter Pol Haben mit Blickrichtung auf Narrativ.

  • Kunde Orange beobachtet die Bewegung des Narrativs genau. Kunde Orange bewegt sich (noch vor Ethos des Marketing). Die Kunden der übrigen WMeme verändern ihre Positionen nicht mehr.

Der Aufstellungsleiter befragt die Elemente nach den Unterschieden vor und nach dem Entwicklungsprozess.

  • Narrativ fühlt sich „ganz schön anders“ als zu Beginn des Prozesses.

  • Ethos des Marketing fühlt sich zu „100 Prozent“ unverändert.

  • Pol Haben empfindet, es sei ein „ganz schön anderer Pol“ geworden.

  • Pol Sein schlägt vor, dass Narrativ weitergeht und das System verlässt.

  • Pol Wachstum fühlt sich nicht verändert: „Ich würde Narrativ wieder zu mir herziehen wollen. Und dann geht es wieder so herum.“

  • Pol Suffizienz ist mit dem Prozessverlauf voll auf zufrieden.

In den Antworten wird auch deutlich, dass der weitere Prozessverlauf offen ist:

  • Narrativ sieht als eine Option, das System zu verlassen: „Für mich ist da – hinter Pol Haben – noch ein Raum.“

  • Auch Pol Sein ist der Auffassung, dass das Narrativ aus dem System herausgehen müsse.

  • Ethos des Marketing „würde Narrativ auch begleiten, wenn Narrativ irgendwann aus diesem System herausgeht“.

  • Ethos des Marketing prophezeit Narrativ eine mehrmalige, stets beim Pol Haben beginnende, Prozessschleife, bis ein besonderes Ereignis etwas tatsächlich verändert: „Bei jedem Gang wird es andere Hürden oder Schwellen geben. … Und irgendwann wird etwas ganz Besonders passieren. Und dann ist etwas verändert.“

  • Ethos des Marketing ist überzeugt, dass ich „von Euch einen Auftrag für dieses System bekommen habe“.

  • Narrativ reagiert auf die Ideen der anderen Elemente: „Wenn ich den Kreislauf durchbrechen soll und noch einen Platz finde, dann wäre das ganz klar bei Pol Suffizienz.“

Die Kunden beurteilen den Prozess sehr unterschiedlich:

  • Blau hinterfragt den Prozess nicht.

  • Orange findet die Idee, dass es in Zyklen weitergeht, „ganz natürlich und stimmig“ und ist „stolz, dass Narrativ seinen Weg gegangen ist. Ich habe jetzt Kontakt zu Pol Suffizienz.“

  • Grün bereitet der Kontakt zwischen Narrativ und Pol Suffizienz „Kopfschmerzen“. Vom Ethos des Marketing fühlt sich Kunde Grün nicht angesprochen, findet es jedoch „okay, dass Ethos des Marketing bei Narrativ ist“. Grün begrüßt, dass Kunde Blau aktiv geworden ist; mit dem Kunden Gelb hat Kunde Grün Kontakt, jedoch nur „so aus der Ferne“.

  • Kunde Gelb sieht seine „Mission“ als beendet: „Ich habe das Gefühl, ich kann hier nichts mehr beitragen.“

Narrativ und Ethos des Marketing haben eine übereinstimmende Wahrnehmung ihrer gegenseitigen Beziehung:

  • Narrativ beschreibt sich als reagierendes Element und sieht in Ethos des Marketing eine wichtige Unterstützung: „Ich bin auf einen Prozess losgeschickt worden, ohne dass ich es wirklich selber wollte. Ich konnte den Weg nur gehen, weil Ethos des Marketing da war als Begleiter.“

  • Ethos des Marketing beschreibt seine Beziehung zu Narrativ als ein „Forschungslabor“: Narrativ lernt sich immer mehr kennen und ich bin immer dieser Begleiter, der daneben steht und Energie ableitet oder zuführt“.

Abbildung 11.6
figure 6

(Eigene Darstellung)

Rückblick auf den Entwicklungsweg des Narrativ.

Die Abbildung 11.6 zeigt das 3D-Raumbild mit Invivo-Kodes der Repräsentanten während des Rückblicks auf den U-Prozess. Narrativ hat eine starke Entwicklung durchlebt. Pol Haben hat sich gleichermaßen stark verändert. Der Kunde Gelb sieht seine Mission erfüllt. Der Prozess muss mehrmals durchlaufen werden. Das Ethos des Marketing würde Narrativ auch in einem anderen System weiterhin begleiten wollen.

4 Auswertung der Aufstellung „Narrativ“

Die Paradigma-Darstellung zur Aufstellung „Narrativ“ ist im elektronischen Zusatzmaterial einsehbar.

4.1 Theorie-Memos

Die in der Paradigma-Darstellung strukturierten Kodierungsansätze führe ich beim Memo-Schreiben zu hypothetischen Ideen aus. Die Aufstellung „Narrativ“ ist die letzte Exploration (im Analyseteil) der vorliegenden Arbeit. Wie im Forschungsdesign dargestellt, ist das zweite, explorative Denksystem ein intensiver hermeneutisch-zirkulärer Prozess, in dem die Zyklen mehrfach wiederholt durchlaufen werden bis sich – zumindest für den Moment – ein „ausreichendes“ Maß an epistemologischer Sicherheit einstellt. Vor diesem Hintergrund verzichte ich bei der Auswertung auf den Zwischenschritt der Perspektiven-Triangulation und setze den Fokus auf den Abgleich mit den Thesen bzw. Hauptkategorien, die sich im bisherigen Auswertungsprozess herausgebildet haben, insbesondere zum besonderen Potenzial des Marketing für Konsumwandel – und womöglich auch für eine grundlegende gesamtgesellschaftliche Neuorganisation – sowie zur Rolle der Kund:innen im systemischen Wirkgefüge.

4.1.1 Die transformative Aufgabe

Kategorien: loslassen; Transformation von Pol Haben

Beobachtung: In der Phase des Presencing, dem Wendepunkt des U-Prozesses, „von dem aus die im Entstehen begriffene Zukunft wahrnehmbar werden kann“ (Scharmer, 2009/2011:66), macht Narrativ eine zunächst ernüchternde Erfahrung: „Meine Hände gehen in die Erde und suchen. Sie finden aber nichts.“ Daraufhin macht Ethos des Marketing eine für mich überraschende Aussage: Ethos des Marketing empfiehlt dem Narrativ, nicht zu suchen, sondern „noch loszulassen“. Diese Beobachtung ist bemerkenswert, weil sie dem üblicherweise beobachtbaren Verlauf in diesem Aufstellungssetting (U-Prozess in Kombination mit grundlegenden Spannungsfeldern) widerspricht. Erfahrungsgemäß ist hier der Punkt, „nicht meditativ alles loszulassen, sondern eine intensive Auseinandersetzung des Systems mit seinem wichtigsten Thema aus der Tiefe des Ethos heraus zu ermöglichen“ (Müller-Christ & Pijetlovic, 2018:233). Da die Stellvertreterin mit dem methodischen Vorgehen an der Universität Bremen sehr vertraut ist, messe ich dieser Aussage aus der Tiefe der repräsentierenden Wahrnehmung eine besondere Bedeutung bei.

Interpretation: Ein zukunftsorientiertes Narrativ muss die alten Bilder – Wohlstand für alle durch Wirtschaftswachstum bzw. Konsum macht glücklich – hinter sich lassen. Bereits im ersten Bild wird die gesellschaftliche Transformationsaufgabe von Narrativ klar benannt: „Pol Haben ist etwas, das geklärt werden muss. Aber dazu habe ich nicht den Mum.“ Dass diese Erkenntnis bereits im Downloading, dem Modus, in dem die Welt mit den Augen des gewohnheitsmäßigen Denkens betrachtet wird, formuliert wird, unterstreicht die Tatsache, dass der „Kipppunkt“ (Max-Neef, 1995), an dem ein Mehr an materiellen Wohlstand nicht mehr zu einem Mehr an relativem Glück der Menschen führt, schon lange erreicht und allgemein offensichtlich ist. Hier zeigt sich also nochmals, wie ich bereits an anderer Stelle ausgeführt habe, ganz klar die normative Herausforderung, die sich bei Konsumwandel stellt: das Loslassen bisheriger materieller Normalitätsvorstellungen. Diese systemische Notwendigkeit wird nochmals unterstrichen mit der deutlichen Wandlung des Pol Haben, der im letzten Aufstellungsbild (Abbildung 11.6) resümiert, ein „ganz schön anderer Pol“ geworden zu sein.

Der Pol Wachstum zeigt sich hingegen unverändert. Diese Aussage ist zunächst irritierend und scheint allen meinen vorherigen Beobachtungen und aus ihnen gezogenen Schlüssen zu widersprechen: Ein grenzenloses Wachstum ist unmöglich, einfach weil die Ressourcenbasis begrenzt ist (Müller-Christ, 2014). Kern der globalen Vielfachkrise ist eine Gesellschaft, die permanent das Volumen ihres materiellen Stoffwechsels vergrößert.

Angesichts des zunächst irritierenden Widerspruchs zwischen der evidenzbasierten Notwendigkeit einer Abkehr vom herrschenden Wachstumsparadigma und der beobachteten Aussage des Pols Wachstum, kam mir der Gedanke, dass ja auch ein Wechsel des Objekts denkbar ist: Es ist jetzt nicht mehr der materielle Kreislauf, der sich immer weiter ausdehnt. Das, was beim Herausbilden neuer Konsumnarrative wächst, ist der immaterielle Kreislauf: Es sind Ideen zu anderen Wegen des (kollaborativen) Konsums und der (Ko-)Produktion. Soziale Innovationen im Konsumbereich, z. B. in Projekten von Sharing Economy, Collaborative Consumption, Do-It-Yourself und Upcycling, verbrauchen sich nicht durch ihre Anwendung. Im Gegenteil: Sie werden besser und stärker, wenn sie aus der Nische herauskommen und wachsen. Im Unterschied zu Naturressourcen gibt es bei sozialen Innovationen, die aus einem integralen Denken – hier in Gestalt des voranschreitenden gelb-memischen Kunden – heraus entstehen, keine Nutzungskonkurrenz. Soziale Innovationen brauchen Wachstum: immaterielles Wachstum!

These N.1: Die transformative Aufgabe, die im Konsumsystem zu bewältigen ist, besteht in der Verständigung auf neue materielle Ziele, weil die plantaren Grenzen ein weiteres quantitatives Wirtschaftswachstum verbieten. Daraus entstehen neue normative Fragen: Was bedeutet (in wohlhabenden Konsumgesellschaften) ein „Genug“? Wie bemisst sich eine „nachhaltige“ Einkommensverteilung?

These N.2: „Konsum macht glücklich!“ – Mit seiner Botschaft verfolgt das bisherige Konsumnarrativ das Ziel, den materiellen Wirtschaftskreislauf beschleunigt zu halten. Ein zukunftsfähiges Konsumnarrativ hingegen möchte den immateriellen Stoffwechsel ankurbeln. Sein Interesse gilt den Ideen zu einem anderen möglichen Konsum.

4.1.2 Bedeutung von Narrativen

Kategorien: Schwäche von Pol Sein; Wegweiser

Beobachtung: In der Presencing-Phase möchte Pol Sein nicht, dass Narrativ bei ihm verweilt. Eine weitere Beobachtung, die sich mir intuitiv nicht unmittelbar erschließen mag, ist die zunehmende Verschlechterung des Zustandes von Pol Sein. Dass sich Stellvertretende von Polen setzen, ist eine seltene Beobachtung in der Aufstellungsarbeit (Müller-Christ & Pijetlovic, 2018:245), auch deshalb erscheint mir die Reaktion des Pol Sein bedeutungsvoll.

Interpretation: Die Missempfindungen des Pols Sein, die in der Phase des Presencing den Zenit erreicht, sind m. E. ein treffendes Bild: Im Sein offenbart sich die Schwachstelle des bestehenden Konsumsystems. Die Erzählung „Konsum macht glücklich“ entspricht nicht länger der sozialen Wirklichkeit; im Gegenteil: der Sinn von Konsum geht zunehmend verloren – nicht zuletzt auch, weil Produkte oft nur noch gekauft werden, ohne sie zu konsumieren, wie der deutsche Soziologe Harald Welzer (2013) ausführt:

„Wahrscheinlich haben Sie beim Lesen der letzten Seiten das Gefühl gehabt, dass Sie längst etwas tun, was Sie freiwillig und bewusst nie beabsichtigt haben: Sie verzichten auf Ihre Freiheit, Ihr Leben nach Ihren eigenen Entscheidungen einzurichten. So wie Sie sich Ihren Lebensraum mit Produkten vollstellen, von denen Sie bis vor kurzem gar nicht wussten, dass Sie sie jemals haben wollen würden, so wenden Sie immer mehr Zeit dafür auf, sich in diesem Konsumuniversum für oder gegen irgendetwas zu entscheiden: Sie lesen Tests und Erfahrungsberichte, arbeiten sich durch Bedienungsanleitungen und Updates, rufen Preisvergleiche ab, schließen Verträge aller Art ab – weshalb Sie immer mehr kaufen, aber immer weniger konsumieren, was Sie gekauft haben.“ (Welzer, 2013:27f.)

In der nachfolgenden Phase des Chrystalizing erholt sich der Pol Sein wieder. Die Stellvertreterin geht zurück an ihre Position; mit dem emergenten Narrativ ist es dem Pol Sein möglich, seine Funktion im System wieder auszufüllen. In diesem Bild zeigt sich für mich die große Bedeutung, die Narrativen in Transformationsprozessen zukommt. Sie übersetzen das neue, noch abstrakte Zielsystem jenseits der herrschenden Wachstumslogik in konkrete Bilder und ermöglichen dem System somit pragmatisches Handeln, Resilienz und die Fähigkeit zur Anpassung an notwendige Veränderungen. Kurzum: Sie geben dem System neue Energie.

These N.3: Ein neues Konsumbild ist gesellschaftlich noch nicht fassbar: Was ist unsere Idee eines guten Lebens – ressourcensensibel und auch sozial gerecht? In dieser Situation kommt dem Entwickeln neuer mentaler Modelle eine Schlüsselfunktion zu. Ein zukunftsfähiges Konsumnarrativ liefert Gegenentwürfe zur herrschenden „Konsum macht glücklich“-Erzählung. Mit konkreten, positiven Zukunftsbildern wirkt es ermutigend, ungewohnte und innovative Konsumwege zu erkunden.

4.1.3 Die Gestalt eines neuen Konsumnarrativs

Kategorien: Gärtner; Pflanze

Beobachtung: Auch mit dem neuen, emergierenden Narrativ wird der Pol Sein nicht richtig froh. Am Ende der Aufstellung spricht sich der Pol Sein dafür aus, Narrativ möge das System verlassen. Ich nehme diese irritierenden Beobachtungen als Ausgangspunkt für die Frage nach dem Inhalt eines entstehenden Konsumnarrativs, das die bereits überkommenen Erzählungen „Wohlstand durch unbegrenztes Wirtschaftswachstum“ und „Konsum macht glücklich“ ablösen wird. – Im weiteren Aufstellungsverlauf, in der Phase des Chrystalizing zeigt sich das im Entstehen begriffene Neue – die mögliche Zukunftsvision des Konsumsystems – für eine verdeckte, prototypische Aufstellung erstaunlich plastisch in den Metaphern des „Gärtners“ und der „Pflanze“. Lassen sich diese konkreten Bilder auch in ebenso konkrete Inhalte übersetzen; welche Gestalt hat die neue Erzählung, die Konsumwandel so dringend braucht?

Interpretation: Das Unwohlsein, das der Pol Sein während der gesamten Aufstellung spürt, interpretiere ich als Ausdruck eines grundsätzlichen Konflikts im erwerbswirtschaftlichen System: Die Spannung zwischen Sein und (einem nicht mehr funktionalem, grenzenlosen) Habenwollens. Die Aussage des Pols Sein, Narrativ, möge das System verlassen, kann vor diesem Hintergrund als Ausbruchsbegehren aus Materialismus und Konsumismus verstanden werden. Diese Interpretationslinie kann ich an dieser Stelle – mit Blick auf den vorgegebenen Forschungsrahmen einer Dissertation – nicht weiterverfolgen. Als unstreitig kann – wie ich an anderer Stelle ausgeführt habe – jedoch gelten, dass in einer „vollen Welt“ mit unverrückbaren „planetaren“ Grenzen absehbar ist, dass sich unser Verhältnis zur Welt grundlegend ändern wird und sich nicht mehr lange so dominant durch Konsum bestimmen lässt, wie es gegenwärtig noch immer der Fall ist. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Aufstellungssequenz auch als Hinweis auf die Utopie einer tiefgreifenden gesellschaftlichen Umwälzung interpretieren, wie sie Erich Fromm (1976/2011) beschrieben hat:

„Nur in dem Maße, in dem wir die Existenzweise des Habens bzw. des Nichtseins abbauen (das heißt aufhören, Sicherheit und Identität zu suchen, indem wir uns an das anklammern, was wir haben, indem wir es ‚be-sitzen‘, indem wir an unserem Ich und unserem Besitz festhalten), kann die Existenzweise des Seins durchbrechen. Um zu ‚sein‘, müssen wir unsere Egozentrik und Selbstsucht aufgeben bzw. uns ‚arm‘ und ‚leer‘ machen, wie es die Mystiker oft ausdrücken.“ (Fromm, 1976/2011:111)

Bezogen auf meine Forschungsfrage erkenne ich im Unbehagen, das der Pols Sein beim Anblick von Narrativ verspürt abduktiv einen ersten wichtigen inhaltlich-redaktionellen Hinweis zum neuen, entstehenden Narrativ: Das emergente ökonomische Narrativ sollte sich zurückhalten mit Aussagen zur Seinsqualität: Es sollte keine Glücksversprechungen machen.Footnote 3 Die transformative Aufgabe, die heute im Konsumsystem ansteht, ist nicht, die „Existenzweise des Seins“ (Fromm) zu durchbrechen, sondern umfasst sehr konkrete materielle Fragen respektive Bedarfe von Menschen. Ein solches existentielles (funktionales) Haben, steht – im Gegensatz zum „charakterbedingten Haben“ – nicht im Konflikt mit dem Sein (Fromm (1976/2011:108). Diese Beobachtung deckt sich mit der Analyse von Ulrich Grober (2010:14) zur kulturhistorischen Entwicklung des Nachhaltigkeitsbegriffes (vgl. Abschnitt 1.2.1): Der Begriff Nachhaltigkeit wurzele „im menschlichen Grundbedürfnis nach Sicherheit“ als „Gegenbegriff zu ‚Kollaps‘“. Auch von der Spiral Dynamics Theorie sehe ich meine Interpretationslinie gestützt: Don Edward Beck und Christopher C. Cowan nennen das Klären existentieller Fragen (neben Dissonanz) als wesentliche Grundvoraussetzungen, damit Wandel überhaupt nur denkbar wird (Beck & Cowan, 2014:145 ff.).

Weitere inhaltlich-redaktionelle Hinweise zum emergenten Konsumnarrativ enthalten die Metaphern in der Phase des Chrystalizing, mit denen sich Narrativ selbst als „Gärtner“ und den Pol Suffizienz als „Pflanze“ – als „etwas Bewegliches, etwas Lebendiges, nichts Starres – irgendetwas, worum ich mich kümmern kann“ – beschreibt. In dieser Beschreibung sehe ich einen frappierend deutlichen Hinweis auf die „Biophilie“ von Erich Fromm (1974): „die Liebe zum Leben und zu allem Lebendigen“:

„Die Biophilie ist die leidenschaftliche Liebe zum Leben und allem Lebendigen; sie ist der Wunsch, das Wachstum zu fördern, ob es sich nun um einen Menschen, eine Pflanze, eine Idee oder eine soziale Gruppe handelt. Der biophile Mensch baut lieber etwas Neues auf, als daß er das Alte bewahrt. Er will mehr sein, statt mehr zu haben. Er besitzt die Fähigkeit, sich zu wundern, und er erlebt lieber etwas Neues, als dass er das Alte bestätigt findet. Das Abenteuer zu leben ist ihm lieber als Sicherheit. Er hat mehr das Ganze im Auge als nur die Teile, mehr Strukturen als Summierungen. [...] Da er Freude am Leben und all seinen Manifestationen hat, ist er kein -leidenschaftlicher Konsument von frisch verpackten ‚Sensationen‘ [Hervorhebung im Original].“ (Fromm, 1974:331)

Vor diesem Hintergrund enthalten die Metaphern Pflanze und Gärtner die Botschaft eines anderen, nicht quantitativen Wachstums: Der Mut zu Weniger bedeutet ein Mehr an Vitalität: So bedeuten weniger Autos in der Stadt mehr Klimaschutz, mehr saubere Luft, mehr Grün, mehr Platz zum Spielen, mehr Sicherheit für Kinder und Radfahrer:innen, kurzum: mehr Lebendigkeit im öffentlichen Raum! Das Konzept der Biophilie ist zudem eine Einladung, nicht nur zu versuchen, bisherige Konzepte zu verbessern, sondern vor allem auch nach vollkommen neuen Lösungen zu suchen; zum Beispiel Mobilität – jenseits vom Auto – neu zu denken.

Die botanische Metaphorik verweist weiterhin direkt auf den Begriff der Metamorphose: die Anpassung von Pflanzen und anderen Geschöpfen an besondere Lebens- und Umweltbedingungen. In dieser in diesem Bild angedeuteten Offenheit des entstehenden Narrativs erkenne ich die Leerstelle wider, die ich bereits in der Aufstellung „Konsumsystem“ (Abschnitt 6.5.2) beobachtet habe: Während es aus der planetaren Ressourcenperspektive einen – innerhalb eines gewissen Variationsfeldes – wissenschaftlich eindeutig definierbaren Punkt gibt (Stichwort: planetare Grenzen), handelt es sich bei der Bestimmung eines gesellschaftlich „rechten Maßes“ von Konsum um eine normative Frage, die es als Gesellschaft neu auszuhandeln und zu begründen gilt. Im Unterschied zum bisherigen zielorientiert ausgerichteten Narrativ der gegenwärtigen Konsum- und Wachstumsgesellschaft ist das neue entstehende Narrativ keine vollendete Erzählung, sondern eine (Fortsetzungs-)Geschichte gesellschaftlicher Suchbewegungen.

These N.4: Konsumwandel ist nur erfolgreich, wenn es gelingt, unvermeidliche Trade-offs sozial gerecht und für alle Beteiligten auch rational nachvollziehbar zu gestalten. Denn nur dann kann der Wandel so radikal vollzogen werden, wie er angesichts der zunehmend engen planetaren Grenzen erforderlich ist.

These N.5: Ein zukunftsorientiertes Konsumnarrativ transportiert „die Liebe zum Leben und zu allem Lebendigen“ (Fromm). Es ist eine Einladung, nicht nur zu versuchen, bisherige Konzepte zu verbessern, sondern vor allem nach vollkommen neuen Lösungen zu suchen. Dazu erzählt es von den wundervollen Möglichkeiten eines anderen, nicht quantitativen Wachstums: Der Mut zu Weniger bedeutet ein Mehr an Vitalität.

These N.6: Das neu entstehende Narrativ im Konsumsystem ist keine vollendete „große Erzählung“, die eine neue Glücksversprechung bereithält. Es ist vielmehr eine lebendige Geschichte über gesellschaftliche Suchbewegungen. Das neue Konsumnarrativ macht gesellschaftlich noch Unsichtbares sichtbar.

4.1.4 Marketing: Beitrag zum Konsumwandel

Kategorien: Begleiterin; keine Nanny, wissenschaftlich beobachtend; Forschergeist

Beobachtung: Der Aufstellungsverlauf bietet mehrfach die Chance, das Verhältnis von Ethos des Marketing und Narrativ detaillierter in den Blick zu nehmen. Bereits im Downloading-Modus wird die grundsätzliche Beziehungsqualität offenbar, als Narrativ das Ethos des Marketing als einen „Begleiter, der aufpasst“ beschreibt, und das Ethos des Marketing präzisiert, sie sei „keine Nanny von Narrativ. Ich beobachte, bin wissenschaftlich.“ Im Schlussbild betont Narrativ die große Bedeutung, die Ethos des Marketing im Prozessverlauf zukommt: „Ich konnte den Weg nur gehen, weil Ethos des Marketing da war als Begleiterin.“– Welche Annahmen lassen sich aus diesen Beobachtungen ableiten für mögliche transformative Aufgaben und Ziele eines zukunftsorientierten Marketing?

Interpretation: Ethos des Marketing nimmt Narrativ nicht wie eine „Nanny“ in seine Obhut, sondern begleitet es vielmehr kritisch-fördernd und beobachtend. Diese Beschreibung bringt mir die Assoziation der Mäeutik – die sokratische Hebammenkunst – in den Sinn. So kreiert ein zukunftsorientiertes Marketing selbst keine neuen Bilder, sondern hilft neuen Realitäten, ganz wie eine Hebamme, ans Licht zu kommen. Mäeutik ist eine Methode der Wahrheitsfindung. Die Wahrheit, die ein zukunftsorientiertes Marketing sichtbar werden lässt, ist eine emergierende Wahrheit. Ein sehr ähnliches Bild zeigte sich in der Aufstellung „Attitude-Behaviour Gap“ (Abbildung 10.4) mit der Metapher der „Fata Morgana“: Einer Luftspiegelung gleich, ermöglicht ein zukunftsorientiertes Marketing, „einen Blick hinter den Horizont, in emergierende Zukünfte zu eröffnen“ (These ABG.5, Abschnitt 10.4). So begrüßt Ethos des Marketing in der Phase des Seeing ausdrücklich die Intention von Narrativ, die Realität mit frischem Blick zu betrachten; sich nicht von den Verlockungen einer „Kreuzfahrt“ auf Wachstumskurs verführen zu lassen, sondern innezuhalten und zu fragen „wofür gehe ich diesen Weg“. Für seine mäeutische Rolle muss Marketing eine offene, „forschende“ Haltung einnehmen und stellt – sokratische – Fragen. Es fördert das Erkennen von Widersprüchen, die sich zwischen bisherigen Konsumvorstellungen und der Realität zunehmend knapper werdenden Ressourcen auftun. So lenkt Ethos des Marketing in der Presencing Phase den Blick auf das überkommene Wachstumsmodel als es Narrativ empfiehlt, loszulassen: Die Zeit des unbegrenzten Wachstums ist vorbei.

Vor dem Hintergrund der bisherigen Beobachtungen zeigt sich mir als Aufgabe eines zukunftsorientierten Marketing, emergente positive Zukunftsbilder – Projekt(ideen) einer zukunftsorientierten Produktions- und Konsumweise – in die Welt zu bringen und medial zu verstärken. Dabei kreiert Marketing die Visionen nicht aus sich heraus, sondern es führt einen Auftrag aus, den es von Kundenseite erhalten hat. Diese Interpretation wird klar bestätigt von der Aussage von Ethos des Marketing, die er im Rückblick formuliert: „Von Euch habe ich einen Auftrag für dieses System bekommen.“ Kunden sind Inputgeber von Marketing – ein Rollenbild, das ich in den vorherigen Aufstellungen wiederholt beobachtet und beschrieben habe. Kunde Gelb scheint dabei eine besondere Rolle einzunehmen, da er den Entwicklungsweg des Narrativs stets antizipiert. Diese Interpretation wird unterstützt von der Aussage des Kunden Gelb in der Presencing Phase, er sei froh, dass Ethos des Marketing ihm die Aufgabe, Narrativ zu schützen, im Alltag abnehme.

Ich lese diese Bilder als Hinweis auf das besondere Potenzial von Marketing für Konsumwandel: Marketing kann das Entstehen neuer Narrative wirkungsvoll unterstützen. Diese Interpretation wird auch formenanalytisch gestützt: Ethos des Marketing bleibt während des gesamten Aufstellungsprozesses an der rechten Seite von Narrativ; ein Hinweis auf eine attraktive und noch zu erschließende Ressource (vgl. Übersicht Formenanalyse Tabelle 2.1; Abschnitt 2.3.3). Marketing kommt bei transformativen Konsumwandel die wichtige Aufgabe des Storytelling zu: die praktische Übersetzungsarbeit zukunftsorientierter Produktions- und Konsummuster in zielgruppengerechte Bilder. Marketing hilft, soziale Innovationen, „bereits entdeckte Wahrheiten“ die noch im Verborgenen liegen, ans Licht bringen und zu „vergesellschaften“, wie der italienische Intellektuelle Antonio Gramsci (1932/1995) – freilich in einem anderen, im politischen Kontext – die Orientierung gebende Rolle von Narrativen treffend beschrieben hat:

„Eine neue Kultur zu schaffen bedeutet nicht nur, individuell ‚originelle‘ Entdeckungen zu machen, es bedeutet auch und besonders, bereits entdeckte Wahrheiten kritisch zu verbreiten, sie sozusagen zu ‚vergesellschaften‘ und sie dadurch Basis vitaler Handlungen, Element der Koordination und der intellektuellen und moralischen Ordnung werden zu lassen [Hervorhebungen von mir]. Daß eine Masse von Menschen dahin gebracht wird, die reale Gegenwart kohärent und auf einheitliche Weise zu denken, ist eine ‚philosophische‘ Tatsache, die viel wichtiger und ‚origineller‘ ist, als wenn ein philosophisches ‚Genie‘ eine neue Wahrheit entdeckt, die Erbhof kleiner Intellektuellengruppen bleibt.“ (Gramsci, 1932/1995:1377)

These N.7: Ein zukunftsorientiertes Marketing dient der Wahrheitsfindung. Erstens: Im Unterschied zum herkömmlichen Nachhaltigkeitsmarketing verschleiert es nicht die Realität des inhärenten Widerspruchs wachstumswirtschaftlicher Konsumgesellschaften: Ein zukunftsorientiertes Marketing gibt der Illusion vom grünen Wachstum keine neue Nahrung. Zweitens: Ein zukunftsorientiertes Marketing bringt emergierende Wahrheiten ans Licht, indem es Zukunftsideen, die in Nischen emergieren in gesellschaftlich anschlussfähige Bilder und Botschaften übersetzt. In dieser mäeutischen Wirkung liegt das besondere transformative Potenzial von Marketing: Es öffnet den anderen verbraucherpolitischen Akteur:innen respektive Teilsystemen Fenster zu neuen Möglichkeitsräumen.

These N.8: Ein neues Konsumnarrativ gedeiht nicht aus sich heraus. Marketing als Profi im Geschichtenerzählen kann bei der Entwicklung unterstützen. Bei der Kreation ermutigender Inhalte greift Marketing wiederum auf die Expertise jener Akteur:innen zurück, die als Konsumierende respektive Prosumierende die reichen Möglichkeiten einer zukunftsorientierten Produktions- und Konsumweise bereits erproben bzw. praktisch leben.

4.1.5 Kundenrollen

Kategorien: antizipierend (Kunde Gelb); reagierend (Kunden 1. Tier)

Beobachtung: In der entscheidenden Phase des Presencing entdeckt Narrativ angesichts des Pols Sein „Überraschendes“, nämlich: zunächst nichts, um dann zu erkennen, dass es über den Pol Sein, erstmalig die Kunden wahrnimmt. Auch diese Sequenz ist, eindeutig als – erneuter – Hinweis zu lesen, dass es bei einem transformativen Konsumwandel entscheidend darauf ankommt, welche Rolle den Konsumierenden eingeräumt wird. Ich nehme diese Sequenz zum Anlass einer abschließenden Analyse der unterschiedlichen Rollen, die Kund:innen bei transformativem Konsumwandel einnehmen können – und von einem zukunftsorientierten Marketing entsprechend zu fördern sind.

Interpretation: In der Aufstellung werden für mich zwei unterschiedliche Kategorien von Kund:innen deutlich unterscheidbar: Die eine Kategorie sind Kund:innen, die dem aufgezeigten Weg – in ihrem jeweiligen Tempo und teils starker Interaktion untereinander – folgen. Das sind hier die Kunden Blau, Orange und Grün. Die andere Kategorie sind Kund:innen, wie hier der Kunde Gelb, die dem Entwicklungsprozess voranschreiten. Die erste Kundenkategorie gehört gemäß Spiral Dynamics zur 1. Tier; umfasst also Bewusstseinsebenen bzw. Wertesysteme, die nur ihre eigene Problemlösungslogik verstehen und entsprechend mit den anderen Bewusstseinsebenen konkurrieren. Die zweite Kundenkategorie gehört zur 2. Tier. Sie zeichnet sich durch eine integrale Sicht aus und kann deshalb auch Bedeutung und Legitimität der anderen Wertesysteme erfassen.

Der auffällige Positionswechsel des Kunden Gelb mitten durch das Aufstellungsfeld in der Phase des Presencing erinnert mich an eine Sequenz, die ich in der Aufstellung „Ethos des Marketing“ beobachtet und beschrieben habe (Kapitel 7; Abbildung 7.3): Auch dort wechselte der Kunde von der rechten zur linken Seite von A-Marketing. Den Positionswechsel habe ich interpretiert als „eine Allegorie des „crossing“ (Spencer-Brown, 1969:1), das die Beobachtung der anderen Seite ermöglicht. Der Kunde ist in dieser Lesart ein Beobachter 2. Ordnung, der nützlich ist, um ‚blinde Flecken‘ im Marketingsystem aufzudecken“. Diese Lesart ist auch hier, in der Sequenz der Aufstellung „Narrativ“ schlüssig: Kunde Gelb unterstützt als ein Beobachter 2. Ordnung das Narrativ mit Informationen, die für dessen Fortbestand als dynamisches System relevant sind. Diese Interpretation wird unterstützt von der Aussage von Ethos des Marketing, dass Narrativ eine mehrmalige, stets beim Pol Haben beginnende, Prozessschleife durchlaufen müsse.

Mit Spiral Dynamics wird nachvollziehbar, warum Konsum- und Lebensstile schwer zu ändern und auch nicht zu vereinheitlichen sind. In der Aufstellung ist dies in den unterschiedlichen Reaktionen und der Konkurrenz der Kund:innen untereinander sehr gut nachzuvollziehen. Ich schließe aus diesen Beobachtungen, dass das neue Konsumnarrativ – es bezeichnet sich ja selbst als „Jongleur“ – mehrere Geschichten gleichzeitig erzählen muss. Die bisherige große (Konsum)-Erzählung wird abgelöst werden von vielen kleinen Erzählungen. Die Aufgabe eines zukunftsorientierten Marketing besteht demzufolge darin, die unterschiedlichen Erzählstränge so aufzubereiten, dass sie von Kunden unterschiedlicher WMeme verstanden und somit konstruktiv aufgegriffen werden können. Wichtig erscheint mir dabei zu erinnern, dass in westlichen Konsumgesellschaften am häufigsten WMeme der 1. Tier, namentlich Blau, Orange und Grün vertreten sind. Auf der Existenz-Ebene sind Konsum- und Lebensstile zuvörderst materiell verankert. In der Rolle des Konsumierenden gilt dies noch in besonderer Weise.

Die Aufstellungsbilder geben mehrmals konkrete Hinweise, dass Marketing diese Rolle ausfüllen kann. So beschreibt beispielsweise Kunde Orange in der Phase des Seeing Ethos des Marketing als Übersetzer: „Ich schalte ab, wenn Narrativ spricht. Wenn Ethos des Marketing spricht, kann ich dem Ganzen folgen.“ Um diese Funktion als „Übersetzer“ auszufüllen, muss ein zukunftsorientiertes Marketing gemäß der Theorie der Spiral Dynamics eine integrale Perspektive (2. Tier) einnehmen (vgl. Beck & Cowan, 2007/2014:115).

These N.9: Im transformativen Prozess lassen sich grundsätzlich zwei unterschiedliche Kategorien von Kund:innen beobachten: Von den Konsumierenden, die auf den Wandel – je nach WMem anders und in ganz eigener Weise – reagieren, sind Konsumierende zu unterscheiden, die den Transformationsprozess pro-aktiv vorantreiben. Diese innovativen, systemisch denkenden Akteur:innen sind wichtige Partner:innen eines zukunftsorientierten Marketing: Sie sind ihm Wissensressource und Inspirationsquelle.

These N.10: Von einem transformativen Konsumwandel sind die verschiedenen Akteur:innen – je nach Bewusstseinsebene und/oder gesellschaftlicher Rolle sowie systemischem Interesse – sehr unterschiedlich betroffen. Zielgruppengerechte, mem-adäquate Erzählungen erleichtern es den Akteur:innen, mit unvermeidlichen Trade-offs konstruktiv umzugehen und daraus für sich ein pragmatisches Handeln abzuleiten. Für ein solches zielgruppen- bzw. memsensibles Storytelling braucht ein zukunftsorientiertes Marketing die Fähigkeit, systemisch-integral zu denken.

5 Zusammenfassung der Aufstellung „Narrativ“

Die Aufstellung „Narrativ“ veranschaulicht – dank ihres Setting als geleiteter U-Prozess besonders gut – wo ein spezifisches Potenzial der Methode für Wissenschaft und Forschung liegt. Aufstellungen schützen Forschende, die das tatsächlich Neue suchen, sehr effektiv vor dem sogenannten „Humpty-Dumpty-Effekt“Footnote 4; also davor, nur Zukunftspotenziale analog der Vergangenheit zu entdecken. Über die repräsentierende Wahrnehmung ist es Forschenden möglich, tiefere dynamische Kräfte im Feld anzuhören und somit Lösungsansätze auch aus einer entstehenden Zukunft heraus zu entwickeln. (Eine detaillierte Methodenreflexion finden Sie, liebe Lesende, im Abschnitt 15.5.)

Ein besonderer Analysefokus bei dieser Aufstellung lag auf einer möglichen Wirkung von Marketing auf ein transformatives Konsumnarrativ – ein Potenzial das bislang, wie ich einleitend ausgeführt habe, in Forschung und Praxis kaum betrachtet wird. Die Entwicklungsdynamik, die sich in der repräsentierenden Wahrnehmung beobachten ließ, hat wesentliche meiner zuvor entwickelten Hypothesen hinsichtlich einer möglichen anderen, zukunftsorientierten Funktion von Marketing bestätigt. Was mich sehr positiv erstaunt hat, war die Fülle an ergänzenden Detailinformationen, die ich sowohl zum Wirkpotenzial von Marketing gewonnen habe als auch zu anderen Aspekten, die sich im bisherigen Forschungsverlauf als zentral herausgestellt haben, wie etwa zur Rolle von Verbraucher:innen bei Konsumwandel sowie zur spezifischen Qualität eines neuen Mindset, welches sich dezidiert jenseits der bisherigen Wachstumslogik bewegt.

Die Aufstellung „Narrativ“ hat erneut gezeigt, dass Marketing über das Potenzial verfügt, transformative Entwicklungsprozesse innerhalb des Konsumsystems zu unterstützen. Der spezifische Beitrag von Marketing besteht darin, das (noch) Unwahre ans Licht zu bringen. Diese These, die zunächst vielleicht absurd klingen mag, ist für mich eines der zentralen Ergebnisse der Aufstellung „Narrativ“, denn sie synthetisiert meine Beobachtungen aus den vorherigen Aufstellungen. Das besondere Verhältnis von Marketing zur Wahrheit, für das die Branche – nicht erst seit Niklas Luhmann (1995a/2017:60 ff.) – in der Kritik steht, begründet gleichzeitig das einzigartige Potenzial von Marketing für Konsumwandel. Im Unterschied zu anderen medialen Akteuren im Konsumsystem, wie z. B. dem Journalismus, ist Marketing nicht auf eine objektive Wahrheit angewiesen, um als glaubwürdig zu gelten:

Wenn Marketing wirkt, ist es glaubwürdig; und nur vielleicht auch „wahr“. Marketing kann damit auch eine emergente Zukunft, also eine Wirklichkeit, die gesellschaftlich (noch) nicht „wahr“ ist, wirkungsvoll kommunizieren. Dasselbe Merkmal, das Marketing ermöglicht, den „schönen Schein“ des Konsumismus zu nähren, qualifiziert Marketing, positive Zukunftsbilder sozialer Konsuminnovationen zu verbreiten und somit den gesellschaftlichen Mut für notwendige Transformationen im Konsumbereich und darüber hinaus zu stärken.

5.1 Diagramm „Narrativ“

Auf Basis der zehn vorläufigen Thesen zu Konsumnarrativen und dem Wirkpotenzial von Marketing habe ich ein Diagramm entwickelt, das die neu gefundenen, provisorisch-hypothetischen Kategorien und Beziehungsgefüge in einem Gesamtbild visualisiert (Abbildung 11.7).

In der repräsentierenden Wahrnehmung bestätigt sich erneut die systemische Notwendigkeit, das alte Paradigma eines grenzenlosen Konsums zugunsten einer ressourcenorientierten Denkweise aufzugeben. Marketing verfügt über das Potenzial, das Entstehen eines solchen neuen Mindset zu unterstützen. Diese Annahme hat sich aus meiner Sicht durch die folgenden Aspekte, die sich in der repräsentierenden Wahrnehmung gezeigt haben, konkretisiert:

  1. 1.

    Ein zukunftsorientiertes Marketing operiert auf Basis der Realität eines zunehmenden inhärenten Widerspruchs wachstumswirtschaftlicher Konsumgesellschaften. Diese Realität lautet: Nachhaltiger Konsum erfordert eine global gerechtere Einkommensverteilung. Daraus folgt ein grundsätzlicher Unterschied zum herkömmlichen „Nachhaltigkeitsmarketing“ und dessen Versprechen, „Grüner Konsum rette die Welt“: Ein zukunftsorientiertes Marketing gibt der alten Illusion von unbegrenztem Wachstum keine weitere Nahrung und unterstützt stattdessen in Ländern des Globalen Nordens ein radikales Konsum-Umdenken: Suffizienz im Konsum.

  2. 2.

    Marketing kreiert die neue Zukunftsvision nicht aus sich heraus, sondern unterstützt, ähnlich einer Hebamme, dass emergente positive Zukunftsbilder in die Welt kommen können. In dieser mäeutischen Wirkung liegt das besondere Potenzial eines zukunftsorientierten Marketing. Marketing fördert Projekt(ideen) einer zukunftsorientierten Produktions- und Konsumweise, damit soziale Konsuminnovationen nicht nur in Nischen existieren. Marketing macht gesellschaftlich noch Unsichtbares sichtbar. Es sensibilisiert die Gesellschaft für andere, tatsächliche neue Möglichkeitsräume im Konsumkontext. Ein zukunftsorientiertes Marketing öffnet die Gesellschaft für neue Wahrheiten.

  3. 3.

    Das neue Zielsystem der „Suffizienz“ erscheint im bestehenden Mindset als unattraktiv bis existentiell bedrohlich. Eine besondere Herausforderung sind die unvermeidlichen Trade-offs infolge von Einkommensverlusten in wohlhabenden Ländern; materielle und vor allem empfundene (bzw. im herrschenden Wertesystem realiter damit einhergehende) soziale De-Privilegierungen fordern ihren Ausgleich. Hier leistet ein zukunftsorientiertes Marketing wichtige Übersetzungsarbeit, indem es Mäßigung mit der jeweiligen Rationalität bzw. Handlungslogik der unterschiedlichen Bewusstseinsebenen verknüpft. Zielgruppensensible, mem-adäquate Bilder und Geschichten setzen einen neuen, positiven Rahmen für Konsumsuffizienz.

Abbildung 11.7
figure 7

(Eigene Abbildung; Symbolbild: pngegg.com)

Ein zukunftsorientiertes Marketing unterstützt – zielgruppensensibel und mem-adäquat – ein radikales Konsumumdenken.

5.2 Weiterführende Überlegungen und Fragen

Auch die letzte Aufstellung meiner Forschungsarbeit schließe ich mit einer Gesamtschau, bei der ich mit etwas zeitlichem Abstand die erhobenen Daten auf mich wirken lasse. Vor dem Hintergrund eines pragmatischen Forschungsverständnisses lege ich den Fokus in dieser fortgeschrittenen Forschungsphase auf den Aspekt der theoretischen Sättigung. Zentrale Thesen, die ich in den vorhergehenden Kapiteln entwickelt habe, haben sich stark verdichtet, und die Konturen eines zukunftsorientierten Marketing werden zunehmend kontrastreich. Die Reflektionen konkretisieren nicht zuletzt meine implizite Vorannahme dieser Arbeit, dass Marketing über ein besonderes Potenzial für transformativen Konsumwandel verfügt: Es kann einen Beitrag zu einer grundlegenden Neuorientierung der Gesellschaft in sozialer, wirtschaftlicher sowie technologischer Hinsicht leisten.

Dieses positive Zukunftsbild von Marketing, dessen Facetten im Forschungsprozess zunehmend konkret geworden sind, werde ich im dritten Teil meiner Untersuchung zusammenfassen und als Modell skizzieren. Zuvor möchte ich jedoch noch einen kritischen Aspekt ansprechen, der für die Politikwissenschaftlerin in mir nicht vernachlässigbar ist:

  1. (1)

    Ist Marketing legitimiert, an dem anstehenden gesellschaftspolitischen Transformationsdiskurs mitzuwirken?

  2. (2)

    Wenn ja, von wem respektive mit welchem Mandat?

ad 1: Trotz aller Unplanbarkeit des bevorstehenden Wandels im Detail, können wir als Gesellschaft Einfluss auf die Entwicklung nehmen, z. B. über unseren kollektiven Umgang mit bestimmten normativen Fragen. Wenn Wirtschaft angesichts unstreitiger Ressourcengrenzen – den planetaren Grenzen – nicht weiter wachsen kann wie bisher, ist eine gesellschaftliche Verständigung auf „ein gutes Leben“ jenseits der herkömmlichen quantitativen Wachstumslogik notwendig. Weniger Konsum bedeutet sinkende Einkommen bei Staat, Unternehmen sowie Privathaushalten. Wie an verschiedenen Stellen in den zuvor beschriebenen Aufstellungen deutlich geworden ist, impliziert Suffizienz, also das „Maßhalten“ beim Konsum, weitreichende gesellschaftspolitische Problemstellungen. Da Lebensstile im bestehenden System eine materiell verankerte gesellschaftliche Funktion haben, potenziert sich mit der Ressourcenerhaltungsfrage die ohnehin hohe Relevanz nationaler und besonders globaler Verteilungsgerechtigkeit. Suffizienz bzw. die Abkehr vom Konsumismus bedeutet somit in den wohlhabenden Konsumgesellschaften letztlich immer auch De-Privilegierung. Vor dem Hintergrund dieser Analyse ergeben sich gegenüber dem herkömmlichen Nachhaltigkeitsmarketing fundamentale Unterschiede im Strategieansatz:

Das Ziel eines zukunftsorientierten Marketing ist nicht, ein Mehr an „nachhaltigem Konsum“ zu fördern, sondern die jetzt erforderlichen gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse zur (Neu-)Definition von Lebensqualität und Gemeinwohl unterstützend zu begleiten.

Ein zukunftsorientiertes Marketing unterstützt die Entwicklung eines Konsumnarrativs jenseits der bisherigen Wachstumslogik – jedoch ohne dabei den Inhalt vorzugeben oder gar eine Moral. Marketing bietet interessierten und progressiven Kund:innen (so wie in der Aufstellung repräsentiert vom gelb-memischen Kunden) vielmehr ein Forum zum Diskurs.

Ein zukunftsorientiertes Marketing wirkt als Resonanzverstärker möglicher anderer Konsum- und Produktionsweisen, indem es innovativen Kund:innen zuhört und deren Stimmen (medial) verstärkt.

Wie die intentionale Transformation zu gestalten ist, kann nur im gemeinsamen Diskurs entschieden werden. Es handelt sich um eine kollektive Suchbewegung und ist deshalb in ihren konkreten Inhalten offen – so wie es sich in der Aufstellung „Narrativ“ (Abbildung 11.6) auch gezeigt hat. Unstreitig ist jedoch, dass eine ressourcengerechte Konsum- und Produktionsweise eine Abkehr vom quantitativen Wachstumsparadigma verlangt. Ermächtigende Zukunftsbilder helfen Konsumierenden, bisherige materielle Normalitätsvorstellungen loszulassen und umzudeuten: Radfahren ist cooler als Autofahren, vegane Ernährung ist smarter als Fleischessen. Nun ist das individuelle Konsumhandeln zwar keineswegs entscheidend für die Transformation des Konsumsystems, doch mit seinen zielgruppengerechten positiven Erzählungen unterstützt ein zukunftsorientiertes Marketing Konsumierende, mit den als „Zumutung“ empfundenen Folgen des Wandels – Stichwort materielle und soziale De-Privilegierung – besser umzugehen. Marketing leistet letztlich einen wichtigen Beitrag zur politischen Stabilität in Zeiten gesamtgesellschaftlicher Umbrüche.

ad 2: In der iterativen Gesamtschau zeigen die Aufstellungsdaten das starke Bild von Konsumierenden, die auf gesellschaftlicher Ebene gemeinsam handeln. Im Unterschied zum herkömmlichen Nachhaltigkeitsmarketing, das einsame, verzweifelte oder wütende Konsumierende produziert, weil es sie regelmäßig daran scheitern lässt, die proklamierte „individuelle Verantwortung“ an Klimakrise und globaler Ungleichheit zu mindern, strebt ein zukunftsorientiertes Marketing das Empowerment, d. h. die Selbstermächtigung von Konsumierenden an. Marketing stärkt damit das Prinzip, das für anstehende Transformationsprozesse konstituierend ist: die Teilhabe am gesellschaftlichen Dialog.

Zur Frage nach dem transformativen Mandat von Marketing, gibt es in der Aufstellung „Narrativ“ den direkten Hinweis, dass Marketing den Auftrag, Narrativ in seiner Entwicklung zu begleiten und zu stützen, von den Kunden erhalten habe (Abbildung 11.6). Diese Beobachtung weckt in mir die Assoziation von Beteiligungsräten: Ähnlich den „Bürgerräten“, die ein ergänzendes Instrument der parlamentarischen Demokratie darstellen, könnten „Kundenräte“ ein Beteiligungsformat sein, in dem Kund:innen über Fragen von Produktion und Konsum verhandeln, abstimmen und Vorschläge erarbeiten – und Marketing hört dabei genau zu.Footnote 5 Kund:innen würden über dieses Instrument als aktiv handelnde Akteur:innen in den Transformationsprozess systematisch einbezogen und gehört – ein abduktives Bild, das bereits in der Aufstellung „Attitude-Behaviour Gap“ (These ABG.6) in meinem Inneren kurz aufgetaucht ist.

Die entwickelte Kategoriengruppe „Selbstermächtigung – Empowerment – Partizipation – Beteiligung – Teilen“ führt mich assoziativ direkt zum Englischen „shares“. Das Wort leitet sich ab von „Anteile aufteilen; mit anderen (etwas) genießen oder erleiden“. Im modernen Sprachgebrauch sind „shares“ ein Begriff aus der Finanzwelt: „Aktien“. Im Deutschen bekannt ist auch die umgangssprachliche Redewendung „keine Aktien in etwas haben“, wenn jemand kein Interesse an etwas hat. Dieser etymologische Exkurs lässt mich unmittelbar an meine vorhergehende Interpretationsidee der Kundenräte anknüpfen:

Kund:innen zu beteiligen bedeutet – konsequent zu Ende gedacht – nicht allein, sie nach ihren Ideen zu fragen, sondern auch, sie strukturell zu beteiligen.

Es gibt Beispiele, wo dies bereits Realität ist: in Genossenschaften oder neuen Vertriebsmodellen wie der Solidarischen Landwirtschaft. Konsumwandel wird in solchen partizipativen Strukturen nicht als eine Entwicklung erlebt, der die einzelne Person ohnmächtig ausgeliefert ist, sondern an der sie einen Anteil hat – vielleicht sogar buchstäblich in Form einer Unternehmensbeteiligung.