Die aktuelle Studie zum Naturbewusstsein der Deutschen BMU & BfN (2018) bestätigt erneut das seit Jahrzehnten beobachtete Paradox, dass ein hohes Umweltbewusstsein nicht immer zu nachhaltigerem Konsum führt. Fast allen Konsumierenden – 96 Prozent der EU-Bürger:innen – ist Umweltschutz wichtig, doch die wenigsten – 20–30 Prozent – ändern ihr Alltagsverhalten tatsächlich:

„Eine hohe Bereitschaft, selbst zum Schutz der biologischen Vielfalt beizutragen, führt nicht zwangsläufig zu ökologisch nachhaltigem Konsum.“ (BMU & BfN, 2018:53)

1 Erkenntnisinteresse der Aufstellung „Attitude-Behaviour Gap“

Das destruktive Wechselspiel des grün-memischen Kunden mit der Intervention National, das ich im vorhergehenden Kapitel zur Aufstellung „Kommunikationsstrategien“ beschrieben habe, hat mich nachdrücklich beunruhigt. Ich bin mir intuitiv sicher, dass an diesen Bildern etwas Entscheidendes für Marketing zu lernen ist. Meine Beobachtungen führen mich zurück auf eine frühere Aufstellung vom Februar 2018, deren Auswertung mich zum damaligen Zeitpunkt überforderte – und die ich deshalb beiseite gestellt hatte. Mein ursprünglicher Fokus bei dieser Aufstellung lag auf einem Phänomen, das in der Konsumforschung als ein zentrales Forschungsfeld gilt: der sogenannten „Attitude-Behaviour Gap“, also der Kluft zwischen Umweltbewusstsein und tatsächlichem Konsumverhalten. Ein umfassendes Verständnis dieses „paradoxen Verbraucherverhaltens“ gilt als zentral bei einer anstehenden Transformation des Konsumsystems. Für die Konzeption eines anderen, zukunftsfähigen Marketing sollte es daher ebenfalls wertvoll sein. Mein ursprüngliches Erkenntnisinteresse war, den Weg des Kunden „vom Wissen (bzw. Bewusstsein) zum Handeln“ nachzuzeichnen: Wo liegen die Hürden; was hindert Konsumierende, sich gemäß dem als richtig Erkannten zu verhalten? Um dabei alle essenziellen Dimensionen abzubilden, hatte ich mich für eine Erkundungsaufstellung entlang dem AQAL-Modell nach Ken Wilber entschieden.

Vor dem Hintergrund der Analyse der Aufstellung „Kommunikationsstrategien“ im vorigen Kapitel 9 erkenne ich in dem holistischen Setting der Aufstellung einen wichtigen zusätzlichen Erkenntniswert. Aus einer integralen Perspektive ist es möglich, sehr genau zu erfassen, wie Marketing im Transformationsprozess „vom Wissen (bzw. Bewusstsein) zum Handeln“ wirkt: Wie verhält sich herkömmliches Nachhaltigkeitsmarketing, welche Wirkung kann demgegenüber ein anderes, auf Zukunft ausgerichtetes Marketing entfalten? Welche Unterschiede in den systemischen Wechselwirkungen – und zwar jeweils aufgeschlüsselt nach den vier unterschiedlichen Dimensionen bzw. Wirklichkeiten – sind zu beobachten?

2 Steckbrief der Aufstellung „Attitude-Behaviour Gap“

Die Aufstellung wurde am 8. Februar 2018 im Rahmen eines Doktorand:innen-Workshops von Professor Dr. Georg Müller-Christ an der Universität Bremen realisiert. Leiterin der Aufstellung war die Doktorandin Merle Tegeler. Als Stellvertretende agierten in der Aufstellungsarbeit erfahrene Doktorand:innen.

2.1 Format

Die Aufstellung simuliert den Entwicklungsweg eines prototypischen Kunden „vom Wissen (bzw. Bewusstsein) zum Handeln“. Dazu habe ich die vier Perspektiven nach Wilbers Vier-Quadranten-Modell in das Format der Dilemma2-Aufstellungen (Abschnitt 2.3.5) übertragen. Das Setting ist doppelt-verdeckt; die Repräsentanten hatten also weder Kenntnis vom Kontext noch von der eigenen Rollenzuschreibung. Die Stellvertretenden wählten sich ihre Rollen intuitiv selbst, indem sie jeweils eine Buchstaben- bzw. Zahlenkarte wählten, deren Zuordnung für sie verdeckt war. Zur Einweisung legte ich jeweils meine rechte Hand auf die Schulter der Repräsentanten und nannte dabei im Stillen die entsprechende Rolle.

2.2 Theoretischer Bezugsrahmen: AQAL-Modell

Das AQAL-Modell ist ein Metamodell, das Ken Wilber (1995; 2001a/2010; vgl. ausführlich Abschnitt 4.4) auf der Grundlage seiner Analyse von über 100 Theorien und Modellen der Natur-, Geistes- sowie angewandten Religionswissenschaft entwickelt hat. Nach dem Modell gibt es vier unterschiedliche Perspektiven, dasselbe Ereignis zu betrachten: die der individuellen Absicht und des individuellen Verhaltens sowie die der Kultur und der äußeren Systembedingungen. Keine der vier Perspektiven kann durch die Linse einer der anderen verstanden werden. Die vier Quadranten sind gleichberechtigt und sie wirken gleichzeitig:

„Alle vier Quadranten mit all ihren Wirklichkeiten stehen in Wechselwirkung miteinander und entwickeln sich gemeinsam (…) und ein integraler Ansatz muss diese reich strukturierten Muster unbegrenzter Interaktion berücksichtigen.“ (Wilber, 2001a/2010:66)

2.3 Inszenierungsraum

Den Inszenierungsraum habe ich mit vier Polen Individuell und Kollektiv sowie Innen und Außen angelegt. Damit sind die vier essenziellen Perspektiven berücksichtigt, die wirkungsvolle Konzepte gemäß AQAL-Modell enthalten müssen, um nicht von Kräften und Faktoren aus den nicht einbezogenen Quadranten „sabotiert“ (Wilber, 2001a/2010:111) zu werden. Der Weg „vom Wissen (bzw. Bewusstsein) zum Handeln“ führt innerhalb dieses Feldes vom Quadranten der individuellen Absicht (oben links; OL) über die beiden kollektiven Dimensionen der Kultur (unten links; UL) sowie der äußeren Systembedingungen (unten rechts; UR) hin zum Quadranten des individuellen Verhaltens (oben rechts; OR) (Abbildung 10.1).

Abbildung 10.1
figure 1

(Eigene Abbildung)

Der Weg vom Wissen zum Handeln durch die vier Quadranten des AQAL-Modells.

2.4 Elemente

In dieser Aufstellung brachte ich Elemente zusammen, die ich bereits in vorigen Aufstellungen ins Feld geschickt hatte: Kunde ist wieder definiert als prototypischer nicht-gewerblicher, privater Abnehmer in der Konsumgesellschaft. Beim Marketing unterscheide ich diesmal zum einen Green Marketing (GM) d. h. ein Marketing, das in seiner herkömmlichen, betriebswirtschaftlichen Funktion innerhalb von Nachhaltigkeitsbezügen agiert, sowie zum anderen Zukunftsorientiertes Marketing (ZOM) als ein (von mir in Kapitel 7 zur Aufstellung „Das innere Wesen des Marketing“ vorläufig skizziertes) inhaltlich noch unbestimmtes, amorphes Konzept eines umwelt- und sozialverträglichen, ressourcenorientierten Marketing.

3 Ablauf der Aufstellung „Attitude-Behaviour Gap“

Die im Folgenden beschriebene Aufstellung „Attitude-Behaviour Gap“ dauerte 55 Minuten und gliederte sich in vier Phasen. In einem geleiteten Prozess wurde der Kunde sukzessive durch die vier Dimensionen des integralen Quadranten-Modells geführt. Die zwei Formen des Marketing – Green Marketing (GM) sowie Zukunftsorientiertes Marketing (ZOM) – sind freie Elemente und können sich jederzeit, ohne vorherige Aufforderung der Aufstellungsleitung bewegen. Zunächst wies ich alle Stellvertretenden verdeckt in ihre Rollen ein. Danach definierte die Aufstellungsleiterin den Inszenierungsraum der Aufstellung, indem sie die vier Repräsentanten der Pole gemäß dem AQAL-Modell positionierte.

3.1 Phase 1: Quadrant oben links

Der Quadrant oben links (OL) ist im AQAL-Modell die Ich-Position, die subjektive Innensicht.

  • ZOM findet seinen Platz außerhalb des Quadranten; der Blick ist auf den Kunden gerichtet.

  • GM stellt sich innerhalb des Quadranten, direkt hinter den Kunden.

  • GM merkt an, dass sich ZOM auf einer Ebene befinde, wo es selbst nicht mitgehen könne: „Ich weiß nicht, ob ich den Veränderungen, für die ZOM steht, gewachsen bin. Das ist zurzeit aber nur ein Nebenschauplatz.“

  • ZOM beschreibt seine Beziehung zu GM als „Double Bind“: Es empfinde es als schön, dass GM da sei und gleichzeitig fühle es sich von ihm abgestoßen.

  • Der Pol Außen merkt an, dass die Aussagen von GM und ZOM nichts mit der aktuellen Konstellation zu tun hätten: „Die Stimmen von beiden kommen von weit weg, aus dem Off.“

Der Kunde konfrontiert sich mit Pol Innen.

  • Der Kunde fühlte sich in der Ich-Position „extrem zerrissen“ und beschrieb eine hohe Erwartungshaltung seitens des Pols Innen. Das innere Spannungsgefühl schwindet, sobald er sich voll und ganz auf Innen, also die subjektive Perspektive konzentriert. Obwohl diese Innenschau sehr schön sei, könne er nicht in ihr verweilen: „Es ist wie ein Chef, der was mit seiner Sekretärin angefangen hat. Er kann nicht bleiben, weil er eine Familie hat.“

  • Der Kunde nimmt das ZOM wahr als ein noch in der Ferne liegendes Ziel.

  • ZOM beschreibt seine Verbindung zum Kunden als positiv-zugewandt, aber ebenfalls als lose: „Ich habe nicht die Mission, den Kunden zu schützen.“

  • Der Kunde fühlt sich gestärkt vom GM.

  • GM korrigiert den Kunden, dass es nicht sein Ziel sei, den Kunden zu stärken; vielmehr wolle es den Kunden in eine bestimmte Richtung dirigieren: „Meine Challenge hier ist es, den Kunden anzupieksen, damit er sich ins System hineindreht“.

Abbildung 10.2
figure 2

(Eigene Darstellung)

Die Kunden-Marketing-Beziehung in der Ich-Position.

Die Abbildung 10.2 zeigt das 3D-Raumbild mit Invivo-Kodes der Repräsentanten im Quadranten oben links (OL). Die Ich-Position im Quadranten-Modell fungiert als „Navigator“ mit der Aufgabe, „die multiplen Wellen, Zustände, Strömungen und Bereiche zu einer Art einheitlicher Organisation zusammenzuhalten“ (Wilber, 2001a/2010:68). Diesem inneren Kurs zu folgen, fällt dem Kunden im Kontext von „nachhaltigem Konsum“ schwer; er fühlt eine innere Zerrissenheit. GM und ZOM nehmen gegenüber dem Kunden unterschiedliche Perspektiven ein.

3.2 Phase 2: Quadrant unten links

Der Quadrant unten links (UL) ist im AQAL-Modell die Wir-Position. Hier sind Kultur bzw. die intersubjektiven Muster im inneren Bewusstsein einer Gruppe verortet.

  • Der Kunde erkennt GM: „Zum ersten Mal nehme ich GM richtig wahr.“

  • Ähnlich ergeht es GM und schwärmt: „Das erste Mal fällt mir auf, wie schön der Kunde eigentlich ist: zerbrechlich, aber trotzdem stark.“

  • ZOM hingegen hat am Geschehen keinen Anteil mehr. ZOM begründet: „Meine Energie verschwand in dem Moment, als die Spannung zu GM aufgelöst wurde.“

Der Kunde konfrontiert sich mit Pol Kollektiv.

  • Der Pol Kollektiv fühlt sich vom Kunden bedrängt, den er als „Rotzbengel, der Ärger machen will“ bezeichnet und übt einen verbalen Gegenschlag: „Zwei Fäuste in der Tasche, die das Ziel suchen, und das ist der Kunde.“

  • Der Kunde zeigt sich amüsiert: „Ich finde es lustig, in welchen Schwingungszustand ich Kollektiv versetzen kann.“

  • GM kommentiert, dass der Kunde seinen Einfluss auf Pol Kollektiv überschätze und fügt nachdenklich hinzu: „Ich vermute, dass ich selbst dazu beigetragen habe.“

  • GM versucht zwischen Kunde und Kollektiv zu vermitteln, indem es den Wert der kollektiven Perspektive hervorhebt. „Kollektiv hat eine Qualität, die der Kunde gut gebrauchen könnte.“

  • Pol Kollektiv fällt es schwer, dieser konstruktiven Sicht zu folgen: „Ich habe eine Schwäche in mir, aber eher geht der Kunde zu Boden.“

  • ZOM bleibt unbeteiligt.

  • Pol Außen kommentiert: „ZOM ist genauso stark wie alles andere zusammen, was hier im Feld geschieht.“

Abbildung 10.3
figure 3

(Eigene Darstellung)

Die Kunden-Marketing-Beziehung in der Wir-Position.

Die Abbildung 10.3 zeigt das 3D-Raumbild mit Invivo-Kodes der Repräsentanten im Quadranten unten links (UL). In der Wir-Position, in der Kultur bzw. die intersubjektiven Muster im inneren Bewusstsein einer Gruppe verortet sind, wird zwischen dem Kunden und Pol Kollektiv ein Konflikt virulent, zu dem GM – ungeplant – beigetragen hat. ZOM bleibt unbeteiligt, obwohl es über großes Wirkpotenzial verfügt. ZOM vermisst die Spannung zu GM.

3.3 Phase 3: Quadrant unten rechts

Der Quadrant unten rechts (UR) ist im AQAL-Modell die Sie-Position und beschreibt die äußeren Rahmenbedingungen, die eine Gesellschaft prägen.

  • GM stellt sich außerhalb des Systems, unterhalb des Feldes UR.

  • GM hat nach eigenen Angaben „experimentierfreudig eine Metaposition“ eingenommen, um „etwas mehr auf die Ebene von ZOM“ zu kommen. Die Kundenbindung beschreibt GM in der neuen Position als abgeschwächt, empfindet den Kunden an sich jedoch als erstarkt.

  • ZOM bleibt an seinem Platz, verfolgt das Geschehen jedoch mit den Augen. ZOM fühlt sich energievoller durch die Perspektivveränderung. Die Positionsveränderung von GM habe daran jedoch keinen Anteil, betont ZOM. Es habe „wacklige, schwache Beine“ und fühle sich jetzt als zum System zugehörig, und zwar über die Perspektiven Individuell sowie Außen. ZOM nimmt sich selbst wahr als „Aura“, „etwas Energetisches“, „eine Stimmung“.

Der Kunde positioniert sich gegenüber Pol Außen.

  • Der Kunde ist positiv überrascht: Ein „toller Effekt“ sei sein nun veränderter Blick auf ZOM. Der Kunde sieht in ZOM „das Licht am Ende des Tunnels“: „Und dazu ZOM. Das lässt alles andere hier fast vergessen!“

  • Pol Außen teilt die Auffassung des Kunden und merkt an, dass ZOM nicht im System stehen müsse, um zu wirken.

  • Pol Kollektiv hat ebenfalls Gefallen an ZOM. Es sei das einzige Element, das sich ihr nähern dürfe: „ZOM könnte bei mir stehen, als Partner oder Ehefrau.“

  • GM teilt die allgemeine Euphorie nicht: „ZOM ist eine Fata Morgana, die dem Kunden zwar Mut gibt, aber nichts verändern wird.“ GM gibt jedoch zu, dass es die Ausstrahlungskraft von ZOM ebenfalls wahrnehme und eifersüchtig sei.

  • ZOM ist über die ablehnende Haltung von GM überrascht: „Ich hatte das Gefühl, der Konflikt ist jetzt weg.“

Abbildung 10.4
figure 4

(Eigene Darstellung)

Die Kunden-Marketing-Beziehung in der Sie-Position.

Die Abbildung 10.4 zeigt das 3D-Raumbild mit Invivo-Kodes der Repräsentanten im Quadranten unten rechts (UR). In der Sie-Position, in der die äußeren Rahmenbedingungen bzw. das Gesellschaftssystem verortet ist, kann sich die Strahlkraft von ZOM entfalten. Die Aussicht des Kunden verändert sich dadurch – für diesen selbst überraschend stark – zum Positiven. GM reagiert auf ZOM mit Eifersucht.

3.4 Phase 4: Quadrant oben rechts

Der Quadrant oben rechts (OR) ist im AQAL-Modell die Es-Position; die objektive Außenperspektive eines individuellen Ereignisses.

  • Der Kunde fühlt sich hier nur eingeschränkt handlungsfähig: „Hier kann ich nicht mehr alle Komponenten einsammeln, die ich bräuchte. Wenn es im Quadranten UR 100 Prozent waren, sind es hier vielleicht noch ein Viertel.“

  • Der Kunde zieht Resümee: „Mit Abstand am wohlsten habe ich mich in der Sie-Position (UR) gefühlt. Den Pol Kollektiv empfand ich am unangenehmsten. Das gute Gefühl zu Innen war ein Strohfeuer, eine kurze Liebe. Mit den Polen Individuell und Außen bin ich freundschaftlich verbunden. GM ist wie ein netter Mitschüler. Der Star ist ZOM.“

  • GM analysiert ebenfalls den bisherigen Prozess: Der Kunde sei nun nicht mehr „mein Kunde“, zumindest nicht mehr das, was es einst im Kunden gesehen habe. GM schätzt, dass es selbst nun keine Rolle mehr habe: „Ich bin zurückgelassen worden. Alte Gebrechliche können nicht mit über den Weg steigen.“

  • ZOM bedauert diese negative Bilanz von GM: „Komme doch ein Stück näher und gehe nicht raus!“

  • Der Pol Innen kann seinen Unmut kaum noch zurückhalten. Es platzt aus ihm heraus: „Niemand hat gecheckt, dass man vielleicht einen Wunsch oder Traum haben kann, aber dass der Traum einfach nicht umzusetzen ist. Ich bin die Realität!“

Abbildung 10.5
figure 5

(Eigene Darstellung)

Die Kunden-Marketing-Beziehung in der Es-Position.

Die Abbildung 10.5 zeigt das 3D-Raumbild mit Invivo-Kodes der Repräsentanten im Quadranten oben rechts (OR). Der Kunde fühlt sich in der Es-Position nur eingeschränkt handlungsfähig. Die objektive Außenperspektive wird jedoch von allen Elementen zur Analyse des Gesamtprozesses genutzt: Der Kunde betont, dass er sich mit Blick auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, in der Sie-Position (UR) am wohlsten gefühlt habe. Aus Sicht von GM hat der Kunde eine umfassende Transformation durchlaufen. GM bemerkt demütig, dass es mit den Veränderungen nicht mithalten kann. ZOM möchte GM nicht so einfach aufgeben und lädt GM zum Wandel ein. Der Pol Innen ist ungehalten und fühlt sich zurückgesetzt.

4 Auswertung der Aufstellung „Attitude-Behaviour Gap“

Die Paradigma-Darstellung zur Aufstellung „Attitude-Behaviour Gap“ ist im elektronischen Zusatzmaterial einsehbar.

4.1 Theorie-Memos

Die in der Paradigma-Darstellung strukturierten Kodierungsansätze führe ich beim Memo-Schreiben zu hypothetischen Ideen aus, die ich wiederum mittels Perspektiven-Triangulation reflektiere. Bei der Aufstellung „Attitude-Behaviour Gap“ nutze ich die triangulierende Perspektive nicht allein um die wissenschaftliche Anschlussfähigkeit meiner Analyseansätze zu prüfen. Vor allen Dingen dient sie mir als Inspirationsquelle in einem spielerisch-kreativen Interpretationsprozess.

Mit der Aufstellung „Attitude-Behaviour Gap“ untersuche ich, wie Marketing im Transformationsprozess „vom Wissen (bzw. Bewusstsein) zum Handeln“ auf Kunden wirkt. Mein Hauptinteresse gilt den Unterschieden zwischen einem herkömmlichen Nachhaltigkeitsmarketing („Green Marketing“) und einem anderen, zukunftsorientierten Marketing im prozessbegleitenden Wirkungsgefüge, das ich analytisch unterteilt habe in die vier essenziellen Perspektiven nach Wilbers Vier-Quadranten-Modell (ausführlich dargestellt in Abschnitt 4.4).

4.1.1 Quadrant oben links

Kategorien: zerrissen zwischen Affäre und Rollenerwartung (Kunde); Lenken des Kunden (GM); keine Eingriffe ins Innere des Kunden (ZOM)

Beobachtung: In der Ich-Position, in der die subjektive Innensicht verortet ist, fühlt der Kunde eine starke innere Zerrissenheit zwischen seiner „Geliebten“ (Pol Innen) und weiteren mit der Rolle verbundenen Verpflichtungen. Zudem hat der Kunde die – falsche – Erwartungshaltung gegenüber GM, es sei dessen Ziel, den Kunden zu stärken. Denn GM hat etwas anderes im Sinn: den Kunden „anpieksen, damit er sich ins System hineindreht“. Weiterhin zeigen sich grundsätzliche Unterschiede zwischen herkömmlichen und einem anderen, zukunftsorientierten Marketing in ihrem Verhältnis zum Kunden. Welche (neuen) Informationen enthält diese Sequenz für die Kundenrolle im Kontext von „nachhaltigem Konsum“ – und damit für eine andere, zukunftsorientierte Kunden-Marketing Beziehung?

Interpretation: In dieser Sequenz zeigt sich deutlich die Ambivalenz, der sich Kund:innen im Bereich von „nachhaltigem Konsum“ gegenübersehen. Kund:innen fühlen sich in ihrem Inneren vielleicht sehr angezogen von der Idee eines nachhaltigen Konsumstils. Doch sie wissen auch um ihre funktionelle Rolle im Konsumsystem; ihrer Verantwortung gegenüber der „Familie“, nämlich: ständig (und immer mehr) zu konsumieren. Denn Konsum ist die Bedingung für wirtschaftliches Wachstum, das (in der gegenwärtigen Konsumgesellschaft) als Grundlage für mehr Wohlstand und Lebensqualität gilt.

Kund:innen haben den Eindruck, dass das bisherige „Nachhaltigkeitsmarketing“ sie unterstützen will, die widersprüchlichen Wünsche und Rollenerwartungen miteinander in Einklang zu bringen.

Doch dies ist ein Irrtum: Ein Green Marketing, das nach der herkömmlichen Logik der Erwerbs- und Effizienzsteigerung operiert, hat nicht zum Ziel, Kund:innen in ihrer „Liebe zur Umwelt“ zu bestärken. Seine Funktion besteht vielmehr darin, Kund:innen auf (Konsum-)Kurs zu halten. Deshalb verfolgt es die Strategie, Konsum als Problemlösung zu verkaufen: Mit jedem Kauf die Welt verbessern! – Dieses Werbeversprechen ist im wahren Wortsinn irreführend und forciert letztlich, dass der Kunde dem zuwider handelt, für das er in seinem Inneren brennt: der Idee eines nachhaltigen Konsumstils.

Im Unterschied zum herkömmlichen Green Marketing sieht ein anderes, zukunftsorientiertes Marketing für sich keinen Handlungsauftrag auf der Ebene der Ich-Position. Sein Blick auf den „in Liebe entflammten“ Kunden ist wohlwollend gewährend und ohne jede Absicht, dessen subjektive Innensicht in eine andere Richtung zu lenken. Daraus schließe ich: Der Kundendialog im zukunftsorientierten Marketing setzt auf einer anderen strategischen Ebene an als im herkömmlichen „Nachhaltigkeitsmarketing“. Moralische Appelle an den:die einzelne:n Kund:in gehören nicht zum Repertoire eines zukunftsorientierten Marketing.

Perspektiven-Triangulation: Ich sehe in der beschriebenen „Zerrissenheit“ des Kunden ein frappierend genaues Abbild der sogenannten „Attitude-Behaviour-Gap“. In der Konsumforschung wird der Widerspruch zwischen dem Wollen und Handeln von Konsumierenden als ein zentrales Phänomen diskutiert (z. B. Carrington et al. 2010; Chatzidakis et al., 2007). Die Forschung lässt sich hier im Wesentlichen in zwei „Lager“ (Caruana et al, 2016:215 ff.) teilen: Die eine Gruppe konzentriert sich, ausgehend von Modellen des rationalen Verbraucherverhaltens, auf Ansätze aus der Psychologie und Verhaltensforschung (z. B. Ajzen, 1985; Armitage & Connor, 2001; Frey et al., 1993). Die andere Gruppe konzentriert sich weniger auf das individuelle Verhalten von Verbraucher:innen und stellt Konsumentscheidungen in einen breiteren sozialen, historischen und kulturellen Kontext (z. B. Bengtsson et al., 2018; Lorek & Vergragt, 2015; Tukker et al., 2009). Die britische Konsumforscherin Seonaidh McDonald et al. (2016) bringen den Unterschied zwischen den beiden Forschungsansätzen pointiert zum Ausdruck:

„We need to treat gaps between attitudes and behaviours as signs of these norms at play rather than misinterpreting them as laziness or stupidity on behalf of the consumer.“ (McDonald et al., 2016:164)

Ich halte beide Forschungsansätze – den Fokus auf individuelle Motivlagen sowie die systemische Analyse gesellschaftlicher Bedingungen – für erklärungskräftig und denke, dass sich die Erkenntnisse beider „Lager“ gegenseitig befruchten. Mit Blick auf die bisherigen Aufstellungsdaten vermute ich jedoch, dass für mein Forschungsgebiet der systemische Blick auf das Phänomen der Attitide-Behaviour-Gap eine höhere Relevanz hat.

Die Aufstellungssequenz in QOL erinnert mich stark an ein Zitat von Armin Grunwald (2014), der in seinen Arbeiten ebenfalls eine systematische Überforderung von Konsumierenden konstatiert. Der Physiker und Philosoph beschreibt – mit etwas anderen Worten – ein sehr ähnliches Bild, wie es der Kunde für sein „Verhältnis“ zu Pol Innen wählt:

„Die Konsumgesellschaft lebt zu einem guten Teil von diesem Kommen und Gehen von Moden. In einem solchen System eine stabile Orientierung der Konsumentinnen und Konsumenten an Grundsätzen nachhaltiger Entwicklung zu erwarten, erscheint zumindest mutig. Sich die Orientierung an Nachhaltigkeit als stabile Größe in den Modewellen des Konsums vorzustellen, fällt nicht leicht.“ (Grunwald, 2014:18)

Auch den Irrtum des Kunden bezüglich GM finde ich bei Grunwald (2012) beschrieben. Er nennt den Versuch, die Probleme der Konsumgesellschaft durch grünen Konsum zu lösen, eine „gefährliche Illusion“:

„Es ist eine gefährliche Illusion und bloßer Selbstbetrug, die Wende zur Nachhaltigkeit allein oder auch nur hauptsächlich von den Konsumenten und vom privaten Umwelthandeln zu erwarten.“ (Grunwald, 2012:14)

These ABG.1: Kund:innen, die für Nachhaltigkeit sensibilisiert sind, befinden sich in einem inneren Konflikt zwischen persönlichem „Naturbewusstsein“ einerseits und den Anforderungen der Konsumgesellschaft andererseits. Herkömmliches Green Marketing bietet vermeintlich einen Ausweg aus diesem Dilemma: Grüner Konsum rettet die Welt! Ein Trugschluss, denn das oberste Ziel von Green Marketing ist es, Kund:innen weiterhin auf (Konsum-)Kurs zu halten.

These ABG.2: Das herkömmliche Nachhaltigkeitsmarketing versucht, direkten Einfluss auf das Wertesystem von Kund:innen auszuüben. Dies ist keine Strategie, die ein zukunftsorientiertes Marketing verfolgt.

4.1.2 Quadrant unten links

Kategorien: Hybris; Zauberlehrling

Beobachtung: In der Wir-Position, in der Kultur und gesellschaftliche Werte einer Gruppe verortet sind, entwickelt sich eine sehr starke negative Energie. Der Kunde ist der Hybris unterlegen, maßgeblichen Einfluss auf Kollektiv ausüben zu können. Auf Kollektiv wirkt das „rüpelhafte“ Auftreten des Kunden als äußerst grobe Provokation. Es hat den Eindruck, sich dagegen „schützen“ zu müssen. GM vermutet selbstkritisch, zur Selbstüberschätzung des Kunden beigetragen zu haben. Welche Hinweise enthält die Sequenz auf mögliche Stolpersteine und Fallstricke in der Nachhaltigkeitskommunikation mit Kund:innen?

Interpretation: Herkömmliches „Nachhaltigkeitsmarketing“ suggeriert Kund:innen, über grünen und ethischen Konsum „die Welt retten“ zu können. Das Versprechen der „Konsumentendemokratie“ (Bernays, 1928) ist beinahe allgegenwärtig: mit Bier könne Regenwald gerettet, mit Mineralwasser Brunnenbauprojekte gefördert und mit Fischstäbchen die Meere geschützt werden. Mit solchen Botschaften erzeugt Green Marketing bei manchen Konsumierenden eine (teilweise ins Extreme tendierende) Selbstüberschätzung und einen gewissen Hochmut. Ich denke dabei insbesondere an das stark wachsendeFootnote 1 Segment der LOHAS.

Herkömmliches „Nachhaltigkeitsmarketing“ verführt Kund:innen zu einer Hybris, jener „Selbstüberhebung des Menschen, bes. gegenüber der Macht der Götter, die deren Neid und Zorn herausfordert (Brockhaus, 1984:110). Der „Gott“, dessen Zorn in der repräsentierenden Wahrnehmung herausgefordert wird, ist – so interpretiere ich die Sequenz – das Wertesystem der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Die Aufstellungssequenz verstehe ich als eine demokratietheoretische Warnung: Die Politisierung von Konsum suggeriert, dass Politik durch Konsum zu ersetzen sei – was impliziert, dass einkommensreiche Menschen über mehr gesellschaftliche Mitwirkungsbefugnisse verfügen als die weniger Wohlhabenden. Dies widerspricht einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung, namentlich dem allgemeinen Gleichheitssatz nach Art. 3 GG. Soziale Fragen der Verteilungsgerechtigkeit sind bei einer Transformation des Konsumsystems zentral. Das Ziel ist ja nicht das bloße Überleben der Spezies Mensch, sondern der Schutz von grundlegenden, gesellschaftspolitisch errungenen Werten wie Frieden, Freiheit, Solidarität und Teilhabe.

Mit seinem Erstaunen, zur Selbstüberschätzung des Kunden beigetragen zu haben, erinnert mich GM an Goethes Zauberlehrling, der nicht um die Wirkmächtigkeit der Mittel weiß und folglich keine Kontrolle über sein Handeln hat. In dieser Sequenz zeigt sich für mich erneut – wie bereits in der Aufstellung „Kommunikationsstrategien“ (Kapitel 9) – die dringende Notwendigkeit, dass ein Marketing, das einen transformativen Konsumwandel i. S. einer grundlegenden Neuorientierung des Systems wirkungsvoll begleiten möchte, die Komplexität des gesamtgesellschaftlichen Kontextes, vor dem es agiert, adäquat analysiert und mögliche Wechselwirkungen auf das Gemeinwohl im Blick behält.

Perspektiven-Triangulation: In der Forschungsliteratur finde ich einige kritische Analysen zur „Politik mit dem Einkaufswagen“ (Baringhorst et al., 2007), einer „Privatisierung der Verantwortung“ (Hartmann, 2009; 2018; Weiss & Werner-Lobo, 2016;) sowie zum drohenden „Verfall demokratischer Partizipationskultur durch den Narzissmus und die Bequemlichkeit reiner Sofa-Aktivisten“ (Morozov, 2012 zitiert nach Yang & Baringhorst, 2017:193). Bereits in einer Stellungnahme des wissenschaftlichen Beirats Verbraucher- und Ernährungspolitik beim BMELV (Schrader et al., 2013) wird vor dem „simplifizierenden Begriff der Konsumentendemokratie“ gewarnt:

„Einen simplifizierenden Begriff der Konsumentendemokratie, der impliziert, dass der Souverän nicht das Wahlvolk, sondern die Konsumenten wären, halten wir deshalb für verfehlt. Konsumentensouveränität wird durch zahlreiche Restriktionen eingeschränkt und ist systematisch nicht erreichbar. Viel stärker als bei Bürgern in einer funktionierenden Demokratie hängt der Einfluss von Konsumenten auf Märkten auch von den zur Verfügung stehenden finanziellen Ressourcen ab. Wahlzettel haben alle Wahlberechtigten in gleicher Zahl, über Geldscheine verfügen Konsumenten in höchst unterschiedlichem Ausmaß. Zudem sind die Möglichkeiten, über Konsumentscheidungen individuell Einfluss auf Markt und Gesellschaft zu nehmen, von Voraussetzungen abhängig, die – wie oben angesprochen – von anderen Akteuren geschaffen oder nicht geschaffen werden.“ (Schrader et al., 2013:6)

Die Kritik an der Idee einer Konsumentendemokratie hat mittlerweile auch Eingang in allgemeinere gesellschaftspolitische Diskurse gefunden. So kritisiert die Juristin und Autorin Juli Zeh (2020) in ihrem jüngsten Buch die „Umkehr der Verantwortungszusammenhänge“:

„Das Kaufen günstiger T-Shirts trägt zur Ausbeutung von Textilarbeitern in der Dritten Welt bei. Das mag sachlich alles richtig sein. Problematisch ist aber die Umkehr der Verantwortungszusammenhänge. Wenn es billige T-Shirts im Laden gibt, darf der Verbraucher diese auch kaufen. Den mündigen Bürger durch den schuldigen Konsumenten zu ersetzen, ist letztlich eine Absage an die Demokratie.“ (Zeh, 2020)

These ABG.3:

Green Marketing verführt Kund:innen dazu, ihre gesellschaftlichen Einflussmöglichkeiten zu überschätzen, indem es behauptet, der Einkaufszettel sei ein Stimmzettel. Die Politisierung von Konsum trägt tendenziell zu einer Verschärfung gesellschaftlicher Konfliktlagen bei und schwächt die freiheitlich-demokratische Grundordnung. Notwendige Transformationsprozesse werden dadurch noch zusätzlich erschwert.

4.1.3 Quadrant unten rechts

Kategorien: Licht am Ende des Tunnels; Fata Morgana; Aura; Partner oder Ehefrau; wacklige Beine

Beobachtung: In der Sie-Position, in der die äußeren Rahmenbedingungen bzw. das Gesellschaftssystem verortet ist, kommt ZOM ins Prozessgeschehen zurück. Wenngleich es weiterhin außerhalb des Feldes steht, beschreibt sich ZOM als zum System zugehörig – und zwar über die Pole Individuell sowie Außen. Die Wende an diesem Punkt, am Übergang von der linken zur rechten Seite des AQUAL-Modells ist für mich persönlich eine große Überraschung. Denn die Gesellschafts- und Systemtheorien, die ich als Bezugsrahmen meiner Arbeit nutze (vgl. Kapitel 4), betonen allesamt den gesellschaftlichen Bewusstseinswandel als Voraussetzung der Transformation.Footnote 2 Daher hatte ich erwartet, dass sich die Wirkkraft des ZOM bereits im Quadranten UL entfalten würde. Erklärende Hinweise – und damit wichtige Informationen zur strategischen Ausrichtung eines zukunftsorientierten Marketing – ergeben sich vielleicht aus den Reaktionen der anderen Akteure im Feld: Der Kunde ist von der neuen Perspektive, die ihm ZOM bietet, positiv überrascht. ZOM sei „das Licht am Ende des Tunnels“. Ein positive Veränderung stellt sich auch beim Pol Kollektiv ein: ZOM sei willkommen als „Partner oder Ehefrau“. GM hingegen fällt es schwer, sich auf die neue Situation einzustellen und nennt ZOM „eine Fata Morgana“ – aus Eifersucht, wie GM später einräumt.

Interpretation: Die Positionierung von ZOM außerhalb des Feldes in Verbindung mit Attribuierungen wie „Licht“, „Aura“, „Star“ lässt sich aus meiner Sicht eindeutig interpretieren: Ein anderes, zukunftsorientiertes Marketing wirkt auf Kund:innen über seine visionäre Strahlkraft. Zukunftsorientiertes Marketing gibt Kund:innen die notwendige Orientierung („Star“) und wirkt ermutigend („Licht am Ende des Tunnels“). Dieser Interpretation widerspricht auch nicht die von GM diffamierend gemeinte Bezeichnung als „Fata Morgana“. Eine Fata Morgana ist eine Luftspiegelung nach oben, wie sie über Wasser- oder Eisflächen oder auch bei Inversionswetterlagen auftreten kann: So können Dinge am Himmel sichtbar werden, die sich tatsächlich noch hinter dem Horizont befinden. Es handelt sich also „um ein physikalisches Phänomen und nicht um eine visuelle Wahrnehmungstäuschung oder optische Täuschung“ (Wikipedia, 2021).

Die Metapher der „Fata Morgana“ erscheint mir keineswegs zufällig gewählt. Ich sehe in ihr eine äußerst sinnfällige Beschreibung mit wichtigem Informationsgehalt: Der Schein des zukunftsorientierten Marketing ist kein Trugbild. Es handelt sich vielmehr um etwas Objektives: die Reflektion eines in der Zukunft liegenden Möglichkeitsraumes. Ein zukunftsorientiertes Marketing ermöglicht Konsumierenden, hinter den Horizont zu blicken; es zeichnet eine Vision von etwas, das in der Gegenwart noch nicht sichtbar ist, das aber dennoch existiert: weil es möglich ist! In diesem Bild konkretisiert sich für mich meine vorläufige These (WM.4; Abschnitt 7.4), dass Marketing – im Unterschied zu anderen verbraucherpolitischen Akteuren – über das besondere Potenzial verfügt, auch das, was (noch) nicht wahr ist, glaubwürdig zu kommunizieren.

Die visionäre Strahlkraft von ZOM erreicht den Kunden nicht wie von mir vermutet worden war, in der linksseitigen, inneren Wir-Position. In der Aufstellung zeigt sich stattdessen, dass ZOM in der rechtsseitigen, äußeren Sie-Position ansetzt, also dort, wo die die äußeren Rahmenbedingungen bzw. das Gesellschaftssystem verortet ist. Ich entnehme diesem Bild die folgende Information: Ein zukunftsorientiertes Marketing zielt nicht darauf, das gesellschaftliche Wertesystem zu beeinflussen. Sein strategischer Ansatz ist vielmehr, den Blick von Konsumierenden zu öffnen für andere, tatsächlich neue – gesellschaftliche wie individuelle – Handlungsmöglichkeiten. In dieser Funktion erscheint mir ZOM als ein Luhmannscher Beobachter 2. Ordnung. Es bietet eine Kommunikationsform, in der sich Individuum und Gesellschaft – Pol Individuell und Pol Außen – sowie Gegenwart und Zukunft strukturell koppeln. Im Sinne der Spiral Dynamics kann ein zukunftsorientiertes Marketing einen Beitrag zu einem gesamtgesellschaftlichen Aufwärts-Shift leisten. Ein solcher evolutionärer Aufstieg kann gelingen, selbst wenn umfassende Veränderungen anstehen, „weil ein paar Leute das Licht [Hervorhebung von mir] sehen, bevor alles zusammenbricht, und die Notwendigkeit für grundlegende Veränderungen erkennen, ohne die Barrieren frontal an greifen zu müssen“ (Beck & Cowan, 2007/2014:158). Eine Voraussetzung dafür ist das viel „Rohmaterial für innovatives Denken zur Verfügung steht“ (ebd.:159). – Diese Sequenz erscheint mir ganz entscheidend für die Strategieentwicklung eines zukunftsorientierten Marketing.

ZOM verweist in der Wir-Position bereits auf die nächste Dimension, den Raum zwischen Pol Individuell und Außen, QOR. Hier sei der Ort, über den es sich „zum System zugehörig fühlt“. Ich interpretiere dies als Hinweis darauf, dass Konsumwandel letztlich bedeutet, dass jede:r Einzelne ressourcenorientiert handelt; hier also die Motivation von ZOM liegt, mit dem System in Verbindung zu treten. Eine – ich vermute sehr wichtige – Frage zu diesem Bild bleibt jedoch für mich offen: Warum sagt ZOM, es habe „wacklige Beine“? Was braucht ZOM, um stabil zu werden?

Perspektiven-Triangulation: Die Metapher „Fata Morgana“ ist nicht weit von jenem Bild des Regenbogens, das Charles Richard Snyder (2002) für Hoffnung geprägt hat:

“A rainbow is a prism that sends shards of multicolored light in various directions. It lifts our spirits and makes us think of what is possible. Hope is the same – a personal rainbow of the mind.” (Snyder, 2002:269)

Der US-amerikanische Sozialpsychologe bezeichnet Hoffnung als einen „Regenbogen des Geistes“, weil diese die Seele mit Energie versorge. Hoffnung gebe dem Menschen ein Ziel vor Augen. Charles Richard Snyder vergleicht die psychologische Wirkung mit der eines Regisseurs, der auf dem Filmset „Action!“ ruft. Hoffnung löse einen Denkprozess aus, um herauszufinden, auf welchem Wege sich eine Idee erreichen lasse.

Mir kommt dabei die Funktion in den Sinn, die Niklas Luhmann den Massenmedien in seiner Schrift „Die Realität der Massenmedien“ (1995a/2017) zuweist: die „Reproduktion von Zukunft“.

„Sie [die Massenmedien] leisten einen Beitrag zur Realitätskonstruktion der Gesellschaft. […] Zwar haben die Massenmedien keinen Exklusivanspruch auf Realitätskonstruktion. Schließlich trägt jede Kommunikation in dem, was sie aufgreift und in dem, was sie dem Vergessen überläßt, zur Realitätskonstruktion bei. Unentbehrlich ist jedoch die Mitwirkung von Massenmedien, wenn es um die weite Verbreitung, um die Möglichkeit anonymer und damit unvorhersehbarer Kenntnisnahme geht. Das heißt nicht zuletzt, so paradox dies klingen mag: wenn es darum geht, in den Reaktionen auf Kenntnisnahme Intransparenz zu erzeugen. Der Effekt, wenn nicht die Funktion der Massenmedien scheint deshalb in der Reproduktion von Intransparenz durch Transparenz, in der Reproduktion von Intransparenz der Effekte durch Transparenz des Wissens zu liegen. In anderen Worten heißt dies: in der Reproduktion von Zukunft [Hervorhebung von mir].“ (Luhmann, 1995a/2017:125)

Massenmedien konstruieren nach Luhmann Realität und stellen ein Deutungsangebot von der Welt bereit. Sie re-produzieren Wirklichkeit, indem sie ihr einen Resonanzraum bieten, gesellschaftlich gesehen und gehört zu werden. Auf diese Weise – als Resonanzverstärker – wirken Massenmedien mit am gesellschaftlichen Narrativ. Bei Georg Müller-Christ und Denis Pijetlovic (2018) finde ich eine Beschreibung über die Bedeutung von Narrativen in Transformationsprozessen.

„Einige Menschen haben schon eine Vorstellung davon entwickeln können, wie das System auf der nächsten Stufe aussehen könnte, sie übersteigen (transcendere) oder transzendieren die jetzige Erfahrungswelt der meisten anderen Beteiligten und haben die schwierige Aufgabe, das Emergierende, das Neue oder das Entstehende in die Erfahrungswelt der anderen zu übersetzen und diese damit auszuweiten. Eine Möglichkeit, in bestehende Erfahrungswelten Neues zu integrieren, entsteht durch Narrative. Gelungene und häufig gehörte Erzählungen erweiterten den Möglichkeitsraum und machen das Neue selbstverständlich. [Hervorhebung von mir] Aus diesem Grunde sind Narrative für Systeme im Übergang auch so wichtig (Mouna 2015).“ (Müller-Christ & Pijetlovic, 2018:12 f.)

Das Zitat lese ich vor dem Hintergrund der Aufstellungsbilder in Quadrant UR als Beschreibung einer möglichen Rolle eines zukunftsorientierten Marketing in Transformationsprozessen: Ein zukunftsorientiertes Marketing wirkt als Resonanzverstärker für gelungene Erzählungen von Zukunft. Mir ist nicht bekannt, dass ein solcher Ansatz in der Marketingwissenschaft oder -praxis verfolgt wird.

In der Literatur findet sich eine Reihe von Quellen, die eine gesellschaftliche Verantwortung des Marketing postulieren, die über das klassische Green Marketing hinausgeht. Diese münden in der Regel jedoch in philosophisch-moralischen Forderungen nach einem Bewusstseins- und Wertewandel. Beispielhaft das folgende Zitat:

„(…) Marketing [muss] künftig mit dazu beitragen, ein globales ethisches Bewusstsein zu schaffen, ein Weltethos: Konsensuale Moral muss zum Regulativ einer globalen Marktwirtschaft werden.“ (Scholz & Zentes, 2015:193)

Dass beim Nachdenken über zukunftsfähige Strategien auf die handlungsleitende Kraft anderer, positiver Zukunftsbilder gesetzt wird, kann ich in Marketingwissenschaft und -praxis hingegen nicht erkennen. Meine Beobachtung finde ich bei Thierry Libaert (2020) bestätigt, einem führenden Spezialisten für Organisationskommunikation. Im August 2020 skizziert er in der Le Monde die Idee, Marketing könne qua ihres Einflusses auf die Vorstellungskraft einen wichtigen Beitrag zum Erreichen der Klimaziele leisten. Dieses Potenzial sei bislang jedoch noch ungenutzt, führt der französische Kommunikationswissenschaftler aus:

„Im Kampf gegen den Klimawandel wurde alles oder fast alles versucht. Es wurden innovative Finanzierungsmechanismen geschaffen, technologische Innovationen gefördert und Stoffströme auf Grundlage der Kreislaufwirtschaft eingerichtet. Alle Hebel scheinen aktiviert worden zu sein. Alle außer dem wohl wichtigsten; demjenigen, an dem unser Gehirn anknüpfen kann, unsere Vorstellungskraft.“ (Libaert, 2020; übersetzt aus dem Französischen)

These ABG.4: Konsumwandel braucht eine Mut machende, Orientierung gebende Zukunftsidee davon, wie ressourcengerechter Konsum aussehen kann. Die erforderliche visionäre Strahlkraft entwickelt ein zukunftsorientiertes Marketing, indem es Konsumierenden Perspektiven aufzeigt, welche – kollektiven wie individuellen – Handlungsmöglichkeiten vorstellbar und möglich sind.

These ABG.5: Ein zukunftsorientiertes Marketing zielt nicht darauf, mittels moralischer Appelle das Wertesystem einer Gesellschaft zu beeinflussen. Sein strategischer Ansatz ist vielmehr, einen Blick hinter den Horizont zu ermöglichen: Es re-produziert Handlungsräume, die jenseits herkömmlicher (Konsum-)Möglichkeiten bereits heute in Nischen existieren. Somit zeichnet ein zukunftsorientiertes Marketing keineswegs ein Trugbild, sondern akzentuiert die Möglichkeiten einer im Entstehen begriffenen Zukunft.

4.1.4 Quadrant oben rechts

Kategorie: 100 % vs. 25 %

Beobachtung: Der Kunde hat auf dem Weg durch die vier Quadranten einen sichtbaren Entwicklungsprozess durchlaufen. GM bilanziert, der Kunde sei nun nicht mehr „mein Kunde“. Mit dem Übertritt in die rechtsseitigen Quadranten ist der Kunde „erstarkt“. im Quadranten UR fühlt sich der Kunde zu 100 Prozent handlungsfähig; in OR noch zu 25 Prozent. Diese vielschichtigen, doch eindeutigen Hinweise auf eine veränderte Verbraucherrolle lohnen eine detaillierte Analyse.

Interpretation: Den in der Aufstellung beobachteten Entwicklungsprozess des Kunden interpretiere ich als erneuten Hinweis darauf, dass das Leitbild der Konsumentensouveränität, worauf auch das herkömmliche Nachhaltigkeitsmarketing basiert, kritisch zu hinterfragen ist. Die Bilder bestätigen, dass der Einfluss des einzelnen Konsumierenden auf der individuellen Ebene (OR) begrenzt ist. Am wohlsten fühlt sich der Kunde in der Ausrichtung auf die äußeren Rahmenbedingungen (UR). Was bedeutet diese Beobachtung konkret?

Es ist eine Möglichkeit, die Aufstellungsdaten zu lesen als Rollenverschiebung von Konsumierenden zu politisch aktiven Bürger:innen, die über Petitionen, Volksentscheide oder Bürgerräte Einfluss aufs Produktions- und Konsumsystem nehmen. (Dies entspricht der Argumentationslinie vieler Autor:innen, die ebenfalls das Axion der Konsumentenmacht in Frage stellen.) Nach dem Vier-Quadranten-Modell können sich Handlungen innerhalb der Sie-Position (UR) jedoch auf ganz unterschiedliche Gesellschaftsbereiche beziehen. Die Beteiligung von Konsumierenden kann somit verschiedenste Formen annehmen. Da sich mein Forschungsgegenstand explizit auf die ökonomische Sphäre bezieht, die gemäß Luhmannscher Systemtheorie von der politischen Sphäre analytisch zu trennen ist, möchte ich die Aufstellungsdaten als Hinweis auf eine andere Rolle von Konsumierenden innerhalb der ökonomischen Sphäre interpretieren. Diese Lesart ist anschlussfähig an meine These einer zusätzlichen Funktion von Kund:innen (These WM.7, Kapitel 7). Wie lässt sich diese andere Kundenrolle beschreiben?

Mit dem Wechsel in den rechtsseitigen Quadranten UR beschreibt GM den Kunden als „erstarkt“. Dieser Invivo-Kode führt mich zur Assoziation des Empowerment von Kund:innen im Rahmen kollaborativer Konsum- und Ko-Produktionsmuster. Im herkömmlichen Verständnis sind Konsumierende reduziert auf den (individuellen) Akt des Konsums; im Marketing überdies enggeführt auf den Teilaspekt des Kaufens. Dabei sind noch andere, nicht rein reaktive Handlungsoptionen für Kund:innen vorstellbar und auch empirisch beobachtbar. Stichworte sind u. a. Car-Sharing, Urban Gardening, Teil- und Tauschbörsen, Do-it-yourself Plattformen und Bürgerenergiegenossenschaften. Bekannte Beispiele dafür, das sich Konsumierende zusammenschließen, um sich als Prosumenten direkt an der Schaffung neuer Markt- und Angebotsstrukturen zu beteiligen, sind u. a. im Bereich der Landwirtschaft die Solidarische Landwirtschaft (SoLaWi) und im Energiesektor bspw. die „Stromrebellen“ der Elektrizitätswerke Schönau. Informations- und Kommunikationstechnologien haben das Entstehen solcher sozialen Innovationen im Konsumbereich unterstützt. So ermöglichen Online-Vermittlungsplattformen wie ebay oder nebenan.de, Produkte und Dienstleistungen untereinander zu teilen und zu tauschen anstatt sie nur zu kaufen.

Eine solche Re-Konzeptualisierung der Verbraucherrolle lässt sich bisher eher in gesellschaftlichen Nischen beobachten. Ein zukunftsorientiertes Marketing hat jedoch das Potenzial, emergierende soziale Konsuminnovationen in die konkrete Alltagswelt von Kund:innen zu übersetzen und damit zu verbreiten. Eine Voraussetzung dafür ist, dass sich die Produktionspolitik, das Herz des Marketing, öffnet für tatsächliche Innovationen: die dem Gemeinwohl dienen und echte Kundenbedürfnisse erfüllen.

Ein zukunftsorientiertes Marketing verspricht nicht, dass sich die Klimakrise (oder das Bienensterben, die Abholzung des Regenwaldes etc. pp.) durch das Verhalten des einzelnen Konsumierenden aufhalten ließe. Eine solche Botschaft wäre tatsächlich ein Trugbild. Dennoch ist es systemisch wichtig, dass auch der:die Einzelne etwas – „vielleicht ein Viertel“ – zum Wandel beitragen kann. Denn die individuelle Ebene beeinflusst die kollektive Ebene und umgekehrt, beide stehen in einer Wechselwirkung. – Ein zukunftsorientiertes Marketing muss die Unterschiede im Wirkungsgrad konzeptionell berücksichtigen und auch kommunikativ klar zwischen den Möglichkeitsräumen auf individueller und kollektiver Ebene unterscheiden.

Wirkungsvolle Konzepte müssen gemäß integraler Hauptdirektive (Wilber, 2001a/2010:70) alle vier essenziellen Perspektiven enthalten, um nicht von Kräften und Faktoren aus den nicht einbezogenen Quadranten „sabotiert“ (ebd.:111) zu werden. Daran erinnert auch der Pol Innen, als er im Schlussbild (Abbildung 10.5) völlig entrüstet vorträgt, er sei die „Realität“. Den engagierten Einwurf interpretiere ich als wichtigen Hinweis darauf, dass Normen und Werte nicht außer Acht geraten dürfen. Eine andere (Konsum-)Praxis, wie bspw. Sharing bedarf unabdingbar einer entsprechenden inneren Haltung, damit unreflektierte Verhaltensweisen, wie z. B. additiver Konsum, dem sozialökologischen Potenzial nicht entgegenwirken.

Perspektiven-Triangulation: Das Leitbild der Konsumentensouveränität wird in der rezenten Forschungsliteratur zunehmend hinterfragt (Übersicht bei Müller, 2019). Armin Grunwald (2010; 2013, 2014; ähnlich Busse, 2006; Hartmann, 2009; Kenning & Wobker, 2013; Mcdonald et al., 2016) schließt daraus, dass Konsumierende weniger im Bereich privaten Handelns und vielmehr in der Rolle als Bürger:innen Verantwortung für nachhaltigen Konsum haben:

„In einem demokratischen System sind letztlich die Bürgerinnen und Bürger der Souverän. Politisch gestaltbare und nachhaltigkeitsförderliche Rahmenbedingungen für den Konsum wären danach Gegenstand einer öffentlichen Debatte, die mittels transparenter und demokratisch legitimierter Verfahren für alle verbindlich gemacht werden können – und müssen, damit sie ihre Kraft entfalten können.“ (Grunwald, 2013:15)

Dieser Schlussfolgerung widerspreche ich nicht. Der Begriff „Partizipation“ ist jedoch nicht beschränkt auf den politischen Bereich, sondern umfasst „alle Formen der Einflussnahme auf die Ausgestaltung kollektiv verbindlicher Vereinbarungen durch Personen und Organisationen, die nicht routinemäßig mit diesen Aufgaben betraut sind“ (Renn, 2005:227).

Gesellschaftliche Einflussnahme kann also auch eine Partizipation an der Wertschöpfungskette beinhalten. Soziale Innovationen, die Kund:innen mehr Einflussmöglichkeiten einräumen, finden bislang nur in gesellschaftlichen Nischen statt. Doch Studien zu kollaborativen Produktions- und Konsummuster lassen ein großes Potenzial für die anstehende grundlegende Neuorganisation des Systems vermuten, weil sie für Verbraucher:innen Formen der Einflussnahme eröffnen, die direkt an bisherige Alltagspraktiken anschließen:

„Im Gegensatz zu gängigen Bestrebungen, den Konsum mittels neuer Verkehrs-, Kommunikations- oder Energietechnik nachhaltiger zu gestalten, werden durch soziale Innovationen alltägliche Praktiken direkt angesprochen und damit wirksamer verändert (Rückert-John et al. 2014). Es wird daher angenommen, dass Aktivitäten zivilgesellschaftlicher Initiativen, von neuen Start-ups und Peer-to-Peer-Netzwerken einen wichtigen Beitrag zu nachhaltigeren Produktions- und Konsumpraktiken leisten können (Heinrichs/Grunenberg 2012).“ (Jaeger-Erben et al., 2017:10)

These ABG.6:

Ein zukunftsorientiertes Marketing ist anders. Ein zentraler Unterschied zum herkömmlichen Green Marketing ist die Sicht auf Konsumierende: Ein zukunftsorientiertes Marketing begrenzt Kund:innen nicht auf den Teilaspekt des Kaufens, sondern fördert deren Handlungsspielräume, z. B. in der Rolle als Prosumenten. Anders als Green Marketing suggeriert ein zukunftsorientiertes Marketing auch nicht, dass sich die globale Klimakrise auf der individuellen Ebene der Konsumierenden bewältigen ließe. Ein zukunftsorientiertes Marketing fördert stattdessen Veränderungen auf der kollektiven Ebene. So unterstützt es z. B. die Verbreitung sozialer Innovationen des kollaborativen Konsums und der Ko-Produktion. Kurzum: Das Leitbild des starken Konsumierenden ist nicht Ausgangspunkt eines zukunftsorientierten Marketing. Im Gegenteil: Empowerment – Selbstermächtigung – von Kund:innen ist eines seiner strategischen Ziele.

These ABG.7: Ein zukunftsorientiertes Marketing öffnet sein Herz – die Produktionspolitik – für kollaborative Produktions- und Konsummuster, weil in einer stärkeren Beteiligung von Konsumierenden an der Wertschöpfungskette größte Chancen für transformativen Konsumwandel liegen.

4.1.5 ZOM und GM im Prozessverlauf

Kategorien: Double Bind; Spannung(-sverlust)

Beobachtung: Die Positionierung von ZOM außerhalb des Feldes ist auffällig, scheint jedoch keineswegs nachteilig für seine Wirkung aufs System (wie Pol Außen in UR feststellt). Der Schlüssel für die Wirkkraft von ZOM scheint vielmehr bei GM zu liegen. Denn als sich ZOM in Phase 2 vom Feld abwendet, nennt es als Grund die fehlende „Spannung“ zu GM. Gleich zu Beginn der Aufstellung beschreibt ZOM das beiderseitige Verhältnis mit dem Begriff „Double Bind“. – Diese Metapher weckt mein besonderes Interesse, und ich stelle sie daher in den Mittelpunkt meiner Analyse der beobachteten Wechselbeziehung zwischen ZOM und GM.

Interpretation: Der Begriff „Double Bind“ wurde von Gregory Bateson et al. (1956) geprägt und diente ursprünglich als kommunikationstheoretischer Zugang zu einem neuen Verständnis schizophrener Erkrankungen. Der Begriff bezieht sich auf paradoxe bzw. widersprüchliche Kommunikationsstrukturen, die keineswegs spezifisch für diese Art psychiatrischer Störungen sind, sondern auch „Teil der Ökologie von Ideen in Systemen oder der Ökologie des ,Geistes‘“ (Bateson, 1969) sein können. Bateson beschreibt z. B. Alkoholkranke als Opfer eines Double Bind. Der Glaube, den Alkoholismus durch Selbstkontrolle zu besiegen, sei eine Hybris. Er verkenne, dass Alkoholkranke nicht innerhalb eines unabhängigen Kontexts agierten, sondern Teil eines größeren Systems ineinandergreifender Prozesse sei.

Ähnlich einem Alkoholkranken ist auch Green Marketing Opfer eines Double Bind. Die Strategie des herkömmlichen Nachhaltigkeitsmarketing, die auf der individuellen Verhaltensebene ansetzt, um die ökologisch-sozialen Schäden, die der Hyperkonsum westlicher Wohlstandsgesellschaften verursacht, wettzumachen, erinnert an die Selbstlüge des Alkoholkranken, die Sucht durch Selbstkontrolle zu überwinden. Auch Marketing ist nicht glaubwürdig, wenn es behauptet, die von der Konsum- und Wachstumsgesellschaft verursachten sozialökologischen Probleme durch Selbstkontrolle in Form grünen, ethischen oder suffizienten Konsums lösen zu können. Denn der:die einzelne Konsumierende ist Teil eines mächtigen Ganzen – einer „Ökologie des Geistes“ in der Lesart Batesons – und kann als solche:r das Gesamte nicht bestimmen.

Dem herkömmlichen Nachhaltigkeitsmarketing ist zugute zu halten, dass es sich bemüht, sich an die verändernden Umweltbedingungen anzupassen. So nimmt GM in der repräsentierenden Wahrnehmung „experimentierfreudig eine Metaposition“ ein, um „etwas mehr auf die Ebene von ZOM“ zu kommen. Doch mit seiner unveränderten Logik der Absatzmaximierung ist GM nicht in der Lage, „mit über den Weg zu steigen“. Die Anpassungsstrategie des GM muss scheitern, weil sie – in der Formulierung Batesons (1972/2014) – nicht der „Logik der Evolution des ökologischen Systems“ entspricht:

„Wäre aber der Anpassungsprozeß schon alles, dann könnte es keine Systemkrankheiten geben. Schwierigkeiten treten genau deshalb auf, weil die Logik der Anpassung eine andere ist als die des Überlebens und der Evolution des ökologischen Systems [Hervorhebung von mir]. Um mit Warren Brodey zu sprechen: die „Zeit-Struktur“ der Anpassung ist eine andere als die der Ökologie.“ (Bateson, 1972/2014:435 f.

Der Aufstellungsverlauf bestätigt nach dieser Lesart meine These WM.8 (Kapitel 7) eines notwendigen Paradigmenwechsels im Marketing. Die herkömmliche, rein absatzorientierte Strategie im Marketing ist nicht mehr zeitgemäß und führt letztlich zu Systemkrankheiten: Marketing fühlt sich „alt und gebrechlich“. Diese Beobachtung bestätigt meine hypothetischen Annahmen zum Marketingsystem, die ich in Kapitel 7 (vgl. insbesondere These WM.2) formuliert und begründet habe.

Gemäß Bateson ist es immer die „Ökologie“ (i. S. des Gesamtkontextes), die überlebt und sich weiter entwickelt:

„Überleben bedeutet, daß gewisse deskriptive Behauptungen über ein lebendes System für eine bestimmte Zeitdauer wahr bleiben; und umgekehrt bezieht sich „Evolution“ auf Veränderungen in der Wahrheit gewisser deskriptiver Behauptungen über ein lebendes System. Der Trick besteht darin, zu definieren, welche Behauptungen über welche Systeme wahr bleiben oder Veränderungen durchmachen [Hervorhebung von mir]. Die Paradoxien (und die Pathologien) des Systemprozesses entstehen genau deshalb, weil die Stabilität und das Überleben eines größeren Systems durch Veränderungen in den konstituierenden Subsystemen erhalten werden.“ (Bateson, Bateson, 1972/2014:437)

Um zu erkennen, „welche Behauptungen über welche Systeme wahr bleiben oder Veränderungen durchmachen“, ist eine integrale Sicht notwendig. Diese Perspektive nimmt ein zukunftsorientiertes Marketing ein. Das wird für mich in der Aufstellung dadurch deutlich, dass sich ZOM außerhalb des Systems positioniert. Diese ganzheitliche Perspektive ermöglicht ihm, die „Ökologie“ – den sozialökologischen Zusammenhang, das (globale) Gemeinwohl – zu erkennen. Dadurch wandelt sich seine Zielausrichtung vom Wachstumszwang und dem damit verbundenen unersättlichen Ressourcenhunger hin zu einer komplementären Beziehung zu seiner (System-)Umwelt. Dieses Bild korrespondiert mit meiner Beobachtung aus der Aufstellung „Ethos des Marketing“, dass sich ein zukunftsorientiertes Marketing am ursprünglichen Zweck wirtschaftlicher Unternehmung orientiert: am Gemeinwohl (vgl. These WM.9)

Wenn ZOM im weiteren Aufstellungsverlauf, in OR (Abbildung 10.5), das „alte, gebrechliche“ GM ermutigt, nicht aufzugeben und im System zu bleiben sehe ich darin einen Hinweis, dass ZOM den Gegenspieler braucht. Eine frühere Szene, in UR (Abbildung 10.4) stützt diese Interpretationslinie: Als sich ZOM im UL vom Feld abwendet, nennt es als Grund die fehlende „Spannung“ zu GM. In diesen Beobachtungen sehe ich meine hypothetisch-vorläufigen Annahmen, die ich im Analyseteil zur zweisprachigen ökonomischen Syntax eines zukunftsorientierten Markting entwickelt habe, bestätigt (These WM.10), wie ich sie im Analyseteil hypothetisch-vorläufig entwickelt habe.Footnote 3

These ABG.8: Das Versprechen des herkömmlichen Nachhaltigkeitsmarketing, die ökologisch-soziale Krise, die der Hyperkonsum westlicher Wohlstandsgesellschaften verursacht hat, sei durch „grünen Konsum“ wettzumachen, erinnert an die Selbstlüge eines Alkoholkranken, die Sucht durch Selbstkontrolle überwinden zu können.

These ABG.9: Marketing muss sich verändern, um für die Zukunft fit zu werden. Der anstehende Paradigmenwechsel beinhaltet das Loslassen der bisherigen bedingungslosen Wachstumslogik und die Orientierung am Gemeinwohl. Konkret bedeutet dies das Entwickeln von Geschäftsmodellen, die innovative Lösungen für tatsächliche Kundenbedarfe bieten.

These ABG.10: Ein zukunftsorientiertes Marketing unterscheidet sich vom herkömmlichen Marketing in seiner Fähigkeit, systemisch-integral zu denken. Es begreift, dass es Teil eines größeren (globalen) Ganzen ist.

5 Zusammenfassung der Aufstellung „Attitide-Behaviour Gap“

Die Aufstellung „Attitude-Behaviour Gap“ ist ein schönes Beispiel dafür, dass die Aufstellungsmethode ermöglicht, ein Forschungsfeld aus einer ganzheitlichen, integral-systemischen Perspektive zu erkunden und somit innerhalb kurzer Zeit überraschende, tatsächlich neue Erkenntnisse zu gewinnen. Die Aufstellung macht anschaulich, wie wichtig es ist – das gilt für Forschende und Praktiker:innen gleichermaßen – im Blick zu behalten, dass der Ausschnitt, auf den sie sich in ihrer Arbeit fokussieren, genau das ist: ein Ausschnitt eines größeren Ganzen. (Eine detaillierte Methodenreflexion finden Sie, liebe Lesende, im Abschnitt 15.4.) So legt die integrale, polykontextuelle Sicht auf das Phänomen der Attitude-Behaviour Gap die Grenzen offen, die Marketing – als Fachdisziplin a priori – dem Denken in größeren Zusammenhängen setzt. Aus integraler Sicht können Ansätze, die Wissenselemente isoliert berücksichtigen, in bestimmten Phasen durchaus nützlich und notwendig sein (Wilber, 2001a/2010:116), sie reichen jedoch nicht aus, um Veränderungsprozesse und vor allem Transformationsprozesse, umfassend zu verstehen und nützliche Ideen für die Praxis zu entwickeln. Im Ergebnis dieser Aufstellung kann ich somit die Beobachtung aus den vorhergehenden Aufstellungen bestätigen: Ein zukunftsorientiertes Marketing ist fähig, integral zu denken. Daran anschlussfähig ist eine weitere zentrale These, die sich im Aufstellungsverlauf bestätigt: Die ökonomische Syntax eines anderen, modernen Marketing ist zweisprachig. Es hat die Fähigkeit ausgebildet, sowohl erwerbsökonomisches als auch haushaltsökonomisches Handeln als ökonomische Rationalitäten anzuerkennen und seine Strategien im (antagonistischen) Wechselspiel dieser beiden unverträglichen Polaritäten auszurichten.

Die Gesellschafts- und Systemtheorien, die ich als Bezugsrahmen meiner Arbeit nutze, betonen allesamt den gesellschaftlichen Bewusstseinswandel als Voraussetzung der Transformation. Ich hatte daraus zunächst den (offensichtlich zu kurzen) Schluss gezogen, dass ein zukunftsorientiertes Marketing seine transformative Wirkkraft insbesondere auf der Bewusstseinsebene entfalten würde. Die Aufstellung zeigt: Es ist komplexer. Ein zukunftsorientiertes Marketing zielt nicht direkt darauf, – z. B. mittels moralischer Appelle – das Wertesystem von Konsumierenden respektive der Gesellschaft zu beeinflussen. Sein strategischer Ansatz ist vielmehr, einen Blick hinter den Horizont, in emergierende Zukünfte zu eröffnen. Dabei zeichnet es keineswegs ein Trugbild, sondern etwas rational Objektives:

Ein zukunftsorientiertes Marketing re-produziert entstehende praktische Handlungsräume eines möglichen anderen Konsums, indem es sozialen Innovationen einen Resonanzraum bietet, gesellschaftlich wahrgenommen zu werden und sich zu verbreiten. Auf diese Weise – als Resonanzverstärker – wirkt Marketing mit an einer neuen gesellschaftlichen Erzählung darüber, wie Konsum anders und ressourcengerecht möglich ist. Marketing übernimmt die Rolle eines guten Regisseurs, der das Spiel der Figuren nicht vorgibt, sondern nur eine Vision vom zu spielenden Stück. Damit unterstützt es bei den Figuren – den Kund:innen und weiteren verbraucherpolitischen Akteur:innen, wie dem Staat und anderen Unternehmen – Suchbewegungen nach Möglichkeiten, die Vision von Ressourcenorientierung zu realisieren.

Mit dieser Beobachtung verdichtet sich meine implizite Vorannahme eines besonderen Potenzials von Marketing für einen transformativen Wandel – jedoch auf eine überraschend andere Weise als ich zunächst angenommen hatte.

Weiterhin bestätigen sich in der Aufstellung eine Reihe der bereits zuvor beobachteten Unterschiede zwischen einem herkömmlichen „Nachhaltigkeitsmarketing“ und einem anderen, modernen Marketing. Der wichtigste Unterschied ist für mich eine andere Sicht auf Konsumierende:

  • Ein zukunftsorientiertes Marketing behauptet nicht, dass der Schlüssel für Konsumwandel beim einzelnen Konsumierenden liegt.

  • Das Leitbild des starken Konsumierenden ist nicht Ausgangspunkt eines zukunftsorientierten Marketing. Im Gegenteil: Empowerment – Selbstermächtigung – von Konsumierenden ist eines seiner strategischen Ziele.

  • Ein zukunftsorientiertes Marketing begrenzt Kund:innen nicht auf den Teilaspekt des Kaufens, sondern erweitert deren Perspektive auf pro-aktive Handlungsoptionen im Konsumbereich.

5.1 Diagramm „Attitide-Behaviour Gap“

Auf Basis der zehn vorläufigen Thesen zum Phänomen der Attitude-Behaviour Gap habe ich ein Diagramm entwickelt, das den Weg skizziert, wie Marketing die Entwicklung von ressourcenorientiertem Konsumhandeln unterstützen kann. (Abbildung 10.6)

Ein zukunftsorientiertes Marketingsystem zielt nicht auf den einzelnen Konsumierenden und dessen Weg „vom Wissen (bzw. Bewusstsein) zum Handeln“. Die Attitude-Behaviour Gap steht nicht im strategischen Fokus. Ein zukunftsorientiertes Marketing ist ganzheitlicher ausgerichtet und setzt auf mehreren Ebenen an:

  • Ein zukunftsorientiertes Marketing kann Mut machende Visionen multiplizieren und damit Orientierung geben, wie ressourcengerechter Konsum aussehen kann. Dabei zeichnet ein zukunftsorientiertes Marketing keineswegs ein Trugbild, sondern kommuniziert etwas rational Objektives: Es re-produziert erprobte soziale Konsuminnovationen; bereits entstehende – gesellschaftliche wie individuelle – praktische Handlungsräume eines möglichen anderen, ressourcenorientierten Konsums.

  • Ein möglicher Weg dabei führt über ko-produktive Prozesse, die an der gemeinsamen Schnittstelle von Konsum und Produktion – in kollaborativen Konsum- und Ko-Produktionsmuster – neue Lösungen hervorbringen und/oder deren breitere Anwendung fördern. Dieser Prozess mündet letztlich in bedarfs- und ressourcenorientierte Geschäftsmodelle.

  • Dadurch entstehen zunehmend ressourcenorientierte Handlungsoptionen für Konsumierende, die ihnen in ihren täglichen Entscheidungen ermöglichen, nachhaltiges Problembewusstsein und Konsumhandeln besser zu verbinden. Konsumierende werden somit in der komplexen Aufgabe unterstützt, (individuelle wie gesellschaftliche) normative Ansprüche eines „nachhaltigen Konsums“ in konkretes Alltagshandeln zu übersetzen.

  • Zukunftsorientiertes Marketing wirkt der herrschenden systemischen Überforderung von Konsumierenden entgegen. Gleichwohl sind Konsumierende nicht völlig von ihrer individuellen Verantwortung in ihrem alltäglichen Konsumhandeln zu entbinden. Ressourcenorientiertes Konsumhandeln bedarf immer auch einer verantwortungsvollen inneren Haltung des:der Einzelnen, damit das sozialökologische Potenzial zukunftsorientierter Geschäftsmodelle nicht durch unreflektierte Verhaltensweisen, wie z. B. additiver Konsum, usurpiert wird.

Abbildung 10.6
figure 6

(Eigene Abbildung)

Ganzheitlicher Blick statt Fokus auf die Attitude-Behaviour Gap: Das ist die Strategie eines zukunftsorientierten Marketing.

5.2 Weiterführende Überlegungen und Fragen

Die folgende Gesamtschau dient im hermeneutisch-zirkulären Untersuchungsprozess zum einem dem Theoretical Sampling: Ich erhalte theoretische Anhaltpunkte, welches Aufstellungssetting ich im nächsten – im Rahmen dieser Arbeit letzten – Analyseschritt wählen werde. Zum anderen führt die Reflexionsschleife zu einer zunehmenden theoretischen Sättigung einiger meiner zuvor entwickelten Thesen. Zentrale Unterschiede, die ich in den vorhergehenden Untersuchungsphasen beobachtet und beschrieben habe, konkretisieren sich, und zwar bezüglich:

  1. (1)

    der Revision zentraler Vorannahmen im herkömmlichen „Nachhaltigkeitsmarketing“ und daraus folgender Implikationen für Wirkungsfeld und Funktion eines zukunftsorientierten Marketing

  2. (2)

    der Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels im Marketing.

ad 1: In der Aufstellung „Attitude-Behaviour Gap“ hat sich für mich die Beobachtung bestätigt, dass zentrale Vorannahmen in der Marketingforschung und -praxis den Blick in eine Richtung lenken und in eine „Cul de Sac“ (McDonald at al., 2016:164) führen. Die individuelle Handlungsebene ist der falsche Ort für meine Suche nach einem möglichen Transformationsbeitrag von Marketing. Das herkömmliche (Nachhaltigkeits-) Marketing basiert auf dem Leitbild der Konsumentensouveränität. Zwar wird das in der Verbraucherkommunikation einflussreiche Informationsmodell bzw. die Theorie des geplanten Verhaltens (Ajzen, 1985), denen gemäß zwischen individuellem Wertesystem und individuellem Verhalten ein direkter Zusammenhang besteht, zunehmend durch Erkenntnisse aus der Verhaltensökonomik (stellvertretend vgl. Thaler & Sunstein, 2008; 2010; Kahneman, 2011) revidiert oder ergänzt. Die Praxis des herkömmlichen „Nachhaltigkeitsmarketing“ hat sich dadurch jedoch nicht verändert. Der strategische Schluss lautet nach wie vor, salopp formuliert: Damit Konsum nachhaltiger werde, müssten Kund:innen nur – in ihrem eigenen Interesse – in die als „richtig“ bestimmte informative Spur gesetzt und zusätzlich – auf Grundlage verhaltensökonomischer Erkenntnisse – auch „gestupst“ werden. In der repräsentierenden Wahrnehmung zeigt sich jedoch wiederholt, dass die Gleichung, Kund:innen diktieren qua Einkaufszettel das Angebot, nicht aufgeht. Die systemischen Beziehungen sind weitaus komplexer. Konsumierende sind mitnichten „ein schlafender Riese“ (Beck, 2002), der nur geweckt werden müsse; innerhalb des herrschenden Konsumsystems verfügen sie a priori kaum über Einflussmöglichkeiten, das Angebot zu bestimmen. Eine Erkenntnis, die im Grunde eine banale Alltagserfahrung bestätigt – als Kunde:in kann ich nur kaufen, was in den Regalen liegt, d. h. von den Unternehmen zuvor produziert worden ist –, die jedoch keineswegs trivial ist: Sie führt bisherige (Marketing-)Ansätze der Konsumsteuerung ad absurdum. Die Aufstellung „Attitude-Behaviour Gap“ eröffnet demgegenüber eine andere, neue strategische Perspektive:

Der strategische Fokus eines zukunftsorientiertes Marketing liegt weder in moralischen Appellen zu einem anderen Konsumverhalten noch in der Beeinflussung des individuellen Konsumhandelns, sondern zuvörderst auf dem Feld der kollektiven Handlungsmöglichkeiten .

Bereits in den vorherigen Aufstellungen hat sich gezeigt, dass ein zukunftsorientiertes Marketing den herkömmlichen Anbieter-Nachfrager-Dualismus hinter sich lässt und Kund:innen in einer anderen, vitaleren Rolle als Marktteilnehmer:innen willkommen heißt: nicht nur als Konsumierende, sondern auch als „Wissensressource“ in der Rolle von Prosumenten. Aus der integralen Perspektive der Aufstellung „Attitude-Behaviour Gap“ zeigt sich nun, in welchem Bereich diese systemischen Möglichkeiten einer Ko-Evolution von Marketing und Kund:innen liegen: in den äußeren Rahmenbedingungen, die eine Gesellschaft prägen. Nicht der:die einzelne Kund:in steht im Fokus, sondern kollektive, kollaborative Netzwerke. Der in der repräsentierenden Wahrnehmung beschriebene „Schein“ des zukunftsorientierten Marketing ist kein Trugbild, sondern die Reflexion von etwas rational Objektivem: entstehenden praktischen Handlungsräumen eines anderen, bedarfs- und ressourcenorientierten Konsums.

Ein zukunftsorientiertes Marketing übernimmt die Rolle eines guten Regisseurs, der auf dem Filmset „Action!“ ruft. Das Spiel der Figuren wird dabei jedoch nicht vorgegeben; ein zukunftsorientiertes Marketing unterstützt vielmehr die Akteur:innen in deren eigenen Denk- und Suchbewegungen. Somit fördert Marketing soziale Innovationen des kollaborativen Konsums und der Ko-Produktion, dass sich diese schneller verbreiten und auch eine stärkere gesellschaftliche Akzeptanz finden können.

Ein zukunftsorientiertes Marketing wirkt somit als Inspiration für andere verbraucherpolitische Akteur:innen. Doch es gibt – wie beschrieben – den Kurs nicht an. Denn Unternehmen bewegen sich im Nachhaltigkeitskontext – das zeigen die bisherigen Aufstellungen eindrücklich – keineswegs autonom, sondern bewegen sich in einem sensiblen Spannungsfeld – in der „Schusslinie“ (Abbildung 6.2) – unterschiedlicher, widersprüchlicher Prämissen. Bereits im Analyseteil dieser Arbeit hatte ich die These (WM.9) aufgestellt, dass ein anderes, zukunftsorientiertes Marketing eine gesamtgesellschaftliche Funktion erfüllen kann. Die Aufstellung „Attitude-Behaviour Gap“ aktualisiert diese Vermutung und führt mich zur Frage:

Wie bestimmt sich der gesellschaftliche (Konsum-)Kurs insgesamt?

ad 2: Eine weitere hermeneutische Reflexionsschleife führt mich zurück zu meiner Beobachtung – die sich in der Aufstellung „Attitude-Behaviour Gap“ bestätigt hat – dass ein Paradigmenwechsel im Marketing essenziell im tatsächlichen Wortsinn ist. Das Festhalten an dem (zunehmend übersteigerten) Ziel der Erwerbs- und Effizienzsteigerung ist suizidal. Dies gilt auch bzw. ganz besonders, wenn sich Marketing ein grünes Gewand umlegt und die Botschaft des „Weiter so“ verkündet.Footnote 4 Marketing macht sich nicht nur selbst unglaubwürdig (und entzieht sich damit die eigene Existenzgrundlage), sondern es behindert vor allem auch ein dringend notwendiges gesellschaftliches Umdenken. Marketing potenziert damit noch seinen Anteil an der fortschreitenden Zerstörung natürlicher und sozialer Lebensgrundlagen. Herkömmliches Green Marketing verhindert transformativen Konsumwandel. Diesem Befund steht das beobachtete Potenzial eines zukunftsorientierten Marketing gegenüber. Die drängende Frage, die sich daran anschließt, ist die nach der Realisierung eines anderen Marketing:

Noch hat ein zukunftsorientiertes Marketing „wacklige Beine“. Ist ein Paradigmenwechsel im Marketing eine wirklichkeitsnahe Option? Was sind die Voraussetzungen, damit ein zukunftsorientiertes Marketing einen festeren Stand bekommt?