Im einleitenden Kapitel skizziere ich den Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit. Zunächst ermesse ich die gesellschaftspolitische und wissenschaftliche Relevanz meines Forschungsthemas. Es folgt eine Beschreibung meiner berufspraktischen Präkonzepte und erkenntnistheoretischen Grundhaltung. Auf dieser Folie entwickele ich initiale forschungsleitende Fragen und spezifiziere die Ziele, die ich mir im Rahmen meiner Dissertation gesetzt habe. Das Forschungsdesign ist der „rote Faden“ im Gesamtprozess: Darin beschreibe ich, wie ich die Untersuchung grundsätzlich angelegt habe und begründe mein Vorgehen methodologisch. Im letzten Abschnitt stelle ich den inhaltlichen Aufbau meiner Arbeit vor.

1 Forschungsgegenstand

Daten, die bekannt sind: Wir leben als hätten wir 1,7 Erden zur Verfügung (Global Footprint Network, 2019). Der weltweite Verbrauch natürlicher Ressourcen steigt mit jedem Jahr: Im Jahr 2021 fällt der „Earth Overshoot Day“ auf den 29. Juli; vor gut 50 Jahren, im Jahr 1969, war es noch der 29. Dezember (Global Footprint Network, 2018). Würden alle Menschen weltweit auf dem Niveau konsumieren wie in den Ländern der EU (Europäischen Union), so bräuchte es mehr als drei Erden. Denn in der EU sind bereits am 10. Mai alle Ressourcen verbraucht, die sich innerhalb eines Jahres regenerieren können. Wie ernst es um die Ressourcen der Erde steht, belegen seit der Veröffentlichung des Club of Rome (Meadows et al., 1972) vor nahezu 50 Jahren unzählige wissenschaftliche Studien. Die globalen Ressourcen sind am Limit; die planetaren Belastungsgrenzen („planetary boundaries“) bald erreicht (Rockström et al., 2009; Steffen et al., 2015), es steht schlecht um die Artenvielfalt (IPBES, 2019), der Anstieg der Globaltemperatur infolge rapide steigender Konzentrationen von Treibhausgasen (THG) in der Atmosphäre ist wissenschaftlich unbestreitbar. „Jedes bisschen an Erwärmung zählt“, heißt es im Vorwort des IPCC-Sonderberichts (IPCC, 2018). Die Wissenschaftler:innen schreiben, dass noch maximal 420 Gigatonnen CO2 in die Atmosphäre abgegeben werden könnten, um eine globale „Klimaerwärmung“ auf 1,5 Grad zu begrenzen und damit unaufhaltbare Kettenreaktionen – vielleicht – noch abfedern zu können. Dafür bleiben nach dem aktuellen Stand der CO2-Uhr des Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change (MCC, 2021) knapp sechseinhalb Jahre. Es gibt Hinweise, dass auch dies nicht mehr reichen wird: Ein Drittel der globalen Klimamodelle zeigt einen schnelleren Temperaturanstieg als bisher prognostiziert (Voosen, 2019), und der Weltwetterorganisation (WMO, 2020) zufolge könnte die globale Durchschnittstemperatur bereits bis 2024 auf 1,5 Grad über das vorindustrielle Niveau steigen; die Wahrscheinlichkeit dafür liege bei 20 Prozent. Doch auch bei einer Erwärmung zwischen 1 und 1,5 Grad drohen Extremwetterlagen (Peukert, 2021).Während ich an dieser Arbeit schreibe, häufen sich die Berichte, dass weitere Kipppunkte (tipping points) der Klimakrise offenbar erreicht sind (Deutsches Klima-Konsortium et al., 2020). So wird nach einem Bericht eines Forscher:innen-Teams um Michalea King (2020) von der Ohio State University das Eisschild von Grönland unwiederbringlich abtauen. Und die bisher auf nationaler Ebene verabschiedeten Ziele bewirken – laut einem aktuellen UN-Bericht (UN, 2021) – nicht mehr als eine Reduzierung der Treibhausgase um einen (!) Prozentpunkt bis zum Jahr 2030 – anstatt der notwendigen 45 Prozent.

Die Produktions- und Konsummuster in den wohlhabenden Gesellschaften sind weder ökologisch noch sozial tragbar und tragen Merkmale einer „imperialen Lebensweise“ (Brand & Wissen, 2017; I.L.A. Kollektiv, 2017). Der Soziologe Stephan Lessenich (2016) beschreibt das westliche Lebens- und Wirtschaftsmodell als „Externalisierungsgesellschaft“:

„Wir leben gut, weil andere schlechter leben. Wir leben gut, weil wir von anderen leben – von dem, was andere leisten und erleiden, tun und erdulden, tragen und ertragen müssen. Das ist die internationale Arbeitsteilung, die der uruguayische Schriftsteller Eduardo Galeano schon vor nun mehr bald einem halben Jahrhundert kritisch im Blick hatte: Wir haben uns aufs Gewinnen spezialisiert – und die anderen aufs Verlieren festgelegt.“ (Lessenich, 2016: 24)

Laut aktueller Studien (ADB & PIK, 2017; Ricke et al., 2018) werden in den kommenden Jahrzehnten von den Klimafolgen vor allem die betroffen sein, die am wenigsten zum Anstieg der Treibhausgas-Emissionen beigetragen haben: Menschen in Ländern mit geringem Wohlstand und großen klimatischen Extremen. Doch auch in den reichen Gesellschaften stiftet das aktuelle Modell schon seit längerem keinen zusätzlichen Nutzen für das Gemeinwohl. Wirtschaftswachstum verändere sich hier zunehmend „vom Heilsversprechen zur Zwangshandlung“, schreibt der Schweizer Ökonom Mathias Binswanger (2019:23 ff.). Menschen leiden unter Überarbeitung, gesellschaftlichem Druck und wirtschaftlicher Not. Die Kluft zwischen Arm und Reich ist in den wohlhabenden Ländern trotz anhaltendem Wirtschaftswachstum nicht geringer geworden, wie Studien einer internationalen Forschergruppe um den französischen Ökonomen Thomas Piketty (2018) zeigen (ähnlich Alvaredo et al., 2018). In Deutschland z. B. bekam die schlechter verdienende Hälfte der Bevölkerung im Jahr 2013 gerade einmal 17 Prozent des Volkseinkommens, die obere Hälfte dagegen 83 Prozent (Bartels, 2018; WID, 2021).

Die kurze Exploration kann das Ausmaß der „globalen Zivilisationskrise“ (Messner, 2010:66) nur grob umreißen. Doch bereits die wenigen Eckdaten zeigen sehr deutlich, dass unser Lebensstil in den wohlhabenden frühindustrialisierten Gesellschaften dringend einer Revision bedarf. Über den Konsum werden nahezu alle Prozesse in Wirtschaft und Gesellschaft beeinflusst. Die Bundesstatistik weist aus, dass der Konsum in Deutschland rund 80 Prozent der Wirtschaftsleistung ausmacht, wobei der Anteil des privaten Konsums bei rund 60 Prozent liegt (Statistisches Bundesamt, 2020). Von den in Deutschland verursachten Pro-Kopf-CO2-Emissionen sind rund 40 Prozent auf den privaten Konsum zurückzuführen. Hinzu kommt der enorme Ressourcenverbrauch bei den Importen; so nutzt Europa für Konsumimporte zwei bis dreimal mehr Nutzflächen als innerhalb der EU-Grenzen zur Verfügung stehen (Harnisch, 2019:3). Konsum ist zweifellos ein maßgeblicher Treiber der globalen Krise. Dass Konsum ein zentrales Aufgabenfeld einer nachhaltigen Entwicklung ist, belegt nicht zuletzt die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen (UN, 2015:24), in der Konsum als eigener Zielbereich – als Sustainable Development Goal (SDG) 12 – definiert ist.

Deutlich wird mit der Aufzählung der wissenschaftlichen Studien außerdem, dass ein Mangel an Daten und Information nicht das Problem zu sein scheint. Im systemischen Ansatz vermute ich einen vielversprechenden Zugang zum Forschungsfeld, zumal die systemorientierte Perspektive im Forschungsfeld nachhaltiger Konsum- und Produktionsweisen (Sustainable Consumption and Production, SCP) lange Zeit vernachlässigt worden ist (Bengtsson et al., 2018). Einen ersten Erklärungsansatz dafür, warum kritisches Wissen allein nicht ausreicht, um der gesellschaftlichen Krise beizukommen, liefert die Systemtheorie von Niklas Luhmann. In der Studie „Ökologische Kommunikation“ legt der Bielefelder Soziologe dar, dass empirisch messbare Phänomene wie soziale Ungleichheit, Armut, Migration und Klimawandel per se noch keine gesellschaftlichen Probleme sind, sondern erst dann, wenn die Gesellschaft – also ihre verschiedenen sozialen Funktionsbereiche – sie als krisenhaft wahrnimmt und kommuniziert:

„Es mögen Fische sterben oder Menschen, das Baden in Seen oder Flüssen mag Krankheiten erzeugen, es mag kein Öl mehr aus den Pumpen kommen und die Durchschnittstemperaturen mögen sinken oder steigen: solange darüber nicht kommuniziert wird, hat dies keine gesellschaftlichen Auswirkungen.“ (Luhmann, 1986/2008:62 f.)

Dieses bekannte Zitat von Niklas Luhmann, der etwa im Vergleich zu Jürgen Habermas (Habermas & Luhmann, 1990) oder Ulrich Beck (1986) den Ruf des politisch Konservativen hatte, ist oft missverstanden worden (Baecker, 2006). Luhmann leugnet keineswegs die ökologische Krise, er lenkt vielmehr die Aufmerksamkeit auf systemische Begrenzungen, die eine adäquate gesellschaftliche Resonanz erschweren:

„Die Gesellschaft kann nur unter den sehr beschränkten Bedingungen ihrer eigenen Kommunikationsmöglichkeiten auf Umweltprobleme reagieren. Das gilt auch für Umweltprobleme, die sie selbst ausgelöst hat. Ökologische Kommunikation kann sich daher nur nach Maßgabe der wichtigsten Funktionssysteme [Hervorhebung im Original] wie Politik, Recht, Wirtschaft, Wissenschaft, Erziehung, Religion entwickeln – oder im Protest gegen diese Systeme. In beiden Fällen besteht die doppelte Gefahr von zu wenig und zu viel Resonanz.“ (Luhmann, 1986/2008:U4)

Mit der „Gefahr von zu wenig und zu viel Resonanz“ benennt Luhmann meines Erachtens einen gesellschaftlichen „Kipppunkt“, der auch ganz aktuell zu beobachten ist: Die Klimakrise stößt heute, angesichts ihrer Dringlichkeit und ihres unübersehbaren Ausmaßes – infolge des Pariser Klimaabkommens in Kombination mit zerstörerischen Wetterereignissen sowie der medialen Wucht von „Fridays for Future“ (FFF) – auf eine gesellschaftliche Resonanz, die Umweltorganisationen in all den Jahrzehnten davor nicht erzielen konnten. Gleichzeitig steigen alte, nationalistische Kräfte auf und treffen dort auf Resonanz, wo Menschen im Zuge von Digitalisierung und Klimaschutzmaßnahmen persönliche Benachteiligungen befürchten müssen, z. B. durch drohenden Arbeitsplatzverlust und Erhöhen der Spritpreise.

Das Marketing hat sich auf das Erzeugen von Resonanz geradezu professionalisiert. Ist es da nicht naheliegend zu fragen, welchen Beitrag die Disziplin in der gegenwärtigen Vielfachkrise zum überfälligen Wandel leisten kann.

Marketing vermag ganz offensichtlich, Einfluss auf Menschen und ihr Handeln zu nehmen. So wird bspw. ein Verbot für Zigarettenwerbung damit begründet: Werbung wirkt. Zu einer nachhaltigen Entwicklung hat die Branche bislang freilich kaum beigetragen. Im Gegenteil: Ihr Auftrag ist die fortwährende Steigerung von Konsum. Die Degrowth-Forschung sieht in Unternehmen und deren Marketing einen der großen Wachstumstreiber (Petschow et al., 2018:53 ff.). Doch Marketer zeigen sich angesichts der globalen Vielfachkrise zunehmend sensibilisiert, was in Initiativen wie Marketing for Future (M4F) mit dem Marketing for Future Award und dem Bündnis für klimapositives Verhalten (2021) einen ersten Niederschlag findet. Die Branche stellt die Frage, warum ihre Kenntnisse, Erfahrungen und Instrumente, die zur Konsumsteigerung eingesetzt werden, sich nicht auch für nachhaltige Zwecke eignen sollten? Ed Mayo, ehemals Geschäftsführer des britischen National Consumer Council, heute Vorstandsvorsitzender von Co-operatives UK setzt vor allem auf die Kreativität und Methodenvielfalt des Marketing:

“(…) while marketing got us into this mess, it may be that marketing can get us out. We need to harness the creativity and the sophistication of marketing, and its methodologies, for human health and environmental sustainability.” (Mayo, 2005:2)

Aus materieller Sicht verfügt Marketing über enorme Ressourcen, um die gesellschaftliche Resonanz auf das Thema „Nachhaltigkeit“ zu verstärken: Es gibt das notwendige Know-how in Sachen Kommunikation, und zudem gibt es ein großes monetäres Budget. Vor diesem Hintergrund drängt sich die Frage auf, ob Marketing seine Wirkkraft nicht auch ganz anders, nämlich nützlich für transformativen Konsumwandel einsetzen kann.Footnote 1

2 Stand der Forschung

Mit meiner Forschung, die dem Lehrstuhl Nachhaltiges Management assoziiert ist, bewege ich mich im Schnittmengenbereich von Nachhaltigkeitswissenschaft und angewandter Betriebswirtschaftslehre. Damit ist meine Arbeit klar der Anwendungswissenschaft zuzuordnen, und das Forschungsfeld ist entsprechend disziplin- und fachübergreifend abzustecken. Relevante Schwerpunkte erkenne ich zunächst in den Bereichen Nachhaltigkeit/CSR, Marketing sowie Konsum.

Das Literaturstudium zu Beginn meiner Forschungsarbeit habe ich eher breit als tief angelegt. Aufgrund meines berufspraktischen Hintergrundes bringe ich bereits eine Vielzahl an subjektiven Präkonzepten mit. Im Sinne der meiner Arbeit zugrunde gelegten Grounded-Theory-Methodologie (GTM), möchte ich meinen initialen Zugang zum Untersuchungsfeld – meine „theoretische Sensibilität“ (Glaser, 2011:147 ff.; Strauss, 1991:50; Strauss & Corbin, 1996:56) – nicht noch zusätzlich mit Konzepten aus dem akademischen Marketing verstellen.Footnote 2

2.1 Nachhaltigkeit und CSR

Das rezente Verständnis von Nachhaltigkeit ist maßgeblich von der sogenannten „Brundtland-Kommission“ von 1987 geprägt. Die Vereinte Nationen Weltkommission für Umwelt und Entwicklung (WCED, 1987) unter Vorsitz der Norwegerin Gro Harlem Brundtland hat Nachhaltigkeit in engen Bezug zu Fragen intra- und intergenerativer Gerechtigkeit gesetzt:

“Humanity has the ability to make development sustainable to ensure that it meets the needs of the present without compromising the ability of future generations to meet their own needs.” (WCED, 1987:8)

Der Verweis auf „künftige Generationen“, also die Vorstellung, die Folgen der Klimakrise würden Menschen zu tragen haben, die noch nicht geboren sind, ist aus heutiger Perspektive überholt. Die Klimakrise liegt nicht in einer fernen Zukunft. Diese Erkenntnis ist – nicht zuletzt dank der lautstarken und selbstbewussten Proteste der FFF-Bewegung – heute weitgehend Konsens. Die vor dreißig Jahren noch abstrakte Forderung nach Generationengerechtigkeit, fand eine geläufige Übersetzung in einem Nachhaltigkeits-Modell, das auf drei Säulen steht: Ökologie, Soziales und Ökonomie. Gelegentlich werden noch weitere Zieldimensionen hinzugefügt, z. B. Politik oder Kultur, wie im Konzept für die Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE), das Ute Stoltenberg (2010) an der Leuphana Universität Lüneburg entwickelt hat. Vorschläge, wie die verschiedenen Sphären untereinander zu gewichten seien, gibt es mehrere. Durchgesetzt hat sich heute die Idee, dass alle Zieldimensionen von Nachhaltigkeit gleichberechtigt nebeneinander stehen (Michelsen & Adomssent, 2014:28). Als Voraussetzung einer nachhaltigen Entwicklung gilt die Bedingung, dass alle Aspekte gleichermaßen berücksichtigt werden:

„Zentrales Ziel des Nachhaltigkeitsanliegens ist die Sicherstellung und Verbesserung ökologischer, ökonomischer und sozialer Leistungsfähigkeiten. Diese bedingen einander und können nicht teiloptimiert werden, ohne Entwicklungsprozesse als ganze infrage zu stellen.“ (Deutscher Bundestag, 1998:33)

Der deutsche Begriff „Nachhaltigkeit“ stammt ursprünglich aus forstwirtschaftlichen Konzepten des 18. Jahrhunderts (von Carlowitz, 1732). Die Brundtland-Kommission bezieht sich mit „Sustainability“ nicht auf diese historische Bedeutung (Tremmel, 2004:27). Dennoch ist ein Blick auf die Kulturgeschichte des Begriffs aufschlussreich: Ulrich Grober (2010) hat die Definition im „Wörterbuch der deutschen Sprache“ von 1809 mit der Definition des Club of Rome von 1972 verglichen. Dabei identifiziert er als epochenübergreifendes Konzept von Nachhaltigkeit das menschliche Grundbedürfnis nach Sicherheit – als Gegenbegriff zu „Kollaps“:

„Das von Joachim Heinrich Campe, dem Lehrer Alexander von Humboldts, 1809 herausgegebene ‚Wörterbuch der deutschen Sprache‘ definiert Nachhaltigkeit als das, woran man sich hält, wenn alles andere nicht mehr hält. Das klingt tröstlich. Wie eine Flaschenpost aus einer fernen Vergangenheit für unsere prekären Zeiten. Wir suchen nach einem Modell, das ein Weltsystem abbildet, das 1) n a c h h a l t i g (sustainable) ist ohne plötzlichen und unkontrollierbaren Kollaps; und 2) fähig ist, die materiellen Grundansprüche aller seiner Menschen zu befriedigen. Noch eine Flaschenpost. Diese ist in dem berühmten Bericht an den Club of Rome von 1972 über die Grenzen des Wachstums enthalten.

In beiden Fällen ist Nachhaltigkeit der Gegenbegriff zu ‚Kollaps‘. Er bezeichnet, was standhält, was tragfähig ist, was auf Dauer angelegt ist, was resilient ist, und das heißt: gegen den ökologischen, ökonomischen und sozialen Zusammenbruch gefeit. Was frappiert: Die beiden Bestimmungen aus so unterschiedlichen Epochen sind annähernd deckungsgleich. Sie verorten ‚Nachhaltigkeit‘ im menschlichen Grundbedürfnis nach Sicherheit.“ (Grober, 2010:14)

Die Terminologie Corporate Social Responsibility (CSR) hat ebenfalls historische Vorbilder. Ethische Maßstäbe für wirtschaftliches Handeln sind keine Erfindung der Gegenwart. Bereits im Mittelalter war in Deutschland der Begriff des „ehrbaren Kaufmanns“ bekannt (Klink, 2012). Im aktuellen Verständnis ist unternehmerische Gesellschaftsverantwortung angelehnt an das Säulen-Konzept von Nachhaltigkeit. Das zeigt sich bereits in der frühen Version der vierstufigen CSR-Pyramide des US-Amerikaners Archie B. Carroll (1991:41; 1999) ebenso wie im Dreiklang „People – Planet – Profit“ des britischen CSR-Vordenkers John Elkington (1997/1999). Gemäß dem Triple-Bottom-Line-Ansatz (TBL) werden Umwelt- und Sozialbelange systematisch in unternehmerische Entscheidungen einbezogen. Maßgeblich für den rezenten CSR-Prozess ist auf europäischer Ebene die Definition der Europäischen Union aus dem Jahr 2011. In ihrer Mitteilung „EU Strategie 2011 – 2014 für die soziale Verantwortung von Unternehmen (CSR)“ ist CSR definiert als Integration von gesellschaftlichen, ökologischen und auch ethischen Fragen in das Handeln von Unternehmen, und zwar in enger Kooperation mit den Stakeholdern:

“The Commission puts forward a new definition of CSR as ‘the responsibility of enterprises for their impacts on society’. Respect for applicable legislation, and for collective agreements between social partners, is a prerequisite for meeting that responsibility. To fully meet their corporate social responsibility, enterprises should have in place a process to integrate social, environmental, ethical, human rights and consumer concerns into their business operations and core strategy in close collaboration with their stakeholders, with the aim of:

  • maximising the creation of shared value for their owners/shareholders and for their other stakeholders and society at large;

  • identifying, preventing and mitigating their possible adverse impacts.” (European Commission, 2011:6)

Häufig werden CSR und Nachhaltigkeit gleichgesetzt. In Anlehnung an das Schnittmengenmodell gilt als Ziel einer verantwortungsvollen Unternehmensführung, die unterschiedlichen Aspekte, also Ökologie, Wirtschaft und Soziales zum Ausgleich zu bringen. In Politik und Wissenschaft wird diese Herausforderung noch häufig mit einem Win-Win-Win-Postulat beantwortet, das behauptet, es gebe zwischen den Zieldimensionen keine Widersprüche oder negative Trade-offs. Wertorientiertes Unternehmensverhalten ergebe vielmehr einen Mehrwert für das Unternehmen und für die Gesellschaft. Für diese Annahme gibt es verschiedene wirtschaftstheoretische Erklärungsangebote. Ressourceneinsparungen bedeuten mehr Effizienz, argumentieren Vertreter:innen der It-Pays Theorie (Porter & van der Linde, 1995). Der Stakeholder-Ansatz (Freeman, 1984) legt nahe, dass Unternehmen, die den Dialog mit ihren Stakeholder pflegen, belohnt werden und bessere Ergebnisse, sprich höhere Gewinne erzielen. Im politischen Raum findet das Win-Win-Narrativ Ausdruck in Begriffen wie „nachhaltiges grünes Wachstum“ oder „Green Growth, Green Profit“ (Roland Berger Strategy Consultants GmbH, 2011).

Abbildung 1.1
figure 1

(Eigene Abbildung, generiert mittels Zeit Online, 2019)

Umweltschutz, Klimaschutz, Nachhaltigkeit – Wortgebrauch im Bundestag seit 1949.

Im herrschenden Wortverständnis existiert kein Zielkonflikt zwischen Nachhaltigkeit und Wachstum. Dies illustriert beispielhaft der Wortgebrauch im Bundestag seit 1949. Wie in Abbildung 1.1 dargestellt, verlaufen die Kurven von „Nachhaltigkeit“ und „Wachstum“ ähnlich. Nachhaltigkeitsdebatten und Wachstumsdebatten werden im Parlament zeitgleich geführt. Anders stellt sich der Graph zum Begriff „Klimaschutz“ dar. In Zeiten, in denen Klimaschutz im Fokus der öffentlichen Debatte steht, wird seltener über Wachstum gesprochen. Eine ähnliche Korrelation zeigt sich auch im Kurvenverlauf zum „Umweltschutz“, dem Begriff, der spätestens mit dem UN-Millenniumsgipfel vom Nachhaltigkeitsbegriff abgelöst worden ist. (Vgl. auch die politische Diskursanalyse von Rivera, & Zucher, F., 2019.)

Dieses kurze Schlaglicht veranschaulicht aus meiner Sicht sehr gut, wie eng Nachhaltigkeit und Wachstum im gegenwärtigen Wortgebrauch miteinander verknüpft sind. Die Einführung des Nachhaltigkeitsbegriffes in den politischen und gesellschaftlichen Diskurs war zweifellos wichtig, nicht zuletzt weil es die „Entstehung eines neuen Bewusstseins“ markiert hat (Grober, 2010). Doch der Begriff hat „in den letzten Jahren eine Bedeutungsverschiebung erfahren hat, die ihn als umweltwissenschaftlichen Leitbegriff unbrauchbar machen könnte“, wie der Politikwissenschaftler Jörg Tremmel (2004:26) vor rund 15 Jahren resümierte.

Das „It pays to be green“-Narrativ steht in einem auffälligen Gegensatz zu den eingangs dargestellten empirischen Daten, die auf eine „globale Zivilisationskrise“ hindeuten, dennoch hält es sich „relativ hartnäckig in der Praxis“, konstatiert Georg Müller-Christ (2014:27). Der Wirtschaftswissenschaftler setzt dem vorherrschenden Nachhaltigkeitsverständnis sein Modell der ressourcenorientierten Nachhaltigkeit entgegen:

„Der ressourcenorientierte Nachhaltigkeitsansatz verweist darauf, dass die drei Ressourcenquellen Wirtschaft, Natur und Gesellschaft sehr unterschiedliche Eigengesetzlichkeiten haben, die eben nicht gleichwertig nebeneinander gestellt oder füreinander instrumentalisiert werden dürfen. Intensivere und größere ökonomische Erfolge (Gewinne, Marktanteile, Umsatz) benötigen einen effizienteren Mitteleinsatz, mehr Rücksicht auf die Natur erfordert eine drastische Reduzierung des Produktionsvolumens und der Schadstoffemissionen und mehr Rücksicht auf den Mensch verlangt weniger stressige Arbeitsverhältnisse und mehr Sinnkonstruktionen in der Wirtschaft. Die Eigengesetzlichkeiten aller drei Ressourcenquellen lassen sich nicht gleichzeitig verfolgen oder berücksichtigen.“ (Müller-Christ, 2014:133)

Ressourcen sind materiell und immateriell: Sie umfassen gleichermaßen die planetaren Grenzen, die Funktionalität der Wirtschaft sowie die Stabilität von Gesellschaft und Politik. Ressourcenorientierte Nachhaltigkeit bedeutet, nicht mehr Ressourcen zu nutzen als sich regenerieren können. So einfach dieser Gedanke klingt, trivial ist er nicht. Gemäß dem ressourcenorientierten Nachhaltigkeitsansatz existiert zwischen den Prinzipien des effizienten Erfolgsdenkens und des rücksichtsvollen Gemeinschaftsdenkens ein unauflösbarer Zielkonflikt. Dem herrschenden Win-Win-Postulat (Gewinn durch Nachhaltigkeit) wird klar widersprochen. Dieses andere Verständnis von Nachhaltigkeit führt zu völlig neuen betriebswirtschaftlichen Fragestellungen und Managementrationalitäten. Deshalb möchte ich dieser Spur auch bezogen auf mein Untersuchungsfeld nachgehen. Vielleicht ist der ressourcenorientierte Nachhaltigkeitsansatz geeignet, um im Marketing tatsächlich neue Möglichkeitsfenster aufzustoßen? (Abbildung 1.2)

Abbildung 1.2
figure 2

(Eigene Darstellung; Symbolbilder: icon-icons.com; freepik)

Im Widerspruch zum herrschenden Win-Win-Postulat: der ressourcenorientierte Nachhaltigkeitsansatz (mittig).

2.2 Konsum

„Nachhaltiger Konsum“ wird häufig mit der sogenannten „Oslo-Definition“ beschrieben als:

“(…) the production and use of goods and services that respond to basic needs and bring a better quality of life, while minimising the use of natural resources, toxic materials and emissions of waste and pollutants over the life cycle, so as not to jeopardise the needs of future generations.” (Brundtland, 1994)

Einen wichtigen Rahmen des gegenwärtigen Diskurses zum Thema „nachhaltiger Konsum“ bilden Programme, die seit Anfang der 1990er Jahre von der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung beschlossen worden sind. Den Beginn markiert die Agenda 21 (UNCED, 1992), verabschiedet im Jahr 1992 beim ersten Weltgipfel in Rio de Janeiro. Die zweite UNCED-Konferenz in Rio de Janeiro zwanzig Jahre später markiert einen wichtigen Meilenstein, auch weil hier das 10-Jahres-Programm für nachhaltige Konsum- und Produktionsmuster (UNCED, 2012) beschlossen wurde. Die Umsetzung der „10 Year Framework of Programmes“ (10YFP) wurde im Zielkatalog der Sustainable Development Goals – im SDG 12.1 – aufgenommen. In der Agenda 2030 (UN, 2015), die beim United Nations Sustainable Development Summit verabschiedet worden ist, sind als SDG 12 „Nachhaltige Konsum- und Produktionsmuster“ als ein eigenständiges Ziel aufgeführt.

“Achieving economic growth and sustainable development requires that we urgently reduce our ecological footprint by changing the way we produce and consume [Hervorhebung von mir] goods and resources. Agriculture is the biggest user of water worldwide, and irrigation now claims close to 70 percent of all freshwater for human use.

The efficient management of our shared natural resources, and the way we dispose of toxic waste and pollutants, are important targets to achieve this goal. Encouraging industries, businesses and consumers to recycle and reduce waste is equally important, as is supporting developing countries to move towards more sustainable patterns of consumption by 2030.

A large share of the world population is still consuming far too little to meet even their basic needs. Halving the per capita of global food waste at the retailer and consumer levels is also important for creating more efficient production and supply chains [Hervorhebung von mir]. This can help with food security, and shift us towards a more resource efficient economy.” (UNDP, 2015)

Die SDG 12 weisen in zwei Richtungen: Die systemische Perspektive zielt auf ein gesellschaftliches Umdenken und eine Transformation der Produktions- und Konsumstrukturen. Der „technische“ Blick konzentriert sich auf das Fördern von Effizienz, insbesondere durch technologische Verbesserungen in der Produktion und nachhaltige Verbraucherentscheidungen. Damit spiegeln die SDG 12 die zwei grundsätzlichen Ansätze der rezenten Forschungen zu nachhaltigem Konsum und nachhaltiger Produktion wider (Bengtsson et al., 2018:1533). Einen aktuellen Überblick über das weite Feld der Forschungen zu „Nachhaltigem Konsum“ bieten u. a. Reisch & Thøgersen (2015) und Caruana et al. (2016).

Heute herrscht in der Literatur weitestgehend Konsens, dass sich die Verantwortung für „nachhaltigen Konsum“ auf verschiedene Akteure – Unternehmen und Konsumierende sowie Staat, Verbraucher- und Umweltorganisationen, Wissenschaft und Medien – verteilt (Übersicht bei Belz et al., 2007; Schrader, 2013; Müller, 2019). In einer Stellungnahme des wissenschaftlichen Beirats Verbraucher- und Ernährungspolitik beim Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (BMELV) wird mit dem „Prinzip der geteilten Verantwortung“ deutlich benannt, dass keinem Akteur eine Hauptverantwortung zugeschrieben werden kann:

„Nach dem Prinzip der geteilten Verantwortung für einen nachhaltigen Konsum gibt es keine Hauptverantwortlichen, sondern ein Wechselspiel gegenseitiger Verantwortlichkeiten zahlreicher Akteure. (…) Sie beeinflussen sich mit ihren Entscheidungen gegenseitig und hängen damit in hohem Maße voneinander ab. Konsumenten tragen dabei nicht die Hauptverantwortung.“ (Schrader et al., 2013:6)

Diese Analyse entlässt Konsumierende nicht aus der Verantwortung, sondern bezieht sich auf einen „Idealtypus des verantwortlichen Verbrauchers“, der durch Verbraucherpolitik zu fördern sei:

„Verbraucherpolitik, die nachhaltigen Konsum fördern will, kann dazu beitragen, dass Verbraucher mehr Verantwortung in diesem Bereich übernehmen und damit die Lücke zwischen Einstellung und Verhalten schließen. Die Orientierung am Idealtypus des verantwortlichen Verbrauchers ist dabei ein relativ neuer Ansatz für Verbraucherpolitik (…)“ (ebd.)

Forschung und Politik im Themenfeld des nachhaltigen Konsums sind stark auf das individuelle Verhalten von Verbraucher:innen ausgerichtet. So wird auch in der Forschungsagenda Green Economy (BMBF, 2014) ein besonderer Fokus auf die Rolle von Konsumierenden gelegt:

„Forschung zu nachhaltigem Konsum umfasst insbesondere ein besseres Verständnis des Verbraucherverhaltens und neue Wege der Verbraucherkommunikation.“ (BMBF, 2014:25)

Die Zitate illustrieren, das die Vorstellung vom „schlafenden Riesen Konsument“Footnote 3 bzw. das Leitbild der KonsumentensouveränitätFootnote 4, also die Annahme, dass Konsumierende qua Einkaufszettel über die Produktion entscheiden, eine zentrale Kategorie darstellt (vgl. auch Literaturüberblick bei Fischer et al., 2021). Zum Untermauern wird wahlweise auf einer „moralphilosophischen Grundlage“ argumentiert (Schmidt, 2016:23), auf erweiterte Verbraucherrechte verwiesen, was „auch eine Zunahme der Verantwortung für nachhaltigen Konsum mit sich bringt“ (Schrader 2011:80), oder es werden kausallogische Gründe nach dem Verursacherprinzip genannt:

„Geht man davon aus, dass die Herstellung von Produkten und Dienstleistungen der Befriedigung der Endnachfrage dient, so lassen sich im Prinzip fast die gesamten Nachhaltigkeitsprobleme dem Konsum der privaten Haushalte zuordnen.“ (Belz & Bilharz, 2005a:8)

In dieser Konzentration auf das individuelle Verbraucherverhalten steht ein Phänomen im besonderen Fokus: die sogenannte „Attitude-Behaviour Gap“. (Vgl. Literaturübersicht bei Marcinkowski & Reid, 2019.) Dieser Terminus beschreibt die Lücke zwischen Einstellung (attitude) und Verhalten (behaviour) von Konsumierenden. Ein umfangreiches, interdisziplinär ausgerichtetes Forschungsprojekt im deutschsprachigen Raum hat sich dem Themenschwerpunkt „Vom Wissen zum Handeln – Neue Wege zum nachhaltigen Konsum“ gewidmet (Blättel-Mink at al., 2013). Laut Umfragen (BMU & BFN, 2018) nimmt das Nachhaltigkeitsbewusstsein der Konsumierenden zu, doch diese Bereitschaft zum verantwortlichen Konsum spiegelt sich nicht im Handeln wider. Der Widerspruch zwischen dem Wollen und Handeln von Konsumierenden gilt in der Forschung zu nachhaltigem Konsumhandeln als „zentraler Befund“ (Heidbrink & Schmidt, 2011:36). Nur wenige Autoren stellen das Phänomen in Frage und ordnen es, wie z. B. Auger & Devinney (2007) als Artefakt der Datenerhebung ein.

Die Forschung zu den Ursachen der Attitude-Behaviour Gap lässt sich in zwei „Lager“ (Caruana et al., 2016:215 ff.) teilen: Ein Forschungszweig nimmt, ausgehend von Modellen des rationalen Verbraucherverhaltens, die individuelle Ebene in den Blick und untersucht individuelle Werte, Einstellungen sowie Normen von Konsumierenden. Diese Ansätze beruhen zumindest implizit auf der Theorie des geplanten Verhaltens (Ajzen, 1985; Armitage & Connor, 2001; Frey et al., 1993) und gehen davon aus, dass zwischen individuellem Wertesystem und individuellem Verhalten ein direkter Zusammenhang besteht. Der andere Forschungszweig betrachtet Konsum in einem breiteren sozio-kulturellen Kontext. Aus dieser Perspektive erscheint individuelles Konsumhandeln maßgeblich durch äußere Rahmenbedingungen und eingeübte Alltagsroutinen bestimmt und entsprechend schwer veränderbar (Jaeger-Erben et al., 2017:9). Im Untersuchungsfokus stehen u. a. alternative Konsummuster und Lebensstile, zum Beispiel die sogenannten „LOVOS“ (lifestyle of voluntary simplicity) (Bekin et al., 2005) oder Anti-Konsum (Cherrier et al., 2011).

Konsumforschung ist auch häufig von der impliziten Annahme begleitet, dass technologische Veränderungen der wichtigste Beitrag zur Bewältigung gesellschaftlicher Probleme sind (Coenen & Díaz López, 2009:9). Effizienzoptimismus ist im Konsum jedoch nicht immer begründet. Denn neue und effizientere Technologien führen unter bestimmten Bedingungen keineswegs zu weniger Konsum, sondern häufig auch zu mehr Konsum. Dieses Phänomen – bekannt als Rebound-Effekt bzw. Jevons-Paradoxon – ist ein weiterer wichtiger Fokus der Konsumforschung (Herring & Sorrel, 2008; Madlener & Turner, 2016; Santarius, 2015).

Insgesamt sind Forschungen zu nachhaltigem Konsumhandeln überwiegend auf einzelne ausgewählte Aspekte bzw. Bereiche konzentriert. Sie liefern vielschichtige Erklärungsansätze für spezielle Fragestellungen. Im Vergleich dazu sind Arbeiten, die die komplexen Wechselbeziehungen innerhalb des Konsumsystems in den Blick nehmen, selten. Der Mangel an systemischen Analysen wird mit Verweis auf die „Falle des Reduktionismus“ (Reynolds & Holwell, 2010) angemahnt. Diesem Forschungsdesideratum nehme ich mich mittels des gewählten methodischen Zugangs unmittelbar an. Die Aufstellungsmethode ermöglicht einen tieferen Blick in systemische Dynamiken – vielleicht lassen sich mit ihr auch im Konsumsystem Zusammenhänge beobachten, die bisher übersehen oder vernachlässigt worden sind?

2.3 Marketing

Marketing ist eine recht junge Disziplin. Der Deutsche Marketing Verband (DMV) hat sich im Jahr 1956 gegründet. Der erste Marketing-Lehrstuhl in Deutschland wurde 1969 in Münster – unter der Leitung von Heribert Meffert – eingerichtet. Seine Wurzeln hat das Marketing in den USA. Die erste Definition aus dem Jahr 1935 lautete:

„(Marketing is) the performance of business activities that direct the flow of goods and services from producers to consumers.“ (zitiert nach Keefe, 2004:17)

Diese ursprüngliche Definition stammt von der National Association of Marketing Teachers, der Vorgängerorganisation der heutigen American Marketing Association (AMA) und hatte 50 Jahre lang Bestand, bis sie im Jahr 1985 erstmals überarbeitet wurde. Heute existieren in Wissenschaft und Praxis zahlreiche Definitionen des Marketing-Begriffs (Übersicht bei Bruhn, 2016:13 ff.; Meffert et al., 2019:11 f.).

Die Grundidee von Marketing ist die Beobachtung des Marktes, um das unternehmerische Handeln konsequent an dessen Bedürfnissen ausrichten zu können. Die unterschiedlichen Interpretationen des Marketingbegriffs spiegeln den zeitgeschichtlichen Wandel im Marktgeschehen wider:

Das frühe Verständnis von Marketing reflektiert die Situation ungesättigter Märkte, wie sie z. B. in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg existierten: Die einzige Aufgabe von Marketing bestand darin, hohe Stückzahlen zu minimalen Kosten zu produzieren. In den 1960er Jahren, als erste Überkapazitäten entstanden, änderte Marketing seine bisherige Innenorientierung und begann, die Kunden- und Wettbewerbsorientierung als seinen paradigmatischen Kern auszubilden. In dieser ersten Entwicklungsphase waren operative Verkaufsinstrumente systematisch weiterentwickelt worden, doch mit zunehmendem Wettbewerb ab den 1970er Jahren erfuhr die Disziplin dann auch instrumentell-strategisch einen gewaltigen Innovationsschub. Es entstand ein vielfältiger Methodenmix, der bis heute für die Disziplin kennzeichnend ist.

Marketing ist spätestens seit den 1970er Jahren weit mehr als nur „Werbung“ und „Absatzförderung“. Auch wenn sich in der Praxis beharrlich ein instrumentell verkürztes Marketingverständnis hält (und die Leitmedien der Branche Titel tragen wie „Werben & Verkaufen“ und „Absatzwirtschaft“Footnote 5) hat sich heute – zumindest im Bereich der Forschung – ein erweitertes Marketingverständnis durchgesetzt: Als geeignete Grundlage für eine moderne Interpretation von Marketing zitieren Heribert Meffert et al. (2019:10) die Definition des American Marketing Association (AMA) aus dem Jahr 2007, die zuletzt im Jahr 2017 bestätigt worden ist:

„Marketing is the activity, set of institutions, and processes for creating, communicating, delivering, and exchanging offerings that have value for customers, clients, partners, and society at large.“ (AMA, 2017)

Nach dieser Definition ist der Aufgabenbereich von Marketing nicht auf die unternehmerische Wertschöpfung begrenzt, sondern kann sich auf die Gesellschaft als Ganzes erstrecken. Die Reduzierung von Marketing auf Absatzorientierung wird dem breiten Aufgabenspektrum, das sich im Zeitverlauf kontinuierlich erweitert hat, nicht gerecht. Mit der Globalisierung der Märkte, der Entwicklung neuer Medien sowie den Herausforderungen von Nachhaltigkeit hat Marketing regelmäßige „Updates“ erfahren. Der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Philip Kotler (Kotler et al., 2010; 2017) hat die Entwicklungsstufen des Marketing mit technischen Begriffen bezeichnet: Beim Marketing 3.0 (ab ca. den 1980er Jahren) steht die gesellschaftliche Verantwortung im Fokus und nicht mehr einzig die Verbraucher:innen (Marketing 2.0) oder wie direkt nach dem Zweiten Weltkrieg nur das Produkt (Marketing 1.0). Ab den 2010er Jahren hat sich im Zuge der Digitalisierung und den damit verbundenen Veränderungen von Kommunikations- und Vertriebsprozessen eine weitere Stufe herausgebildet: Ein Marketing 4.0., das stark über die sozialen Netzwerke funktioniert.

Die Abbildung 1.3 zeigt die Entwicklungsstufen des Marketing in der Übersicht.

Abbildung 1.3
figure 3

(Eigene Abbildung in Anlehnung an Meffert, 2019; Kotler et al., 2010; 2017)

Bisherige Entwicklungsstufen des Marketing.

Die 1980er Jahre markierten eine Zäsur in der Entwicklung des Marketing. In den Ländern des Globalen Nordens herrscht spätestes ab diesem Zeitpunkt eine absolute Übersättigung der Märkte. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit sind mehr Güter verfügbar, als zur Deckung der Grundbedürfnisse notwendig sind. Damit ist der Wechsel vom Verkäufermarkt zum Kundenmarkt endgültig vollzogen. Doch vor allem hatte sich die grundsätzliche Funktion von Wirtschaft und somit auch von Marketing geändert. War es bis dahin die Aufgabe gewesen, Mangel zu beseitigen, ist die Herausforderung von da an gewesen, Mangel künstlich zu erzeugen! Der Harvard-Ökonom John Kenneth Galbraith prägte dafür Ende der 1950er Jahre – mit Blick auf die US-amerikanische Nachkriegswirtschaft – den Begriff des Konsumismus, der eine „Atmosphäre privaten Reichtums und öffentlicher Misere“ (Galbraith, 1959:274) schaffe. Marketing hat eine lange Reihe effektiver Instrumente der Nachfrageförderung entwickelt, durch die es zunehmend in Kritik geraten ist. Besonders umstritten ist die Praxis der sogenannten „geplanten Obsoleszenz“, bei der die Lebensdauer von Produkten durch den Einbau von minderwertigen Verschleißteilen und fehlenden Ersatzteilen verkürzt wird. Marketing hat sich heute teils sehr weit von seiner ursprünglichen, positiven Versorgungs- und Wohlstandsfunktion entfernt und hat aktiv Anteil an Überkonsum und damit verbundenen schädlichen Wirkungen auf Mensch und Umwelt. Der deutsche Wirtschaftswissenschaftler und Marketingexperte Hans Raffée (1979:13 ff.) hat die ambivalente Rolle von Marketing treffend als „Janusköpfigkeit“ bezeichnet. Eine dysfunktionale Rolle von Marketing beschreibt auch Noam Chomsky. In einem Interview für das österreichische Fernsehen nennt der US-amerikanische Linguist, der u. a. das medienwissenschaftliche Propagandamodell (Herman & Chomsky, 1995) entwickelt hat, Märkte zu untergraben, „eine der wichtigsten Funktionen von Marketing“. Er verweist auf die zentrale Prämisse vieler Wirtschaftstheorien, dass Märkte darauf gründen, dass rationale Käufer rationale Entscheidungen treffen. Marketing jedoch konterkariere diese ökonomische Funktionsbedingung:

„Schaltet man aber den Fernseher ein, dann sieht man, es ist Ziel der Werbung, uninformierte Konsumenten zu schaffen, die irrationale Entscheidungen treffen. So wird das Funktionieren der Märkte untergraben. [...] Werbung verleitet Konsumenten durch Täuschung zum Kauf von Produkten.“ (Chomsky; 2014:‘3:17)

Noch grundsätzlicher ist die Kritik von Erich Fromm. Der deutsch-US-amerikanische Philosoph und Sozialpsychologe verknüpft den Marketing-Begriff mit der „Identitätskrise der modernen Gesellschaften (die) … darauf zurückzuführen (ist), daß ihre Mitglieder zu selbst-losen Werkzeugen geworden sind, deren Identität auf ihrer Zugehörigkeit zu Großkonzernen (oder anderen aufgeblähten Bürokratien) beruht“. Den Menschentypus, der sich selbst als Ware erlebt, bezeichnet Fromm (1976/2011:179 ff.) als „Marketing Charakter“.

Als Reaktion auf die Kritik an Marketing sowie der allgemeinen umweltpolitischen Sensibilisierung hat die Disziplin – bereits seit den 1980er Jahren – damit begonnen, sich mit ökologischen Fragestellungen auseinanderzusetzen. Aus den frühen Ansätzen des Öko-Marketing (Balderjahn, 1996; Belz, 2001; Lichtl, 1999; Meffert 1993; Meffert & Kirchgeorg, 1998) haben sich bis heute unterschiedliche Modelle des Sustainable Marketing bzw. Nachhaltigkeitsmarketing sowie der CSR-Kommunikation herausgebildet (vgl. Übersicht bei Griese, 2015; Kenning, 2014:17; ferner Stehr & Struve, 2017; Taubken et al., 2017).

Nachhaltigkeit wird von manchen Autor:innen heute zu den „10 wichtigsten Zukunftsthemen im Marketing“ gezählt (Stumpf, 2016; vgl. auch Kirchgeorg & Bruhn, 2018:443 f.). Dennoch wird der Branche im Umgang mit den drängenden Herausforderungen der globalen Klima- und Vielfachkrise eine gewisse „Halbherzigkeit“ (Zentes, 2018:394) attestiert. Ähnliches beobachten Frank Belz und Ken Peattie (2012) aus angloamerikanischer Perspektive:

“All this time, and through all the momentous change, the way in which we teach marketing, and the books from which we teach marketing have barely changed. They may have evolved to reflect the use of new technologies in marketing or to register that environmental and ethical concerns are one type of issue that may influence consumers’ behavior but they have never sought to rethink marketing in light of the new realities that exist in the world.” (Belz & Peattie, 2012:xi)

In der praktischen Umsetzung bewegt sich Nachhaltigkeitsmarketing, das auch Green Marketing genannt wird, meist noch im Rahmen der klassischen ökonomischen Funktionslogik. Es hat zum Ziel, „nachhaltige Produkte“ zu vermarkten. Die Schlüsselfrage des Nachhaltigkeitsmarketing lautet: „Wie können sozialökologische Produkte und Leistungen, die einen Beitrag zur Lösung der Nachhaltigkeitsprobleme leisten, erfolgreich vermarktet werden“ (Belz & Bilharz, 2005b:8)? Zielgruppe sind dabei eine (stark wachsende) kaufkräftige Konsumentengruppe, die nachhaltige Werte über den Preis stellt und zu der rund ein Drittel aller Konsumierenden gezählt werden kann: die sogenannten „LOHAS“, abgeleitet vom englischen „Lifestyle of Health and Sustainability“. (Vgl. auch Glöckner et al., 2010; Weykopf, 2019.) Eine Gefahr bei diesem Ansatz ist, dass sich Unternehmen dem Vorwurf des Greenwashing aussetzen. Unternehmen verkaufen „ihren Kunden den Mehrwert des guten Gewissens, damit diese weiter sorglos konsumieren können. Greenwashing nennt sich diese Strategie“, schreibt z. B. die Journalistin Kathrin Hartmann (2018:17). Wohl jede:r kennt Beispiele von sogenanntem „Greenwashing“ oder „Social Washing“, bei denen nur die Verpackung oder die Kampagne „green“ ist (ein Überblick bei Lyon & Montgomery, 2015).

Einen bewussten Kontrapunkt zum klassischen (Green-)Marketing setzt das Suffizienzmarketing. Dieser junge, in der Wissenschaft noch selten beschriebene Ansatz zielt auf Verhaltensveränderungen der Kund:innen und wirbt für einen genügsamen und umweltverträglichen Konsum. Suffizienz-Strategien werden in der Literatur auch als „Consumer Social Responsibility (CnSR)-Kommunikation“ (Fricke, 2015; Schrader & Fricke, 2015), „Demarketing“ (Reduktionsmarketing) und „Countermarketing“ diskutiert (Literaturübersicht bei Frick & Gossen, 2019; Gossen et al., 2019).

Des Weiteren hat sich eine Ausrichtung im Marketing entwickelt, die für die Akzeptanz von ökologischen und sozial verträglichen Ideen wirbt. Ziele eines Marketing für Nachhaltigkeit sind es u. a. Sensibilisieren für Nachhaltigkeit, Information und Aufklärung sowie Aufzeigen von nachhaltigeren Konsum- und Lebensweisen auf individueller und kollektiver Ebene. Marketing wird als Sozialtechnologie verstanden (Belz & Bilharz, 2005b:6). Ein prominenter Vorreiter dieses Ansatzes ist Philip Kotler. Der US-amerikanische Marketingwissenschaftler ist überzeugt, dass Marketing zu einer generellen Verbesserung der Lebensqualität beitragen kann:

“Marketing is a societal process by which individuals and groups obtain what they need and want through creating, offering, and freely exchanging products and services of value with others.” (Kotler et al., 2009/2016:13)

Ein frühes Praxisbeispiel für ein solches Marketingverständnis erkenne ich beim Mailänder Fotograf Oliviero Toscani (1997; 2018), der bereits in den 1970er Jahren forderte, dass sich Marketing auch gesellschaftlich nützlich machen sollte. Pier Paolo Pasolini, der sozialkritische Publizist, Regisseur und Mystiker, schreibt anlässlich Toscanis berühmter Kampagne zur Jeansmarke „Jesus“Footnote 6:

„Diejenigen, die diese Jeans hergestellt und sie auf den Markt gebracht haben, indem sie eines der Zehn Gebote als pragmatischen Slogan benutzten, beweisen mit ihrem sicheren Mangel an Schuldbewußtsein, daß sie sich längst außerhalb jenes Kreises befinden, der unsere Art zu leben und unseren geistigen Horizont umschließt. Dem Zynismus dieses Slogans liegt eine Intensität und eine kindliche Unschuld von einer absolut neuen Qualität zugrunde. [...] In seiner lakonischen Art erklärt er [der Slogan] uns hinreichend und definitiv, daß diese neuen Industriellen mitsamt ihrer neuen Fachleute vollkommen von dieser Welt sind, von einer solchen Weltlichkeit, die sich nicht einmal mehr mit der Religion messen will. […] Er zeigt die eigentlich nicht vorhergesehene Möglichkeit auf, die Sprache der Slogans, und damit die der Industriewelt, mit einem ideologischen Sinn zu versehen und dadurch erst expressiv zu machen.“ (Pasolini, zitiert nach Toscani, 1997:138)

Den Raum dieser von Pasolini beobachteten, „eigentlich nicht vorhergesehenen Möglichkeit“ von Marketing, gesellschaftliche Themen in Ausdruck und Stärke zu unterstützen, möchte ich im Rahmen meiner Arbeit genauer erkunden.

3 Mein subjektiver Kontext

Forschende nähern sich ihrem Gegenstand niemals frei von Vorannahmen und persönlichen Eindrücken. Wissenschaft kann somit kein absolutes Wissen hervorbringen. Diese Beobachtung, die Michael Gibbons, Helga Nowotny und Peter Scott (Gibbons et al., 1994) u. a. unter der Überschrift der Mode 2-Forschung beschrieben haben, wird von manchen Wissenschaftler:innen – selbst in der qualitativen Sozialforschung – auch heute noch „tabuisiert“. Dabei gibt es für die Subjektivität von Forschenden hinreichend wissenschaftstheoretisch nachvollziehbare Gründe bzw. – so formuliert der deutsche Sozialwissenschaftler Jo Reichertz (2015a:1), ein Hauptvertreter des kommunikativen Konstruktivismus – „das gilt als ausgemacht“.

Eine erste Erkenntnisgebundenheit von Forschenden ergibt sich aus den individuellen Präkonzepten, die auf der persönlich-institutionellen Einbindung oder ethischen Bezügen gründen (Bergman & Eberle, 2010:19). Bei mir sind dies zweifellos die Vorannahmen, die ich aus meiner berufspraktischen Erfahrung im (Sozial-)Marketing mitbringe.

Ein weiterer Bereich, der in einem (qualitativen) Forschungsprozess unbedingt reflektiert sein muss, ist die eigene erkenntnistheoretische Grundhaltung bzw. das epistemologische Verständnis als Wissenschaftler:in. Dieses lenkt nicht allein die grundsätzliche Ausrichtung des Forschungsprozesses, sondern bestimmt überhaupt dessen Ausgangspunkt, weil initiale Fragestellung sowie Explikation des methodischen Vorgehens darauf gründen.

3.1 Meine wissenschaftstheoretische Positionierung

Ich habe den Forschungsprozess nicht als Wissenschaftlerin begonnen, sondern ich bin direkt aus der Praxis heraus gestartet: als fragende Marketerin; als Suchende und Entdeckerin innerhalb meines beruflichen Tätigkeitsbereiches. Auf diesem Hintergrund ist mein Forschungsverständnis zunächst einmal zutiefst pragmatisch; die Aufgabe von Forschung besteht für mich persönlich darin, nützlich zu sein.

So habe ich auch meine epistemologische Grundhaltung in einer „Logik der Transzendenz“ (Müller-Christ & Pijetlovic, 2018:15) entwickelt. Sie basiert auf erkenntnistheoretischen Ansätzen, die in der Vergangenheit teilweise als konträr galten. Für mich sind systemisch-konstruktivistisches und phänomenologisches Denken sowie Epistemologie und Ontologie keine dichotomen Gegensätze, sondern für meinen Erkenntnisprozess ganz schlicht: hilfreich und nützlich.

3.1.1 Phänomenologisches Denken

PhänomenologieFootnote 7 untersucht, wie Menschen Wirklichkeit konstruieren. Ausgangspunkt ist die sinnliche Erfahrung des Menschen, also alles, was sich dem Menschen unmittelbar zeigt – eben die Phänomene. Gedanken und Fantasien sind demnach nicht weniger veritabel als physische Gegenstände (eine Einführung geben z. B. Depraz, 2012; Fellmann, 2016; Raab, 2008).

Für den Begründer der Phänomenologie Edmund Husserl (1859–1938) liegt der wahre Wesensgehalt einer Sache auf einer Ebene, die von Umwelteinflüssen, Vorurteilen subjektiven Erfahrungen, gelerntem Wissen etc. verdeckt ist. Die deutsche Psychologin Insa Sparrer (2001) – sie hat gemeinsam mit dem Logiker Matthias Varga von Kibéd die Arbeit mit Systemischen Strukturaufstellungen begründet – beschreibt Phänomenologie als einen Weg, der eine weitreichende Vorstellung von Wirklichkeit, dem „Wesen der Welt“ (Ludwig Wittgenstein im Tractatus) ermöglicht:

„Die Phänomenologie versucht, durch unterschiedliche Formen der Reduktion das Wahrgenommene von Vorurteilen, subjektiven Erfahrungen, Kulturellem, Geschichtlichen, gelerntem Wissen und Nicht-Denknotwendigen zu reinigen und dabei sogar von der Existenz des Wahrgenommenen abzusehen, um zum puren, intentional auf den Gegenstand gerichteten Bewusstseinsakt zu gelangen.“ (Sparrer, 2001:72)

Die phänomenologische Grundhaltung der Offenheit drängt dazu, die eigene Perspektive zu verlassen und weitere Blickwinkel auszuprobieren. So hilft die phänomenologische Reduktion mittels Epoché – Insa Sparrer (2001:90 f.) spricht von „Urteilsenthaltsamkeit“ –, zunächst auf eine Interpretation des Wahrgenommenen zu verzichten: Aus phänomenologischer Sicht erlaubt erst das Abrücken vom Gegenstand der Untersuchung … „eine wissenschaftliche Betrachtung, denn nur so kann uns der Gegenstand als reines Phänomen entgegentreten“ (ebd.). Die Phänomenologie fördert mittels eidetische Reduktion ein aufmerksames Wahrnehmen. Sie lenkt den Blick darauf, welche subjektiven Begriffsbildungen, Urteile und Färbungen, die durch Erfahrungen und Vorstellungen geprägt wurden, in die eigene Wahrnehmung einfließen. Im phänomenologischen Denken lässt sich Wesentliches nur im subjektiven, wertempfindenden Erleben erfassen. Die Psychotherapeutin und Systemaufstellerin Diana Drexler (2015:23) zeichnet die Phänomenologie deshalb als „die Grundlagenwissenschaft der subjektiven Erfahrung“.

Der phänomenologische Ansatz sensibilisiert mich für die Möglichkeiten, sinnliche Erfahrung im Forschungsprozess zu nutzen und hat damit meine Analyseeinstellung maßgeblich beeinflusst. Nicht nur Verstandesdenken sowie visuelle und auditorische Sinne sind im Erkenntnisprozess nützlich. Auch körperliche Empfindungen, Gefühle und Intuition übermitteln mir als Forschende wichtige Informationen. Methodisch ist es anspruchsvoll, geistige und emotionale Erfahrung in Daten umzuwandeln. Auch persönlich fordert mich eine solche sensorische wie emotionale Offenheit im Forschungsprozess in besonderer Weise, schult meinen Umgang mit meiner Sensibilität und übt, das Erleben in Sprache auszudrücken. Die phänomenologische Perspektive hat mich während des Forschungsprozesses immer wieder daran erinnert, innezuhalten und einen Schritt zurück zu gehen, um mit etwas Abstand auf mein Untersuchungsfeld, meine Forschung und auch auf mich selbst zu schauen.

Konstruktivismus und Phänomenologie stimmen darin überein, dass die ontische Wirklichkeit nicht direkt erkennbar ist. Differenzen bestehen jedoch in den spezifischen Antworten auf die Frage, wie noch ein Erkenntnisfortschritt bzw. objektive Erkenntnis möglich sind, wenn die Welt an sich doch unfassbar ist.

3.1.2 Systemisch-konstruktivistische Perspektive

Grundlage der Systemtheorie sind konstruktivistische AnnahmenFootnote 8 (eine Einführung geben z. B. Baecker, 2005; Gumin & Meier, 2005; Simon, 2015). Der Konstruktivismus besagt, dass es keine vom Beobachtenden unabhängige Wirklichkeit gebe. Eine zentrale Behauptung des Konstruktivismus formuliert der österreichische Physiker, Philosoph und Kybernetiker Heinz von Foerster:

„Die Umwelt, so wie wir sie wahrnehmen, ist unsere Erfindung.“ (zitiert nach Watzlawick, 2001:40)

Der Anspruch auf Objektivität erscheint aus der systemisch-konstruktivistischen Perspektive als unsinnig. Denn nicht der beobachtete Gegenstand bzw. Prozess bestimmen die Erkenntnis, sondern die Art und Weise der Beobachtung. Die „Wirklichkeit“ ist immer durch die Brille des jeweils Beobachtenden rekonstruiert.

Beobachten können immer nur Systeme. An dieser Stelle kommt das von Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela (1982) im Bereich der Neurobiologie entwickelte Konzept der Autopoiese ins Spiel. Die beiden Biologen bezeichnen damit ein kybernetisches Organisationsprinzip, das für alle Lebewesen gilt und auch auf soziale Systeme – u. a. von Niklas Luhmann – übertragen worden ist. Wichtiges Merkmal autopoietischer Systeme ist ihre operative Geschlossenheit gegenüber ihrer Umwelt. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Systeme nicht sensibel für Umweltreize sind. Es bedeutet vielmehr, dass autopoietische Systeme ihre Zustände selbstreferentiell, nach Maßgabe interner Strukturen steuern können. Zur Umwelt besteht eine strukturelle Kopplung, d. h. das System wählt seine Außenkontakte selbst aus.

Ein System kann ein System immer nur im Unterschied zur Umwelt sein, die wiederum durch das System selbst definiert wird. Konstruktion von Wirklichkeit basiert somit letztlich immer auf dem Treffen einer Unterscheidung. Als Ausgangspunkt des Erkennens steht somit die Differenz. Erst mit diesem „Unterschied, der einen Unterschied macht“ erhalte Beobachtetes einen Informationswert, erklärt Niklas Luhmann und bezieht sich dabei explizit auf den angloamerikanischen Philosophen Gregory Bateson:

„Am Anfang steht also nicht Identität, sondern Differenz. Nur das macht es möglich, Zufällen Informationswert zu geben und damit Ordnung aufzubauen; denn Information ist nichts anderes als ein Ereignis, das eine Verknüpfung von Differenzen bewirkt – a difference that makes a difference.“ (Luhmann, 1984/1991:112)

Jedes System weist beim Beobachten Blindstellen auf, da es den eigenen Prozess des Beobachtens – die dabei getroffene Unterscheidung – nicht beobachten kann. Zum Erkennen von „blinden Flecken“ (von Foerster) braucht es weitere Beobachtende. (Diese Beobachtung der Beobachtung kann zeitversetzt auch die erste Person übernehmen, als sich selbst beobachtende Beobachtende z. B. als Forschende.) Beobachtung lässt sich demnach unterteilen in „Beobachtung 1. und 2. Ordnung“ (Luhmann, 1990). Heinz von Foerster prägte in diesem Zusammenhang den Begriff der „Kybernetik der Kybernetik“. Bei der Beschreibung dieses rekursiven Prinzips bezieht sich von Foerster auf den englischen Logiker, Philosophen und Computerspezialisten George Spencer-Brown (1969/1997:1), der die Beobachtung der anderen Seite als „crossing“, als Seitenwechsel, beschrieben hat. (Wird ein crossing auf sich selbst angewandt, z. B. bei der Beobachtung der eigenen Beobachtungen als Forschende – handelt es sich um ein sogenanntes „re-entry“.)

Das systemisch-konstruktivistische Denken kann auch als „eine Anleitung zum Beobachten“ bezeichnet werden: „Sie trainiert das Wahrnehmen von Differenzen und Relativität.“ (Schuldt, 2005:52) Forschung ist nach systemisch-konstruktivistischer Lesart immer eine Entscheidung für eine bestimmte Sicht (oder dagegen). Die jeweils zugrunde gelegte Beobachtungsunterscheidung ist kein Prinzip, sondern hat den Charakter einer kontingenten Entscheidung, die immer auch anders ausfallen könnte.

Aus dem systemisch-konstruktivistischen Ansatz folgere ich für mich als Forschende den Auftrag, immer die eigene epistemologische Positionierung sowie subjektive Präkonzepte und Werthaltungen selbst-reflexiv als Teil des untersuchten Feldes im Blick zu behalten und auch für Dritte transparent zu machen – kurzum, daran zu erinnern, dass ich immer nur das sehe, was mein jeweils gewähltes Sichtfenster zulässt. Im Bewusstsein, dass jede Beobachtung blinde Flecken aufweist, erscheint es mir zudem essenziell, den Forschungsprozess iterativ bzw. zirkulär anzulegen sowie (inner- und außerwissenschaftliche) Perspektiven von Dritten in den Forschungsprozess einzubeziehen.

Das systemisch-konstruktivistische Denken ist in vielerlei Hinsicht ein nützliches epistemologisches Konstrukt. Es sensibilisiert auch dafür, dass jedes Thema auch immer in einem größeren Zusammenhang steht und lenkt den Blick von einfachen Ursache-Wirkung-Relationen auf komplexe Zusammenhänge und Wechselwirkungen in Systemen. Doch die konstruktivistische Annahme, objektive Erkenntnis sei unmöglich, bietet auch die Gefahr der Beliebigkeit. So basiert die Position, dass Wissenschaft keine normative Perspektive einnehmen dürfe, auf der (konstruktivistischen) Annahme, dass wertende Urteile „nicht objektiv respektive wissenschaftlich und rational“ seien, beanstandet der Nachhaltigkeitsforscher Felix Ekardt (2018:277).

In der Frage der Normativität von Forschung entferne ich mich von der dezidiert nicht-normativen Haltung im systemisch-konstruktivistischen Denken, wie es z. B. Niklas Luhmann in der Kontroverse mit Jürgen Habermas vertrat (Habermas & Luhmann, 1990). Nach meinem epistemologischen Verständnis, dass Forschung zunächst einmal zutiefst pragmatisch ist, muss es Normen mit objektiver Geltung geben: Forschung impliziert für mich einen sozialkritischen Anspruch. Die Systemforscherin Norma Romm (2015:420) argumentiert mit einem Zitat des norwegischen Psychologen Steinar Kvale (2002):

„A pragmatic approach implies that truth (ways of bringing forth worlds) ‘is whatever assists us to take actions that produce the desired results. Deciding what are the desired results involves value and ethics‘ (2002, p. 302).“

Vor diesem Hintergrund – der Möglichkeit und der Unmöglichkeit objektiver Erkenntnis – erscheint es mir notwendig, einen weiteren Zugang zum Ganzen zu finden.

3.1.3 Erkenntnistheorie und Ontologie

Gregory Bateson analysiert bereits in den 1970er Jahren die ökologische Krise als epistemologische Krise, in der sich vor allen Dingen die Krise im Verhältnis von Mensch und Natur reflektiere. In „Steps to an Ecology of Mind“ fordert er einen ontologischen Zugang zur Welt, bei dem sich die Menschheit als Bestandteil einer größeren ökologischen Einheit begreift:

„In der Naturgeschichte des lebenden Menschen können Erkenntnistheorie und Ontologie nicht voneinander getrennt werden. Seine (gewöhnlich unbewussten) Überzeugungen, in was für einer Art Welt er lebt, bestimmen, wie er sie sieht und sich in ihr verhält, und seine Formen von der Wahrnehmung und des Verhaltens bestimmen seine Überzeugungen von ihrer Natur.“ (Bateson, 1972/2014:406)

Bateson holt die Ontologie, die seit Kant durch Erkenntnistheorie ersetzt worden ist, zurück in die Wissenschaft. Die Annahme, dass das Ganze immer auch Teil eines „größeren Geistes“ sei, begründet Bateson mit dem kybernetischen Begriff „Selbstorganisation“ von Norbert Wiener:

„Die kybernetische Erkenntnistheorie, die ich ihnen vorgelegt habe, würde einen neuen Zugang nahelegen. Der individuelle Geist ist immanent, aber nicht nur dem Körper. Er ist auch den Bahnen und Mitteilungen außerhalb des Körpers immanent; und es gibt einen größeren Geist, von dem der individuelle Geist nur ein Subsystem ist. Der größere Geist läßt sich mit Gott vergleichen, und er ist vielleicht das, was einige Menschen mit Gott meinen, aber er ist doch dem gesamten in Wechselbeziehung stehenden sozialen System und der planetaren Ökologie immanent.“ (Bateson, 1972/2014:592 f.)

Im integralen Denken wird auf „diesen größeren Geist“ verwiesen, jedoch ohne dessen „gegenwärtig diskreditiertes ontologisches Gepäck“ (Wilber, o. J.). Dazu dient der Begriff „Holon“ („das Teil eines Ganzen Seiende“; griech. hólos, „das Ganze“ und on, „das Einzelne“), der auf den ungarisch-britischen Schriftsteller Arthur Koestler (1967/1982) zurückgeht. Unabhängig davon, wie die „Struktur“ nun wahrgenommen wird – ob nun als „Selbstorganisation“, „größerer Geist“, „Gott“ oder „Holon“ – sie führt letztlich zu einer Kritik am anthropozentrischen Zugang, die so auch von Wissenschaftler:innen ganz unterschiedlicher Provenance geäußert wird. Zum Beispiel vom Geologen Paul Crutzen, der zusammen mit dem Diatomeenforscher Eugene F. Stoermer die Bezeichnung der Gegenwart als „Anthropzän“ geprägt hat (Crutzen & Stoermer, 2000). Der Begriff steht heute als Synonym für die Krise im Verhältnis von Mensch und Natur (Crutzen, 2019).

Ein anderes Beispiel für ontologisches Denken sind die Vertreter:innen der sehr jungen wissenschaftstheoretischen Strömungen des Neuen Realismus und Spekulativen RealismusFootnote 9. So unterscheidet der Spekulative Realist Graham Harman, der sich u. a. auf die Phänomenologie von Husserl sowie von Heidegger bezieht, nicht zwischen Menschen, Gegenständen, Irrealem oder Fiktivem – für ihn sind alles reale Objekte. Auch das Subjekt, der Mensch, hat für den Philosophen, der an der Amerikanischen Universität in Kairo lehrt, keinen Sonderstatus. Nicht Kants „Ding an sich“ nehme der Mensch wahr, sondern dessen Verzerrung. Das bedeute jedoch nicht, dass der Zugang zum realen Objekt unmöglich sei, sondern nur, dass dieser indirekt passiere. Deshalb, sei das Reale „etwas, das man nicht verstehen, sondern nur lieben kann“ (Harman, 2012:26).

Angesichts der Vielfachkrise aus Klimakrise, Artensterben, Verlust von Seen, Flüssen und Boden, Armut, Flucht und Migration, Genozide wird ein Bewusstsein für das Ganze essenziell. Denn Natur, Gesellschaft und jeder einzelne Mensch bilden einen untrennbaren Wirkungszusammenhang. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, die epistemologische Perspektive auch spirituell offen zu halten, um – wie ein Maulwurf – immer weiter, vielleicht auch jenseits der instrumentellen Vernunft (Horkheimer, 1967/2007) „voranbuddeln“ zu können.

Die Reflexion meiner erkenntnistheoretischen Grundhaltung hat sich als ein wichtiger Abschnitt meines Forschungsvorhabens erwiesen. Ich habe dadurch an innerer Klarheit gewonnen, dass ich mit meiner Forschung nicht das Ziel verfolgen muss, Realität abzubilden, sondern sie als Möglichkeit begreifen darf, in meinem Untersuchungsfeld nach Perspektiven zu suchen, die nicht unmittelbar in Wert zu setzen sind und im Heute vielleicht utopisch erscheinen. Ich erfahre hier das besondere Privileg von Wissenschaft gegenüber der Praxis: In der Rolle der Wissenschaftlerin habe ich eine erheblich größere Freiheit, mich vom Untersuchungsgegenstand zu distanzieren. Diese „Differenz von lebensweltlicher und wissenschaftlicher Erfahrung“ (Westphal, 2014) ermöglicht mir, neue, vielleicht auch radikale Fragen zu stellen – Voraussetzung, um tatsächlich andere Möglichkeiten zu entdecken.

4 Erkenntnisleitende Fragen und Forschungsziele

Karl R. Popper (1902–1994) unterscheidet in seinem einflussreichen wissenschaftstheoretischen Buch „Logik der Forschung“ (Popper, 1934/2002) zwei grundlegende Ansätze: Forschung im „Entdeckungszusammenhang“ und Forschung im „Begründungszusammenhang“. Diese beiden Kategorien – die auch als „context of discovery“ und „context of justification“ von Hans Reichenbach (1938/2006) bekannt sind – sind später von anderen Autoren durch die Ebene des „Verwertungszusammenhangs“ ergänzt worden (Friedrichs, 2006:54).

Wichtig ist diese Unterteilung, weil sich daraus spezifische Qualitäten in der Fragestellung und den Zielen einer Forschungsarbeit ergeben. Wissenschaft heute ist zum überwiegenden Teil Forschung im Begründungszusammenhang: Tonangebend sind hypothesenüberprüfende Untersuchungsdesigns, die zudem häufig einem quantitativen Paradigma folgen (Astleitner, 2011:15; Hagen et al., 2015:129).

Die hier vorliegende Arbeit, die „das Alte anders zu betrachten und vielleicht auch tatsächlich Neues zu entdecken“ sucht, ist zuvörderst als Forschung im Entdeckungszusammenhang zu kategorisieren. Der Anlass meiner Untersuchung ist eine Problemstellung aus der Marketingpraxis, die aus meiner Sicht einer ausführlichen, wissenschaftlichen Analyse bedarf: Mich treibt die Frage nach dem Verhältnis von Marketing zu aktuellen sozialökologischen Herausforderungen um. Mich irritiert, dass Marketing sein Potenzial nicht zu nutzen vermag, um hier einen konstruktiven Beitrag zu leisten. Bisherige Herangehensweisen, wie z. B. das sogenannte „Green Marketing“ leisten – so mein subjektiver Eindruck aus der Praxis – keinen Beitrag zu einer notwendigen Neuorientierung im Konsumsystem, sondern unterstützen eher noch den schädlichen Status quo.

Die Branche – ich schließe mich hier ausdrücklich mit ein – hat auf die drängenden Fragen der Gegenwart keine adäquaten Antworten. Daher möchte ich zu Beginn meiner Untersuchung einen möglichst unvoreingenommenen Blick auf das Untersuchungsfeld (wieder)gewinnen und mich von individuellen, nicht zuletzt beruflich bedingten Präkonzepten freimachen. So kann ich mit frischem Blick das Feld neu erkunden und für mich strukturieren. Vielleicht gelingt es mir auf diesem Weg, neue Ideen und Hypothesen zu entdecken, die tatsächlich anders sind. Kurzum: Ich setze in der vorliegenden Forschungsarbeit auf das hohe Innovationspotenzial eines explorativen Vorgehens.

Ich untersuche das Feld hinsichtlich möglicher Antworten für die Praxis. Meine Arbeit ist somit, um die obigen Kategorien aufzunehmen, auch eine Forschung im Verwertungszusammenhang und auch mein Versuch, einen Beitrag zu leisten zu einer „Transformativen Wirtschaftswissenschaft“Footnote 10, wie sie Uwe Schneidwind (2016) fordert:

„Von Beginn an haben die modernen Wirtschaftswissenschaften gesellschaftliche Prozesse nicht nur beobachtet und beschrieben, sondern diese auch selbst katalysiert und beeinflusst. Damit haben sie einer Entwicklung den Weg gebahnt, die neben unbestrittenen Erfolgen zu ökologischen Zerstörungen, sozialen Verwerfungen und immer wiederkehrenden ökonomischen Krisen geführt hat. Mehr denn je braucht es eine transformative Wirtschaftswissenschaft, die insbesondere auch die Bedingungen und Möglichkeiten einer nachhaltigen Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft analysiert und verbessern hilft.“ (Schneidwind, 2016:30)

Als Ergebnis meiner Dissertation sehe ich Hypothesen – vielleicht auch ein hypothetisches Modell – das der Praxis nützliches „Transformationswissen“ bietet; und sei es allein in dem Sinne, dass es zusätzliche, tatsächlich neue Sichtfenster eröffnet. Mich motiviert die Vorstellung, dass durch meine Forschung aktivierende Impulse auf die Praxis übergehen.

Aus diesem Ziel folgt die Frage nach dem „Was & Wie“ der Veröffentlichung: Zielgruppe der vorliegenden Arbeit ist demnach nicht allein die scientific community, sondern auch Marketer in Unternehmen und Agenturen. Mit der Anschlussfähigkeit an die Praxis sind implizit auch methodische Ziele meiner Forschung angesprochen, namentlich, ob Aufstellungen eine nützliche Methode im Marketing sein können.

Auf der Basis dieses konkreten Zielrahmens, nähere ich mich dem Untersuchungsfeld mit folgenden initialen Fragestellungen:

  1. (1)

    Das „Potenzial von Marketing für Nachhaltigkeit“: Verfügt Marketing grundsätzlich über die Möglichkeit, einen Beitrag zur notwendigen Entwicklung des Konsumsystems hin zu Nachhaltigkeit zu leisten?

  2. (2)

    Gestaltungsräume: Über welche Wege ließe sich ein solches Potenzial von Marketing für Nachhaltigkeit materialisieren?

  3. (3)

    Veröffentlichung der Ergebnisse: Wie kommt das – vielleicht – entdeckte Neue, die Ideen zu einem „anderen Marketing“ in die Welt; welche konkreten Anschlussmöglichkeiten an die Praxis gibt es?

  4. (4)

    Methodische Ziele der Arbeit: Inwiefern ist die Aufstellungsmethode nützlich, um Möglichkeitsräume von Marketing zu erkunden?

Ziel meiner Arbeit ist das Finden tatsächlich neuer Hypothesen zum Verhältnis zwischen Marketing und Nachhaltigkeit. Ich erhoffe mir Ideen für eine andere, zukunftsfähige Marketingpraxis. Vor dem Hintergrund meiner beruflichen Tätigkeit als Konzeptionerin liegt mein Forschungsinteresse zuvörderst auf der konzeptionellen Ebene.

Den vorangegangen Ausführungen ist zu entnehmen, dass ich in dieser Arbeit von der impliziten Vorannahme ausgehe, dass Marketing für sozialökologische Transformationsprozesse nützlich sein kann.

5 Forschungsdesign

Wissenschaft – der qualitative noch mehr als der quantitative Ansatz – kennt unterschiedliche Wege, regelgeleitet zu Erkenntnissen zu gelangen. Um das Vorgehen nachvollziehbar sowie die Forschungsergebnisse methodisch fundiert und intersubjektiv überprüfbar zu machen, ist ein Forschungsdesign nötig, das die logische Struktur der Untersuchung sowie die angewandten methodischen Instrumente beschreibt. Auch die Gütekriterien werden im Rahmen des Forschungsdesigns reflektiert (Bergman & Eberle, 2010:18 ff.). Kurzum: Das Forschungsdesign ist so etwas wie mein „roter Faden“ im Forschungsprozess.

5.1 Logische Struktur der Untersuchung

Die vorliegende Arbeit ist qualitativ ausgerichtet, da sich für mein Forschungsvorhaben ein exploratives Vorgehen empfiehlt. Qualitative Forschung verträgt sich nur begrenzt mit der herkömmlichen linearen Logik der Forschung. Ihr Design ist im Vergleich zu quantitativer Forschung weniger verbindlich und „lässt der Phantasie und dem Einfallsreichtum des Untersuchenden viel Spielraum“ (Bortz & Döring, 2006:50). Es erlaubt eine „disziplinierte Undiszipliniertheit“, die sich „methodisch und praktisch an etablierten Wissenschaftsstandards anlehnt, aber über einzeldisziplinäre Perspektiven hinausgeht“ (Rogga, 2016:6). Vor dem Hintergrund dieser presque carte blanche habe ich das explorative, qualitative Forschungsdesign der vorliegenden Arbeit entwickelt.

Bei explorativer Forschung gibt es viele Parallelen zu dem methodologischen Vorgehen, wie ich es aus meiner beruflichen Praxis im Marketing kenne. Auch hier geht es – so formuliert Lars Wöbcke (2017), Marketingchef bei Nestlé – um „disziplinierte Kreativität“. In meiner beruflichen Praxis organisiere ich Konzeptionsarbeit deshalb gern als rückgekoppelten kreisläufigen Prozess. Ein Kommunikationskonzept fungiert dabei – ganz ähnlich wie das Forschungsdesign im Forschungsprozess – als Feedback-System. Es dient als zentrales Steuerungsinstrument, um den Einsatz der kommunikativen Aktivitäten zu bestimmen und anschließend auszuwerten, um sie gegebenenfalls neu auszurichten.

Das Modell des Kommunikationsberaters Jürgen W. Leipziger (2009), das am kybernetischen Regelkreis angelehnt ist, habe ich als besonders wertvoll erfahrenFootnote 11. So lag es für mich nahe, das Forschungsdesign meiner Dissertation in Anlehnung an Leipzigers „Regelkreis der Strategischen Kommunikation“ zu entwickeln.

Mein Forschungsdesign ist in drei Phasen – „Denksystemen“ – organisiert: „entlang der Kreisbahn Analyse – Strategie – Umsetzung“ (Leipziger, 2009:13).

  1. 1.

    Analyse: Identifizieren und Strukturieren des Untersuchungsfeldes

  2. 2.

    Exploration: Erkunden neuer Denk- und Handlungsmöglichkeiten

  3. 3.

    Umsetzung: Übersetzen der Ergebnisse für die Praxis

Ein weiteres strukturgebendes Element für meinen Forschungsprozess bietet der „pragmatistische Forschungsstil“ (Strübing, 2014) der Grounded-Theory-Methodologie (GTM), die in den 1960er Jahren von den beiden US-amerikanischen Soziologen Barney Glaser und Anselm Strauss (1967/1999) entwickelt worden ist (ausführlich Kapitel 3). Die GTM zielt darauf, tatsächlich Neues zu entdecken, indem in der Empirie beobachtete Daten möglichst unvoreingenommen in den Blick genommen werden. Mit ihrem explorativen Fokus und ihrer starken Reflexivität passt die GTM ideal zu meinem Forschungsvorhaben.Footnote 12

Im Zentrum der GTM stehen hermeneutisch-zirkuläre „Mikrozyklen“ (Strübing, 2014:83 f.) bestehend aus

  • Datenerhebung,

  • Dateninterpretation und

  • erneuter empirischer Überprüfung

Wie weiter oben ausgeführt, verstehe ich meine Arbeit als Transformationsforschung. Das Forschungsdesign ist deshalb auch strukturiert durch einen prozessbegleitenden Blick auf die Ziele transdisziplinär-transformativer Forschung.

In der äußeren Kreisbahn unterscheide ich – in Anlehnung an Thomas Jahn (2008:26) – drei Wissenstypen:

  • Systemwissen: Wissen zum Verstehen des Sachverhalts,

  • Orientierungswissen: Wissen zur Bestimmung von Gestaltungs- und Entscheidungsspielräumen

  • Transformationswissen: Wissen um Mittel und Wege, um diese praktisch zu nutzen

Abbildung 1.4
figure 4

(Eigene Darstellung in Anlehnung an Leipziger, 2009)

Regelkreis einer rekursiv-erkundenen, transformativen Forschung.

Die Abbildung 1.4 stellt das Forschungsdesign dar, das ich für diese Arbeit auf der theoretischen Grundlage von Leipzigers „Regelkreis der Strategischen Kommunikation“, dem Forschungsstil der GTM sowie den Zielen transformativer Forschung entwickelt habe. Es lässt sich beschreiben als ein offener, rekursiv-iterativer dreiphasiger Regelkreis mit transdisziplinär-transformativer Zielorientierung. Unter Transdisziplinarität verstehe ich die Fähigkeit, jenseits fachlicher Unterschiede in Unterschieden zu denken. Voraussetzung dafür ist nicht zuletzt ein fortwährendes aktives Bemühen, für andere, widersprechende Wirklichkeiten offen zu sein. Entsprechend ist der Forschungsprozess durch ein vielfaches gedankliches Hin und Her zwischen den einzelnen Phasen gekennzeichnet. Um auf neue, unerwartete Erkenntnisse zu reagieren, können einzelne Phasen und Abschnitte mehrfach durchlaufen werden. Das prozessbegleitende Überprüfen und Überarbeiten des Forschungsplans ist bei einer explorativen, qualitativen Untersuchung essenziell, da nicht alle Erkenntnisschritte von vorne herein festzulegen sind. Die drei grundsätzlichen Phasen des Regelkreises unterscheiden sich durch ihre jeweils spezifischen Denksysteme und Wissensbedarfe.Footnote 13

  1. 1.

    Analyse

    Ausgangspunkt des Forschungsprozesses ist die Praxis: „Das erste Denksystem bezieht sich auf die Sammlung und Bewertung von Daten und Fakten. (…) In diesem System gilt es, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen. Die Analyse steckt damit das [Untersuchungs]feld ab, eröffnet den Blick für die relevanten Problemstellungen und bereitet die Basis für das Treffen der strategischen Entscheidungen vor“ (Leipziger, 2009:13). Wichtig in dieser Phase sind eine offene Haltung und die Bereitschaft, Präkonzepte zu reflektieren und das eigene Systemverständnis mit neuen, nicht-kongruenten Informationen irritieren zu lassen. So wird die initiale Fragestellung zwar unter theoretischen Aspekten umrissen, doch auf die Formulierung einer Vorabvermutung als Hypothese verzichte ich, um mich nicht (vor-)schnell zu fokussieren, weil „erst eine intensive Beschäftigung mit dem einzelnen Fall … darüber Auskunft geben [kann], ob die eine oder die andere oder vielleicht gar eine dritte Erklärung zutrifft“ (Lamnek, 2016:18). Eine geeignete Methode zum Erweitern der Systemperspektive sind Erkundungsaufstellungen. Diese innovative Forschungsmethode, die ich ausführlich in Kapitel 2 erläutere, ermöglicht einen ungewöhnlich direkten Einblick in die Tiefe von Systemen.

  2. 2.

    Exploration

    Das zweite Denksystem nenne ich „Exploration“. Dies ist ein entscheidender Unterschied zur Konzeptionslehre nach Leipzigers Regelkreis, wo unter der Überschrift „Strategie“ nach Problemlösungen gesucht wird: „Das zweite Denksystem betrifft die Problemlösung. Aus der Vielzahl möglicher Alternativen wird eine Option ausgesucht und beschrieben: das strategische Entscheidungssystem. (…)“ (Leipziger, 2009:13) Gemäß meinem Forschungsverständnis strebe ich keine zielorientierte „Problemlösung“ an; ich erkunde vielmehr – in einem Wechsel zwischen systematischen und intuitiven Vorgehen – Möglichkeitsräume. Abgesehen von diesem Unterschied ist die thematische Fokussierung in der strategischen Konzeptionsarbeit wie auch im qualitativen Forschungsprozess (Breuer et al., 2018:135) gleichermaßen eine zentrale Stellgröße, die ich in der zweiten Phase meines Forschungsprozesses immer weiter verfeinere und theoretisch-inhaltlich zu schärfen versuche. Um dabei den explorativen Fokus zu wahren und mich weniger von theoretischen Präkonzepten als von konkret-inhaltlichen Kriterien leiten zu lassen, wende ich die auf der GTM basierenden Prinzipien des „Theoretischen Sampling“ an. Einen weiteren Schwerpunkt setze ich darauf, unterschiedliche interdisziplinäre Sichtweisen in den Forschungsprozess einzubeziehen (ausführlich Kapitel 3). Die Zyklen in dieser Phase werden mehrfach wiederholt durchlaufen, um die neu entstehenden Sichtweisen bzw. erkenntnisleitenden Thesen kontinuierlich zu differenzieren, zu korrigieren und vor allem weiter auszuformulieren. Der Prozess endet idealerweise, sobald ein vorläufig „ausreichendes“ Maß an epistemologischer Sicherheit bzw. Theoretischer Sättigung erreicht worden ist. Entsprechend ist das Denksystem der Exploration als intensiver hermeneutisch-zirkulärer Prozess gekennzeichnet. Auch im Analyseteil wähle ich die innovative Methode der Erkundungsaufstellung, denn sie hat ein großes Potenzial, „das Neue anders in die Welt“ zu bringen (Müller-Christ, 2016b).

  3. 3.

    Umsetzung

    Das dritte Denksystem beinhaltet die „operative Umsetzung“ (Leipziger, 2009:13) bzw. Inwertsetzung der erarbeiteten Forschungsergebnisse: Der Prozess mündet in neuen Thesen oder einem Entwurf eines hypothetischen Modells zu (einer Transformation des) Untersuchungsfeldes. Die entsprechenden Erkenntnismethoden, die ich ausführlich in Kapitel 3 erläutere, sind Intuition und Abduktion. Der Forschungsprozess schließt mit einem Praxisabgleich und der Publikation – um den Regelkreis zugleich erneut zu öffnen für den transdisziplinären Diskurs: „Die Umsetzung enthält auch evaluative Maßnahmen. Diese bilden wiederum die Schnittstelle zum analytischen Ordnungsdenken“ (Leipziger, 2009:13).

5.2 Gütekriterien

Bei explorativ ausgerichteten Forschungsarbeiten ist es nicht sinnvoll, die klassischen Gütekriterien zur Qualitätssicherung anzulegen. Ein Anspruch auf Objektivität kann nicht bestehen, da der nicht formalisierte, offene Forschungsprozess wesentlich von der Person des:der Forschenden beeinflusst ist. Qualitative Forschung erfordert somit zuvörderst eine (selbst)reflexive Haltung. (Flick, 2014; 2017) In der Methodenliteratur gilt als gesetzt, dass sich die Güte qualitativer Forschung nicht entlang der klassischen Trias von Objektivität, Validität und Reliabilität entscheidet, sondern vielmehr „projektbezogen zu bestimmen und herzustellen“ (Flick, 2017:525) ist. Antonietta Di Giulio und Rico Defila (2018) sehen in der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit die wichtigste Voraussetzung für die Anschlussfähigkeit qualitativer Forschung im wissenschaftlichen Diskurs:

„Für die Güte sozialwissenschaftlich ausgerichteter und qualitativ vorgehender Forschung ist die intersubjektive Nachvollziehbarkeit entscheidend (und nicht die Reproduzierbarkeit). Das Sicherstellen der Nachvollziehbarkeit dient der Herstellung der Glaubwürdigkeit und prinzipieller Kritisierbarkeit und schafft überhaupt erst die Voraussetzung dafür, dass das produzierte Wissen Eingang finden kann in den wissenschaftlichen Diskurs und dazu beitragen kann, den Erkenntnisstand zu erneuern.“ (Defila & Di Giulio, 2018:45)

Die Anforderung der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit bewerte ich auch für die vorliegende Arbeit als besonders wichtig, weil ich mit Systemaufstellungen eine Methode anwende, für die noch keine etablierten Regeln zum wissenschaftlichen Arbeiten existieren. Das angewandte iterative Forschungsdesign gewährleistet umfängliche Transparenz sowie eine ständig mitlaufende kommunikative Validierung der Zwischenergebnisse. Der Forschungsstil der GTM impliziert zudem eine detaillierte Begründung und Dokumentation der im Forschungsprozess vollzogenen Schritte, u. a. mittels theoretisch analytischer Memos. Wichtige Strategien, um die Breite, Tiefe und Konsequenz im methodischen Vorgehen zu erhöhen, bieten die GTM, insbesondere über das Theoretical Sampling sowie weitere triangulierende Verfahren. Norman Kent Denzin (1979/2009:236) nennt Triangulation auch die „vernünftigste Strategie der Theoriekonstruktion“.

Im Mittelpunkt des explorativen Forschungsprozesses steht die Entwicklung tatsächlich neuer Ideen. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund bietet die klassische Trias keine Zielvorgabe: dass unterschiedliche Forscher:innen zu den gleichen kreativen Schlüssen kommen, ist weder absehbar noch wünschenswert. Das zentrale Gütekriterium meiner Arbeit ist für mich vielmehr Nützlichkeit. Im pragmatistischen Sinne geht es mir nicht um ein Richtig oder Falsch der entwickelten Thesen, sondern vorrangig um deren Nützlichkeit in der (transformativen) Praxis. Das Ziel ist – gemäß Helga Nowotnys (1999) prägnanter Kurzformel – „socially robust knowledge“. Zur Frage der Überprüfbarkeit dieses Gütekriteriums werde ich im Laufe der Arbeit immer wieder zurückkommen.

5.3 Aufbau der Arbeit

Abbildung 1.5
figure 5

Kapitelstruktur: Wegweiser im nicht-linearen Forschungsprozess. (Eigene Darstellung; Symbolbilder: flaticon.com ©Eucalyp ©dDara)

Die lineare Darstellung in Abbildung 1.5 repräsentiert nicht den faktischen Ablauf des Forschungsprozesses, sondern leitet und strukturiert vielmehr die Ergebnisdarstellung des Berichtes. Dadurch wird der iterative Untersuchungsverlauf für Lesende besser nachvollziehbar. Es wäre ganz wunderbar, wenn Sie sich, liebe Lesende, während der Lektüre als Mitforschende fühlen und den Forschungsprozess als eine spannende Reise voller (vielleicht) überraschender Wendungen erleben und Sie dabei eine ähnliche Neugier von Kapitel zu Kapitel trägt, wie ich sie bezogen auf das Forschungsfeld verspürt habe und noch immer verspüre.

I. Einleitung

Im einleitenden Kapitel skizziere ich den Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit. Zunächst ermesse ich die gesellschaftspolitische und wissenschaftliche Relevanz meines Forschungsthemas. Es folgt eine Beschreibung meiner berufspraktischen Präkonzepte und erkenntnistheoretischen Grundhaltung. Auf dieser Folie entwickele ich initiale forschungsleitende Fragen und spezifiziere die Ziele, die ich mir im Rahmen meiner Dissertation gesetzt habe. Das Forschungsdesign ist der „rote Faden“ im Gesamtprozess: Darin beschreibe ich, wie ich die Untersuchung grundsätzlich angelegt habe und begründe mein Vorgehen methodologisch. Im letzten Abschnitt stelle ich den inhaltlichen Aufbau meiner Arbeit vor.

II. Methodologische Grundlagen

Systemische Aufstellungen sind eine innovative, noch junge Forschungsmethode. Nicht zuletzt deshalb erfordert die Qualität im Forschungsprozess – neben dem Kriterium der Nützlichkeit – insbesondere i. S. der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit eine genaue Methodendiskussion. Ausführlich beschreibe ich auch mein Auswertungsdesign für systemische Aufstellungen, das ich zum Teil selbst entwickelt habe. Einen geeigneten, die nötige Orientierung gebenden methodologischen Rahmen finde ich dafür in der Grounded-Theory-Methodologie (GTM). Des Weiteren skizziere ich in diesem Abschnitt die theoretischen Konzepte, die ich als Bezugsrahmen meiner Untersuchung nutze: die Systemtheorie, die Theorie Spiral Dynamics, das Vier-Quadranten-Modell sowie die Theorie U. Im Sinne der GTM nutze ich diese Modelle weniger normativ, sondern vielmehr als heuristische Bezugsrahmen.

III. Systemwissen (Denksystem: Analyse)

„Wer out-of-the-box denken will, muss zuerst die Box kennen“, schreibt die US-amerikanische Choreographin Twyla Tharp (2003) in ihrem Buch „The Creative Habit“. Zum Vermessen der „Box“ meines Forschungsfeldes untersuche ich daher mittels der Aufstellungsmethode erstens den relevanten gesellschaftlichen Bereich, das Konsumsystem und zweitens den Untersuchungsgegenstand selbst, das Marketing. Ziel im analytischen Teil ist es, mein Systemwissen zu qualifizieren – also auch, die eigenen Erkenntnisstandpunkte hinsichtlich unreflektiert übernommener Präkonzepte zu überprüfen. Um meinen „blinden Flecken“ auf die Spur zu kommen, ergänze ich die Analyse mit zusätzlichen Perspektiven-Triangulationen im Rahmen von Fachtagungen und Publikationsprozessen sowie mittels Expertinnen-Interviews. Auf dieser Basis konkretisiere und – wo nötig – revidiere ich meine initialen forschungsleitenden Fragen.

IV. Orientierungswissen (Denksystem: Exploration)

Das Erkunden neuer Denk- und Handlungsmöglichkeiten von Marketing bildet den Hauptteil meines Forschungsprozesses. Dabei konzentriere ich mich auf das Konsolidieren und Verfeinern des Kategoriennetzes, das ich zuvor aus der Vielzahl im analytischen Teil entwickelten provisorisch-vorläufigen Thesen herausgearbeitet habe. Als neue, konkrete Leitfrage für transformativen Konsumwandel hat sich die Definition eines „ressourcengerechten Maßes“ von Konsum ergeben – und somit die Neubestimmung von (volkswirtschaftlichen und betrieblichen) Einkommenszielen. Kann Marketing hierbei unterstützen? Bei der Suche nach Möglichkeitsräumen setze ich den Fokus auf den paradigmatischen Kern der Branche: die Kundenorientierung. Im Verlauf von mehreren iterativen Auswertungszyklen zu insgesamt drei Aufstellungen werde ich meine Beobachtungen stetig überprüfen, re-formulieren und weiter ausformulieren. Der Prozess endet idealerweise, wenn ich – vorläufig – keine weiteren, tatsächlich neuen Einsichten erwarte.

V. Transformationswissen (Denksystem: Umsetzung)

Das treibende Motiv meiner Forschung ist die Vorstellung, dass von ihr aktivierende Impulse in eine transformative Praxis übergehen. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist es, das entwickelte „Transformationswissen“ in ein handhabbares Model zu überführen und in die konkrete Erfahrungswelt von Marketern zu übersetzen. So entwickle ich im letzten Abschnitt auf dem Fundament der zuvor erarbeiteten Thesen ein hypothetisches Modell eines zukunftsorientierten Marketing. Das Ergebnis ist eine Idee eines zukunftsorientierten Marketing, das tatsächlich neue Denk- und Möglichkeitsräume eröffnet. Ergänzend skizziere ich exemplarisch Praxisimplikationen, die aus dem Modell resultieren – als Ansatzpunkte für eine mögliche wissenschaftliche und vor allen Dingen praktische Weiterarbeit.

VI. Resümee

Im letzten Kapitel fasse ich die zentralen inhaltlichen und methodischen Ergebnisse meiner Arbeit zusammen. Zunächst nehme ich zu jeder der insgesamt fünf Aufstellungen meiner Arbeit eine methodische Reflexion vor, bei der ich meine Vorgehensweise und vor allem auch die verwendete Methode bezüglich ihres besonderen Erkenntnispotenzials Revue passieren lasse. Danach unterziehe ich die Hauptergebnisse meiner Dissertation einer kritischen Diskussion mit Blick auf meine initialen forschungsleitenden Fragen und Untersuchungsziele. Mit einer persönlichen Reflektion meiner Forschungsreise schließt die vorliegende Arbeit.