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Die Fallbearbeitung

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Konstruktion kategorialer Zugehörigkeit

Part of the book series: Soziologie des Wertens und Bewertens ((SWB))

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Zusammenfassung

Der ideale Ablauf einer Alterszuschreibung ist zusammengesetzt aus drei Teilschritten, die einerseits gestaffelt, andererseits ergänzend aufeinander bezogen sind. Es handelt sich um die Einsichtnahme in Ausweisdokumente, die sich anschließende Inaugenscheinnahme und die ärztliche Untersuchung. Wie die nachfolgenden Analysen verdeutlichen, wird die vorgegebene Reihenfolge der Teilschritte in der Praxis in dem Sinne eingehalten, dass sie sich wie vorgesehen um die Inaugenscheinnahme anordnen. Allerdings zeigt sich auch, dass die vorgesehene Staffelung der Teilschritte in der Praxis ausgehebelt wird. Die Einsichtnahme in die Ausweisdokumente führt nur unter ganz bestimmten Umständen zu einer Kategorisierung, in der Regel schließt sich eine Inaugenscheinnahme trotz vorhandener Ausweisdokumente an. Auf der anderen Seite führt nicht jeder Zweifelsfall eine ärztliche Untersuchung herbei. Auch hier wird die ärztliche Expertise nur unter bestimmten Umständen hinzugezogen, oft kategorisch abgelehnt.

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Notes

  1. 1.

    Die nachträgliche und gezielte Anforderung von Dokumenten bei den Eltern gibt darüber hinaus Hinweise darauf, wie die zu Kategorisierenden daran arbeiten, sich für den Kategorisierungsprozess passend zu präsentieren. Die zu Kategorisierenden reagieren auf die von ihnen erkannten Anforderungen des Systems und versuchen Dokumente in den Prozess einzubringen. Sie lassen sich Dokumente zuschicken und präsentieren diese in der Inobhutnahme.

  2. 2.

    Afghanistan gilt den Interviewten nicht nur im Hinblick auf die Ausweiskontrolle als problematischer Nationalstaat. Auch die Sprachsuche (Scheffer 1997b, S. 161) sei bei afghanischen Staatsangehörigen erschwert. Um den Kategorisierungsprozess einzuleiten, müssen die Interviewten im Erstkontakt die Sprache des zu Kategorisierenden bestimmen, indem sie einen passenden Dolmetschenden bestellen. Dies gestalte sich im Fall von Afghanistan allerdings als problematisch, da die Sprach- und Dialektvielfalt eine einfache Übertragung von nationalstaatlicher Zugehörigkeit auf Sprachkompetenz nicht zulasse.

  3. 3.

    Eine administrative Beglaubigung afghanischer Dokumente scheint bis auf Weiteres ausgeschlossen: „Das Legalisationsverfahren von öffentlichen Urkunden aus Afghanistan musste wegen der fehlenden Urkundensicherheit eingestellt werden. Die Innen- und Justizbehörden der Länder wurden darüber unterrichtet. Eine Überprüfung afghanischer Urkunden im Amtshilfeverfahren ist aufgrund der momentanen Schließung der Rechts- und Konsularabteilung der Botschaft Kabul nicht möglich. Es liegt im Ermessen der inländischen Behörde, der eine afghanische Urkunde vorgelegt wird, ob sie diese ohne weiteren Nachweis als echt ansieht“ (Deutsche Vertretungen in Afghanistan 2019).

  4. 4.

    Diese Argumentationsfigur unterliegt ebenso der Verschärfung repressiver Grenzkontrollpraxen, die die Bekämpfung von Migration zur humanitären Maßnahme erklären, da sie den Schutz von Migrierenden vor organisierter Kriminalität garantiere (vgl. Ratfisch 2015, S. 13 ff).

  5. 5.

    So ist es vor allem der Maßstab der klinisch begleiteten Geburt, die innerhalb einer Registrierungsfrist von sieben Tagen staatlich erfasst wird, die die Registrierung im Kinder- und Jugendalter mit Skepsis belegt. In beiden Fällen handelt es sich um einen Verweis auf ein Ereignis, welches sich grundsätzlich nicht in der Registrierung abbildet.

  6. 6.

    In Ermangelung von (verlässlichen) Ausweispapieren, erstellen Jugendämter diese selber, um die Identifikation der Kategorisierten zu beschleunigen und verlässlich zu machen. Fotografie und Name der registrierten Person werden zur Grundlage einer Identifikation, die ab diesem Zeitpunkt zuverlässig erfolgen kann und sich auf ein vertrauenswürdiges System bezieht. Tina Schuster erklärt dazu:

    „Ich weiß das andere Jugendämter die machen den quasi selber n Ausweis äh und das find ich super also die Vorgehensweise find ich total gut das lohnt sich aber nur wenn mans direkt am Anfang macht weil wenns sich erstmal eingeschlichen hat is es egal aber das finde ich finde ich super also diese Idee dann zu sagen hier komm ich mach eben ein Foto von dir und äh schreib mal eben hier so deinen Namen drauf wie ich den schreibe dann haben den alle gleich ähm die finde ich super“.

  7. 7.

    Auch Stefanie Martens betont für die ärztliche Begutachtung das Manipulationspotential, welches die körperliche Erscheinung aufweise und die es bei der Alterszuschreibung in Rechnung zu stellen gelte:

    „Achtet mal aufs Gesicht ne jemand der auch es ist ja nunmal so jemand der jetzt stark geschminkt ist ich weiß nicht ähm Mädchen hör ich immer seltener das da irgendwelche Mädchen ähm bei unter den Flüchtlingen sind ähm aber zum Beispiel das die Jungs auch ganz gezielt hier hin kommen und die Körperbehaarung weg ist ne die wird dann einfach abrasiert weil sie wahrscheinlich auch schon gehört haben da wird drauf geachtet ähm Mädchen die dann wenig geschminkt sind mit einem mal obwohl sie vielleicht sonst stark geschminkt sind also auch sowas ne da sollen sie mal drauf achten oder zum Beispiel ne sind die Augenbrauen gezupft sowas das fängt heute bei uns relativ früh an aber ich denke mir immer und verzeihen Sie wenn ich da jetzt falsch liege aber wenn ich mir überlege wenn ich als Flüchtling unterwegs bin hab ich andere Sachen im Kopf als auf sowas zu achten“.

  8. 8.

    Dies kann so weit gehen, dass die notwendige ethnische Gemeinsamkeit für eine sinnvolle Beobachtung von Körpern bis auf den geographischen Raum der Stadt herunter konstruiert wird. Ute Meier hegt Hoffnung um Aufklärung durch den Dolmetschenden, denn „der kam halt auch aus der gleichen Stadt und wir dachten so ja ne der hat vielleicht schon mehrere junge Menschen aus dieser Stadt auch gesehen“.

  9. 9.

    Der Einfluss von Fluchterfahrungen auf die körperliche Erscheinung wird nicht nur als temporär eingestuft. Typische Verläufe ändern sich im Verlauf des langen Sommers der Migration (vgl. Hess/Kasparek/Kron et al. 2016) von 2015:

    „PETER SAUER: Anfangs kamen die Jugendlichen ja wirklich nach monatelangen Fußmärschen Aufenthalten waren halt ich sag mal auch deutlich (.) physisch gezeichnet von daher schlecht einzuschätzen während die jetzt seit Ende des Jahres Anfang des Jahres wenn noch welche kommen ich sag mal Anfang des Jahres haben wir immer noch welche zugewiesen also ne Notunterkunft bekommen die sind da relativ zügig von Afghanistan Irak hier hergekommen teilweise innerhalb von zehn zwanzig Tagen.

    INTERVIEWERIN: Ja anstrengende Reise aber nicht so auszehrend.

    PETER SAUER: Nicht so auszehrend sondern ganz anders organisiert und wirklich sehr zügig und die kann man natürlich sehr viel besser vom Alter einschätzen das muss man auch dazu sagen“.

  10. 10.

    Für die Bedeutung widerspruchsfreier Darstellungen im Asylverfahren vgl. Schittenhelm 2015, S. 145.

  11. 11.

    Die Abfrage fokussiert Eheschließung und Verwitwung, lässt allerdings die eigene Elternschaft der zu Kategorisierenden unberücksichtigt. Hierin (aber nicht nur an dieser Stelle) zeigt sich die Fokussierung des Formulars auf den männlichen zu Kategorisierenden, der wie das Interviewmaterial zeigt, im Gegensatz zu den weiblichen zu Kategorisierenden nicht in Begleitung eigener Kinder in Obhut genommen wird.

  12. 12.

    Zur Verknüpfung des Gesetzes zur Bekämpfung von Kinderehen mit dem Thema Flucht und Asyl vgl. Möller/Yassari 2017; Plich 2017.

  13. 13.

    Alle weitern Verweise beziehen sich, wenn nicht anders angegeben, auf BAGLJÄ 2014, Anlage 1a.

  14. 14.

    Zu den Klassikern der Migrationssoziologie die die Integration des/der Fremden analysieren vgl. Simmel 1908; Schütz 1944; Park 1969.

  15. 15.

    Zur Bedeutung von Schriftlichkeit und Dokumentation in Asylverfahren vgl. Dahlvik 2013.

  16. 16.

    Die Namen der zu Kategorisierenden bleiben den Kategorisierten auch im Fortgang der Fallbearbeitung fremd. Mit Ausnahme von Tobias Regner, der als Vormund Bezug auf sein Mündel nimmt, bewegen sich die zu Kategorisierenden im Raum professioneller Distanz und nennen konkrete zu Kategorisierende nicht bei ihren Namen.

  17. 17.

    Wie Spinhoven/Bean/Eurelings-Bontekoe nachweisen, sind inkonsistente Schilderungen gerade bei minderjährigen Asylsuchenden üblich, die über Traumatisierungen berichten. Inkonsistente Erzählungen seien daher keineswegs mit unpräzisen Angaben zu verwechseln und seien erst recht nicht als Anzeichen von Unglaubwürdigkeit zu werten (vgl. 2006, S. 672).

  18. 18.

    Zum Namenswechsel in der Migration vgl. Schmidt-Jüngst 2018, S. 57 ff.

  19. 19.

    Auch wenn Namen als Indikatoren des Alters einer Person gelesen werden können (vgl. Hirschauer/Nübling 2018, S. 5 f.), wird diese Deutungsdimension im Inobhutnahmeprozess nicht thematisch.

  20. 20.

    Die Auseinandersetzung findet ihren Höhepunkt in einer publizistischen Debatte, ausgelöst durch den Artikel Strittiges Alter – strittige Altersdiagnostik im Deutschen Ärzteblatt von Nowotny/Eisenberg/Mohnike (2014), die schließlich auch Themenhefte in der Zeitschrift Rechtsmedizin zum Thema Forensische Altersdiagnostik (vgl. 2014 und 2015) nach sich gezogen haben.

  21. 21.

    Nach aktueller Gesetzeslage können Menschen ohne medizinische Indikation außerhalb eines Strafverfahrens nur sehr begrenzt dazu verpflichtet werden, sich einer Röntgenbestrahlung auszusetzen. Dies führt in der Forschung zu einer Konzentration auf die Weiterentwicklung nicht ionisierender bildgebender Verfahren (vgl. Jopp/Schröder/Maas et al. 2010; Vieth/Kellinghaus/Schulz et al. 2010; Ottow/Krämer/Olze et al. 2015; Schulz/Schmidt/Pfeiffer et al. 2014). Darüber hinaus sind einzelne Verfahren, die zur Leichenidentifizierung eingesetzt werden, mit der Extraktion von Gewebe bzw. Zähnen verbunden, was gesetzlich bei lebenden Personen ohne medizinische Indikation unzulässig ist. Außerhalb von Strafverfahren gründet die Durchführung einer medizinischen Alterseinschätzung immer auf der Zustimmung der betroffenen Person und einer Rechtsgrundlage.

  22. 22.

    Die Empfehlungen der AGFAD sehen eine körperliche Untersuchung mit Erfassung anthropometrischer Maße (Körperhöhe und -gewicht, Körperbautyp), sowie möglicher altersrelevanter Entwicklungsstörungen, eine zahnärztliche Untersuchung mit Erhebung des Zahnstatus und Gebissbefundes vor, wobei die Anfertigung von Röntgenaufnahmen nicht zulässig ist (vgl. Lockemann/Fuhrmann/Püschel et al. 2004). Wird die Röntgenuntersuchung für zulässig erklärt, erweitert sich der Untersuchungskatalog um das Röntgen der linken Hand, die Röntgenuntersuchung des Gebisses und bei abgeschlossener Handskelettentwicklung der zusätzlichen Untersuchung der Schlüsselbeine (vgl. Schmeling/Grundmann/Fuhrmann et al. 2008).

  23. 23.

    Zur Kombination von intellektuell-analytischen und intuitiv-emotionalen Erkenntnismethoden bei der Analyse von Visualisierungen in der Medizin vgl. Burri 2001, S. 288 ff.

  24. 24.

    Fachbeiträge betonen die Bedeutung der Erfahrung medizinischer GutachterInnen, denn „Hauptfehlerquelle war die Stadienvergabe durch den unerfahrenen Untersucher“ (Schmeling/Schmidt/Schulz et al. 2014, S. 471). Die Expertenbeobachtung entspringe demnach nicht nur dem geschulten, sondern auch dem geübten Blick. Begutachtungen seien daher allein von Experten auszuführen, die routiniert beobachten könnten (vgl. Schulz/Schmidt/Pfeiffer et al. 2014, S. 484).

  25. 25.

    Zwei dieser zwanzig Interviews wurden mit Personen geführt, die selber ärztliche Alterszuschreibungen durchführen.

  26. 26.

    Die Gutachten entstehen nicht nur aus Teilgutachten, die isolierte Strukturen in den Blick nehmen. Sie werden arbeitsteilig durch unterschiedliche ExpertInnen zusammengetragen, wie Max Reinhardt berichtet:

    „Das ist auch Teil der Empfehlungen immer Zusatzgutachten von den Radiologen und von den Zahnärzten also die zahnmedizinischen Befunde werden von der Zahnärztin oder dem Zahnarzt beurteilt und die radiologischen Befunde von den Radiologen wir bekommen deren Begutachtung die in unser Gesamtgutachten mit einfließt“.

  27. 27.

    Nicht nur die zu Kategorisierenden in den Jugendämtern sind hinsichtlich der Legalität der ärztlichen Untersuchungen überfragt. Wann ein Verfahren zulässig ist, erscheint auch für den forensischen Mediziner des Samples Max Reinhardt als überkomplexe Frage:

    „Der rechtliche Rahmen ist extrem kompliziert und der rechtliche Rahmen ist vor allen Dingen so kompliziert dass ich diese Frage gar nicht abschließend beantworten kann weil auch wir uns nur auf Einschätzung von Richterinnen und Richtern verlassen können“.

    Was über die Anwendung von medizinischen Verfahren entscheidet, ist demnach nicht deren Aussagekraft, sondern die Zuschreibung von Legalität, die richterlich beglaubigt wird.

  28. 28.

    Laut Aaron Schleier beeinflusse die Fluchterfahrung nicht nur das reguläre Aussehen der zu Kategorisierenden, sie bewirke durch schweren Stress und Kortisolausschüttung eine beschleunigte Knochenreifung.

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Ülpenich, B. (2022). Die Fallbearbeitung. In: Konstruktion kategorialer Zugehörigkeit. Soziologie des Wertens und Bewertens. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-40312-6_7

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  • Publisher Name: Springer VS, Wiesbaden

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