Zusammenfassung
Bei nicht mehr entscheidungsfähigen Patient*innen ohne schriftliche Vorausverfügung stellt sich in Bezug auf medizinische Behandlungen die Frage nach dem mutmaßlichen Willen. In der klinischen Praxis werden Nahestehende dann nach Hinweisen gefragt und teilweise darauf basierend Behandlungsentscheidungen getroffen. Hier wird anhand ethischer und psychologischer Anfragen dargelegt, warum der mutmaßliche Wille eine aus ethischer Sicht problematische Argumentationsfigur darstellt: Zum einen muss sich eine Erschließung des mutmaßlichen Willens unweigerlich auf anspruchsvolle Autonomiekonzepte beziehen, die Außenstehende vor komplexe Interpretationsfragen zum Selbstverständnis und gelingenden Leben des betroffenen Patienten stellen. Zum anderen müssen Außenstehende einen Perspektivwechsel vollziehen und Mutmaßungen in Bezug auf Situationen mit Kontrollverlust, Verletzbarkeit und Behinderung vornehmen. Dabei werden unter Umständen psychische Phänomene wie „Übertragung“ und „Behinderungsparadox“ wirksam, die sich verzerrend auf Mutmaßungen über den Willen des Betroffenen auswirken. Außerdem zeigen empirische Studien zur Frage der Übereinstimmung von Behandlungsentscheidungen zwischen Betroffenen und ihren Nahestehenden, dass zumindest in den dargebotenen Fallvignetten in ca. einem Drittel der Fälle keine Überstimmung zwischen Behandlungsurteilen besteht. Wenn Behandlungsentscheidungen im Zusammenhang mit Leben oder Tod stehen, ist eine so hohe Irrtumswahrscheinlichkeit problematisch. Die angeführten Anfragen und empirischen Erkenntnisse aus der Psychologie machen deutlich, dass das Konzept des mutmaßlichen Willens, sofern es einer informierten Zustimmung bzw. Ablehnung oder einer schriftlichen Vorausverfügung nicht ausgesprochen nahe kommt, eine aus ethischer Sicht problematische Argumentationsfigur darstellt. Statt des mutmaßlichen Willens sollte in der klinischen Praxis auf ethische (und rechtliche) Normen und Entscheidungskriterien zurückgegriffen werden, die eine Behandlung, Weiterbehandlung oder Behandlungsbeendigung aus anderen Gründen als dem des mutmaßlichen Willens rechtfertigen können. Gute Gründe wären zum einen die Normen Lebensschutz und Diskriminierungsverbot, zum anderen im Fall einer weit fortgeschrittenen letalen Erkrankung eine rechtfertigbare Behandlungsbegrenzung oder -beendigung angesichts einer mit großer Sicherheit letalen Prognose in naher Zukunft und keiner Besserung trotz Maximaltherapie. Der mutmaßliche Wille lässt sich hier allenfalls als Zusatzargument eingesetzen.
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Notes
- 1.
Der vorliegende Beitrag diskutiert den mutmaßlichen Willen aus ethischer Sicht. Neben dem „mutmaßlichen Willen“ kennt das Bürgerliche Recht auch den „hypothetischen Willen“, die „mutmaßliche Einwilligung“ und die „hypothetische Einwilligung“. Auf diese Unterscheidungen im Recht kann im Rahmen dieses Beitrags nicht eingegangen werden. Es sei lediglich angemerkt, dass der mutmaßliche Wille im Recht nur dann relevant wird, wenn der tatsächliche Wille nicht artikuliert werden kann. Ob ein mutmaßlicher Wille umgesetzt werden darf, hängt von weiteren rechtlichen Voraussetzungen ab.
Das Strafrecht kennt gleichermaßen die o.g. Unterscheidungen des Bürgerlichen Rechts, es gelten jedoch andere Beweisregeln. Auch hier wird unterschieden zwischen „Einwilligung mit Problemen der Einwilligung“ (in eine Körperverletzung), „mutmaßlicher Einwilligung“ (z. B. bei einwilligungsunfähigen Moribunden) und „hypothetischer Einwilligung“ (insbesondere im Zusammenhang mit einer vorausgegangenen unvollständigen Aufklärung). Vgl. ausführlicher Paeffgen und Zabel (2022).
- 2.
Der mutmaßliche Wille wird im Bürgerlichen Gesetzbuch im sogenannten Betreuungsgesetz bzw. Patientenverfügungsgesetz erläutert. Gemäß des am 1.9.2009 in Kraft getretenen Dritten Gesetzes zur Änderung des Betreuungsrechts ist nach § 1901a Abs. 2 BGB der mutmaßliche Wille aufgrund konkreter Anhaltspunkte zu ermitteln, wenn der Betroffene/die Betroffene selbst nicht durch eine schriftliche Vorsorgeverfügung in Bezug auf Gesundheitsangelegenheiten, insbesondere Fragen medizinischer Behandlung vorgesorgt hat. Für den mutmaßlichen Willen sind insbesondere frühere mündliche oder schriftliche Äußerungen, ethische und religiöse Überzeugungen und sonstige persönliche Wertvorstellungen der betreuten Person zu berücksichtigen. Zusätzlich einschlägig aus rechtlicher Sicht ist in Bezug auf Behandlungsfragen § 1904 Abs. 4 BGB: Aufgabe des Arztes/der Ärztin ist es zu prüfen, welche ärztlichen Maßnahmen im Hinblick auf den Gesamtzustand und die Prognose des Patienten/der Patientin indiziert sind.
- 3.
Vgl. zum Folgenden ausführlicher sowie zu den inneren und äußeren Voraussetzungen von Autonomie Bobbert 2015.
- 4.
Vgl. zur Unterscheidung von Autonomiekonzepten auch Bobbert und Werner (2014).
- 5.
- 6.
Vgl. zu den Chancen und Schwierigkeiten von Patientenverfügungen und Vollmachten in Gesundheitsangelegenheiten ausführlicher Bobbert (2016).
- 7.
In der philosophischen Beratung können auch Normen verdeutlicht, eingeklagt oder modifiziert werden, die vom Beratenden nicht hinreichend wahrgenommen oder realisiert werden – vgl. Krämer (1995), 324.
- 8.
- 9.
Vgl. dazu ausführlicher Bobbert im Zusammenhang mit schriftlichen Vorausverfügungen (2016).
- 10.
- 11.
- 12.
Vgl. z. B. Staudinger (2000), 185 f. und 190 ff.
- 13.
Vgl. dazu ausführlicher, u. a. mit einer Methodendiskussion der empirischen Studien Bobbert (2012a), Abschn. 5.
- 14.
Vgl. die Überblicksstudien von Shalowitz 2006 und Spalding 2021, wobei der „review“ von Spalding einen Großteil der bereits von Shalowitz ausgewerteten älteren Studien beinhaltet. Lediglich einige wenige jüngere Studien zu dieser Fragestellung konnten in den jüngsten Überblick einbezogen werden.
- 15.
- 16.
Vgl. für eine ausführliche Diskussion der Methode Fallszenario Bobbert (2012a), 146–161.
- 17.
- 18.
Dass dies auch aus rechtlicher Sicht problematisch ist, zeigt Merkel (2021), 502–504, auf.
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Bobbert, M. (2023). Der mutmaßliche Wille als problematische Argumentationsfigur bei Behandlungsurteilen für nicht mehr entscheidungsfähige Patient*innen. In: Fuchs, M.J., Hähnel, M., Simmermacher, D. (eds) Der Patientenwille und seine (Re-)Konstruktion. Philosophische Herausforderungen der angewandten Ethik und Gesundheitswissenschaften/ Philosophical Challenges of Applied Ethics and Health Sciences. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-40192-4_6
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