Zusammenfassung
Die Anhörung kindlicher Opferzeuginnen in Verdachtsfällen sexuellen Kindesmissbrauchs muss professionell erfolgen, da die Aussage des Kindes häufig das einzige Beweismittel ist. Die Situation von Opferzeuginnen im Strafverfahren wird allerdings von Praktikerinnen als unzureichend bewertet, wobei u. a. die lange Prozessdauer, wiederholte Befragungen, mögliche Suggestionseffekte und eine mögliche Retraumatisierung genannt werden. Die Durchführung einer professionellen Anhörung und eine gute Kooperation zwischen den unterschiedlichen, potenziell involvierten Instanzen bspw. Psychosoziale Prozessbegleitung, Jugendämter, Psychotherapie, Fachberatungsstellen, Staatsanwältinnen, Richterinnen usw. können zur Verbesserung der Situation der Opferzeuginnen beitragen. So kann die Qualität der Erstaussage gesteigert, Retraumatisierungen vermieden und die Belastung von Opferzeuginnen reduziert werden. Dafür benötigen Polizistinnen Wissen über die Durchführung einer professionellen Anhörung sowie einen Einblick in die Kompetenzbereiche und Aufgaben der potenziell involvierten Instanzen. In diesem Beitrag sollen Handlungsempfehlungen für die Kooperation und Wissen über die professionelle Durchführung von Anhörungen mit Fokus auf die für Deutschland geltenden Vorgaben zusammengetragen werden.
Reviewys: Kristina Balaneskovic, Katharina Gäumann, Veit Petzoldt
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Notes
- 1.
Um einen günstigeren Lesefluss zu gewährleisten, wird in dem hier vorliegenden Text das generische Femininum verwendet. Dieses impliziert stets alle Geschlechtsformen, schließt also die männlichen und diversen Formen geschlechtsunabhängig mit ein.
- 2.
Beispiele: „Meinst du, dass deine Tante es schön findet, wenn sie dir beim Umziehen zuschaut?“; „Was wäre passiert, wenn ihr zusammen ins Schwimmbad gegangen wärt?“; „Spiel mir doch mal vor, was er im Schwimmbad genau mit dir gemacht hat.“
- 3.
Bei der Verwendung einer Kamera sollte deren möglicherweise retraumatisierende Wirkung unbedingt bedacht werden.
- 4.
Die StPO definiert in § 373b Abs. 1. die Verletzten seit 2021 als „diejenigen, die durch die Tat, ihre Begehung unterstellt oder rechtskräftig festgestellt, in ihren Rechtsgütern unmittelbar beeinträchtigt worden sind oder unmittelbar einen Schaden erlitten haben“.
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Eilfgang, J., Pülschen, D., Pülschen, S. (2023). Kindliche Opferzeuginnenbefragung, interdisziplinäre Kooperation und Synergieeffekte im Zusammenhang mit der Verdachtsabklärung bei sexuellem Kindesmissbrauch. In: S. Staller, M., Zaiser, B., Koerner, S. (eds) Handbuch Polizeipsychologie. Springer Gabler, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-40118-4_37
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