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Für seine Krisenfestigkeit während der Corona-Pandemie wird der deutsche Sozialstaat hoch gelobt, betrachten wir ihn jedoch aus der Binnenperspektive, so erweist sich die Decke an vielen Enden als zu kurz. Immer mehr Menschen sind von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen: Niedriglöhne, diskontinuierliche Beschäftigung oder belastende Beschäftigungsbedingungen lassen Prekarität entstehen. Auch die Zugehörigkeit zur Mittelschicht schützt nicht mehr vor Sorgen um soziale Sicherheit. Gerade der Erfolgsgarant unseres Sozialmodells, die starke Erwerbszentrierung, lässt – zusätzlich unterminiert durch den globalen Waren- und Finanzverkehr und die Digitalisierung der Arbeit – das traditionelle sozialstaatliche „Sicherheitsversprechen“ (Kaufmann 2003) brüchig werden. Und gegenwärtig kommt hinzu, dass Umweltzerstörung und Klimawandel unsere gewohnten Konsum- und Verhaltensmuster, ja vermutlich sogar unser ‚gutes Leben‘ auf diesem Planeten in langfristiger Perspektive insgesamt gefährden, sodass eine ökologische Transformation von Wirtschaft und Politik unausweichlich erscheint. Was bedeutet dies für den deutschen Sozialstaat der Zukunft?

Für eine soziale und ökologische Gestaltung des Sozialstaats muss an zwei Stellen angesetzt werden: Zum einen müssen die kollektiven Systeme und die Mindestsicherungssysteme so gestärkt werden, dass Sicherungslücken geschlossen werden und soziale Teilhabe für alle Bürger:innen über den Arbeitsmarkt erreichbar wird. Zum anderen müssen Umfang und Qualität der sozialen Dienstleistungen und der allgemeinen Daseinsvorsorge so austariert werden, dass der soziale Zusammenhalt und die ökologische Nachhaltigkeit miteinander in Einklang gebracht werden. Die soziale Daseinsvorsorge, eine zentrale Säule unseres Sozialstaatsgebäudes, scheint mir ein in der Sozialstaatsreformdebatte oftmals übersehenes aber gewichtiges Potential für einen sozial-ökologischen Umbau zu haben.

Der Erwerbsstatus – die erste Säule sozialer Staatsbürger:innenschaft

In der Sozialstaatsforschung gilt das europäische Sozialmodell als ein Haus, in dem das kollektive Recht der Tarifpolitik und der Sozialversicherungen das erste und zweite Stockwerk bilden, die auf dem Erdgeschoss der arbeitsrechtlichen Regulierung der Beschäftigungsverhältnisse aufbauen (Offe 2005). Das schützende Dach bilden die Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik, die Vollbeschäftigung garantieren (sollen) und damit das Beschäftigungssystem funktionsfähig halten, während sich die Grundsicherungssysteme gleichsam im Keller des Gebäudes befinden. Die Gesamtheit der genannten sozialen Rechte bildet das ‚Sozialerbe‘ einer Gesellschaft (Castel 2005), das allen Bürger:innen den Zugang zu einem gemeinsam geteilten Lebensstandard eröffnet, wenn eigenes Produktivvermögen fehlt.

Dieses Sozialmodell hat drei starke Vorteile. Erstens sind in den ‚konservativ-korporatistischen‘ Sozialstaaten wie Deutschland, Frankreich oder Österreich (Esping-Andersen 1990) soziale Rechte als Gruppenrechte der Erwerbstätigen organisiert. Sie werden von keiner abstrakten Instanz dekretiert, sondern zwischen gesellschaftlichen Interessengruppen, organisierten Erwerbstätigen und Arbeitgebern, ausgehandelt. Sie sind in Form der Sozialversicherungen, des Tarifrechts und der betrieblichen Mitbestimmung institutionalisiert und somit robuster gegen politische Konjunkturen als „einfache“ gesetzliche Regelungen. Kollektive soziale Rechte sind im Erwerbsstatus gebündelt und bilden den Kern der kontinentaleuropäischen Sozialstaatsbürgerschaft (Offe 2005). Auf diese Weise entstehen kollektive Macht und Solidaritätsräume (Supiot 2015). Zweitens nehmen die Sozialversicherungen das mittlere Einkommen und nicht das sozio-kulturelle Existenzminimum zum Bezugspunkt für die soziale Sicherung. Hierfür definiert das Arbeitsrecht das ‚Normalarbeitsverhältnis‘, aus dem sich die Ansprüche auf Versicherungsleistungen ableiten. So entsteht die institutionelle Basis für die Herausbildung der breiten Mittelschicht, deren Lebensstandard prinzipiell an den erwirtschafteten Wohlstand geknüpft ist (Vogel 2009). Der Tarifkonflikt und die Sozialversicherungen organisieren die Umverteilung zwischen Arbeit und Kapital: Sie ziehen die Ressourcen ‚an der Quelle‘ ab und leiten sie als Einkommen direkt in die Privathaushalte (Primärverteilung) oder über die Sozialversicherungen an die Leistungsberechtigten (Sekundärverteilung). Weil die über den Arbeitsmarkt generierten Sozialbeiträge ein sehr viel größeres Volumen für die Umverteilung haben, als die Steuerfinanzierung von Sozialleistungen, ist das Armutsrisiko in den Sozialstaaten, die nach dem Sozialversicherungsprinzip organisiert sind, sehr viel geringer als in den angelsächsischen Systemen, auch wenn diese zuvorderst auf Armutsbekämpfung ausgerichtet sind (Korpi und Palme 1998). Und drittens sind die öffentlichen gesetzlichen Sozialversicherungen anders als private Versicherungen flexible Solidarsysteme: Sie sichern immer schon Lebenslagen ab, für die nicht unbedingt Beiträge gezahlt wurden – wie etwa bei der Familienmitversicherung in den Krankenkassen oder die Berücksichtigung von Erziehungsphasen in der Rente. Und auch die Tarifpolitik widmet sich zunehmend qualitativen und gesellschaftspolitisch relevanten Gegenständen, wie Modellen der (individuellen) Arbeitszeitverkürzung oder der Freistellung für und Förderung von Weiterbildung.

Es ist also vor allem eine politische und keine systemische Frage, welche ‚neuen sozialen Risiken‘ in den kollektiven Systemen berücksichtigt werden. Allerdings eignen sich die kollektiven Systeme bislang kaum zur Absicherung von Niedriglöhnen oder atypischer Beschäftigung: Oftmals schützen die Geldleistungen kaum den Lebensstandard oder nicht einmal die soziokulturelle Existenz. Und die Versicherungspflicht gilt auch nicht universell für alle Beschäftigten: Rund fünf Millionen Personen in einem ausschließlichen Minijob und weitere rund zwei Millionen Solo-Selbstständige, aber auch die derzeit (2022) rund eine Million langzeitarbeitslosen Menschen haben keine Aussicht auf eine zuverlässige Absicherung in der Renten- und Arbeitslosenversicherung.

Letztes Netz oder zweite Säule – die Mindestsicherungssysteme

Das größte Problem der erwerbszentrierten sozialen Sicherung ist also, dass der Erwerbsstatus nur solange integrativ wirkt, wie der Zugang zu ‚guter Arbeit‘, also dauerhafter und anständig bezahlter Arbeit, für alle erwerbsfähigen Menschen gewährleistet ist. Schwinden Vollbeschäftigung und Normalarbeitsverhältnis, wächst die relative Bedeutung des Grundsicherungssystems. Der deutsche Sozialstaat scheint schlecht darauf vorbereitet, dass immer weniger Erwerbstätige aus ihrem Arbeitsverhältnis ihre gesellschaftliche Teilhabe realisieren können. Bis heute ist die Politik der Armutsbekämpfung der Sozialversicherungspolitik politisch und praktisch nachgeordnet.Footnote 1 1 Wiederholt haben die Sozialverbände vorgerechnet, dass die Leistungen, auch wenn zum persönlichen Regelsatz noch Zuschläge dazukommen, nicht armutsfest sind. Die ‚Hartz-Reformen‘ haben durch die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe und die Verengung des Zugangs zur Grundsicherung zur kritischen Distanzierung vieler Menschen vom deutschen Sozialstaat und zur sozialen Spaltung beigetragen.

Ein ‚elephant in the room‘ – oder um im Bild zu bleiben – ein Elefant im Vorgarten unseres Sozialstaatshauses, also ein drängendes, aber übersehenes Problem, ist die räumliche Konzentration von schwierigen sozialen Lebenslagen, die heute auch in deutschen Großstädten und ländlichen Regionen zunehmend hervortritt. Mit der Finanzialisierung des Immobilienmarktes und der vermehrten Zuwanderung hat sich die Situation noch weiter zugespitzt. Am Beispiel Bremens zeigt sich: Dort sind Armutsrisiko (28,4 % in 2020) und Arbeitslosigkeit (elf Prozent) nicht nur im Bundesvergleich sehr hoch, sondern zudem extrem ungleich über das Stadtgebiet verteilt. Im ehemaligen Werftarbeiterstadtteil Gröpelingen im Bremer Westen, der auch als ‚Ankommensstadtteil‘ für zugewanderte Familien gilt, lag 2020 der Anteil der Grundsicherungsbeziehenden bei 30 % der erwachsenen Bevölkerung, bei den Kindern sogar bei 51 % (Schwarzer 2021). Kinder, die oft auch in bildungsarmen Haushalten aufwachsen, in einem entsprechenden Umfeld leben und zur Schule gehen, haben kaum Chancen auf ein eigenständiges Leben in Wohlstand. Denn ein weiterer Nachteil ist, dass gerade in Gebieten mit einer sozioökonomisch ungünstigen Struktur auch die Daseinsfürsorge – vor allem bei den Gesundheits- und Bildungseinrichtungen – oftmals löchrig ist. Zudem sind benachteiligte Stadtteile in den Großstädten durch negative Umweltbedingungen, nämlich Vermüllung, Delinquenz, fehlende Verkehrsanbindung, städtebauliche Nachteile oder besondere Umweltprobleme zusätzlich belastet.Footnote 2 Dies hat beunruhigende Folgen: In den benachteiligten Stadtteilen oder ländlichen Räumen ist nicht nur die Wahlbeteiligung gering (Schäfer 2015), sondern auch die Lebenserwartung um bis zu fünf Jahre niedriger als in Landkreisen mit einem überdurchschnittlichen pro-Kopf-Einkommen (Rau und Schmertmann 2020).

Soziale Dienstleistungen – eine dritte Säule

Das Modell des europäischen Sozialstaatshauses betont den Nexus zwischen Arbeitsmarkt und sozialer Sicherung, die lokalen sozialen Dienstleistungen kommen darin nicht vor. Dabei sind die Dienstleistungen und Einrichtungen der öffentlichen Daseinsvorsorge aus der staatsrechtlichen Perspektive integrativer Bestandteil des modernen Sozialstaats (Neu 2009). Zur öffentlichen Daseinsvorsorge gehören nicht nur die Versorgung mit Energie, Sicherheit und Lebensmitteln, der Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen, die Kommunikations- und Verkehrsnetze und ein angemessenes Kulturangebot, sondern auch die Sozialversicherungs- und Grundsicherungssysteme, die sozialen Dienstleistungen und der öffentliche Dienst. Die öffentliche Daseinsvorsorge umfasst also sämtliche staatlichen Leistungen, die die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse auf dem Territorium der Bundesrepublik – oder zumindest den sozialen Zusammenhalt – sicherstellen (Neu 2009).

Umfang und Struktur der Daseinsvorsorge wandeln sich im Fahrwasser veränderter Ansprüche und Erwartungen der Bürger:innen (Vogel 2009). Gerade in den vergangenen dreißig Jahren sind die sozialen Dienstleistungen zu einer dritten tragenden Säule des Sozialstaats geworden (Nullmeier und Kaufmann 2010). Dabei folgte vor allem die Expansion der Kindertagesbetreuung den Bedarfen der Mittelschicht: Getrieben vom Anstieg der Frauenerwerbstätigkeit und dem Pisa-Eklat im Jahr 2000, sind Nachfrage und Angebot von Dienstleistungen der frühkindlichen Erziehung, Bildung und Betreuung mit dem Verweis auf ihren ‚sozialinvestiven‘ Charakter massiv gestiegen: Zwischen 2006 und 2019 verdoppelte sich das pädagogische Personal in der Tagesbetreuung auf über 600.000 Personen (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2020, S. 91).

Bei einem hohem Qualitätsniveau haben die sozialen Dienstleistungen eine egalisierende Wirkung: Sie bedienen die Bedarfe der „vollbeschäftigten“ Mittelschicht und kompensieren zugleich Bildungsdefizite bei Kindern aus bildungsarmen oder zugewanderten Familien. Allerdings bremst der Fachkräftemangel diese Entwicklung: Nicht nur im Erziehungswesen, auch im Pflegebereich fehlen die Mittel, die geringe Bezahlung substantiell zu erhöhen und die hohe Arbeitsbelastung zu reduzieren um diesen Sektor für Arbeitskräfte attraktiver zu machen. ‚Vermarktlichung‘ oder gar die ‚Finanzialisierung‘ dieser Dienstleistungen konterkarieren durch den Lohndruck die Steigerung der Qualität und den Schutz der Beschäftigten zusätzlich.

Auch die begleitenden Hilfestrukturen im Bereich der Grundsicherung sind bis heute unterentwickelt: Die sozialen Dienstleistungen, die über zivilgesellschaftliche, konfessionelle oder private Träger erbracht werden, sind zunehmend überlastet – erst Recht bringt die Pandemie das lokale Hilfesystem an seine Grenzen, wo öffentliche Anlaufstellen für den Publikumsverkehr geschlossen sind (Kaps et al. 2021). Darüber hinaus bestehen zahlreiche Koordinations- und Schnittstellenprobleme mit den öffentlichen Stellen der kommunalen Sozialpolitik, vor allem dort, wo es das Ressortprinzip erschwert, die multiplen Problemlagen der Menschen in den sozialen Brennpunkten ‚aus einer Hand‘ zu bearbeiten (Stöbe-Blossey 2016).

Das Dach – die allgemeine öffentliche Daseinsvorsorge

Im auffälligen Unterschied dazu prägen die Angebote des Leistungsstaates die Erwartungen der Mittelschicht: Wohnen und Energieverbrauch, Mobilität und Kommunikation, Ernährung, Umweltschutz und Kultur werden diesen Erwartungen entsprechend von der öffentlichen Hand finanziert, reguliert oder subventioniert. Demzufolge hat sich in der Mittelschicht ein typisches Konsumverhalten herausgebildet und andersherum definiert sich auch die Mittelschicht über ihre typischen Konsummuster (Vogel 2009). Das hohe Leistungsniveau und breite Leistungsspektrum werden bis heute kaum hinterfragt: Selbst Leistungen, die dem privaten Wohlstand, nicht aber dem öffentlichen Gemeinwohl dienen, werden als selbstverständlich betrachtet. Dabei erweisen sich gerade der Individualverkehr, die hohen Energiekosten großer Wohnflächen, der Flächenverbrauch der Straßen, Parkplätze und Einfamilienhaussiedlungen, aber auch die industriell geprägte Agrarproduktion ebenso wie der globale Handel und Transport von Konsumgütern als die relevanten Treiber für Ressourcenverbrauch und Klimawandel (Göpel 2020).

Die Crux dabei ist: Der universelle Zugang zu diesen Gütern der Daseinsvorsorge verhindert nicht den ‚Mittelschichtsbias‘ ihrer Nutzung. Im Gegenteil, Gutverdienende profitieren vom öffentlich geförderten Leistungsangebot in sehr viel höheren Maße als einkommensschwache Bürger:innen. Konsumansprüche, Vermögen, ‚kulturelles Kapital‘, das Selbstverständnis als Angehörige der Mittelschicht sind häufig die Voraussetzungen dafür, dass öffentlich subventionierte oder finanzierte Strukturen auch genutzt werden. So dienen etwa Innenstadtparkplätze oder Flughäfen einem bestimmten Mobilitätsverhalten und in gepflegten und städtebaulich ansprechenden Stadtteilen mit einer guten infrastrukturellen Ausstattung leben Bürger:innen, die sich dort die Mieten oder den Kauf von Immobilien leisten können. Selbst das Bildungssystem begünstigt die mittlere oder obere Mittelschicht: Bei den Unter-Dreijährigen besuchen Kinder mit Migrationshintergrund nur halb so häufig die öffentliche Tagesbetreuung, und Abiturient:innen, deren Eltern keinen Universitätsabschluss haben, nehmen (bei gleichen Schulleistungen) deutlich seltener ein Studium auf (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2020, S. 88).

Zurecht rückt die Frage nach einem Übergang zu klimafreundlichen Verhaltens- und Konsummustern daher auch die soziale Frage in den Fokus. Dabei erweist sich allerdings der Blick auf das ‚untere Ende‘ der staatlichen Leistungserbringung als zu eng: Angesichts der ökologischen Kosten des mittelschichtstypischen Lebensstils, der knappen öffentlichen Ressourcen, des wachsenden Fachkräftemangels und der ungedeckten Bedarfe in den sozialen Dienstleistungen auf der anderen Seite müssen alle infrastrukturelle Leistungen, Förderprogramme und Steuerermäßigungen gleichermaßen auf den Prüfstand. Als ein prominentes Beispiel dafür, dass soziale und ökologische Kosten steuerfinanzierter Privilegien schlichtweg externalisiert werden, sei nur das umstrittene Dienstwagenprivileg genannt, das mit mehr als drei Milliarden Euro jährlich überwiegend männlichen Gutverdienenden die Nutzung eines großen PKW aus Steuermitteln subventioniert. Das Hauptproblem der Daseinsvorsorge liegt nicht in ihren hohen Kosten, sondern in der Externalisierung ihrer ungleichen Verteilung und ihrer ökologischen Folgen. Die sozialverträgliche Bewältigung des Klimawandels besteht dann auch nicht zuvorderst darin, dort nachzusteuern, wo die Folgekosten für einen klimafreundlichen Konsum nicht aus eigenen Mitteln bewältigt werden können. Nein, es gilt, eine gemeinwohlorientierte Daseinsvorsorge zu entwickeln, die ökologische und soziale Kosten nicht länger externalisiert. Die Teilhabe Aller, der Beitrag zu sozialem Zusammenhalt, die ökologische Verträglichkeit und Klimafreundlichkeit, dies müssen endlich die Prüfkriterien für die Ausgestaltung unserer Leistungssysteme werden.

Vielfacher Handlungsbedarf

Die kritische Inventur unseres Sozialstaatsgebäudes zeigt: Es ist höchste Zeit, den deutschen Sozialstaat sicher und klimafest zu machen. Für die vier hier dargestellten Handlungsbereiche des Sozialstaats bedeutet dies Folgendes.

  • Aufgrund seiner hohen Wirksamkeit beim Ausgleich zwischen Arbeit und Kapital muss das erwerbszentrierte Modell wieder zum Kern der sozialen Sicherung für Alle werden, indem die Arbeitsmarktregulierung und eine starke Tarifpolitik wieder verlässliche und auskömmliche Beschäftigungsverhältnisse entstehen lassen. Mit einer weiterentwickelten ‚Arbeitsversicherung‘ (vgl. Schmid 2008) wären auch atypisch Beschäftigte besser bedient. Die Akteure der Beschäftigungs- und Industriepolitik müssen ihre Ziele konsequenter zwischen den zwei Strategien des ‚green deal‘ und des ‚Postwachstum‘ definieren und dafür sorgen, dass soziale Folgen des Strukturwandels arbeitsmarkt- und tarifpolitisch abgefangen werden.

  • Die Mindestsicherungssysteme müssen endlich armutsfest gemacht und dabei eine Komponente für ökologischen Verbrauch und Konsum berücksichtigt werden (vgl. Bach et al. 2019). Für Bürger:innen, die zeitweise oder mittelfristig über eine schwache Marktposition verfügen, muss der mittelschichtsbezogene Lebensstandard in Reichweite bleiben. Und schließlich sollte endlich die Grundsicherung im Alter zu einer echten steuerfinanzierten, allgemeinen Volksrente nach skandinavischem Modell ausgebaut und um einen bedarfsdeckenden qualitativ hochwertigen Pflegesektor ergänzt werden. Allein die Perspektive auf ein gutes Leben im Alter wird Druck aus dem System nehmen.

  • Erfolgsfaktoren für eine nachhaltige Bekämpfung von Armutslebenslagen sind die Stärkung des öffentlichen Dienstes und die verlässliche Finanzierung lokaler Unterstützungsstrukturen. Die politische Aufmerksamkeit für die Armutsbekämpfung, vor allem durch präventive Politik wie frühkindliche Bildung und Sprachförderung, aber auch die gesundheitliche Prävention, ist in Deutschland mit Verweis auf die Strategie eines ‚Sozialinvestitionsstaats‘ in den vergangenen Jahren gewachsen (Schroeder et al. 2018). Eine Strategie der ‚positiven Diskriminierung‘ von sozialen Brennpunkten lässt sich damit ebenso gut begründen wie der Aufbau integrierter Gesundheitszentren nach dem Modell der WHO.Footnote 3 Aufgrund ihrer egalisierender Wirkung gilt der Ausbau von ‚universal basic services‘ anstelle eines ‚universal basic income‘ für die sozial-ökologische Transformation als Kernstrategie (führend hier Gough 2019). Ein starker öffentlicher Dienst bleibt hierfür die wichtigste Basis.

  • In dem großen und heterogenen Bereich der allgemeinen Daseinsvorsorge wären vor allem zwei Schieflagen zu beheben: die selektive Begünstigung der oberen auf Kosten der unteren Mittelklasse und die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen durch die Externalisierung der ökologischen Kosten des hohen mittelschichtsbezogenen Lebensstandards. Vor allem erfordert der ‚davongelaufene‘ private Konsum eine Umsteuerung. Investitionen oder Steuerbegünstigungen wären demgegenüber zukünftig an sozialer Gleichheit und ökologischer Nachhaltigkeit zu bewerten.

Fazit: Es bedarf einer doppelten Umverteilung

Die Neuausrichtung des deutschen Sozial- und Leistungsstaats an ökologischen Zielen und die Beendigung der Externalisierung sozialer und ökologischer Kosten ruft nach einem Paradigmenwechsel für die Politik der Daseinsvorsorge. Dies verlangt nicht unbedingt einen Pfadbruch, wohl aber eine konsistente inkrementelle Veränderung und teilweise Ersetzung bestehender institutioneller Strukturen und Regeln. Als begünstigende Faktoren für paradigmatische Veränderungen des Sozialstaats haben sich in der Vergangenheit veränderte Denkmuster, neues Wissen und neue Prozesse der Verarbeitung von wissenschaftlichem Wissen erwiesen (Streeck und Thelen 2005). Welche Elemente braucht also eine politische Strategie, die einen paradigmatischen Wandel unterstützen will?

Erstens bedarf es einer breiten gesellschaftlichen Debatte, die einen mehrheitsfähigen ökologisch verträglichen Lebensstandard neu definiert: Was ist für uns ein gutes Leben? Wie wichtig sind dabei der soziale Zusammenhalt und der Schutz der Umwelt? Der Erhalt unserer Lebensgrundlage ist seit 1994 im Grundgesetz, Artikel 20a, als staatliches Handlungsziel festgelegt, und die Analysen des Umweltbundesamtes zeigen, dass ein großer Teil der deutschen Bevölkerung (61 %) den Umwelt-, Natur- und Klimaschutz zu den wichtigsten Anliegen eines ‚guten Lebens‘ zählt (BMUV und Umweltbundesamt 2022, S. 63). Politische Kampagnen, die alle gesellschaftlichen Akteure dazu einladen, Handlungsprioritäten zu verändern oder neue Verhaltens- und Konsummuster zu entwickeln, sollten hier anknüpfen und für ein Umdenken werben (vgl. Göpel 2020). Ziel wäre, zu einer tragfähigen und mehrheitsfähigen Definition eines mittleren – sozial und ökologisch vertretbaren – Lebensstandards zu kommen. Dabei braucht es Einsicht in die notwendigen Veränderungen, nach denen Leistungen und Standards aus sozialen Gründen nach unten gesockelt, und aus ökologischen Gründen auch nach oben gedeckelt werden müssen (Gough 2021).

Eine stringentere Evidenzbasierung der Politik der Daseinsvorsorge, die die sozialen und ökologischen Kosten von öffentlichen Leistungen gleichzeitig beziffert und als politikrelevant sichtbar macht, würde, zweitens, diesen Wandel stützen und fördern. Die simultane CO2-Bepreisung einzelner Maßnahmen und die Bezifferung ihrer Nutzung nach Einkommensgruppen (Dezilen) könnten den jeweiligen ‚CO2-Fussabdruck‘ beim Wohnen/Heizen, Mobilität, Ernährung und die soziale Dimension des Ressourcenverbrauchs sichtbar machen (für einen Ansatz vgl. Bach et al. 2019). Dies wäre hilfreich, um den diffamierenden Diskurs über eine vermeintliche ‚Ökodiktatur‘ als Verschleierungstaktik einer klimafeindlichen Strategie der Besitzstandswahrung zu entlarven und Legitimität für eine nachhaltige und stärkere umverteilende Politik zu generieren. Nur so kann die Externalisierung sozialer und ökologischer Kosten des Mittelschichtslebensstandards langfristig beendet werden. Ein gezieltes öffentliches und von einer Expert:innenkommission gestütztes sozial-ökologisches Monitoring sollte, nach Vorbild der Armuts- oder Bildungsberichterstattung, die vielen vorhandenen Indikatoren und Daten (Flächenverbrauch, CO2-Produktion, Verteilungswirkungen) systematisch bündeln und den politischen Akteuren damit einen Handlungskorridor für eine (ökologische und verteilungspolitisch gerechte) Umsteuerung aufzeigen.Footnote 4 Eine solche Orientierungshilfe ermöglicht, analog zur Wirtschaftlichkeits- oder Genderprüfung, die Bezifferung der Verteilungs- und Umweltwirkungen von Maßnahmen des Leistungsstaats im Gesetzesverfahren.

Drittens könnten neben der Regulierung oder der Besteuerung umweltschädlicher Produktions- und Konsummuster sehr viel stärker als heute ‚weiche‘ Instrumente der Verhaltenssteuerung zur Anwendung kommen. Das Umweltbundesamt zeigt nämlich, dass viele Menschen für Verhaltensänderungen aufgeschlossen sind, aber auch, dass es eine „Bewusstseins-Verhaltenslücke“ (BMUV und Umweltbundesamt 2022, S. 37) gibt, die sich durch alltagspraktische Hinderungsgründe, Unsicherheit oder fehlende Transparenz und Informationen erklärt. Das interaktive Selbstprüfungsinstrument (Schnell-Check) des Umweltbundesamtes könnte (weiter-)entwickelt und breiter beworben werden, um Bürger:innen, öffentliche Einrichtungen und Unternehmen zu ermöglichen, die Ökologieverträglichkeit ihres konkreten Verhaltens, der Produktion oder ihrer Dienstleistungen zu erfassen und zu bewerten.Footnote 5 Im nächsten Schritt könnte die Gewährung von Förderungen, Subventionen oder Steuerermäßigungen an die Einhaltung bestimmter Standards (etwa den Nachweis eines akzeptablen ‚sozial-ökologischen Fußabdruck‘) gebunden werden.

Diese drei Beispiele zeigen: Die politischen Möglichkeiten einer Strategie einer sozial-ökologischen Neuausrichtung der sozialen Daseinsvorsorge sind längst noch nicht ausgeschöpft. Fest steht, die Umverteilung der vorhandenen Ressourcen und Kosten muss in zwei Dimensionen neu organisiert werden: Zwischen Arbeit und Kapital durch die Regulierung des Arbeitsmarktes und die Stärkung der kollektiven Systeme, sowie, stärker als in der Vergangenheit, auch zwischen starken und schwachen Bürger:innen innerhalb einer solidarischen Gesellschaft. Anstelle der systematischen Privilegierung des privaten (und eben oftmals umweltschädlichen) auf Kosten des öffentlichen Wohlstands müssen Investitionen in die öffentliche Daseinsvorsorge so getätigt werden, dass sie die Polarität in den Lebensstilen der oberen und der unteren Mittelschicht abmildern und einen Rahmen für ein ökologisch verträgliches ‚gutes Leben‘ für alle Bürger:innen bilden.