Die vorliegende Studie über soziale Probleme in 40 reichen Ländern im Zeitraum von 1990–2020 stellt derzeit die aktuellste und umfassendste Überprüfung von Wilkinson und Picketts Erweiterung der Einkommensungleichheitshypothese für soziale Probleme dar. In Bezug auf den langen wissenschaftlichen Streit um den Einfluss von Einkommensungleichheit auf das Ausmaß sozialer Probleme liefert die vorliegende Arbeit aufgrund ihrer Systematik wichtige Forschungsergebnisse. Es können drei wesentliche Erkenntnisse hervorgehoben werden: (1) Einkommensungleichheit allein stellt sich als eher ungenügender Prädiktor für soziale Probleme heraus. (2) Vor allem Wohlstand, aber auch ethnische Fraktionalisierung und Vertrauen, hängen signifikant und sogar unabhängig von Einkommensungleichheit mit dem Ausmaß sozialer Probleme zusammen. (3) Die geschätzten Zusammenhänge zwischen den Einflussfaktoren und Problemen sind deutlich heterogener als erwartet, was gegen Wilkinson und Picketts Hypothese eines einzelnen zentralen Mechanismus spricht, das Ausmaß sozialer Probleme auf der Makroebene zu erklären. Im Nachfolgenden werden die Forschungsergebnisse entlang der fünf aufgestellten Forschungshypothesen diskutiert.

5.1 Einkommensungleichheit als ungenügender Prädiktor

Vor dem Hintergrund Wilkinson und Picketts Spirit Level Theory (2016 [2010]) wurde erwartet, dass in reichen Gesellschaften höhere Einkommensungleichheit unabhängig von Wohlstand mit einem höheren Ausmaß sozialer Probleme einhergeht (H1). Die Ergebnisse der Querschnittsanalyse zeigen, dass sich H1 nur für drei der fünf getesteten sozialen Probleme bestätigen lässt: für Gewalt, Inhaftierungen sowie das Problem niedriger Wahlbeteiligung. Aus den Ergebnissen der einfachen ökologischen Korrelationen geht hervor, dass die Bereinigung des Ländersets von Ausreißern zu einer starken Verringerung signifikanter Koeffizienten führt; insbesondere bei der Analyse von Teenagerschwangerschaften. Im Längsschnitt kann lediglich der erwartete Zusammenhang zwischen abnehmender Wahlbeteiligung und der Zunahme von Einkommensungleichheit festgestellt werden. Außerdem zeigen die Ergebnisse der Längsschnittanalyse im Kontrast zur Theorie, dass eine Zunahme der Einkommensungleichheit mit einer Verringerung von Gewalt einhergeht. Dieser Zusammenhang besteht auch unter der Kontrolle der vier übrigen Einflussfaktoren. Trotz der signifikanten Assoziation der beiden Größen ist ein Kausalzusammenhang unplausibel. Eine mögliche Erklärung der Effektrichtung kann die Gleichzeitigkeit sein, in der die Einkommensungleichheit innerhalb der Länderauswahl zwischen 1990 und 2020 angestiegen ist und die Mordraten gesunken sind – vor allem in den osteuropäischen Ländern nach dem Ende des kalten Krieges und unter dem Eindruck postkommunistischer Transformationsprozesse. Hier bedarf es weiterer Forschung. Im Längsschnitt kann also keines der sozialen Probleme aus der Spirit Level Theory im zeitlichen Verlauf erklärt werden. Die vorliegenden Ergebnisse verdeutlichen in Bezug auf die Theorie, dass Einkommensungleichheit allein ein ungenügender Prädiktor für das Ausmaß aller untersuchten sozialen Probleme in reichen Ländern ist. Wilkinson und Picketts Ansatz, die individuelle und kollektive Betroffenheit von sozialen Problemen auf einen einzigen zentralen Mechanismus zurückzuführen, scheint somit der Realität nicht gerecht zu werden. Entsprechend kritisch müssen daraus abgeleitete eindimensionale politische Forderungen betrachtet werden, nach denen sich soziale Probleme allein durch die Um- bzw. Gleichverteilung von Einkommen und Wohlstand verringern ließen. Gleichwohl eine Verringerung der Einkommensungleichheit bestimmte soziale Probleme verringern kann, sollte ein Mainstreaming der Einkommensungleichheitshypothese weder in der Politik noch in der Theoriebildung zu einer Blindheit gegenüber anderen Einflussfaktoren führen. So zeigen die Forschungsergebnisse deutlich, dass höherer Wohlstand nach wie vor mit einem geringeren Ausmaß sozialer Probleme einhergeht. Entsprechend darf dieser Faktor nicht wie in Wilkinson und Picketts Konzeption a priori ausgeschlossen werden. Des Weiteren stellen die Ergebnisse der einfachen ökologischen Korrelationen noch einmal die Relevanz des Ausschlusses von Ausreißern heraus. Die fehlende Bereinigung ist ein wesentlicher Kritikpunkt an Wilkinson und Picketts Forschungsergebnissen (Saunders & Evans, 2010). Es wird deutlich, dass allein dieser Schritt dazu führt, dass sich die Zahl der signifikanten Koeffizienten im dreißigjährigen Untersuchungszeitraum bei der Mordrate von 22 auf 19 verringert, bei Teenagerschwangerschaften von 23 auf 0 und bei schulischen Leistungen von 6 auf 0. Dies verdeutlicht noch einmal die Notwendigkeit der Einhaltung wissenschaftlicher Standards in der empirischen Sozialforschung, um Fehlinterpretationen und fehlerhafte Rückschlüsse auf die Praxis zu vermeiden. In Bezug auf die kritische Auseinandersetzung mit der Spirit Level Theory ist die vorliegende Arbeit in zweierlei Hinsicht limitiert: Erstens beschränkt sie sich auf soziale Probleme und lässt die von Wilkinson und Pickett verhandelten gesundheitlichen Missstände unberücksichtigt. Und zweitens kann sie den in der Theorie angenommenen Mediationseffekt der Statusängste nicht prüfen. Hier bestehen Potentiale für zukünftige Forschung, z. B. in der Erweiterung der untersuchten Probleme und in der Schätzung von Mediationsmodellen (z. B. in Anlehnung an Delhey & Steckermeier, 2019).

Die vorliegenden Ergebnisse reihen sich in eine Vielzahl von Studien ein und können bisherige Erkenntnisse stützen, widerlegen und präzisieren. Gewalt. Die Resultate aus den Querschnittsanalysen bestätigen Studienergebnisse, wie z. B. von Coccia (2017) oder Fajnzylber et al. (2002), die einen Zusammenhang zwischen höherer Einkommensungleichheit und höheren Mordraten herausstellen, für das vorliegende Set 40 reicher Länder im dreißigjährigen Untersuchungszeitraum. Dagegen zeigen die Ergebnisse der Längsschnittanalysen keine signifikanten Zusammenhänge, was bisherigen Erkenntnissen widerspricht (z. B. Chamlin & Cochran, 2006 und Jacobs & Richardson, 2008). Eine Erklärung für die Abweichung im Längsschnitt kann in der Qualität der Länder- und Datenauswahl liegen. Messner et al. (2002) stellen heraus, dass der Zusammenhang zwischen Einkommensungleichheit und Mordraten von der Qualität der Messung abhängig ist. Auch sie schätzen im Längsschnitt einen negativen wenngleich insignifikanten Koeffizienten in Ländern mit einer qualitativ hochwertigen Messung der Einkommensungleichheit. Inhaftierungen. Studienergebnisse, wie z. B. von Lappi-Seppälä (2011) oder Sutton (2004), die einen positiven Zusammenhang zwischen Einkommensungleichheit und Inhaftierungen im Länderquerschnitt aufzeigen, werden durch die vorliegende Analyse gestützt; entsprechende Längsschnittergebnisse, wie z. B. von Crutchfield und Pettinicchio (2009) oder Steelman (2016) dagegen nicht. Im Gegensatz zu Crutchfield und Pettinichio beruhen die vorliegenden Ergebnisse nicht auf einfachen ökologischen Korrelationen über die Zeit, sondern auf multivariaten TWFE-Regressionen. Die Abweichung zu Steelmans signifikanten FE-Regressionen kann eine Folge der fehlenden Kontrolle auf weitere Einflussfaktoren und des an der Datenverfügbarkeit orientierten, internationaleren Ländersets sein. Teenagerschwangerschaften. Die Analyseergebnisse widersprechen den wenigen Studien, welche im Länderquerschnitt auf einen verschärfenden Effekt von Einkommensungleichheit auf die Zahl der Teenagerschwangerschaften hinweisen, wie z. B. durch Jones (2017) oder Gold et al. (2001). Auch hier können die Länderauswahl, Datenqualität und einfaches methodisches Vorgehen eine Erklärung für die abweichenden Ergebnisse darstelle. Schulische Leistungen. Die vorliegenden Ergebnisse widersprechen auch den Resultaten von Querschnittsstudien, wie z. B. von Chiu (2015) oder Jerrim und Macmillan (2015), die negative Zusammenhänge zwischen Einkommensungleichheit und schulischen Leistungen schätzen. Ursachen für diese Abweichungen können sein, dass Chiu anstatt der Lese- die Methekompetenz überprüft und Herrim und Macmillan ihre Untersuchung auf das Erwachsenenprogramm der OECD stützen, das Programme for International Assessment of Adult Competencies (PIAAC). Vor dem Hintergrund weniger makrosoziologischer Längsschnittstudien weisen die vorliegenden Ergebnisse auf keinen signifikanten Zusammenhang zwischen Einkommensungleichheit und schulischen Leistungen von Kindern im Zeitverlauf hin. Dieses Ergebnis stellt ein Novum für die Bildungsforschung dar, in der Einkommensungleichheit in der Regel als Ursache und Folge von Bildung verhandelt wird (z. B. in Gregorio & Lee, 2002). Wahlbeteiligung. Die vorliegenden Ergebnisse bestätigen diverse Studien, vor allem jene von Solt (2010) sowie Jensen und Jespersen (2017), die einen negativen Zusammenhang zwischen der Einkommensungleichheit und der Wahlbeteiligung festgestellt haben. Zudem erweitern die Längsschnittergebnisse das bisherige Verständnis, indem sie aufzeigen, dass eine Zunahme der Einkommensungleichheit über die Zeit mit einer Abnahme der Wahlbeteiligung in reichen Ländern einhergeht – und das unabhängig von Wohlstand, Vertrauen und dem gesellschaftlichen Werteklima.

5.2 Zuverlässige Wohlstandseffekte

Snowdons Publikation The Spirit Level Delusion (2010) versteht sich als direkte Gegenschrift zu Wilkinson und Picketts Theorie. Sie stellt den dämpfenden Einfluss von Wohlstand auf soziale Probleme radikal gegen den der Einkommensungleichheit. Entsprechend wurde erwartet, dass in reichen Gesellschaften Wohlstand unabhängig von der Einkommensungleichheit negativ mit dem Ausmaß sozialer Probleme assoziiert ist (H2). Aus den Ergebnissen der Querschnittsanalysen geht hervor, dass diese Hypothese für alle fünf untersuchten sozialen Probleme angenommen werden kann. Höherer Wohlstand geht unabhängig von Einkommensungleichheit mit niedriger Gewalt, weniger Inhaftierungen und Teenagerschwangerschaften, höheren schulischen Leistungen sowie einer höheren Wahlbeteiligung einher. Im Längsschnitt konnte H2 lediglich für das Ausmaß an Gewalt und die Zahl der Inhaftierungen bestätigt werden: Ein Anstieg des Wohlstands geht mit einer Abnahme der Mord- und Inhaftierungsraten einher. Diese Ergebnisse bestätigen Snowdons Kritik an der Spirit Level Theory in Bezug auf soziale Probleme und stützen seine Hauptargumente, nach denen von wirtschaftlicher Prosperität weiterhin schichtübergreifend alle profitieren und materieller Wohlstand jenseits vom Statusstreben einen tatsächlichen Nutzen und positiven Einfluss auf das Leben der Menschen hat. Während Wilkinson und Pickett die Relevanz des Wohlstands als Prädiktor sozialer und gesundheitlicher Probleme radikal ausblenden, verkennt Snowdon jedoch voreingenommen den Einfluss von Einkommensungleichheit. Die vorliegenden Ergebnisse verdeutlichen allerdings, dass beide Faktoren eine wichtige Rolle spielen. Besonders deutlich wird dies vor dem Hintergrund des Problems niedriger Wahlbeteiligung. So werden die positiven Auswirkungen der Wohlstandszunahme über die letzten dreißig Jahre nicht an der Wahlurne honoriert, wogegen die zunehmende Einkommensungleichheit mit einer problematischen Verringerung der Wahlbeteiligung einhergeht. Aus den Ergebnissen geht für die Theoriebildung hervor, dass sich der wissenschaftliche Blick nicht auf einen einzelnen Faktor oder zentralen Mechanismus versteifen darf. Für die politische Praxis bedeutet diese Erkenntnis, dass Maßnahmen der Wohlstandsverteilung und Wohlstandsmehrung nicht vor dem Hintergrund unterschiedlicher politscher Doktrinen gegeneinander ausgespielt werden dürfen, sondern sachbezogen Anwendung finden müssen.

In Bezug auf den Forschungsstand können viele der bisherigen Ergebnisse bestätigt werden. Gewalt. Die Analyse bestätigt die vielfältigen Studienergebnisse, wie z. B. von Jacobs und Richardson (2008) oder Pereira und de Menezes (2021), die einen negativen Zusammenhang zwischen Wohlstand und Gewalt herausstellen. Darüber hinaus können dementsprechende Ergebnisse longitudinaler Studien, wie z. B. von Stamaterl (2009) oder Dolliver (2015), bestätigt und für ein diverseres Länderset und einen längeren Untersuchungszeitraum erweitert werden. Inhaftierungen. Die Ergebnisse bestätigen den aktuellen Forschungsstand, nach dem höherer Wohlstand mit einer niedrigeren Inhaftierungsrate einhergeht sowohl im Länderquerschnitt (z. B. in Sutton 2004) als auch im Längsschnitt (z. B. in Clark und Herbolsheimer 2021). Teenagerschwangerschaften. Die Analyse bestätigt die Ergebnisse bisheriger Querschnittsstudien, die auf einen negativen Zusammenhang zwischen Wohlstand und Teenagerschwangerschaften hinweisen (z. B. Gold et al., 2001 oder Jones et al., 2017). Dagegen kann der durch Santelli et al. 2017 festgestellte Zusammenhang von Wohlstand und Teenagerschwangerschaften im Längsschnitt nicht bestätigt werden. Das abweichende Ergebnis kann durch die unterschiedliche Länderauswahl erklärt werden. Santelli et al. unterscheiden in ihrer Analyse von 142 Ländern nicht zwischen armen und reichen Nationen. Für ärmere bzw. Entwicklungsländer ist gut dokumentiert, dass der Anstieg von Wohlstand innerhalb der Bevölkerung mit einem starken Rückgang der Geburtenrate und einer Erhöhung des Erstgebärendenalters einhergeht (z. B. Mauldin et al., 1978; Robey et al., 1993), während in reichen bzw. entwickelten Ländern der Einfluss von Wohlstand geringer wird und andere Faktoren das Geburtenverhalten bestimmen (z. B. Sobotka, 2017). In Bezug auf die vorliegenden Analyseergebnisse kann somit festgehalten werden, dass die Wohlstandshypothese im Längsschnitt vor allem für reiche Länder nicht bestätigt werden kann. Schulische Leistungen. Die Ergebnisse der Querschnittsanalyse bestätigen den aktuellen Forschungsstand, nach dem höherer Wohlstand mit besseren schulischen Leistungen einhergeht (z. B. in Chmielewski & Reardon, 2016; Daniele, 2021; Degenhardt et al., 2008). Der aktuelle Forschungstand wird darüber hinaus um das Ergebnis der Längsschnittanalyse erweitert, nach der eine Zunahme des Wohlstands in reichen Ländern nicht signifikant mit besseren schulischen Leistungen einhergeht. Wahlbeteiligung. Die vorliegenden Ergebnisse bestätigen, spezifizieren und erweitern den aktuellen Forschungsstand. Im Länderquerschnitt kann der von Jensen und Jespersen (2017) für 30 europäische Länder festgestellte positive Zusammenhang zwischen höherem Wohlstand und höheren Wahlbeteiligungen auch für die vorliegende, globalere Auswahl reicher Länder bestätigt werden. Die Längsschnittergebnisse bestätigen den von Jungkunz und Marx (2021) herausgestellten nicht signifikanten Zusammenhang zwischen Wohlstand und Wahlbeteiligung für ein Vielfach größeres Länderset sowie einen deutlich größeren Untersuchungszeitraum. In Bezug auf die politische Praxis wird hier ein interessantes Spannungsverhältnis offengelegt: Während die Sicherung und Vermehrung von Wohlstand ein traditionell bedeutendes Wahlkampfthema in vielen Ländern darstellt, scheint sich die tatsächliche Erhöhung von Wohlstand über die Zeit nicht durch eine höhere Wahlbeteiligung auszuzeichnen. Indessen ist die Wahlbeteiligung über den dreißigjährigen Untersuchungszeitraum hinweg im Ländermittel sogar um über 11 Prozentpunkte abgesunken. Der dagegen signifikante Längsschnitteffekt der Einkommensungleichheit deutet in diesem Kontext darauf hin, dass nicht mangelnder Wohlstand, sondern die Verringerung der Auf- und Abstiegschancen an den gesellschaftlichen Rändern die Entscheidung für oder gegen eine Beteiligung an Wahlen maßgeblich beeinflusst. Die Elite hält sich unerschütterlich an der Spitze, während die Aufstiegschancen der Unterschicht in die untere Mittelschicht verhältnismäßig gering sind. Vor dem Hintergrund der sozialen Gestaltungskompetenz politischer Systeme und der Manifestierung dieser Ungleichheit über die Zeit scheint es wenig verwunderlich, dass sich Menschen von der Politik abwenden und ihr Wahlrecht nicht in Anspruch nehmen (Mau & Schöneck, 2015). Hier braucht es weitere Forschung, um diesen Zusammenhang besser zu verstehen.

5.3 Verschärfung sozialer Probleme durch ethnische Fraktionalisierung

Die Studie von Saunders und Evans (2010) wurde als zweite direkte Antwort auf Wilkinson und Picketts Spirit Level Theory vorgestellt. Sie stellt den Einfluss historisch gewachsener kultureller bzw. ethnischer Charakteristika auf das Ausmaß sozialer Probleme heraus. Diese seien ihrer Auffassung nach als cultural disadvantages sowohl der Einkommensungleichheit als auch dem Wohlstand vorgelagert und werden über die ethnische Fraktionalisierung einer Gesellschaft erfasst. Vor dem Hintergrund ihrer Forschung wurde erwartet, dass in reichen Gesellschaften eine stärkere ethnische Fraktionalisierung unabhängig von Einkommensungleichheit und Wohlstand mit einem höheren Ausmaß sozialer Probleme einhergeht (H3). Aus den Ergebnissen der Querschnittsanalysen geht hervor, dass H3 für drei der fünf untersuchten sozialen Probleme angenommen werden kann: für das Ausmaß an Gewalt, die Zahl der Inhaftierungen und Teenagerschwangerschaften. Die Längsschnittergebnisse zeigen im Kontrast zur Hypothese, dass eine Zunahme der ethnischen Diversität lediglich mit einer Zunahme der Wahlbeteiligung einhergeht. Für die übrigen vier untersuchten sozialen Probleme konnten dagegen keine signifikanten Längsschnitteffekte festgestellt werden. In Bezug auf die Spirit Level Theory zeigen die Forschungsergebnisse, dass der eindimensionale Ansatz von Wilkinson und Pickett neben dem Einfluss von Wohlstand auch den Einfluss der ethnischen Fraktionalisierung auf das Ausmaß der untersuchten sozialen Probleme unberücksichtigt lässt. Dass die festgestellten Zusammenhänge sogar unter der Kontrolle auf Einkommensungleichheit (und Wohlstand) ihre statistische Signifikanz behaupten, verdeutlicht außerdem, dass der verschärfende Einfluss ethnischer Fraktionalisierung auf die entsprechenden Probleme zumindest nicht vollständig durch Einkommensungleichheit (oder Wohlstand) mediiert wird. Es handelt sich also um einen eigenständigen, soziokulturellen Einflussfaktor, welcher zukünftig weiterer Forschung bedarf. Des Weiteren muss ein kritischer Blick auf die Studie von Saunders und Evans (2010) gerichtet werden. Zwar lenkt sie die Aufmerksamkeit der Spirit Level Debatte auf einen wichtigen weiteren Einflussfaktor, unterliegt aber ähnlichen methodologischen Problemen wie Wilkinson und Pickett, kann aufgestellte Hypothesen nicht adäquat bestätigt und verfolgt darüber hinaus eine eigene voreingenommene politische Agenda. Sie bezeichnen Wilkinson und Pickett als „left-wing Utopians“ (S. 121) und postulieren aus kulturalistischer Perspektive einen kausalen Zusammenhang zwischen historischen und kulturellen Einflussfaktoren, sozialem Zusammenhalt und der daraus resultierenden Betroffenheit von sozialen Problemen – ohne diesen jedoch empirisch zu bestätigen. Um diese Behauptung zu überprüfen, bedarf es weiterer Forschung. Außerdem empfiehlt sich für zukünftige Studien, den von Wilkinson und Pickett beschriebenen zentralen Mediator Statusängste auch im Zusammenhang zwischen ethnischer Fraktionalisierung und sozialen Problemen zu überprüfen.

In Bezug auf den aktuellen Forschungsstand können bisherige Erkenntnisse sowohl bestätigt als auch ergänzt, präzisiert und widerlegt werden. Gewalt. Der von Blau und Blau 1982 und Altheimer 2008 herausgestellte positive Zusammenhang von ethnischer Fraktionalisierung und Gewalt auf der Länderebene kann durch die vorliegenden Analyseergebnisse für 40 wohlhabende Länder bestätigt werden. Der in den Längsschnittstudien von Stamatel (2009) und de Soysa und Noell (2020) festgestellte signifikante Zusammenhang zwischen zunehmender ethnischer Fraktionalisierung und zunehmender Gewalt kann dagegen nicht bestätigt werden. Stamatel betrachtet jedoch europäische Länder zwischen 1990 und 2003, wodurch seine Ergebnisse unter dem Eindruck des Zerfalls des Ostblocks und den umfangreichen Migrationsbewegungen der 1990er Jahre stehen. Die Resultate der vorliegenden Studie stellen somit ein interessantes Update Stamatels Arbeit in Form dessen Falsifikation vor dem Hintergrund eines längeren Untersuchungszeitraums und einer geographisch diverseren Länderauswahl dar. De Soysa und Noell untersuchen 140 Länder zwischen 1995 und 2013 und finden einen Zusammenhang in Gestalt eines umgekehrten U. Sie schließen daraus, dass nicht ethnische Diversität zu Problemen führt, sondern ethnische Dominanz und Polarisierung. Ihre Länderauswahl besteht aus armen und reichen Nationen, was darauf schließen lässt, dass die vorliegenden Studienergebnisse diesen Zusammenhang für ausschließlich reiche Länder nicht bestätigen kann. Hier braucht es weitere Forschung, um zu überprüfen, welche Faktoren diesen Unterschied erklären. Inhaftierungen. Die Forschungsergebnisse bestätigen den in vorherigen Studien herausgearbeiteten positiven Zusammenhang zwischen ethnischer Fraktionalisierung und der Inhaftierungsrate im Länderquerschnitt. Während Ruddell (2004) den Zusammenhang in einem Set aus 100 ökonomisch diversen Ländern feststellt und Urbina und Ruddell (2005) sogar für 140 Länder, zeigen die vorliegenden Ergebnisse, dass der Effekt auch dann besteht, wenn ausschließlich reiche Nationen untersucht werden. Darüber hinaus füllen die Ergebnisse der Längsschnittanalyse eine Lücke in der makrosoziologischen Erforschung von Inhaftierungen. Sie zeigen, dass die Veränderung der ethnischen Fraktionalisierung innerhalb der 40 Länder über die letzten dreißig Jahre mit keiner signifikanten Veränderung der Inhaftierungsraten einherging. Hier liegen Potentiale für zukünftige Forschung, diesen insignifikanten Zusammenhang genauer zu kontextualisieren. Teenagerschwangerschaften. Die Ergebnisse der Querschnittsanalyse bestätigen den von Imamura et al. (2007) herausgestellten positiven Zusammenhang zwischen Teenagerschwangerschaften und ethnischer Fraktionalisierung in fünf westlichen Demokratien für ein weitaus größeres Länderset 40 reicher Nationen. Dagegen konnte der durch Christoffersen und Hussain (2008) im Längsschnitt und ausschließlich für Dänemark herausgearbeitete positive Zusammenhang der beiden Größen für das vorliegende Länderset nicht bestätigt werden. Die Veränderung der ethnischen Diversität in reichen Ländern hat dementsprechend keine signifikanten Auswirkungen auf ihre Teenagerschwangerschaftsraten unter der Kontrolle auf Wohlstand und Einkommensungleichheit. Schulische Leistungen. Im Gegensatz zu bisherigen Querschnittsstudien, wie z. B. durch Meyer und Schiller (2013) oder Dronkers und van der Velden (2013), zeigen die vorliegenden Ergebnisse, dass der Grad der ethnischen Fraktionalisierung reicher Gesellschaften unter der Kontrolle auf Einkommensungleichheit und Wohlstand nicht signifikant mit den schulischen Leistungen ihrer Kinder assoziiert ist. Auch im Längsschnitt zeigt sich in Ergänzung zum aktuellen Forschungsstand kein signifikanter Zusammenhang. Wahlbeteiligung. Der aktuelle Forschungsstand zum Einfluss der ethnischen Fraktionalisierung auf die Wahlbeteiligung stellt unterschiedliche Effektrichtungen der beiden Größen heraus und liefert passend dazu zwei unterschiedliche Erklärungen. Kouba et al. (2021) finden einen positiven Zusammenhang und erklären diesen konflikttheoretisch über ein höheres Interesse an Wahlen als Ausdruck von Verteilungskämpfen. Martinez i Coma und Nai (2017) finden einen negativen Zusammenhang in 23 europäischen und asiatischen Ländern und erklären diesen im Kontext von Schattschneiders (1960) Einkommensungleichheitshypothese. Die vorliegenden Ergebnisse zeigen keinen signifikanten Zusammenhang im Länderquerschnitt und einen positiven Zusammenhang im Länderlängsschnitt, jeweils unter der Kontrolle von Einkommensungleichheit und Wohlstand. Damit widersprechen sie den Resultaten von Martinez i Coma und Nai (2017) und stützen die Studienergebnisse von Kouba et al. (2021). Dieser positive Zusammenhang kann Ausdruck zunehmender Verteilungskämpfe um Ressourcen und Mitbestimmung in ethnisch diverser werdenden Gesellschaften sein. Entsprechend steigt der Wert der eigenen Stimmabgabe sowohl für Personen, die Teilhabe einfordern, als auch für Personen, welche die eigenen kulturellen Privilegien (Bourdieu, 2021) sichern wollen. Entsprechend steigen das Interesse und die Beteiligung an Wahlen. Hier bestehen Potentiale für weitere Forschung.

5.4 Vertrauen als dämpfender Einflussfaktor

Vertrauen wird in der Spirit Level Theory als soziales Problem verhandelt. In der empirischen Ungleichheitsforschung erfüllt die Variable jedoch die Rolle eines klassischen Mediators (z. B. in Kragten & Rözer, 2017) und wird überdies auch als eigenständiger Einflussfaktor intensiv diskutiert (z. B. durch Sztompka, 1999). Vor diesem Hintergrund wurde Vertrauen als abhängige Variable in die vorliegende Analyse aufgenommen. In Bezug auf Theorie und Forschungsstand wurde erwartet, dass höheres Vertrauen in reichen Gesellschaften ceteris paribus H3, also unabhängig von Einkommensungleichheit und Wohlstand, mit einem geringeren Ausmaß sozialer Probleme einhergeht (H4). Die Ergebnisse zeigen, dass die Hypothese für zwei der fünf untersuchten sozialen Probleme im Länderquerschnitt – schulische Leistungen und Wahlbeteiligung – und für drei der fünf Probleme im Längsschnitt – schulische Leistungen, Wahlbeteiligung und Inhaftierungen – bestätigt werden kann. Aus den Ergebnissen im Kontext der Inhaftierungsraten geht interessanterweise hervor, dass die einfachen ökologischen Korrelationen signifikant negative Zusammenhänge über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg schätzen. Unter der Kontrolle auf Einkommensungleichheit und Wohlstand im multivariaten Regressionsmodell wird dieser Zusammenhang jedoch insignifikant. In Bezug auf die Spirit Level Theory verdeutlicht dieser Unterschied der bi- und multivariaten Analyseergebnisse noch einmal die Relevanz fortgeschrittener Analyseverfahren, um Fehlschlüsse zu vermeiden. Außerdem sollte zukünftige Forschung noch einmal genauer untersuchen, ob die festgestellten Zusammenhänge über das Ausmaß der Statusängste mediiert werden.

In Bezug auf den aktuellen Forschungsstand können bisherige Ergebnisse sowohl gestützt als auch widerlegt werden. Gewalt. Die Forschungsergebnisse zeigen klar, dass Gewalt und Vertrauen in reichen Ländern weder im Quer- noch im Längsschnitt miteinander zusammenhängen. Damit stehen sie im Widerspruch zu den Ergebnissen von Elgar und Aitken (2011), die einen negativen Zusammenhang zwischen Vertrauen und Morden für 33 westliche Länder aufzeigen konnten. Eine Erklärung für das abweichende Ergebnis können Unterschiede in der Länderauswahl und der fehlende Ausschluss von Ausreißern in der Analyse von Elgar und Aitken sein. So wurden in der vorliegenden Analyse negative Korrelationskoeffizienten lediglich für das unbereinigte Länderset geschätzt. Für Theorie und Praxis bedeuten die vorliegenden Ergebnisse, dass das Vertrauenslevel innerhalb einer Gesellschaft sowie dessen Veränderung erst einmal keinen direkten Einfluss auf das Ausmaß der Gewalt innerhalb reicher Länder hat. Inhaftierungen. Die Ergebnisse der einfachen ökologischen Korrelationen scheinen den von Lappi-Seppälä (2011) herausgestellten negativen Zusammenhang zwischen Vertrauen und Inhaftierungen zu bestätigen. Die Resultate der multivariaten Regressionsanalyse zeigen jedoch, dass dieser Zusammenhang gegen den Einfluss von Einkommensungleichheit und Wohlstand im Länderquerschnitt nicht bestehen kann. Dagegen zeigt sich im Längsschnitt der dämpfende Effekt von Vertrauen. Dessen Zunahme über die Zeit geht unabhängig von Einkommensungleichheit und Wohlstand mit einer Verringerung der Inhaftierungsraten in reichen Ländern einher. Es braucht zukünftig weitere Arbeit, um zu überprüfen, ob dieser Zusammenhang tatsächlich Ausdruck einer verringerten Tendenz des politischen und Rechtssystems zu expressiven Gesten und harten Bestrafungen ist. Teenagerschwangerschaften. Der Forschungsstand zeigt wenig einschlägige makrosoziologische Studien zum Einfluss des Vertrauens auf Teenagerschwangerschaften. Einige Studien, wie z. B. Crosby und Holtgrave (2006) oder God et al. (2002), verweisen auf die Rolle von Sozialkapital und Vertrauen als zentrale Mediatoren zwischen Einkommensungleichheit und Teenagerschwangerschaften. Die vorliegenden Ergebnisse können diese Resultate nicht stützen, da weder Einkommensungleichheit noch Vertrauen signifikant mit der Teenagerschwangerschaftsrate in reichen Ländern assoziiert zu seien scheinen. Entsprechend erweitert die vorliegende Arbeit den Forschungsstand mit dieser Erkenntnis. Schulische Leistungen. Bisherige Forschungsarbeiten stellen immer wieder signifikante positive Zusammenhänge zwischen dem sozialen Vertrauen und schulischen Leistungen bzw. dem Bildungsstand heraus (z. B. in Borgonovi & Pokropek, 2017; Delhey & Newton, 2003; Fuller, 2014; Knack & Keefer, 1997). Die Mehrzahl dieser Studien untersuchen jedoch häufig das Ausmaß von Vertrauen zwischen oder innerhalb von Gesellschaften und ziehen vor dem Hintergrund stark rezipierter Theorien (z. B. Putnam, 2000 oder Sztompka, 1999) den Bildungsstand als erklärende Variable heran. Nur wenige Studien untersuchen dagegen Vertrauen als Einflussfaktor gegenüber schulischen Leistungen, wie z. B. Sum und Bădescu (2018) oder John (2005). Sum und Bădescu argumentieren, dass das soziale Vertrauen die kooperativen Fähigkeiten der Schüler*innen positiv beeinflusst und dadurch ihre schulischen Leistungen steigern kann. Die vorliegenden Resultate der Quer- und Längsschnittanalyse scheinen diesen Zusammenhang zu stützen. In wohlhabenden Ländern geht ein höheres Vertrauenslevel mit besseren schulischen Leistungen einher. Überdies führt dessen Anstieg zu einer Verbesserung der Leistungen. Um die Mechanismen hinter diesen Zusammenhängen besser zu verstehen, sind weitere Arbeiten erforderlich. Wahlbeteiligung. Vor dem Hintergrund von Theorie (Sztompka, 1999) und Forschungsstand (z. B. Delhey & Newton, 2005; Hadjar & Beck, 2010; Letki, 2004; Newton, 2001; Putnam, 2000) wurde ein positiver Zusammenhang zwischen Vertrauen und der Wahlbeteiligung erwartet. Diese Annahme wird durch die vorliegenden Ergebnisse der Quer- und Längsschnittanalysen gestützt. In reichen Ländern geht ein höheres Vertrauenslevel mit höheren Wahlbeteiligungen einher. Darüber hinaus ist auch der Anstieg des Vertrauens im Zeitverlauf mit einem Anstieg der Wahlbeteiligung assoziiert. Eine mögliche theoretische Erklärung für diesen Zusammenhang liefert Sztompka (1999, S. 59) durch seine konzeptionelle Feststellung, dass hinter jeder Form des Vertrauens – egal ob persönlich, kategorisch, positionsbezogen, gruppenbezogen, institutionell, kommerziell oder systemisch – immer eine ursprüngliche Form des Vertrauens in Menschen und ihr Handeln steht. Demnach stellen sich Vertrauen in andere Menschen und Vertrauen in Wahlen, Parteien, Politiker*innen und Demokratie als zwei Seiten derselben Medaille heraus und offenbaren einen direkten Zusammenhang: Wer anderen Menschen und ihren Handlungen vertraut, vertraut auch eher Politiker*innen und ihren Handlungen bzw. Wahlen und ihren Auswirkungen. Die vorliegende Studie zeigt, dass über die vergangenen Jahre die Wahlbeteiligung in fast allen untersuchten Ländern abgenommen hat. Diese Entwicklung hat krisenhafte Auswirkungen auf die Demokratie und wird intensiv in Wissenschaft, Medien und Politik diskutiert (exemplarisch in A. Schäfer, 2015). In Theorie und Praxis werden unterschiedliche Ursachen für die abnehmende Wahlbeteiligung und die damit einhergehenden krisenhaften Auswirkungen für die Demokratie diskutiert (z. B. A. Schäfer, 2015). Medien berichten in diesem Zusammenhang häufig von einer Abnahme des Vertrauens der Bürger*innen in Parteien, Parlamente und Politiker*innen. Die vorliegenden Studienergebnisse legen dagegen nahe, dass dieses Problem tiefer verwurzelt bzw. Ausdruck eines generelleren Vertrauensverlusts der Bürger*innen in ihre Mitmenschen und deren Handeln ist. Sie implizieren für die soziale und politische Praxis, dass das generelle Vertrauen innerhalb von Gesellschaften gestärkt werden muss, damit Bürger*innen ihr Vertrauen auch an der Wahlurne aussprechen. Potentiale für zukünftige Forschung liegen darin, den Zusammenhang zwischen Vertrauen und der Wahlbeteiligung z. B. im Vergleich zwischen kollektivistischen und individualistischen Gesellschaften (Hofstede, 2011) zu überprüfen. Vor dem Hintergrund unterschiedlich weiter bzw. enger Vertrauensradien (Delhey et al., 2011; van Hoorn, 2015) können interessante Erkenntnisse mit Blick auf die Varianz der Wahlbeteiligung erwartet werden.

5.5 Werteklima: Geringer Einfluss durch Messprobleme?

Zuletzt wurde das gesellschaftliche Werteklima als Einflussfaktor auf das Ausmaß sozialer Probleme in reichen Gesellschaften in die Analyse aufgenommen. Kollektive Werteinstellungen bleiben in der Spirit Level Theory unberücksichtigt, obwohl anzunehmen ist, dass diese einen wesentlichen Einfluss auf das Statusstreben und Statusängste haben. Vor dem Hintergrund Ingleharts (1971, 2015) Theorie eines postmaterialistischen Wertewandels wurde erwartet, dass materialistischere Gesellschaften ceteris paribus H3 stärker von sozialen Problemen betroffen sind (H5). Die Ergebnisse der Datenanalyse zeigen, dass ein materialistisches Werteklima lediglich im Länderquerschnitt mit einer höheren Inhaftierungsrate einhergeht. Davon abgesehen konnten keine weiteren signifikanten Zusammenhänge festgestellt werden. Somit kann H5 nur für eins der fünf untersuchten sozialen Probleme bestätigt werden. Damit ist das gesellschaftliche Werteklima in der vorliegenden Operationalisierung der mit Abstand schlechteste Prädiktor für soziale Probleme in der vorliegenden Arbeit. Diese Ergebnisse können in zwei Richtungen interpretiert werden. Einerseits besteht die Möglichkeit, dass das gesellschaftliche Werteklima unabhängig von Einkommensungleichheit und Wohlstand einfach keinen signifikanten Einfluss auf den Großteil der untersuchten sozialen Probleme besitzt. Unklar und damit Aufgabe für weitere Arbeiten bleibt im Kontext der vorliegenden Analyse das Verhältnis zwischen dem Werteklima und Statusängsten als vermittelnder Mechanismus. Andererseits kann die Dysfunktionalität des Werteklimas als Prädiktor sozialer Probleme durch dessen Messung und Operationalisierung beeinflusst sein. Das Werteklima wurde über den 1999 von Inglehart und Abramson ausgearbeiteten und validierten 4-Item Postmaterialismusindex erfasst und als Materialismusrate, also dem Anteil der Materialist*innen geteilt durch den der Postmaterialist*innen innerhalb eines Landes, operationalisiert. Vor diesem Hintergrund besteht zum einen die Möglichkeit, dass diese Operationalisierung das latente Konstrukt des gesellschaftlichen Werteklimas zu unterkomplex abbildet. Zum anderen besteht in Bezug auf die Materialismusrate das Problem, dass sie lediglich das Verhältnis zwischen Materialist*innen und Postmaterialist*innen abbildet und nicht die absolute Anzahl der beiden Typen. Außerdem schließt das Konstrukt die Mischtypen, also Personen mit gemischten materialistischen und postmaterialistischen Einstellungen, kategorisch aus der Analyse aus. Hier braucht es weitere Forschung, um diese methodologischen Schwierigkeiten zu überwinden. So sollten absolute Zahlen in die Analyse einbezogen werden und weitere Möglichkeiten der Operationalisierung des gesellschaftlichen Werteklimas in Betracht gezogen werden. Indessen wird der Forschungsstand durch eine Reihe neuer Erkenntnisse ergänzt:

Gewalt. In der Vergangenheit konnten einzelne Studien, wie z. B. Altheimer (2016) oder Lin und Mancik (2020), einen positiven Zusammenhang zwischen kompetitiv-materialistischen Einstellungen und einem höheren Ausmaß an Gewalt herausstellen. Andere Studien, wie z. B. von Chon (2017), fanden keinen signifikante Zusammenhang. Die vorliegenden Ergebnisse stützen die Erkenntnis keines signifikanten Zusammenhangs. Eine mögliche Ursache für diese Varianz sind unterschiedliche Messverfahren und Ländersets. Inhaftierungen. Die vorliegenden Ergebnisse der Querschnittsanalyse füllen eine Lücke der empirischen Sozialforschung. Sie legen nahe, dass Unterschiede im gesellschaftlichen Werteklima einen Einfluss auf die Bestrafungskultur reicher Länder besitzen. So sind die Inhaftierungsraten in den Ländern höher, die durch ein materialistischeres Werteklima gekennzeichnet sind. Für ein besseres Verständnis dieses Zusammenhangs ist weitere Forschung notwendig. Teenagerschwangerschaften. Die Recherche zum Thema hat gezeigt, dass kaum makrosoziologische Studien zum Thema existieren. In einem ähnlichen Forschungsunternehmen hat Mackenback (2014) einen negativen Zusammenhang zwischen Ingleharts (2007) weiterführender Konzeption emanzipativer Werteinstellungen und der Anzahl an Teenagerschwangerschaften für 42 europäische Länder festgestellt. Die vorliegenden Resultate zeigen dagegen keinen signifikanten Zusammenhang zwischen dem gesellschaftlichen Werteklima und der Teenagerschwangerschaftsrate vor dem Hintergrund dessen Operationalisierung als Materialismusrate. Dieses Ergebnis ergänzt den kleinen Forschungsstand abermals um die Erkenntnis, dass die Feststellung statistisch signifikanter Effekte von der Messung des gesellschaftlichen Werteklimas abhängig ist. Schulische Leistungen. Viele Studien stellen einen positiven Zusammenhang zwischen Werteinstellungen und Bildung heraus. In der Werteforschung wird Bildung traditionell als Einflussfaktor verhandelt, wie z. B. in Inglehart (1971), Abramson und Inglehart (1994) oder Rözer et al. (2022). Die vorliegende Arbeit untersucht jedoch den Einfluss von Werteinstellungen auf die schulischen Leistungen, vertauscht also die abhängige und unabhängige Variable in der analytischen Konzeption. Diese Perspektive wird bisher nur von wenigen Studien eingenommen und überprüft. Feldmann (2020) stellt heraus, dass Postmaterialist*innen Bildung einen höheren Stellenwert zuweisen, Sørensen et al. (2016), dass sich postmaterialistische Einstellungen über den Erziehungsstil der Eltern positiv auf die schulischen Leistungen ihrer Kinder auswirken. Diesen Zusammenhang stellen sie jedoch auch für Eltern mit materialistischen Einstellungen heraus, solang diese Bildungserfolg mit langfristiger ökonomischer Sicherheit assoziieren. Die vorliegenden Studienergebnisse erweitern diesen Forschungsstand um die Erkenntnis, dass das bloße Verhältnis zwischen Materialist*innen und Postmaterialist*innen innerhalb einer Gesellschaft allein noch keinen signifikanten Effekt auf die schulischen Leistungen zeigt. Es müssen zukünftig weitere Untersuchungen durchgeführt werden, um den Zusammenhang zwischen Werteinstellungen bzw. Werteklima und den schulischen Leistungen besser zu verstehen. In diesem Kontext sollte auch der Einfluss von Schulen und Schulsystemen untersucht werden. Wahlbeteiligung. Ein Großteil bisheriger Studien, wie z. B. Crepaz (1990), Hadjar und Beck (2010) oder Stockemer (2015), konnten zeigen, dass postmaterialistische Einstellungen mit höherer Wahlbeteiligung einhergehen. Vereinzelte Arbeiten finden einen konträren Zusammenhang, wie z. B. Theocharis (2011). Vor dem Hintergrund der Theorie (Inglehart & Abramson, 1995) lassen sich beide Effektrichtungen erklären: Einerseits als Ausdruck eines gesteigerten Interesses an Mitsprache seitens der Postmaterialist*innen, andererseits als Folge einer Abwendung von klassischen Formen der Mitbestimmung, wie z. B. von Wahlen, und Hinwendung zu neuen. Studien, die den Einfluss des gesamtgesellschaftlichen Werteklimas auf die Wahlbeteiligung untersuchen, sind dagegen rar. Die vorliegenden Resultate der Quer- und Längsschnittanalysen erweitern den Forschungsstand in Bezug auf diese Forschungslücke. Sie stellen heraus, dass die Materialismusrate als Proxy für das Werteklima weder im Quer- noch im Längsschnitt signifikant mit der Wahlbeteiligung assoziiert ist. Vor dem Hintergrund der großen Popularität, die Wertvorstellungen in der politischen und medialen Debatte besitzen, ist dies ein interessantes Ergebnis. Die Hauptgründe für die über Jahrzehnte sinkende Wahlbeteiligung in reichen Ländern müssen dementsprechend woanders liegen. Es braucht zukünftig weitere Forschung, um diese Erkenntnis gegenüber den beschriebenen methodologischen Schwierigkeiten noch einmal abzusichern.

5.6 Forschungslimitationen

Limitationen durch Daten und Interpolation

Der Historical Index of Ethnical Fractionalization (HIEF) ist ein etabliertes Instrument zur Messung der ethnischen Fraktionalisierung in makrosoziologischen Untersuchungen. Trotz verfügbarer Daten für 165 Länder fehlt der HIEF für Frankreich, Hong Kong, Island, Luxemburg und Malta, da in diesen Nationen die für die Bildung des Index notwendigen Items in nationalen Surveys nicht erhoben werden, daher können für diese fünf Länder keine Aussagen in Bezug auf Hypothese 3 getroffen werden. Zudem verändert sich in den entsprechenden OLS- und TWFE-Regressionsmodellen (Modell 4) die Fallzahl, was den Vergleich mit den übrigen Modellen erschwert. Es braucht weitere Forschung, um diese Datenlücken zukünftig adäquat zu schließen. Da die HIEF-Daten jedoch nur bis 2013 erhoben wurden, mussten Daten für den Zeitraum zwischen 2013 und 2020 extrapoliert werden (Anhang 5 im elektronischen Zusatzmaterial). Veränderungen der ethnischen Fraktionalisierung, z. B. durch den Effekt der starken Flucht- und Migrationsbewegung nach Europa (ab 2015) oder der restriktiven Migrationspolitik der USA unter Donald Trump (2017 bis 2021), wurden daher nicht angemessen erfasst. Weitere Limitationen ergeben sich im Zusammenhang mit den Länderdaten zur Messung des Vertrauens und Werteklimas aus dem European- und World Value Survey. Aufgrund der aufwendigen Erhebungsverfahren stehen im Vergleich zu den übrigen Daten weniger Länderbeobachtungen für die Zeitreihenanalyse zur Verfügung. Für den Großteil der Länderauswahl stehen vier bis neun Erhebungen zur Verfügung, welche sich gleichmäßig zwischen 1990 und 2020 verteilen und eine gute Grundlage für das Interpolationsverfahren bilden (Anhang 3 und 4 im elektronischen Zusatzmaterial). Einige Länder, wie z. B. Hong Kong oder Trinidad und Tobago, haben jedoch nur zwei oder drei Mal im Untersuchungszeitraum an den Surveys teilgenommen, auf deren Grundlage dann die Daten für die übrigen 29 Zeitpunkte interpoliert wurden. Vor diesem Hintergrund müssen bestimmte Ergebnisse kritisch betrachtet werden. Das verwendete Interpolationsverfahren ist zwar einerseits innovativ, geht jedoch andererseits mit drei dem Verfahren inhärenten Problemen einher: (1) Interpolierte Datenpunkte sind geschätzte Werte und müssen vor dem Hintergrund der Anzahl und Verteilung der erhobenen Werte stets mit Vorsicht interpretiert werden; (2) Im Zusammenhang mit den oben beschriebenen Problemen zu geringer und ungünstig verteilter Datenpunkte wurden unplausible Nullstellen interpoliert (z. B. 0 Vertrauen in Uruguay 2020); (3) In seltenen Fällen produziert die Interpolation von Werten entlang des HDIs starke Kurven, vor allem in osteuropäischen Ländern in den 90er Jahren (z. B. Materialismusrate Litauens in den Jahren 1992 bis 1997). Eine mögliche Ursache können die umfangreichen Entwicklungsprozesse im Kontext des zerfallenden Ostblocks sein, welche sich über den HDI stark auf das Interpolationsverfahren auswirken.

Konzeptionelle Limitationen und Verzerrung durch ausgelassene Variablen

Die vorliegende Studie prüft den direkten Zusammenhang zwischen den fünf relevanten Einflussfaktoren auf das Ausmaß der jeweiligen sozialen Probleme. Ob und in welchem Ausmaß Statusstress und Statusängste, wie von Wilkinson und Pickett (2016 [2010]) angenommen, die Effekte mediieren, kann anhand der multivariaten Regressionsmodelle nicht beurteilt werden. Zukünftige Forschung sollte diesen Mediationseffekt weiter empirisch überprüfen. Eine weitere konzeptionelle Limitation wurde bereits oben in Bezug auf eine mögliche unterkomplexe Erfassung des gesellschaftlichen Werteklimas über die Materialismusrate erörtert. Die Materialismusrate hat zwei wesentliche Nachteile: (1) Ihre Konzeption auf der Grundlage des 4-Item Postmaterialismusindex von Inglehart und Abramson (1994) schließt Bevölkerungsgruppen mit gemischten Einstellungen kategorisch aus; (2) Als Verhältnismaß verliert sie an Aussagekraft über die tatsächliche Größe der Bevölkerungsgruppen mit entsprechend materialistischen oder postmaterialistischen Einstellungen. Zukünftige Arbeiten müssen zeigen, ob alternative Operationalisierungen des gesellschaftlichen Werteklimas die Resultate der vorliegenden Studie bestätigen oder falsifizieren können. Weiterhin deuten zwei statistische Auffälligkeiten darauf hin, dass die geschätzten Regressionsmodelle durch ausgelassene unabhängige Variablen verzerrt sein können: (1) Trotz der Kontrolle auf Autokorrelation durch die Aufnahme der Jahresvariable in die gepoolten OLS- und TWFE-Modelle, der Schätzung robuster Cluster (pooled OLS) und robuster Standardfehler (bzgl. TWFE) sowie der Feststellung geringer Multikollinearität (bzgl. OLS, VIF < 5) liegt im Großteil der Regressionsmodelle Heteroskedastizität vor; (2) Einige TWFE-Modelle zeigen hohe Korrelationen zwischen den Residuen und der unbeobachteten Heterogenität was darauf hindeutet, dass relevante Variablen zur Erklärung der Veränderung sozialer Probleme im Zeitverlauf in den Modellen unberücksichtigt blieben. Zusammengenommen deuten die Probleme auf einen omitted-variable bias hin. Zukünftige Studien sollten weitere relevante Einflussfaktoren berücksichtigen, um die Ursachen für das Ausmaß sozialer Probleme in reichen Ländern zu klären. Es muss jedoch festgehalten werden, dass das Ziel der vorliegenden Arbeit nicht die bestmögliche Erklärung der untersuchten sozialen Probleme, sondern die Überprüfung traditioneller Hypothesen der empirischen Sozialforschung war. In dieser Hinsicht stützt der omitted-variable bias sogar die wesentliche Erkenntnis der vorliegenden Studie, nach der das Ausmaß sozialer Probleme – entgegen der Behauptung von Wilkinson und Pickett – eben nicht durch einen einzelnen zentralen Mechanismus hinreichend erklärt werden kann. Abschließend muss auf ein typisches Problem der Analyse aggregierten Länderdaten hingewiesen werden: Im Vergleich zu Individualdaten zeigen sie ein geringeres Ausmaß an Variation auf, da sie durch eine gewisse zeitliche Konstanz gekennzeichnet sind. Die geringen Veränderungen der untersuchten abhängigen und unabhängigen Variablen führen dazu, dass die Koeffizienten der TWFE-Regressionen im Vergleich zu denen der gepoolten OLS-Regressionen überwiegend deutlich kleiner und in vielen Modellen sogar insignifikant sind.

Trotz der genannten Limitationen leistet die vorliegenden Studienergebnisse einen bedeutenden Beitrag zur Debatte um die sozialen Auswirkungen von Einkommensungleichheit in wohlhabenden Ländern. Seit der ausdrucksstarken aber problembehafteten Veröffentlichung der Spirit Level Theory, welche in ihrer Eindimensionalität vehement für eine Gleichverteilung von Einkommen und Wohlstand argumentiert, gab es verschiedene wissenschaftliche Gegenreden, die ähnlich voreingenommen Wilkinson und Picketts (2016 [2010]) Argumente scharf in Frage stellen und auf andere eindimensionale Erklärungen, wie Wohlstand (Snowdon, 2010) oder ethnische Fraktionalisierung (Saunders & Evans, 2010), verweisen.

Durch die Verdopplung der Länderauswahl, die Überwindung der analytischen Eindimensionalität, die Untersuchung zeitlicher Veränderungen sowie die Erweiterung des Sets untersuchter Probleme um das neue Problem niedriger Wahlbeteiligungen adressieren die vorliegenden Studienergebnisse das Hauptproblem der Debatte und präzisieren überdies den umfangreichen Forschungsstand zu den Trends und Determinanten sozialer Probleme in reichen Ländern. Eine weitere Stärke des methodischen Vorgehens besteht im Verzicht einer Indexbildung, wodurch dezidierte Aussagen zu den einzelnen sozialen Problemen getroffen werden können. Auch Delhey und Steckermeier (2019) untersuchen die Einkommensungleichheitshypothese für soziale und gesundheitliche Probleme für ein ähnliches Länderset und im Zeitverlauf (2000–2015), treffen vor dem Hintergrund ihres Index sozialer Probleme jedoch vergleichsweise deutlich allgemeinere Aussagen. Außerdem kann im Zusammenhang mit Indizes das Problem bestehen, dass Indikatoren bzw. Dimensionen mit besonders eindeutigen (z. B. theoriekonformen) statistischen Ausprägungen statistisch schwache oder uneindeutige (z. B. theoriekonträre) Indikatoren ausgleichen und somit das Gesamtkonstrukt stark beeinflussen. Die vorgefundene Heterogenität, mit der die verschiedenen Einflussfaktoren mit einzelnen sozialen Problemen assoziiert sind, stützt dabei den Verdacht, dass durch die Indexbildung wichtige Informationen verloren gehen.