2.1 Theoretischer Zugang: Die Einkommensungleichheitshypothese

Die Einkommensungleichheitshypothese (Kawachi et al., 1997; Wilkinson, 2002) ist eine Theorie mittlerer Reichweite, welche ihren Ursprung in den Gesundheitswissenschaften besitzt. Ihrer Annahme nach sind Gesellschaften, in denen Einkommen und Wohlstand ungleicher verteilt sind, weniger gesund und stärker von sozialen Problemen betroffen. Ihr Gültigkeitsanspruch beschränkt sich dabei auf wohlhabende Gesellschaften und ist im wissenschaftlichen Diskurs seither umstritten (Judge et al., 1998; Lynch et al., 2004). Mit Blick auf die Bevölkerungsgesundheit kommen empirische Studien zu unterschiedlichen Ergebnissen. Während Avendano und Hessel (2015) nur geringe Hinweise für eine Bestätigung der Ungleichheitshypothese finden und diesen darüber hinaus als über die Zeit abnehmend beschreiben, zeigen Kragten, Nigel und Rözer (2017), dass die Erklärkraft der Hypothese von ihrer methodischen Einbettung abhängig ist und die Einkommensungleichheit in Verbindung mit Mediatorvariablen wie z. B. dem sozialen Vertrauen zu einem besseren Verständnis zwischen Ungleichheit und Bevölkerungsgesundheit beitragen kann. Durch das 2010 erschienene populärwissenschaftliche Buch der beiden Gesundheitswissenschaftler Richard G. Wilkinson und Kate Pickett „The Spirit Level – Why Equality is better for Everyone“ (von hier an Spirit Level Theory) erfuhr die Einkommensungleichheitshypothese ein regelrechtes wissenschaftliches Revival. In ihrem Buch konstatieren sie, dass diejenigen gesundheitlichen und sozialen Probleme positiv mit der Einkommensungleichheit korrelieren, welche einen negativen sozialen Gradienten aufweisen. Probleme mit negativen sozialen Gradienten sind solche, welche am unteren Rand einer Gesellschaft häufiger bzw. intensiver auftreten als im oberen Teil und somit ein soziales Gefälle besitzen. Konkret postulieren Wilkinson und Pickett (2016 [2010], S. 42): „Je stärker ein Problem innerhalb einer Gesellschaft mit dem sozialen Gefälle verknüpft ist, desto deutlicher ist es durch die Einkommensungleichheit determiniert.“ Diese Annahme bestätigen sie für ein Set von zehn ausgewählten gesundheitlichen und sozialen Problemen, namentlich Misstrauen, psychische Erkrankungen (einschließlich Drogen- und Alkoholsucht), Lebenserwartung und Kindersterblichkeit, Fettleibigkeit, schulische Leistungen von Kindern, Teenagerschwangerschaften, Tötungsdelikte, die Zahl der Gefängnisstrafen und soziale Mobilität. Wilkinson und Pickett argumentieren, dass der negative Einfluss der Einkommensungleichheit auf die beschriebenen sozialen und gesundheitlichen Probleme über das Ausmaß von Statusängsten innerhalb einer Gesellschaft vermittelt ist. Demnach sind ungleichere Gesellschaften durch eine stärkere soziale Hierarchie, ein größeres soziales Gefälle und eine höhere Anzahl sozialer Schranken und distinktiver Praktiken gekennzeichnet. Statusunterschiede spielen eine größere Rolle in sozialen Interaktionen und werden zu einem wesentlichen Identitätsmerkmal. Eine größere Ungleichheit führt zu einer höheren Statuskonkurrenz, zu einem höheren sozialen Bewertungsdruck und daraus folgend zu mehr sozialen Ängsten. Diesem Statusstress begegnen Individuen mit Strategien der Selbstdarstellung und Selbstbestätigung, welche einen negativen Einfluss auf das eigene Leben haben und dadurch das Auftreten sozialer und gesundheitlicher Probleme erhöhen. Wilkinson und Pickett (2016 [2010], S. 61) argumentieren hier, dass „soziale Ungleichheit […] die Ursache für alle Probleme [ist], die sich aus den sozialen Unterschieden und den damit verbundenen Vorurteilen und Feindschaften zwischen sozialen Schichten ergeben.“ In gleicheren Gesellschaften sind Menschen weniger von Statusängsten getrieben, was das Auftreten gesundheitlicher und sozialer Probleme verringert, wovon am Ende alle profitieren – so die Spirit Level Theory. Davon ausgehend konstatieren Wilkinson und Pickett, dass die Verteilung sozialer und gesundheitlicher Probleme in wohlhabenden Gesellschaften nicht durch den Einfluss materieller Bedingungen bzw. Reichtum erklärt werden kann, sondern durch das Wohlstandsgefälle innerhalb der Gesellschaft. Entscheidend sei vor dem Hintergrund des beschriebenen Wirkmechanismus, wie groß der Abstand des Einzelnen zu den anderen Mitgliedern seiner Gesellschaft ist (ebd., S. 40).

2.2 Warum Einkommensungleichheit allein zu kurz greift

Eine wesentliche Stärke der Arbeit von Wilkinson und Pickett ist die Erweiterung der Einkommensungleichheitshypothese auf ein breites und klar definiertes Set sozialer und gesundheitlicher Probleme. Die Publikation der Spirit Level Theory hat eine progressive wissenschaftliche Debatte ausgelöst. Mit unterschiedlichen sozialen Problemen im Fokus konnten diverse Studien die Einkommensungleichheitshypothese verifizieren (z. B. Elgar et al., 2009; Lancee & Van de Werfhorst, 2012; Paskov & Dewilde, 2012), falsifizieren (z. B. Jen et al., 2009; Pop et al., 2013; Snowdon, 2010) sowie neu ausrichten und erweitern (z. B. Delhey et al., 2017; Delhey & Steckermeier, 2020). Ein wesentlicher Kritikpunkt an der Arbeit von Wilkinson und Pickett ist ihr methodisches Vorgehen (z. B. in Rambotti, 2015; Saunders & Evans, 2010; Snowdon, 2010). Dazu gehören die Verwendung einfacher Korrelationsanalysen, die Auswahl von lediglich 23 vorwiegend westlichen wohlhabenden Ländern, die fehlende Kontrolle auf Ausreißer sowie Teile ihrer Problemauswahl. Der zweite wesentliche Kritikpunkt ist Wilkinson und Picketts eindimensionaler Anspruch, die Verteilung gesundheitlicher und sozialer Probleme ausschließlich über das Ausmaß von Einkommensungleichheit und Statusängsten als zentralen Mediator erklären zu können. Delhey und Steckermeier (2019, S. 109) präsentieren ein Modell zur Erläuterung von Statusangstunterschieden sowohl innerhalb als auch zwischen Gesellschaften. Sie argumentieren, dass bestimmte gesellschaftliche Merkmale sich auf den sozio-kulturellen Umgangsstil auswirken. Dieser variiert zwischen einem egalitär-kooperativen und einem inegalitär-kompetitiven Pol. Die entsprechende Art des sozio-kulturellen Umgangsstils beeinflusst die Häufigkeit interpersonaler Vergleiche sowie den Charakter zwischenmenschlicher Interaktionen und dadurch die Gestalt und Intensität des Statuswettbewerbs. Zu den gesellschaftlichen Einflussfaktoren auf den Umgangsstil zählen Delhey und Steckermeier (ebd.) sozialstrukturelle Faktoren (z. B. Wohlstand und Einkommensungleichheit), politisch-ökonomische Institutionen (z. B. den Wohlfahrtsstaat) und die Kultur (z. B. das Werteklima). Dieses Modell verdeutlicht exemplarisch, dass eine Erklärung der Variation gesundheitlicher und sozialer Probleme in reichen Gesellschaften allein über den Einfluss der Einkommensungleichheit auf das Ausmaß der Statusängste zu kurz greifen muss.

Die vorliegende Arbeit tritt an, vor allem die methodologischen Defizite der Spirit Level Theory im Kontext einer analytischen Betrachtung sozialer Probleme zu überwinden. So wurden die Länderauswahl auf 40 wohlhabende Länder und der Untersuchungszeitraum auf 30 Jahre erweitert (1990–2020). Neben der statistischen Berücksichtigung von Ausreißern und der Anwendung fortschrittlicher Analyseverfahren wird die in der Spirit Level Theory aufgestellte Einkommensungleichheitshypothese gegen vier weitere gesellschaftliche Einflussfaktoren getestet, welche im Folgenden theoretisch hergeleitet werden. Bei den Faktoren handelt es sich um Wohlstand (Snowdon, 2010), ethnische Fraktionalisierung (Saunders & Evans, 2010), soziales Vertrauen (Delhey & Newton, 2005; Putnam, 2000; Sztompka, 1999) und ein postmaterialistisches Werteklima (Delhey et al., 2022; Inglehart, 1971).

2.2.1 Materieller Wohlstand für alle

Einer der größten Kritiker der Spirit Level Theory, Christopher Snowdon (2010), verweist auf den erheblichen Einfluss von Wohlstand und wirtschaftlichem Wachstum auf den Rückgang gesundheitlicher und sozialer Probleme. Er kritisiert, dass Wilkinson und Pickett (2016 [2010]) diesen Einflussfaktor systematisch aus ihrer Untersuchung ausschließen und darüber hinaus verkennen, dass materieller Wohlstand jenseits des Notwendigen nicht nur dem Ausdruck des eigenen Status dient, sondern einen tatsächlichen Nutzen und damit einen positiven Einfluss auf das Leben der Menschen haben kann. Snowdon (ebd.) argumentiert in Bezug auf die Spirit Level Theory, dass weder die Umverteilung von Vermögen und Macht innerhalb einer Gesellschaft noch eine konsumkritische Statussymbol-Kritik in der Lage sei, die diversen gesundheitlichen, sozialen und existenziellen Probleme des 21. Jahrhunderts zu lösen. Von wirtschaftlicher Prosperität profitierten dagegen alle. So schreibt Snowdon (2010, S. 150): „Nothing in history has done more to upgrade the metaphorial ‘economy class’ than the economic growth that consumer capitalism has brought about.” Entsprechend geht Snowdon davon aus, dass ein wesentlicher Faktor für die Verringerung von Statusängsten, gesundheitlichen und sozialen Problemen die Erhöhung des materiellen Wohlstands für alle Gesellschaftsmitglieder ist.

2.2.2 Ethnische Fraktionalisierung und „ethnic disadvantages“

Zwei weitere Kritiker*innen, welche sich umfangreich mit den Annahmen und empirischen Ergebnissen auseinandergesetzt haben, sind Peter Saunders und Natalie Evans (2010). Sie argumentieren, dass die sozialstrukturellen Unterschiede in der Verteilung gesundheitlicher und sozialer Probleme durch länderspezifische, historisch gewachsene kulturelle Charakteristika erklärt werden können. Sie gehen davon aus, dass die ethnische Zugehörigkeit ein wichtiger Faktor der sozialen Identität ist, welche signifikant mit verschiedenen Lebensstilen, Wertvorstellungen und dem sozialen Zusammenhalt assoziiert ist. In diesem Zusammenhang sprechen sie von „ethnic disadvantages“, die über das Ausmaß von Einkommen und Ungleichheit hinaus die Verteilung sozialer und gesundheitlicher Probleme innerhalb reicher Gesellschaften erklären (Saunders & Evans, 2010, S. 79). Saunders und Evans stellen den in der Spirit Level Theory angeführten zentralen Mediatoreffekt der Statusangst infrage, welcher den Einfluss der Einkommensungleichheit auf das Ausmaß gesundheitlicher und sozialer Probleme vermitteln soll. Sie argumentieren am Beispiel von Schweden und Japan, dass beide Gesellschaften im internationalen Vergleich eine geringe Einkommensungleichheit besitzen und nur von einem geringen Ausmaß sozialer und gesundheitlicher Probleme betroffen sind, obwohl Japans Gesellschaft im Gegensatz zur schwedischen strikt hierarchisch strukturiert ist und ein hohes Maß an Statusstress aufweist. Vor diesem Hintergrund argumentieren sie: „[…] Sweden and Japan have the income distributions they have because of the kinds of societies they are. They are not cohesive societies because their incomes are equally distributed; their incomes are equally distributed because they are cohesive societies“ (Saunders & Evans, 2010, S. 121). Ausschlaggebend für die Höhe des gesellschaftlichen Zusammenhalts ist nach Saunders und Evans die ethnische und kulturelle Fraktionalisierung. Je homogener Gesellschaften sind, desto stärker ist ihr Zusammenhalt und desto geringer ihre Betroffenheit von gesundheitlichen und sozialen Problemen. Zur Überprüfung ihrer Hypothese zeigen sie anhand einer empirischen Untersuchung der 50 US-Bundesstaaten, dass die Höhe der ethnischen Fraktionalisierung positiv mit dem Ausmaß der von Wilkinson und Pickett (2016 [2010]) untersuchten gesundheitlichen und sozialen Probleme korreliert.

2.2.3 Sozialkapital und Vertrauen

In seinem zum Klassiker der Soziologie avancierten Buch Bowling Alone: The Collapse and Revival of American Community stellt Robert Putnam (2000) eindrucksvoll heraus, dass gut funktionierende soziale Netzwerke einen großen gesellschaftlichen Wert besitzen. Soziale Netzwerke sind Manifestationen sozialer Beziehungen, welche Putnam in ihrer normativen Verfasstheit der Reziprozität und Vertrauenswürdigkeit als soziales Kapital bezeichnet und analysiert. Putnam zeigt am Beispiel der USA, dass Sozialkapital einen weitgehenden Einfluss auf Wirtschaft, Gesellschaft und das Individuum hat und beschreibt, dass sich dessen Abnahme negativ auf die wirtschaftliche Leistung, die Demokratie, die Gesundheit und das Wohlbefinden auswirkt. Ein integraler Bestandteil von Sozialkapital ist das soziale Vertrauen. Dieses kann allgemein als „Wette auf das zukünftige kontingente Handeln anderer“ (Sztompka, 1999, S. 25) definiert werden, bzw. als Überzeugung, „dass andere uns nicht absichtlich oder wissentlich Schaden zufügen werden, wenn sie es vermeiden können, und dass sie unsere Interessen berücksichtigen werden, wenn dies möglich ist“ (Delhey & Newton, 2005, S. 311). Die genaue Verknüpfung zwischen Sozialkapital und dem sozialen Vertrauen wird unterschiedlich gedeutet. So beschreibt Putnam z. B. Vertrauen als Teil oder Aspekt von Sozialkapital, wogegen andere Vertreter*innen Vertrauen als „Produktionsfaktor“ für die Bildung von Sozialkapital begreifen. Wieder andere betonen die Reziprozität zwischen sozialer Beteiligung und Vertrauen (Maraffi et al., 1999; Ripperger, 2003; zit. nach van Deth, 2002, S. 578). Die vorliegende Arbeit fokussiert Vertrauen als wesentlichen Aspekt von und entsprechend als Proxy für Sozialkapital. Des Weiteren wird Vertrauen als Mediator im klassischen Sinne der Einkommensungleichheitshypothese verstanden (wie z. B. in Kawachi et al., 1997; Kragten & Rözer, 2017; Rözer et al., 2016) und nicht als Ergebnis von Einkommensungleichheit, wie in Wilkinson und Picketts Spirit Level Theory. Unter anderem stellen Delhey und Newton (2005) heraus, dass das Vertrauenslevel von Wohlstand, niedriger Einkommensungleichheit, ethnischer Homogenität, protestantischen Traditionen, einer guten Staatsführung und geringen sozialen Konflikten positiv beeinflusst wird und sich seinerseits wiederum positiv auf die Lebenszufriedenheit auswirkt, soziale Ängste verringert (Delhey & Dragolov, 2014) und sowohl soziale als auch gesundheitliche Probleme abmildert (z. B. Kragten & Rözer, 2017; Vincens et al., 2018). Über die Mediatorfunktion hinaus besitzt Vertrauen einen großen Einfluss auf wichtige gesellschaftliche Funktionen. Personen, die ihren Mitmenschen vertrauen, engagieren sich unter anderem häufiger ehrenamtlich, spenden häufiger Geld für gemeinnützige Zwecke, partizipieren häufiger in politischen und kommunalen Organisationen, spenden häufiger Blut und sind toleranter gegenüber Minderheiten (Putnam, 2000, S. 144 f). Außerdem erhöht Vertrauen die Zahl der Interaktionen und Kontakte innerhalb einer Gemeinschaft, führt zu mehr Kommunikation zwischen den Menschen und erhöht die Anzahl spontaner kollektiver Aktionen. Es steigert die Toleranz und Akzeptanz gegenüber fremden Menschen und anderen (legitimen) politischen Ansichten, stärkt die gesellschaftliche Solidarität und fördert gegenseitige Hilfe. Weiterhin senkt es die Transaktionskosten individueller Handlungen und erleichtert Kooperationen (Sztompka, 1999, S. 105 f). Somit lässt sich aus der Theorie ableiten, dass Vertrauen einen positiven und Misstrauen einen negativen Einfluss auf das Ausmaß gesundheitlicher und sozialer Probleme hat.

2.2.4 Weniger Statusstress durch postmaterialistische Einstellungen

Die Spirit Level Theory argumentiert, dass eine hohe Einkommensungleichheit sowohl Statusängste als auch Statusstress erhöht. Hohe Statusängste begünstigen wiederum gesundheitliche und soziale Probleme. Der Blick auf das konzeptionelle Mikro-Makro-Modell zur Erklärung der Entstehung von Statusängsten von Delhey und Steckermeier (2019) zeigt, dass neben der Einkommensungleichheit auch weitere gesellschaftliche Faktoren den „typischen“ Umgang innerhalb einer Gesellschaft und dadurch die Intensität von Statusstress und Statusängsten beeinflussen. Es besteht die theoretisch und empirisch begründete Annahme (s. Delhey et al., 2022), dass der Wertewandel in modernen Gesellschaften von materialistischen zu postmaterialistischen Werteinstellungen (Inglehart, 1971, 2015 [1977]) einen dieser weiteren Einflussfaktoren darstellt. Der Theorie nach versuchen Personen mit materialistischen Werteinstellungen eher, ihre soziale und materielle Situation sowohl im absoluten Niveau als auch in Relation zu anderen Menschen zu sichern. Statussicherung und Statuserwerb spielen für sie eine wichtige Rolle. Dagegen priorisieren Personen mit postmaterialistischen Einstellungen eher Zielsetzungen jenseits der materiellen Statussicherung, wie z. B. Selbstverwirklichung und Wohlbefinden. Ein gesamtgesellschaftlicher Wandel, durch den der Anteil von Menschen mit materialistischen Einstellung ab- und der Anteil von Menschen mit postmaterialistischen Einstellungen zunimmt, sollte Statusstress und Statusängste verringern. Unter anderem stützen die empirischen Erkenntnisse von Delhey et al. (2022) diese These zum Statusstreben. Überträgt man dieses Wissen auf den Gegenstand der Spirit Level Theory, so kann davon ausgegangen werden, dass das Verhältnis von materialistischen zu postmaterialistischen Einstellungen das Ausmaß an Statusängsten beeinflusst und damit indirekt auch das Ausmaß gesundheitlicher und sozialer Probleme. Das Werteklima ist innergesellschaftlich durch einen sozialen Gradienten gekennzeichnet. Am unteren Rand der Gesellschaft überwiegen dabei materialistische Einstellungen, am oberen Rand der Gesellschaft mit steigendem Einkommen und Bildung postmaterialistische (Booth, 2021; Inglehart & Welzel, 2005). Es bleibt zu überprüfen, ob ein postmaterialistisches bzw. materialistisches Werteklima das Ausmaß gesundheitlicher und sozialer Probleme in wohlhabenden Gesellschaften erklären kann.

2.2.5 Zusammenfassung der theoretischen Vorüberlegungen

Im Rahmen der theoretischen Vorüberlegungen wurden vier weitere gesellschaftliche Faktoren erläutert, welche neben der Einkommensungleichheit einen möglichen Einfluss auf das Ausmaß gesundheitlicher und sozialer Probleme in wohlhabenden Gesellschaften besitzen. Tabelle 2.1 gibt einen Überblick über diese Faktoren und ihre postulierte Einflussrichtung.

Tabelle 2.1 Gesellschaftliche Einflussfaktoren auf das Ausmaß gesundheitlicher und sozialer Probleme

Mit Blick auf die Einflussfaktoren lassen sich fünf Forschungshypothesen für diese Arbeit aufstellen. Vor dem Hintergrund der Spirit Level Theory (Wilkinson & Pickett, 2016 [2010]) wird folgende Hypothese aufgestellt:

H1::

In reichen Gesellschaften ist eine höhere Einkommensungleichheit, unabhängig von Wohlstand, mit einem höheren Ausmaß sozialer Probleme assoziiert.

Die kritische Auseinandersetzung mit der Spirit Level Theory wirft eine ganze Reihe anderer Hypothesen zur Erklärung sozialer Probleme auf. So stellt Snowdon (2010) den nach wie vor existenten und starken Einfluss des Wohlstands auf das Ausmaß der von Wilkinson und Pickett untersuchten Probleme heraus. Entsprechend wird folgender Zusammenhang erwartet:

H2::

In reichen Gesellschaften ist höherer Wohlstand, unabhängig von Einkommensungleichheit, mit einem geringeren Ausmaß sozialer Probleme assoziiert.

Eine weitere umfassende Kritik an der Spirit Level Theory haben Saunders und Evans (2010) verfasst. Sie argumentieren, dass Ungleichheiten unabhängig von Einkommen, Wohlstand und dessen Verteilung durch historisch gewachsene kulturelle Charakteristika erklärt werden können. In diesem Kontext fokussieren sie die ethnisch-kulturelle Heterogenität. Vor dem Hintergrund ihrer Forschung wird folgender Zusammenhang erwartet:

H3::

In reichen Gesellschaften ist eine stärkere ethnische Fraktionalisierung, unabhängig von Einkommensungleichheit und Wohlstand, mit einem höheren Ausmaß sozialer Probleme assoziiert.

Die empirischen Forschungsarbeiten von Putnam (2000), Sztompka (1999), Delhey und Newton (2003) zeigen, dass das Level an sozialem Vertrauen innerhalb einer Gesellschaft von ausdrücklicher Relevanz für ihr gutes Funktionieren ist. Es ist zu erwarten, dass das Vertrauenslevel neben der Einkommensungleichheit und dem Wohlstand einer Gesellschaft das Ausmaß ihrer sozialen Probleme erklären kann. Daraus leitet sich folgende Hypothese ab:

H4::

In reichen Gesellschaften ist höheres Vertrauens ceteris paribus H3Footnote 1 mit einem geringeren Ausmaß sozialer Probleme assoziiert.

Zuletzt wurde vor dem Hintergrund der Forschung zum postmaterialistischen Wertewandel (Inglehart, 1971, 2015 [1977]) und dessen Auswirkungen auf das Ausmaß von Statusstress und Statusängsten innerhalb einer Gesellschaft (Delhey & Steckermeier, 2019; Goldthorpe, 2010) vermutet, dass auch das Werteklima innerhalb einer Gesellschaft einen Einfluss auf das Ausmaß sozialer Probleme besitzt. Daraus wird folgende Hypothese abgeleitet:

H5::

In reichen Gesellschaften ist ein materialistischeres Werteklima ceteris paribus H3 mit einem höheren Ausmaß sozialer Probleme assoziiert.

Die in den Hypothesen H1 bis H5 prognostizierten Querschnittszusammenhänge werden überdies auch im Längsschnitt erwartet. Das ermöglicht die Betrachtung der sozialen Probleme sowie Einflussfaktoren über drei Dekaden. Entsprechend wird erwartet, dass die Zunahme von Einkommensungleichheit, ethnischer Fraktionalisierung und materialistischen Werteinstellungen mit einer Verschärfung sozialer Probleme einhergeht und die Zunahme von Wohlstand und Vertrauen mit einer Abmilderung.

2.3 Soziale Probleme in wohlhabenden Ländern

Im Folgenden wird die Auswahl der sozialen Probleme für die empirische Analyse erörtert. Diese orientiert sich an den konzeptionellen Vorüberlegungen der Spirit Level Theory. Ausgangspunkt sind die zehn von Wilkinson und Pickett identifizierten sozialen und gesundheitlichen Probleme mit sozialem Gradienten. Die ersten Probleme, welche aus forschungskonzeptionellen Gründen nicht berücksichtigt werden, sind gesundheitliche Probleme. Zu diesen zählen die physische Gesundheit, die Lebenserwartung, die Säuglingssterblichkeit und Fettleibigkeit. Diese Probleme sind zwar nach wie vor durch einen sozialen Gradienten charakterisiert (Babones, 2008; Diekmann & Meyer, 2010; Kondo et al., 2012; Marmot, 2004), wobei sie im Wesentlichen durch den medizinischen Fortschritt (Felder, 2006), Sozialstaatsausgaben (McCartney et al., 2019) und den technologischen Fortschritt abgefedert werden. So verbessert die Elektrifizierung des Individualverkehrs z. B. die Luftqualität in Städten und senkt dadurch die Anzahl an Lungenkrankheiten. Entsprechend deuten diverse Faktoren darauf hin, dass sich das Gesundheitsgefälle in reichen Ländern zukünftig ausgleichen wird. Das nächste von Wilkinson und Pickett verhandelte Problem, welches im vorliegenden Kontext unberücksichtigt bleibt, sind mentale Probleme. Zum einen zeigen Studien, dass die mentale Gesundheit entgegen Wilkinson und Picketts Ausführungen durch keinen eindeutigen sozialen Gradienten gekennzeichnet ist (Pinto-Meza et al., 2013; van Deurzen et al., 2015, S. 487). Zum anderen stellen Forschungsarbeiten die mediierende Rolle der mentalen Gesundheit heraus, unter anderem auch zwischen der Einkommensungleichheit und physischen Gesundheit (Patel et al., 2018). Des Weiteren werden Alkohol- und Drogenkonsum aus der Analyse ausgeschlossen. Der Stand der Forschung weist darauf hin, dass beide soziale Probleme keinen eindeutigen sozialen Gradienten besitzen, sondern sowohl am oberen als auch am unteren Teil der Gesellschaft häufiger auftreten (Bloomfield et al., 2006; Degenhardt et al., 2008; Legleye et al., 2011, 2013). Als nächstes wurde das soziale Vertrauen als soziales Problem bzw. als abhängige Variable aus der Analyse ausgeschlossen. Ein umfangreicher Forschungsstand zeigt, dass das Vertrauenslevel ein relevanter Mediator zwischen Ungleichheit und dem Ausmaß sozialer Probleme ist (Elgar & Aitken, 2011; Jen et al., 2010; Kragten & Rözer, 2017; Mikucka et al., 2017; Rözer et al., 2016) und nicht – wie von Wilkinson und Pickett dargestellt – ein direktes Produkt von Einkommensungleichheit ist. Das soziale Vertrauen wird entsprechend als eigenständiger Einflussfaktor neben der Einkommensungleichheit bzw. als unabhängige Variable in die Analyse aufgenommen. Zuletzt wird die soziale Mobilität aus drei wesentlichen Gründen aus der Analyse ausgeschlossen. Erstens stellt sich die Datenlage zur Operationalisierung sozialer Mobilität entlang einzelner nationaler Kohortenstudien als mangelhaft heraus. So fußt Wilkinson und Picketts Analyse auf nur acht Ländern. Zweitens beschreibt soziale Mobilität eher ein soziales als ein individuelles Phänomen. Wilkinson und Pickett (2016 [2010], S. 183) definieren soziale Mobilität als intergenerationale Einkommensmobilität abhängig von der eigenen Arbeit und Leistung. Diese absolute Auffassung unterschlägt jedoch den relationalen Charakter sozialer Mobilität und beschreibt damit eher einen Effekt der Einkommens- bzw. Wohlstandsentwicklung über die Zeit. Der relative Aufstieg einer Person innerhalb der sozialen Hierarchie geht entsprechend immer mit einem relativen Abstieg anderer Personen einher (Houle, 2019). Dieses Merkmal relativer sozialer Mobilität ist wesentlich für den dritten Ausschlussgrund: Ihr normativ und operativ uneindeutiges Wesen. Sie folgt im Gegensatz zu anderen sozialen Problemen, wie z. B. der Gewalt, keiner eindeutigen Logik, nach der eine Erhöhung oder Verringerung ihres Ausmaßes einen klaren positiven bzw. negativen Effekt auf die Gesellschaft hat. Sowohl eine sehr hohe als auch eine sehr niedrige soziale Auf- bzw. Abwärtsmobilität stellt ein Problem dar. Keine absolute Mobilität verhindert sozialen Aufstieg, wogegen eine hohe relative Mobilität mit einer hohen Statusunsicherheit einhergeht (ebd.).

Nach dem begründeten Ausschlussverfahren bleiben vier der sozialen Probleme übrig, welche die Spirit Level Theory von Wilkinson und Pickett (2016 [2010]) verhandelt. Diese sind das Ausmaß an Gewalt, die Zahl der Gefängnisstrafen, Teenagerschwangerschaften und die schulische Leistung von Kindern. Darüber hinaus wird mit der Wahlbeteiligung ein weiteres relevantes soziales Problem in die Analyse aufgenommen, welches von Wilkinson und Pickett nicht berücksichtigt wurde. Die folgenden Unterkapitel befassen sich im ersten Teil je mit den von Wilkinson und Pickett beschriebenen Zusammenhängen zwischen Einkommensungleichheit und dem jeweiligen sozialen Problem. In diesem Kontext wird anhand einschlägiger Forschungsliteratur überprüft, ob die untersuchten Probleme tatsächlich durch ein soziales Gefälle charakterisiert und mit Einkommensungleichheit assoziiert sind. Im zweiten Teil wird aktuelle Forschung zu den oben beschriebenen weiteren bzw. alternativen ökonomischen und kulturellen Einflussfaktoren – Wohlstand, soziales Vertrauen, Werteinstellungen und ethnische Fraktionalisierung – auf die Verteilung der sozialen Probleme in wohlhabenden Ländern präsentiert.

2.3.1 Gewalt: Tödliche Statuskonkurrenz

Wilkinson und Pickett (2016 [2010], S. 153–169) argumentieren, dass Menschen am unteren Rand der Gesellschaft sowohl mehr von Gewalt betroffen sind als auch häufiger selbst gewalttätig werden. Besonders verwundbare Gruppen sind ärmere Menschen, Frauen und Angehörige von Minderheiten. Obwohl verhältnismäßig wenig Menschen tatsächlich Opfer von Gewalt werden, hat die Angst vor gewalttätigen Übergriffen einen negativen Einfluss auf die individuelle Lebensqualität. Zudem beschreiben Wilkinson und Pickett (ebd.), dass überwiegend junge sozial benachteiligte Männer Gewalttaten begehen. Sie argumentieren, dass eine verschärfte Statuskonkurrenz, also drohender Statusverlust oder lockender Statusgewinn, eine entscheidende Rolle bei dieser Verteilung spielt. Damit wird die Verbindung zur Einkommensungleichheitshypothese klar: Wenn eine höhere Ungleichheit die Statuskonkurrenz innerhalb einer Gesellschaft verschärft, nehmen auch Gewaltverbrechen als Reaktion auf Verachtung, Erniedrigung, Respektlosigkeit und Gesichtsverlust zu. Dagegen haben Menschen in gleicheren Gesellschaften, so Wilkinson und Pickett, mehr Möglichkeiten, Selbstachtung und sozialen Status zu erwerben. Darüber hinaus stellen Wilkinson und Pickett das Vater-Sohn-Verhältnis, das familiäre Verhältnis, schulischen Erfolg und Misserfolg, die Wohngegend und die Höhe des Sozialkapitals als wichtige Einflussfaktoren auf die Zahl der Gewaltverbrechen heraus. Auch diese Faktoren weisen ein soziales Gefälle auf. Ein Blick in die Forschungsliteratur bestätigt die Vermutung der Spirit Level Theory für das soziale Problem der Gewalt. Verschiedene Studien bestätigen den sozialen Gradienten von Gewaltverbrechen. Sie zeigen, dass die Anzahl der Täter*innen und Opfer von Gewaltverbrechen unter Personen mit niedrigen sozioökonomischen Status (Blau & Blau, 1982; Kivivuori & Lehti, 2006; Stenius, 2015), unter Männern mit einfachen Berufen und in stark benachteiligten Wohnquartieren höher ist (Lachaud et al., 2017; Leyland & Dundas, 2010). Weitere Studien bestätigen, dass Gewaltverbrechen durch einen negativen Bildungsgradienten charakterisiert sind (Stickley et al., 2012) und benachteiligte Gruppen, wie z. B. Flüchtlinge, häufiger von Gewalt betroffen sind (O’Neill et al., 2020).

Einkommensungleichheit (H1). Den in der Spirit Level Theory erörterten Zusammenhang von Einkommensungleichheit und Gewalt bestätigen verschiedene ländervergleichende Studien auf der Makroebene (z. B. Blau & Blau, 1982; Chamlin & Cochran, 2006; Coccia, 2017, 2018; Fajnzylber et al., 2002). Sie zeigen, dass die Mordrate in Ländern höher ist, in denen das Einkommen ungleicher verteilt ist. Dieser Effekt wird analog zu Wilkinson und Picketts Ausführungen unterschiedlich erklärt; in erster Linie über das Ausmaß der Statuskonkurrenz aber auch über weitere Faktoren mit sozialem Gradienten, wie geringes Sozialkapital (Elgar & Aitken, 2011), niedrige Bildung und das Leben in sozial benachteiligten Wohnvierteln (Lachaud et al., 2017; Stickley et al., 2012). Neben der Betrachtung im Länderquerschnitt bestätigen weitere Studien den Zusammenhang zwischen Ungleichheit und Gewalt auch im Zeitverlauf. Entsprechende Zeitreihenanalysen zeigen für reiche Gesellschaften, dass die Abnahme der Einkommensungleichheit über die Zeit mit einer niedrigeren Mordrate einhergeht (Chamlin & Cochran, 2006; Jacobs & Richardson, 2008), in ihrer Stärke aber zum Teil vom jeweilig verwendeten Ungleichheitsmaß abhängig ist (Messner et al., 2002).

Wohlstand (H2). Verschiedene Studien stellen heraus, dass Wohlstand einen dämpfenden Effekt auf das Ausmaß von Gewalt innerhalb reicher Gesellschaften besitzt (z. B. Jacobs & Richardson, 2008; McLean et al., 2019; Nivette, 2011; Pereira & de Menezes, 2021). Dolliver (2015) erörtert den negativen Zusammenhang zwischen Pro-Kopf-Einkommen und Mordrate für europäische Länder über einem Zeitraum von 15 Jahren. Zudem bestätigt Stamatel (2009) für neun EU-Länder im Zeitraum von 1990 bis 2003, dass die Mordrate negativ mit dem Anstieg des Pro-Kopf-Einkommens assoziiert ist.

Ethnische Fraktionalisierung (H3). Aus der Arbeit von Stamatel (2009) geht hervor, dass die Mordrate positiv mit dem Anstieg der ethnischen Diversität innerhalb der Länder korreliert ist. Diesen positiven Zusammenhang können sowohl Blau und Blau (1982) als auch Altheimer (2008) auf der Länderebene bestätigen. Dagegen finden de Soysa und Noel (2020) in ihrer Untersuchung von 140 Ländern zwischen 1995 und 2013 einen umgekehrten U-Zusammenhang zwischen der Mordrate und ethnischer Heterogenität auf der Länderebene. Daraus schlussfolgern sie, dass eher ethnische Dominanz und ethnische Polarisierung anstelle ethnischer Vielfalt eine Gefahr für die persönliche Sicherheit darstellt. De Soysa und Noel entfernen sich mit ihrer konflikttheoretischen Erklärung des Einflusses ethnischer Fraktionalisierung von der kulturtheoretischen Interpretation der Spirit Level Kritiker*innen Saunders und Evans (2010).

Vertrauen (H4). In Bezug auf die Vertrauenshypothese (H4) zeigen verschiedene Studien, dass soziales Vertrauen und Sozialkapital signifikant negativ mit der Mordrate assoziiert sind (z. B. Kennedy et al., 1998; Reemtsma, 2008; Rosenfeld et al., 2001). Elgar und Aitken (2011) zeigen für 33 wohlhabende Länder, dass Vertrauen negativ mit der Mordrate korreliert und den Zusammenhang zwischen Einkommensungleichheit und Mordrate teilweise mediiert. Sie konstatieren, dass Gesellschaften mit hohen Einkommensdifferenzen und niedrigem sozialen Vertrauen weniger gut in der Lage sind, sichere Gemeinschaften zu gestalten.

Werteklima (H5). Während Schaible und Altheimer (2016) in 35 entwickelten Ländern sowie Lin und Mancik (2020) in 59 sowohl entwickelten als auch Entwicklungsländern einen signifikanten Zusammenhang zwischen kompetitiven materialistischen Einstellungen und höheren Mordraten finden, stellt Chon (2017) für 45 Länder der Organization for Economic Co-operation and Development (OECD) keinen signifikanten Zusammenhang fest.

2.3.2 Inhaftierungen: Längere Haftstrafen in ungleicheren Gesellschaften

Wilkinson und Pickett (2016 [2010], S. 171–182) diskutieren in der Spirit Level Theory einen positiven Zusammenhang zwischen der Einkommensungleichheit und der Anzahl der Haftstrafen innerhalb wohlhabender Länder. Sie stellen heraus, dass es sich bei der Zahl der Inhaftierungen um ein soziales Problem handelt, welches durch einen sozialen Gradienten charakterisiert ist. Das bedeutet, dass Menschen mit geringem Einkommen und niedriger Bildung häufiger und länger inhaftiert werden als Menschen mit einem höheren sozialen Status. Dieser Befund kann durch diverse Studien bestätigt werden (Beckett & Beach, 2021; Ewert et al., 2014; Wacquant, 2009).

Einkommensungleichheit (H1). Die Höhe der Inhaftierungsrate ist von drei Faktoren abhängig: der Verbrechensrate, den Entscheidungen der Richter sowie der Strafdauer. Wilkinson und Pickett (2016 [2010], S. 181) argumentieren, dass die Zahl der Gefängnisstrafen wesentlich von der gesellschaftlichen Haltung gegenüber Bestrafung und Resozialisierung und weniger von der Verbrechensrate abhängig ist. Vor dem Hintergrund der Ungleichheitshypothese erläutern sie, dass ungleichere Gesellschaften ein höheres soziales Gefälle aufweisen und dadurch distinktive Haltungen, die Angst vor Verbrechen und Misstrauen stärker ausgeprägt sind. Infolgedessen wächst die Bereitschaft der Öffentlichkeit, Politiker*innen und Richter*innen, Straffällige durch Bestrafung aus der Gesellschaft auszuschließen und ins Gefängnis zu schicken. Ungleichere Gesellschaften neigen darüber hinaus dazu, die Härte bei der Verbrechensbekämpfung in das Zentrum der Medienöffentlichkeit zu rücken, anstelle empirische Erkenntnisse zu den Problemen der Verbrechensbekämpfung und Resozialisierung von Straftätern zu berücksichtigen. Verschiedene ländervergleichende Studien bestätigen die Einkommensungleichheitshypothese für die Inhaftierungsrate in wohlhabenden Ländern sowohl im Querschnitt (z. B. Calvert et al., 2013; Lappi-Seppälä, 2011; Phelps & Pager, 2016; Sutton, 2004) als auch im Längsschnitt (z. B. Crutchfield & Pettinicchio, 2009; Steelman, 2016).

Wohlstand (H2). Sutton (2004) stellt in seiner Untersuchung von 15 wohlhabenden Demokratien zwischen 1960 und 1990 unter anderem heraus, dass ökonomisches Wachstum einen signifikanten negativen Einfluss auf die Inhaftierungsrate besitzt. Clark und Herbolsheimer (2021) bestätigen diese Erkenntnis im Kontext ihrer Untersuchung von 111 Ländern zwischen 2000 und 2015. Sie finden, dass ökonomisches Wachstum in wohlhabenden Ländern die Inhaftierungsraten senkt.

Ethnische Fraktionalisierung (H3). Ruddell (2005) findet in einer Querschnittsanalyse von 100 Ländern einen signifikanten aber inkonsistenten Zusammenhang zwischen der Bevölkerungsheterogenität und den Inhaftierungsraten. Ein Blick in die Studie zeigt positive signifikante Regressionskoeffizienten zwischen Multikulturalismus und Inhaftierungsraten im bivariaten Modell sowie in zwei von fünf multivariaten Stufenmodellen. In den übrigen Modellen verliert der Koeffizient seine Signifikanz. In einer weiteren Studie über 140 Länder zeigen Ruddell und Urbina (2004), dass die Bevölkerungsheterogenität positiv mit den Inhaftierungsraten assoziiert ist.

Vertrauen (H4). Lappi-Seppälä (2011) zeigt für 30 europäische Länder zwischen 1992 und 2010, dass unter anderem ein hohes Level an Vertrauen einen negativen Einfluss auf die Inhaftierungsraten besitzt. Er argumentiert, dass das hohe Vertrauenslevel unmittelbar mit den Charakteristika des politischen und Rechtssystems zusammenhängt, welche weniger zu expressiven Gesten und harten Bestrafungen neigen.

Werteklima (H5). Die Recherche zum Einfluss des Werteklimas auf Bestrafung und Inhaftierungen im Ländervergleich offenbart eine Forschungslücke. Die Theorie besagt hier, dass sich das Verhältnis von materialistischen zu postmaterialistischen Einstellungen auf das soziale Klima und dadurch indirekt auf das Ausmaß sozialer Probleme auswirkt. In Anbindung an die Spirit Level Theory ist zu erwarten, dass materialistische Einstellungen eher mit Statusängsten, Misstrauen und dem Verlangen nach harten Strafen einhergehen und postmaterialistische Einstellungen stärker mit progressiven, opferorientierten und rehabilitierenden Rechtsprechungsverfahren assoziiert sind. Eine qualitative Studie von Mainwaring et al. (2019) stützt die These, dass persönliche Werte ein wichtiger Einflussfaktor für das Gelingen restaurativer Gerechtigkeitsverfahren sind. Des Weiteren argumentiert Simon (2019) im Kontext US-amerikanischer Masseninhaftierungen, dass postmaterialistische Werteinstellungen ein wichtiger Baustein für die Reformation der auf lange und schwere Haftstrafen ausgelegten amerikanischen Rechtsprechung sind.

2.3.3 Teenagerschwangerschaften: Wenn Mädchen Mütter werden

Das nächste soziale Problem, für das Wilkinson und Pickett (2016 [2010], S. 141–152) die Einkommensungleichheitshypothese diskutieren, sind Teenagerschwangerschaften. Dafür erörtern sie im ersten Schritt, dass Teenagerschwangerschaften am unteren Rand der Gesellschaft häufiger auftreten und damit einen sozialen Gradienten besitzen. So nimmt die Anzahl der Teenagerschwangerschaften mit steigender Armut, materieller Deprivation, Arbeitslosigkeit, Kriminalität und Bildungsarmut zu, wie durch zahlreiche empirische Studien belegt werden kann (Carlson, 2018; Christoffersen & Hussain, 2008; Spencer, 2001). Außerdem besitzen Kinder von Teenager-Müttern eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, wieder Teenager-Mütter zu werden. Diese Gefahr eine Kreislaufförmigkeit des sozialen Problems bestätigen auch andere wissenschaftliche Studien (z. B. Liu et al., 2018).

Einkommensungleichheit (H1). Wilkinson und Pickett (2016 [2010], S. 151) interpretieren den Einfluss der Einkommensungleichheit auf die Höhe der Teenagerschwangerschaftsrate als Ergebnis grundlegender Anpassungsprozesse benachteiligter Teenager an ihr schwieriges soziales Umfeld. So erhöhen die am unteren Rand der Gesellschaft häufiger auftretenden Problemlagen die Wahrscheinlichkeit (ungeschützter) sexueller Aktivitäten im jugendlichen Alter. Außerdem gehören Armut, Arbeitslosigkeit, Kriminalität, geringes Sozialkapital, Verhaltensstörungen, Familien- und Erziehungsprobleme sowie kürzere Schul- und Ausbildungszeiten. Darüber hinaus führen Wilkinson und Pickett (2016 [2010], S. 144) einen höheren Statusstress am unteren Rand der Gesellschaft als erklärenden Mediator an: Hohe Ungleichheit erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass benachteiligte Frauen eine Mutterschaft im Teenageralter als einzige Möglichkeit ansehen, sich Zugang zum Erwachsenenstatus zu verschaffen. Der positive Zusammenhang zwischen Einkommensungleichheit (H1) und Teenagerschwangerschaften (TSR) wird durch die ländervergleichenden Studien von Jones et al. (1985), Jones et al. (2017) und Santelli et al. (2017) gestützt.

Wohlstand (H2). Jones et al. (2017) zeigen, dass sich Wohlstand negativ auf die Anzahl der Teenagerschwangerschaften auswirkt. Die gepoolte Zeitreihenanalyse von Santelli et al. (2017) zeigt für 142 Länder im Zeitraum von 1990 bis 2012, dass die Anzahl der Teenagerschwangerschaften negativ mit Wohlstand (GDP) und Bildung (Ausgaben für Bildung) sowie positiv mit der Einkommensungleichheit assoziiert ist. Des Weiteren zeigen Gold et al. (2001) in ihrer Untersuchung, dass in den US-Bundesstaaten das Pro-Kopf-Einkommen negativ mit der Teenagerschwangerschaftsrate assoziiert ist.

Ethnische Fraktionalisierung (H3). Imamura et al. (2007) bestätigen in einer ländervergleichenden Studie für fünf westliche Demokratien den Zusammenhang von Ethnie und Teenagerschwangerschaften. Christoffersen und Hussain (2008) zeigen für die dänischen Gesellschaft zwischen 1981 und 2003, dass die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit das Risiko einer Schwangerschaft im Jugendalter signifikant erhöht.

Vertrauen (H4). Crosby und Holtgrave (2006) sowie Gold et al. (2002) verweisen auf das geringe Sozialkapital am unteren Rand der Gesellschaft als zentralen Mediator zwischen Einkommensungleichheit und Teenagerschwangerschaften. Dabei ist soziales Vertrauen ein elementarer Bestandteil von Sozialkapital. East (2013) fasst in einem Editorial des Journal of Adolescent Health zusammen, dass ein hohes Level an sozialem Vertrauen und Zusammenhalt innerhalb einer Gemeinschaft einerseits das Teenagerschwangerschaftsrisiko verringert und andererseits im Fall einer Teenagerschwangerschaft die jungen Familien finanziell und sozial besser absichert.

Werteklima (H5). Mackenbach (2014) stellt in einer ländervergleichenden Studie von 42 europäischen Ländern fest, dass Teenagerschwangerschaften signifikant stark negativ mit Ingleharts (2007) emanzipativen Werten korreliert sind. Laut Inglehart (ebd.) geht der Wandel von materialistischen zu postmaterialistischen Werten mit dem Wandel von Werten des Überlebens zu Werten der Emanzipation und Selbstentfaltung einher.

2.3.4 Schulische Leistungen von Kindern: Bildungsungleichheit

Das letzte soziale Problem, für das Wilkinson und Pickett (2016 [2010], S. 125–140) die Einkommensungleichheitshypothese diskutieren, betrifft die unterschiedlichen schulischen Leistungen von Kindern. Bildung stellt sowohl für das Individuum als auch für die Gesellschaft eine wichtige Ressource dar. Gesellschaften mit höherem Bildungsniveau sind produktiver und erzielen höhere Steuereinnahmen. Menschen mit höherem Bildungsniveau verdienen mehr, sind zufriedener, gesünder und engagierter, werden weniger straffällig und wählen häufiger. Wilkinson und Pickett arbeiten dabei erneut heraus, dass Unterschiede in den schulischen Leistungen von Kindern durch ein soziales Gefälle charakterisiert sind. Am unteren Rand der Gesellschaft sind die schulischen Leistungen der Kinder geringer und die Bildungsabschlüsse niedriger. Eine wesentliche Ursache dieser Bildungsungleichheit ist die geringere familiäre Unterstützung von Kindern am unteren Rand der Gesellschaft mit ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapital. Diese führt bereits beim Eintritt in das Bildungssystem zu einer Chancenungleichheit, welche durch die sozialen Stressfaktoren am unteren Rand der Gesellschaft zusätzlich erhöht wird. Zu diesen gehören (relative) Armut, Streit und Gewalt in der Familie, psychische Erkrankungen und Zeitmangel von Elternteilen, Gewalt, Misstrauen und beengte Wohnverhältnisse. Die von Wilkinson und Pickett erörterten Erkenntnisse zum sozialen Gefälle der schulischen Leistungen von Kindern und Bildungsungleichheit werden durch zahlreiche Studien jahrzehntelanger Bildungsforschung gestützt (z. B. Bourdieu, 1971; Daniele, 2021; Naidoo, 2004; Poel, 2018). Beese und Liang (2010) zeigen exemplarisch für die USA, das Vereinigte Königreich und Kanada, dass Kinder wohlhabender Familien in der Schule in allen Klassen und Fächern besser performen. Hopfenbeck et al. (2018) weisen für alle OECD-Länder nach, dass die schulischen Leistungen von Kindern in den Bereichen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften signifikant mit der Höhe des sozioökonomischen Status ihrer Eltern korrelieren.

Einkommensungleichheit (H1). Wilkinson und Pickett (2016 [2010]) erörtern im Rahmen der Spirit Level Theory einen signifikanten Zusammenhang zwischen der Einkommensungleichheit und schulischen Leistungen. Sie interpretieren diesen vor dem Hintergrund verschiedener Erklärungsansätze. Erstens konstatieren sie, dass in ungleicheren Gesellschaften die Effekte des sozialen Gradienten der Bildungsungleichheit stärker ins Gewicht fallen und somit das durchschnittliche Bildungsniveau senken. Zweitens argumentieren sie, dass Armut und Deprivation den starken Einfluss von Ungleichheit auf den Bildungserfolg nicht allein erklären können. Zu den weiteren Einflussfaktoren gehören verschiedene Ländercharakteristika. Gleichere Länder leisten intensivere soziale Führsorge und finanzieren Bildungssysteme in einem höheren Ausmaß. Dazu gehören Familienbeihilfen und Steuererleichterungen, sozialer Wohnungsbau, Kindergeld und gute Angebote für die kindliche Früherziehung. Dabei profitieren von den staatlichen Aufwendungen nicht nur soziale Benachteiligte, sondern die gesamte Gesellschaft. Als drittes führen Wilkinson und Pickett Statusängste als Mediator zwischen Einkommensungleichheit und Bildungsleistung an. Sie argumentieren, dass schulische Leistungen in einem hohen Maße davon abhängig sind, wie sich Schüler*innen von anderen gesehen und eingeschätzt fühlen. Dieser Mechanismus wird als stereotype threat bezeichnet und meint die negative Anpassung der eigenen Leistung an stereotypisierte geringere Leistungserwartungen aufgrund äußerlicher Merkmale wie sozialem Status, Ethnie oder Geschlecht. Verschiedene wissenschaftliche Studien bestätigen die Einkommensungleichheitshypothese in Bezug auf die schulischen Leistungen von Kindern (Bildung) in wohlhabenden Ländern. Exemplarisch beschreibt Chiu (2008) für 65 OECD-Länder, dass familiäre Ungleichheiten einen negativen Einfluss auf die mathematische Kompetenz von Schüler*innen besitzen. Jerrim und Macmillan (2015) zeigen für 20 wohlhabende Länder, dass Einkommensungleichheit, finanzielle Ressourcen und das Bildungsniveau der Eltern signifikant mit dem Bildungsniveau von Kindern und dessen finanziellem Ertrag zusammenhängen. Darüber hinaus stellen die Autor*innen dar, dass Länder mit hoher Einkommensungleichheit in einem geringeren Ausmaß in Bildung investieren, was die Bildungsungleichheit zusätzlich erhöht.

Wohlstand (H2). Chiu (2008) stellt für 65 OECD-Länder einen positiven Zusammenhang zwischen Wohlstand und der schulischen Leistung von Kindern heraus. Die Arbeiten von Chmielewski und Reardon (2016), Chudgar und Luschei (2009) sowie Daniele (2021) stützen die Wohlstandshypothese ebenfalls.

Ethnische Fraktionalisierung (H3). Meyer und Schiller (2013) stellen in einer Analyse von PISA-Daten für 62 OECD-Länder heraus, dass ethnische Diversität einen negativen Einfluss auf die Lesekompetenz von Schüler*innen hat. Dronkers und van der Velden (2013) zeigen in einer ähnlichen Analyse von PISA-Daten für 15 westliche OECD-Länder, dass ethnische Diversität negativ mit der schulischen Leistung von migrantischen Kindern und einheimischen Kindern assoziiert ist. Der negative Effekt für einheimische Kinder ist dabei nur in Ländern mit stark stratifizierten Schulsystemen signifikant.

Vertrauen (H4). Die Ergebnisse unterschiedlicher ländervergleichender Studien weisen auf einen positiven Zusammenhang zwischen sozialem Vertrauen und Bildung in wohlhabenden Ländern hin (z. B. in Borgonovi & Pokropek, 2017; Delhey & Newton, 2003; Fuller, 2014; Knack & Keefer, 1997). Diese Studien untersuchen das individuelle Bildungsniveau als erklärende Variable für die Höhe des Vertrauens. Dass das gesellschaftliche Vertrauenslevel auch auf die schulischen Leistungen von Kindern zurückwirkt, zeigt die Analyse von Sum und Bădescu (2018). Sie zeigen anhand von PISA-Daten von 68 OECD-Ländern, dass Ungleichheit an Schulen das soziale Vertrauen und dadurch die kooperativen Fähigkeiten der Schüler*innen verringert, was wiederum negative Auswirkungen auf ihre schulischen Leistungen hat.

Werteklima (H5). Diverse Studien zeigen, dass postmaterialistische Werteinstellungen positiv mit dem Bildungsgrad assoziiert sind (Abramson & Inglehart, 1994; Inglehart, 1971). Ursache und Wirkung des Zusammenhangs folgen ähnlich der Vertrauenshypothese jedoch einer anderen Interpretationsrichtung: Bildung erklärt hier als Marker der sozialen Position die Verteilung und den Wandel der Werteinstellungen. So zeigen Rözer et al. (2022) anhand einer gepoolten Zeitreihenanalyse von Daten aus 36 wohlhabenden Ländern zwischen 2006 und 2011, dass ein höherer Bildungsgrad mit geringeren materialistischen Einstellungen assoziiert ist, wogegen ein höheres Einkommen mit stärkeren materialistischen Einstellungen einhergeht. Bildung wird somit in der Werteforschung vorwiegend als erklärende Variable verwendet. Dagegen gibt es nahezu keine Forschung zu Auswirkungen des Werteklimas auf die schulischen Leistungen von Kindern in wohlhabenden Gesellschaften. Feldmann (2020) zeigt für 55 Länder, dass Personen mit postmaterialistischen Einstellungen Bildung einen höheren Stellenwert zuweisen. Sørensen et al. (2016) stellen heraus, dass sich postmaterialistische Einstellungen auf den Erziehungsstil von Eltern und damit einhergehend positiv auf die schulischen Leistungen ihrer Kinder auswirken. Weiterhin legen sie dar, dass sich materialistische Einstellungen negativ auf die schulischen Leistungen der Kinder auswirken, wenn diese mit traditionalistischen Einstellungen einhergehen; sich aber positiv auf die schulischen Leistungen auswirken, wenn Bildungserfolg mit langfristiger ökonomischer Sicherheit assoziiert wird.

2.3.5 Niedrige Wahlbeteiligung: Ein übersehenes Problem

Ein weiteres soziales Problem, welches durch ein soziales Gefälle charakterisiert ist (Bratsberg et al., 2019; Ojeda, 2018; J. Schäfer et al., 2021), durch Einkommensungleichheit erklärt werden kann, zu deren Reproduktion beiträgt und darüber hinaus nicht von Wilkinson und Pickett berücksichtigt wurde, ist die unterschiedliche Wahlbeteiligung von armen und reichen Bürger*innen in wohlhabenden Ländern. Die theoretische Vorarbeit hat der US-amerikanische Politikwissenschaftler Schattschneider (1960) bereits vor über 60 Jahren in seinem Buch The semisovereign people: a realist’s view of democracy in America geleistet. Schattschneider argumentiert, dass ökonomische Ressourcen dazu genutzt werden, die politische Agenda zu bestimmen. In ungleicheren Gesellschaften verfügen reichere Menschen über mehr Ressourcen als ärmere Menschen und damit einen entscheidenden Vorteil bei der Bestimmung der Inhalte und Problemfelder, welche zur politischen Debatte stehen und welche nicht. Schattschneider argumentiert, dass die Berücksichtigung der Probleme und Interessen armer Menschen innerhalb politischer Debatten in dem Maß abnimmt, indem reiche Menschen ihre Ressourcen einsetzen, um ihre eigenen Positionen und Inhalte auf die politische Agenda zu setzen. Das ermöglicht reichen Menschen einerseits, politische Debatten und Aushandlungsprozesse zu dominieren und andererseits, die Anliegen armer Menschen zu verdrängen. Damit verliert die Abgabe der eigenen Stimme bei Wahlen in dem Maß an Wert, in dem die Politik die eigenen Interessen und Problemfelder ausklammert, was die Abnahme der Wahlbeteiligung insbesondere am unteren Rand der Gesellschaft erklärt (Schattschneider, 1960, S. 102–106). Dass Menschen mit niedrigerem sozioökonomischen Status ihr Wahlrecht weniger häufig wahrnehmen, die Wahlbeteiligung somit durch ein soziales Gefälle charakterisiert ist, wird durch verschiedene Studien belegt (z. B. Bratsberg et al., 2019; Ojeda, 2018; J. Schäfer et al., 2021).

Einkommensungleichheit (H1). Solt (2010) stellt in einer Untersuchung von 144 US-Gouverneurswahlen in einem Zeitraum von 20 Jahren fest, dass Wahlbeteiligung und Einkommensungleichheit positiv miteinander assoziiert sind. Die Ergebnisse der Multilevel-Analyse zeigen im Zeitverlauf, dass eine Erhöhung der Einkommensungleichheit mit einer geringeren Wahrscheinlicht der Stimmabgabe einhergeht. Daraus schlussfolgert Solt, dass politische Ungleichheit in einem hohen Maß von der Einkommensungleichheit abhängig ist und Einkommensungleichheit diese Form der politischen Ungleichheit manifestiert, wenn nicht sogar verstärkt. Neben Solt (2010) bestätigen auch Jensen und Jespersen (2017) die Einkommensungleichheitshypothese (H4) im Kontext unterschiedlicher Wahlbeteiligungen für 30 wohlhabende europäische Länder. Stockemer (2017) zeigt anhand einer Meta-Analyse der Einflussfaktoren auf die Wahlbeteiligung, dass in 14 peer-reviewten Artikeln 41 Regressionsmodelle gerechnet wurden, die den Zusammenhang zwischen Einkommensungleichheit und Wahlbeteiligung schätzen. Von den 41 Modellen zeigten 22 einen positiven Einfluss der Einkommensungleichheit auf die Wahlbeteiligung, 6 einen negativen und 13 keinen signifikanten Zusammenhang.

Wohlstand (H2). Jensen und Jespersen (2017) stellen fest, dass Wohlstand einen positiven Einfluss auf die Wahlbeteiligung besitzt. Danaj und Lami (2017) bestätigen diesen Zusammenhang anhand einer Untersuchung von 248 [sic!] Ländern zwischen 2002 und 2014. Dagegen zeigen die Ergebnisse der Paneldatenanalyse sechs wohlhabender Länder (Deutschland, Niederlande, Spanien, Schweiz, Vereinigtes Königreich, USA) von Jungkunz und Marx (2021), dass Einkommensveränderungen keinen signifikanten Einfluss auf die Höhe der Wahlbeteiligung besitzen. Die bereits beschriebene Metaanalyse von Stockemer (2017) stützt diesen uneindeutigen Befund. Er stellt nach der Betrachtung von 94 Regressionsmodellen aus 38 peer-reviewten Artikeln fest, dass 29 Modelle einen positiven Zusammenhang zwischen Wohlstand (per capita GDP) und der Wahlbeteiligung schätzen, 24 einen negativen und 41 keinen signifikanten Zusammenhang.

Ethnische Fraktionalisierung (H3). Kouba et al. (2021) stellen ländervergleichend heraus, dass ethnische Minderheiten mehr am Ausgang von Wahlen interessiert sind und daher häufiger wählen gehen. Den Zusammenhang erklären sie über einen konflikttheoretischen Zugang. Dagegen zeigen Martinez i Coma und Nai (2017) in einer ebenfalls ländervergleichenden Studie, dass die ethnische Diversität negativ mit der Höhe der Wahlbeteiligung assoziiert ist. Sie erklären den Zusammenhang unter Verweis auf Schattschneiders Einkommensungleichheitshypothese.

Vertrauen (H4). Benson und Rochon (2004) argumentieren, dass Menschen mit höherem sozialen Vertrauen eher zur politischen Partizipation neigen. Diese resultiert dabei aus der Erwartung, dass andere Menschen es ihnen gleichtun, was zu einer positiven Einschätzung des potenziellen Nutzens einer Beteiligung führt. Diverse wissenschaftliche Arbeiten finden ähnliche positive Zusammenhänge (z. B. Delhey & Newton, 2005; Hadjar & Beck, 2010; Letki, 2004; Newton, 2001; Putnam, 2000). Andere Studien berichten allerdings von marginalen bis keinen Zusammenhängen der beiden Größen (z. B. Bäck & Christensen, 2016; Uslaner & Brown, 2005).

Werteklima (H5). Unterschiedliche Studien legen dar, dass die Höhe der Wahlbeteiligung mit dem Wandel von materialistischen zu postmaterialistischen Wertvorstellungen positiv assoziiert ist (z. B. Crepaz, 1990; Hadjar & Beck, 2010; Inglehart & Abramson, 1995; Stockemer, 2015). Inglehart und Abramson (1995) argumentieren, dass Menschen mit postmaterialistischen Wertorientierungen einerseits ein stärkeres Mitspracherecht einfordern und somit im Vergleich zu Menschen mit materialistischen Wertorientierungen häufiger ihr Wahlrecht wahrnehmen. Andererseits beschreiben sie, dass Postmaterialist*innen nach unkonventionellen Formen der politischen Mitbestimmung abseits von Wahlen suchen, was auch mit einer Abnahme ihrer Wahlbeteiligung einhergehen kann. Verschiedene Studien finden unter Rückgriff auf diese Argumentation sowohl positive (z. B. Henn et al., 2018) als auch negative (z. B. Theocharis, 2011) Zusammenhänge.

2.4 Zusammenfassung des Forschungsstands

Tabelle 2.2 fasst den aktuellen Stand der Forschung zu den Zusammenhängen und Effekten der Einflussfaktoren Einkommensungleichheit, Wohlstand, ethnische Fraktionalisierung, Vertrauen und Werteklima auf die fünf ausgewählten sozialen Probleme in einer Übersicht zusammen. Kreuze (+) markieren statistisch positive Assoziationen zwischen Faktor und Problem, Striche (–) statistisch negative. Einkommensungleichheit. Der Forschungsstand deutet darauf hin, dass höhere Einkommensungleichheit mit höheren Mord-, Inhaftierungs- und Schwangerschaftsraten einhergeht sowie mit schlechteren schulischen Leistungen und einer geringeren Wahlbeteiligung.

Tabelle 2.2 Übersicht der erwarteten Zusammenhänge zwischen den erklärenden Variablen und sozialen Problemen

Wohlstand. Der Forschungsstand deutet darauf hin, dass höherer Wohlstand mit niedrigeren Mord-, Inhaftierungs- und Teenagerschwangerschaftsraten einhergeht sowie mit besseren schulischen Leistungen und einer höheren Wahlbeteiligung. Ethnische Fraktionalisierung. Nach dem Stand der Forschung kann davon ausgegangen werden, dass eine höhere ethnische Fraktionalisierung mit höheren Mord-, Inhaftierungs- und Teenagerschwangerschaftsraten einhergeht sowie mit schlechteren schulischen Leistungen. Mit Blick auf die Wahlbeteiligung zeigt die Forschungsliteratur ein uneinheitliches Bild. Es kann sowohl eine positiver als auch ein negativer Zusammenhang erwartet werden. Vertrauen. Der Forschungsstand deutet darauf hin, dass höheres Vertrauen mit niedrigeren Mord-, Inhaftierungs- und Teenagerschwangerschaften assoziiert ist und mit besseren schulischen Leistungen und einer höheren Wahlbeteiligung einhergeht. Werteklima. Abschließen kann erwartet werden, dass ein materialistisches Werteklima mit höheren Mord-, Inhaftierungs- und Teenagerschwangerschaftsraten einhergeht sowie mit schlechteren schulischen Leistungen und einer niedrigeren Wahlbeteiligung.