Gewalt trifft Menschen direkt, erzeugt handlungseinschränkende Ängste, vermindert Lebensqualität und bedroht den sozialen Frieden (Blau & Blau, 1982; Hoeffler, 2017). Inhaftierungen gehen mit sozialem Ausschluss, Stigmatisierungen sowie hohen Gemeinschaftskosten einher und sind stärker von der nationalen Bestrafungs- bzw. Resozialisierungskultur abhängig als von der jeweiligen Kriminalitätsrate (Kury & Kuhlmann, 2020; Lappi-Seppälä, 2011). Teenagerschwangerschaften und niedrige Bildung führen zu sozialer Ausgrenzung, niedrigen Aufstiegschancen, Stigmatisierung und Marginalisierung. Außerdem werden Kinder jugendlicher Mütter häufiger straffällig, sind schlechter gebildet und neigen selbst zu Teenagerschwangerschaften (Liu et al., 2018; Spencer, 2001). Personen mit niedriger Bildung verdienen weniger, sind unzufriedener mit ihrem Leben und häufiger krank. Darüber hinaus verringert ein niedriger Bildungsstand innerhalb eines Landes die gesamtgesellschaftliche Produktivität, das Steueraufkommen, die Wahlbeteiligung sowie das soziale Engagement und erhöht die Kriminalitätsrate (Bourdieu, 1971; Chmielewski & Reardon, 2016; Hopfenbeck et al., 2018). Niedrige Wahlbeteiligungen sind demokratiegefährdend. Sie führen zu einer schleichenden Delegitimierung von Macht und Herrschaft und leisten radikalen und populistischen Kräften Vorschub. Dabei zeigen sich große soziodemographische Unterschiede in der Nichtwähler*innenschaft: Sie ist im Mittel ärmer, schlechter gebildet und erwartet keine Veränderung von der Politik, was einen problematischen Entfremdungskreislauf in Gang setzt: Sozial Benachteiligte gehen weniger häufig wählen, wodurch ihre Interessen und Bedürfnisse weniger stark vertreten werden, was wiederum die Attraktivität von Wahlen und die damit einhergehende Wahlbereitschaft verringert (A. Schäfer, 2013; Schattschneider, 1960; Solt, 2010). Ob Gewalt, Inhaftierungen, Teenagerschwangerschaften, niedrige Bildung oder niedrige Wahlbeteiligung – Soziale Probleme sind typische Phänomene starker sozialer Ungleichheit und gehen auch in wohlhabenden Ländern mit erheblichen sozialen und ökonomischen Kosten für Individuum und Gesellschaft einher (Pickett & Wilkinson, 2016 [2010]). Entsprechend groß ist das politische und gesamtgesellschaftliche Interesse an ihrer Bewältigung und Überwindung. Die vorliegende Masterarbeit untersucht eine Auswahl relevanter ökonomischer und sozialer Einflussfaktoren auf das Ausmaß dieser fünf sozialen Probleme in 40 wohlhabenden Ländern über einen Zeitraum von drei Dekaden (1990 bis 2020).

In der empirischen Sozialforschung werden unterschiedliche Ansätze verhandelt, welche die Verteilung sozialer Probleme erklären und entsprechende Lösungsansätze bereitstellen. Ein Ansatz von herausragender wissenschaftlicher und politischer Popularität basiert auf der Einkommensungleichheitshypothese. Diese Hypothese hat ihren Ursprung in der Gesundheitssoziologie (Kawachi et al., 1997; Rodgers, 1979; Wilkinson, 2002) und wurde im Rahmen von Wilkinson und Picketts Spirit Level Theory (2016 [2010]) auf soziale Probleme erweitert. Sie dient der vorliegenden Arbeit als theoretischer Zugang und argumentiert, dass reiche Gesellschaften umso stärker von gesundheitlichen und sozialen Problemen betroffen sind, je ungleicher ihre Einkommen verteilt sind. Vermittelt werde dieser Effekt durch das höhere Ausmaß von Statusängsten und Statusstress in ungleicheren Gesellschaften. Außerdem postulieren sie, dass eine weitere Steigerung von Einkommen und Wohlstand in reichen Gesellschaften keinen dämpfenden Einfluss mehr auf das Ausmaß entsprechender Probleme habe. Die Autor*innen schließen daraus, dass in der Um- und Gleichverteilung von Einkommen und Wohlstand der Schlüssel in der Bewältigung gesundheitlicher und sozialer Probleme liege und eine gleichere Gesellschaft am Ende besser für alle sei. Ihre Publikation wurde bereits in den ersten fünf Jahren in 23 Sprachen übersetzt, mehr als 150.000-mal verkauft und intensiv von Politik und Medien rezipiert (Rambotti, 2015). Die Spirit Level Theory belebte die Debatte innerhalb der empirischen Sozialforschung über die Einkommensungleichheitshypothese aufgrund ihrer methodologischen Innovationen und Defizite. Einerseits erweiterte sie (1) den Anwendungsbereich der Hypothese auf soziale Probleme; arbeitete (2) detailliert heraus, dass sich gesundheitliche und soziale Probleme gleichermaßen negativ auf Individuum und Gesellschaft auswirken und (3) Einkommensungleichheit sich vor allem auf jene Probleme negativ auswirkt, die durch einen sozialen Gradienten charakterisiert sind (Pickett & Wilkinson, 2016 [2010]). Andererseits stehen Wilkinson und Picketts Forschungsergebnisse und Forderungen aufgrund beträchtlicher methodologischer Defizite in der Kritik (Delhey & Steckermeier, 2019; Saunders & Evans, 2010; Snowdon, 2010). Diese Defizite lassen sich in folgenden vier Punkten zusammenfassen (Delhey & Steckermeier, 2020): (1) Die unzureichend begründete Auswahl von 23 wohlhabenden Länder hegt den Verdacht der Rosinenpickerei. Dieses Länderset ist vor dem Hintergrund von 80 klar klassifizierbaren reichen Ländern (s. Abschnitt 3.1) äußerst klein und abgesehen von Japan (und manchmal Singapur) ausschließlich westlich. (2) Die zusammengetragenen Daten werden lediglich zu einem Zeitpunkt analysiert. Dadurch können keine Veränderungen über die Zeit modelliert und Trendaussagen getroffen werden. Außerdem liegen die Beobachtungszeitpunkte der ins Verhältnis zueinander gesetzten Variablen teilweise über 10 Jahre auseinander. Zudem variiert das untersuchte Länderset, abhängig vom untersuchten Problem, zwischen 8 und 23 Ländern stark. (3) Die in der Spirit Level Theory getätigten Kausalaussagen basieren auf den Ergebnissen einfacher ökologischer Korrelationen, die in Streudiagrammen dargestellt wurden. Dabei wurden weder Korrelationskoeffizienten noch Signifikanzniveaus berichtet und die Ergebnisse nicht von Ausreißern bereinigt. (4) Der Einfluss alternativer ökonomischer und kultureller Ländercharakteristika auf das Ausmaß gesundheitlicher und sozialer Probleme wird von Wilkinson und Pickett nicht überprüft. Dazu gehören z. B. Wohlstand (Snowdon, 2010), ethnische Fraktionalisierung (Saunders & Evans, 2010), Vertrauen (Kragten & Rözer, 2017) oder das gesellschaftliche Werteklima (Booth, 2021; Delhey & Steckermeier, 2019). Darüber hinaus nehmen sie keinen Bezug auf die Erkenntnisse jahrzehntelanger Ungleichheitsforschung (z. B. Jencks, 2002; Kawachi et al., 1997; Rodgers, 1979). Trotz oder gerade wegen ihrer methodologischen Defizite hat die Spirit Level Theory die Analyse ökonomischer und sozialer Ungleichheiten wieder in den Fokus sozialwissenschaftlicher Analysen gerückt.

Vor diesem Hintergrund wird die vorliegende Masterarbeit die in der Theorie aufgestellten Annahmen für die fünf oben beschriebenen sozialen Probleme prüfen. Vier dieser Probleme – das Ausmaß an Gewalt, die Zahl der Gefängnisstrafen, Teenagerschwangerschaften und mangelhafte schulische Leistungen – stammen direkt aus der Spirit Level Theory. Darüber hinaus wird Wilkinson und Picketts Set sozialer Probleme um ein neues erweitert – und zwar um das Problem niedriger Wahlbeteiligung (Schattschneider, 1960; Solt, 2010). Die Überprüfung der Einkommensungleichheitshypothese erfolgt in einer Art und Weise, die die methodologischen Probleme der Spirit Level Theory weitgehend auflöst: (1) Die Länderauswahl und der Untersuchungszeitraum werden deutlich erweitert (40 Länder, 1990 bis 2020) und transparent begründet. Datenlücken werden interpoliert und das Länderset von Ausreißern bereinigt. (2) Wohlstand, ethnische Fraktionalisierung, Vertrauen sowie das gesellschaftliche Werteklima werden als weitere Einflussfaktoren in die Analyse aufgenommen, um die Eindimensionalität abzubauen. (3) Im Gegensatz zu Wilkinson und Picketts Vorgehen werden im ersten Teil der Analyse bivariate ökologische Korrelationen zwischen den Einflussfaktoren und Problemen für jedes Jahr im Untersuchungszeitraum geschätzt. Dabei wird eine ein-Jahres-Verzögerung zwischen den abhängigen und unabhängigen Variablen etabliert, um der Annahme Rechnung zu tragen, dass sich ökonomische und kulturelle Veränderungen mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung auf das Ausmaß sozialer Probleme auswirken. Während sich Wilkinson und Picketts auf die Berechnung einfacher bivariater Korrelationen beschränken, werden im zweiten und dritten Teil der vorliegenden Analyse bi- und multivariate gepoolte OLS- und Two-Way Fixed Effects Regressionsmodelle geschätzt. Sie liefern detaillierte Informationen über den Einfluss der ökonomischen und kulturellen Faktoren im Länderquerschnitt (gepoolter OLS) sowie im zeitlichen Verlauf unter Ausschluss unbeobachteter zeitkonstanter Ländermerkmale (Fixed Effects), wie z. B. religiöse und humanistische Traditionslinien oder kulturelle und demographische Besonderheiten. Darüber hinaus können durch das multivariate Design die verschiedenen Einflüsse der unabhängigen Variablen gegeneinander getestet werden, was eine detailliertere Überprüfung der Einkommensungleichheitshypothese ermöglicht. In diesem Zusammenhang wird folgende Forschungsfrage formuliert:

Wie beeinflussen Einkommensungleichheit, Wohlstand, ethnische Fraktionalisierung, Vertrauen und das gesellschaftliche Werteklima das Ausmaß der ausgewählten sozialen Probleme in wohlhabenden Ländern?

Diese Forschungsfrage wird vor dem Hintergrund zwei wesentlicher Forschungslücken bearbeitet. Erstens, während ein dichter Forschungsstand Zusammenhänge zwischen den Einflussfaktoren und sozialen Problemen im zeitlichen Querschnitt für einzelne Länder beschreibt (s. Abschnitt 2.1), existieren kaum Längsschnittuntersuchungen, welche Aussagen über Trends und Entwicklungen zulassen. Zweitens, die wenigen wissenschaftlichen Arbeiten, die den Effekt von Einkommensungleichheit auf soziale und gesundheitliche Probleme im Zeitverlauf untersuchen (z. B. Delhey & Steckermeier, 2020), weisen darauf hin, dass Einkommensungleichheit allein ein eher unzureichender Prädiktor ist, um die Verteilung entsprechender Probleme in wohlhabenden Ländern zu erklären. Entsprechend werden wichtige Erkenntnisgewinne aus den Längsschnittuntersuchungen und der multivariaten Erweiterung des Sets untersuchter Einflussfaktoren erwartet.

Zur Beantwortung der Forschungsfrage wird im folgenden Kapitel der theoretische Zugang über die Spirit Level Theory genauer erläutert (Abschnitt 2.1). Im anschließenden Abschnitt 2.2 wird die Auswahl der vier weiteren zentralen Einflussfaktoren auf das Ausmaß sozialer Probleme beschrieben: Wohlstand, ethnischer Fraktionalisierung, Vertrauen und das gesellschaftlichen Werteklima. Abschließend werden fünf theoriebezogene Forschungshypothesen aufgestellt und relevante Forschungsergebnisse im Kontext der erwarteten Zusammenhänge dargestellt (Abschnitt 2.3). Nach einer kurzen Zusammenfassung der Theorien und Forschungsstände (Abschnitt 2.4) werden im dritten Kapitel die Länder- und Datenauswahl sowie das analytische Vorgehen beschrieben (Abschnitt 3.1 bis 3.3). Nachfolgend werden im vierten Kapitel die Forschungsergebnisse entlang der fünf untersuchten sozialen Probleme präsentiert (Abschnitt 4.1 bis 4.5) und zusammengefasst (Abschnitt 4.6). Danach werden die Ergebnisse vor dem Hintergrund der aufgestellten Forschungshypothesen diskutiert (Kapitel 5). Abschließend werden die Hauptergebnisse der Masterarbeit im Fazit zusammengefasst, Limitationen aufgezeigt und ein Ausblick auf zukünftige Forschungsbedarfe gegeben (Kapitel 6).