Nachdem im vorangegangenen Kapitel die Anerkennung der Personalität sowie der Vulnerabilität von Menschen mit Demenz als ethische und fachliche Grundlagen für professionelle Sorgebeziehungen ausgearbeitet und bereits einige Implikationen dieser Grundlagen für die Problematik der Anwendung von FeM diskutiert wurden, gilt es im nachfolgenden Kapitel, FeM selbst auf ihre ethische Struktur hin zu befragen. Dazu sollen zunächst, ausgehend von dem Deutschen Ethikrat, die Grundlagen für eine ethische Reflexion wohltätiger Zwangsmaßnahmen im Allgemeinen diskutiert werden, um diese nachfolgend mit Blick auf FeM bei Menschen mit Demenz zu vertiefen (Abschn. 4.1). Dabei wird ein Schwerpunkt darauf liegen, den normativen Anspruch der Anerkennung und des Schutzes der Freiheit von Menschen mit Demenz zu begründen und Wege aufzuzeigen, wie dieser Anspruch im Spannungsfeld zwischen Autonomie und Paternalismus umzusetzen ist (Abschn. 4.2). Das Kapitel schließt mit einem Zwischenfazit (Abschn. 4.3), das zu dem Gesamtfazit der Arbeit überleitet.

4.1 Ethische Reflexion des wohltätigen Zwangs

Wie bereits zu Beginn dieser Arbeit analysiert wurde, stellen FeM mit ihren vielen verschiedenen Erscheinungsformen und innerhalb der verschiedenen pflegerischen Settings Maßnahmen dar, die dem Phänomen des wohltätigen Zwangs zuzuordnen sind (siehe Abschn. 1.2). Es lohnt sich daher, als Grundlage für die ethische Bewertung von FeM zunächst zu betrachten, welche Kriterien sich übergreifend für alle wohltätigen Zwangsmaßnahmen finden lassen, um im nachfolgenden Schritt spezifische Implikationen dieser Kriterien für die vorliegende Thematik herauszuarbeiten.

Zunächst lassen sich mit dem Deutschen Ethikrat fünf grundsätzliche Kriterien festhalten, die erfüllt sein müssen, damit eine Maßnahme des wohltätigen Zwangs ethisch gerechtfertigt ist.Footnote 1 Dabei formuliert der Ethikrat als erstes Kriterium:

Die jeweilige Zwangsmaßnahme muss auf die Entwicklung, Förderung oder Wiederherstellung der selbstbestimmten Lebensführung der betroffenen Person im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten und der hierfür elementaren leiblichen und psychischen Voraussetzungen abzielen. Dies gilt auch, wenn die Fähigkeit zum freiverantwortlichen Handeln nicht mehr erreichbar ist.Footnote 2

Durch dieses erste Kriterium, das man versuchsweise als 1) Selbstbestimmungskriterium benennen könnte, ist bezeichnet, dass sich wohltätige Zwangsmaßnahmen nicht aus den grundsätzlichen Zielsetzungen pflegerischen Handelns ausschließen lassen, sondern diesen ebenfalls unterzuordnen sind: sie sollen dazu dienen, die selbstbestimmte Lebensführung und Alltagsgestaltung der pflegebedürftigen Person zu erhalten, zu fördern oder gar im Sinne einer rehabilitativen Maßnahme wiederherzustellen. Dass dabei der Aspekt der Leiblichkeit angesprochen ist, verdeutlicht, dass es sich hierbei nicht nur um ‚rein‘ körperliche Aspekte handelt, sondern der Mensch in seiner psychophysischen Einheit angesprochen ist. Eine Zwangsmaßnahme muss dementsprechend so beschaffen sein, dass sie zur „(Wieder-)Herstellung der physischen und psychischen Basisbedingungen einer selbstgestalteten Lebensführung dient“Footnote 3. Bemerkenswert ist an diesem Kriterium die darin implizite Fokusverschiebung, insofern der Deutsche Ethikrat die Selbstbestimmung des Betroffenen in den Mittelpunkt rückt und das körperliche Wohl, mit dem Zwangsmaßnahmen am häufigsten begründet werden, nur indirekt als „leibliche Voraussetzung“ der Selbstbestimmung thematisiert. Weiterhin gilt:

Die Zwangsmittel müssen zu diesen Zielen geeignet, erforderlich und angemessen (d. h. im Blick auf Eingriffstiefe und Eingriffsdauer verhältnismäßig) sein.Footnote 4

Mit diesem Kriterium, das als 2) Angemessenheitskriterium bezeichnet werden könnte, ist zugleich ergänzt, dass die wohltätige Zwangsmaßnahme nicht nur hypothetisch, sondern tatsächlich eine spezifische Eignung für den jeweiligen Einzelfall aufweist und notwendig ist, um die oben genannten Ziele, d. h. kurzum die selbstbestimmte Lebensführung, sicherzustellen. Unter der Angemessenheit der Maßnahme ist des Weiteren zu verstehen, dass sich diese Ziele nicht durch verhältnismäßig mildere Mittel erreichen ließen. Mit der Eingriffstiefe und Eingriffsdauer ist zudem angesprochen, dass diese Maßnahme für das Individuum zumutbar sein muss sowie, dass eine Verhältnismäßigkeit sowohl zwischen der Tiefe als auch der Dauer des Eingriffs und der jeweils erstrebten Ziele bestehen sollte.

Die Abwehr eines primären Schadens darf nicht unangemessene andere womöglich irreversible Schäden erzeugen („sekundäre Vulnerabilität“).Footnote 5

Das dritte Kriterium, das sich als 3) Nichtschadenskriterium betiteln ließe, erinnert an die obigen Ausführungen zu der Verletzlichkeit des Menschen (siehe Abschn. 3.2) und formuliert, dass die Zwangsmaßnahme, die einen Schaden abwenden soll, keine anderen unangemessenen oder gar irreversiblen Schäden auslösen darf. Mit dem Begriff der sekundären Vulnerabilität ist damit der bereits diskutierte potenzielle Wirkzusammenhang angesprochen, dass Maßnahmen, die einer primären Vulnerabilität – bspw. einer Sturzgefahr – vorbeugen sollen, oftmals eine sekundäre Vulnerabilität – bspw. körperliche oder psychische Schadensanfälligkeit – auslösen können.

Der Schaden darf sich nicht anders abwenden bzw. das Ziel nicht anders erreichen lassen (Ultima Ratio).Footnote 6

Bereits durch das Angemessenheitskriterium klang an, was sich genauer als 4) Kriterium des letztmöglichen Mittels benennen lässt. Der Begriff der ultima ratio, der im Laufe dieser Arbeit wiederholt sowohl in rechtlicher als auch in ethischer Bedeutung Anwendung fand, kommt hier in seiner fundamentalen normativen Rolle zur Geltung: Zwangsmaßnahmen stellen aufgrund ihres schwerwiegenden Charakters prinzipiell zu rechtfertigende Eingriffe in die Freiheit des Menschen dar, die deswegen zusätzlich zu den bereits genannten Kriterien (wenn überhaupt) nur als letzte Option in Frage kommen. Dies schließt die Erprobung aller möglichen Alternativmaßnahmen und milderen Mittel ein sowie die Forderung, im Einzelfall kreative alternative Problemlösungen zu suchen.

Die jeweilige Maßnahme sollte auf die Zustimmung der adressierten Person stoßen, wäre diese aktuell zu einer freiverantwortlichen Entscheidung fähig.Footnote 7

Zuletzt führt der Deutsche Ethikrat an, was man als das 5) Kriterium des mutmaßlichen Willens bezeichnen könnte. Ist der Wille eines Betroffenen bezüglich der erwogenen Zwangsmaßnahme nicht zu ermitteln, so gilt es in diesem Kontext, alle möglichen Hinweise zu berücksichtigen, die Kenntnis darüber liefern könnten, wie die Person – wäre sie zu einer selbstverantwortlichen Entscheidung fähig – zu der Maßnahme stünde. Anders formuliert geht es darum, ob der Betroffene bei Kenntnis um das durch die Maßnahme angezielte Wohl durch seine Zustimmung den Zwangscharakter derselben aufhöbe.Footnote 8 Mit Kuhlmey kann formuliert werden, dass zu diesem Zwecke „frühere Positionen, Standpunkte und alle weiteren verfügbaren Informationen heranzuziehen [sind], aus denen sich der Wille und die Präferenzen der betroffenen Person ergeben können“Footnote 9. Auf die Bedeutsamkeit von bspw. Biografiearbeit und Fallbesprechungen ist in diesem Zusammenhang bereits hingewiesen worden (siehe Abschn. 3.2.4).Footnote 10

Diese fünf Kriterien, die die Anwendung von wohltätigen Zwangsmaßnahmen ethisch legitimieren können, sind in jedem Einzelfall individuell für die betroffene Person zu prüfen, wobei auch an das Verfahren der konkreten Entscheidungsfindung und der Anwendung gewisse verfahrensbezogene Kriterien anzulegen sind, die auf allgemein-institutioneller Ebene greifen: Allem voran gilt, dass sich das Handeln der professionell Sorgenden bzw. der Institutionen nach dem aktuellen Stand der fachlichen Erkenntnisse zu richten hat – ein Umstand auf den bereits mehrfach hingewiesen wurde (siehe Abschn. 2.10.1). Insofern hier ethische und fachliche Kriterien gleichermaßen bestimmend sind, ist auch davon zu sprechen, dass die „Maßnahme und ihre zwangsweise Durchführung […] also fachlich „doppelt“ gerechtfertigt sein [müssen]“Footnote 11. Bezüglich der oben genannten fünf Kriterien muss darüber hinaus garantiert sein, dass diese präzise ermittelt und entsprechende Handlungsoptionen in Betracht gezogen wurden – was auch einschließt, dass besonders aufmerksam die Frage der freiverantwortlichen Willensbildung des Betroffenen in den Blick genommen wurde. Als weitere verfahrensbezogene Kriterien, die zudem die Erkenntnisse des person-zentrierten und des beziehungszentrierten Pflegeansatzes (siehe Abschn. 3.1.3 und 3.2.4) widerzuspiegeln scheinen, werden die Beteiligung der betroffenen Person sowie An- und Zugehöriger bzw. rechtlicher Betreuer oder Bevollmächtigter am Entscheidungs(findungs)prozess ausdrücklich hervorgehoben. Auch ist der Prozess der Reflexion der ethischen Angemessenheit der Maßnahme mit dem Ent- bzw. Beschluss zugunsten derselben bzw. mit deren Anwendung lange nicht abgeschlossen: Es bedarf einer kontinuierlichen fachpflegerischen Überwachung und Dokumentation der Maßnahme; zu dokumentieren sind dabei mindestens die Gründe für die Anwendung, die Art und Weise bzw. Dauer der Umsetzung sowie Informationen darüber, dass und wie die Überwachung sichergestellt wird.Footnote 12 Dabei ist diese Dokumentation ebenfalls als unabgeschlossener Prozess zu verstehen, denn es gilt, diese Parameter immer dann aufs Neue zu dokumentieren, wenn die Maßnahme konkret Anwendung findet.

Sind damit bereits wichtige Kriterien zur ethischen Bewertung wohltätiger Zwangsmaßnahmen sowie zur verfahrensbezogenen Umsetzung derselben skizziert und entscheidende diesbezügliche Sachverhalte angesprochen, so ist doch festzuhalten, dass sie einer weiteren Vertiefung bedürfen, um für die Thematik von FeM bei Menschen mit Demenz fruchtbar gemacht zu werden.

4.2 Anerkennung und Schutz der Freiheit von Menschen mit Demenz

Es ergibt sich unmittelbar aus dem letzten Abschnitt sowie aus den vorangegangenen Betrachtungen zur Personalität und Vulnerabilität des Menschen mit Demenz, dass eine Anerkennung dieses Menschen notwendigerweise die Anerkennung und den Schutz von dessen Freiheit bzw. freier Selbstbestimmung einschließt. Gleichzeitig liegt im Falle von FeM auf der Hand, dass dieselben als Freiheitseinschränkung notwendigerweise die Freiheit des Menschen mit Demenz berühren, und umgekehrt kann vor dem Hintergrund der Demenzerkrankung die Frage gestellt werden, inwiefern selbstbestimmtes Handeln hier angesichts kognitiver Einbußen überhaupt noch möglich ist. Ohne eine tiefergehende Klärung der Konzepte Freiheit und Selbstbestimmung bzw. Autonomie bleiben FeM somit ethisch unterbestimmt. Diesem Umstand entsprechend wird die nachfolgende Argumentation eine Reihe philosophischer Begriffe und Konzeptionen durchschreiten, die helfen, die komplexe Thematik der Anwendung von FeM bei Menschen mit Demenz zu reflektieren. Dazu ist zunächst ein genauerer Begriff der Freiheit sowie der Freiverantwortlichkeit zu erarbeiten, da diese im Kontext von FeM den Ausgangspunkt jeder Argumentation bilden (Abschn. 4.2.1). Wie sich zeigen wird, können FeM des Weiteren als paternalistische Handlungen charakterisiert werden, die aus einer Motivation der Fürsorge heraus in die Autonomie des betroffenen Menschen eingreifen – eine Handlung, die sich daher nur vor dem Hintergrund des Spannungsfeldes zwischen Autonomie und Paternalismus genauer verstehen lässt. Besonders spitzt sich diese Spannung im Falle der Demenzerkrankung zu, insofern hier bereits durch die bestehende kognitive Beeinträchtigung die Autonomie von Menschen mit Demenz zumindest prima facie in Frage zu stehen scheint. Demgegenüber gilt es, mithilfe einer Weitung des klassischen Autonomiebegriffs aufzuweisen, auf welche Weise Menschen mit Demenz ihre Autonomie ausüben können (Abschn. 4.2.2). Wie zuvor wird sich dabei das Konzept der Leiblichkeit als Schlüsselbegriff erweisen, insofern sich die Freiheit und Autonomie von Menschen mit Demenz durch leibliche Vermittlung manifestiert – ein Umstand, der weitreichende ethische Konsequenzen etwa für die Bewertung von psychopharmakologischen Interventionen zur Freiheitseinschränkung nach sich ziehen kann (Abschn. 4.2.3).

4.2.1 Freiheit und Freiverantwortlichkeit

Freiheit ist zunächst vor allem ein Reflexionsbegriff, d. h. ein Terminus, der primär die Abwesenheit eines Sachverhaltes reflektiert, etwa die Abwesenheit einer Beeinträchtigung.Footnote 13 Schon sprachlich ist dies etwa daran erkennbar, dass ein Begriff wie „barrierefrei“ zunächst noch keinen klaren positiven Inhalt aufweist, sondern primär die Abwesenheit von Barrieren kennzeichnet. Gleichzeitig eignet einem solchen Begriff bereits eine Aussage über das Wesen einer Sache, denn „barrierefrei“ kann etwas bspw. nur genannt werden, wenn es gut und der Sache angemessen ist, keine Barrieren aufzuweisen – einen Mangel auszudrücken, indem man etwa von „barrierelos“ spräche, ergäbe hier keinen Sinn.Footnote 14 Anders ausgedrückt, impliziert die Rede von Freiheit als Freiheit von Beeinträchtigungen, dass Freiheit eine Richtung hat, auf die hin sie sich zu entfalten versucht: „Beeinträchtigungen […] gibt es nur für Wesen, die von sich her auf etwas aus sind. Freiheit ist daher immer Freiheit für die Entfaltung einer eigenen Tendenz. […] Zur Freiheit gehört die […] Entfaltungsmöglichkeit.“Footnote 15

Mittels der Entlehnung einer etablierten terminologischen Distinktion der politischen Philosophie, die auf den russisch-britischen Philosophen Isaiah Berlin zurückgeht, lässt sich dies auch auf andere Weise fassen. Berlin unterscheidet zwischen zwei politischen Freiheitsbegriffen:

The first of these political senses of freedom […] which […] I shall call the ‘negative’ sense, is involved in the answer to the question ‘What is the area within which the subject — a person or group of persons — is or should be left to do or be what he is able to do or be, without interference by other persons?’ The second, which I shall call the ‘positive’ sense, is involved in the answer to the question ‘What, or who, is the source of control or interference that can determine someone to do, or be, this rather than that?’ The two questions are clearly different, even though the answers to them may overlap.Footnote 16

Freiheit ist demnach in einem doppelten Sinn aufzufassen: Negative Freiheit bezeichnet dabei die Freiheit von etwas (z. B. durch andere Menschen ausgelöste Beeinträchtigungen), während positive Freiheit die Freiheit zu etwas (z. B. einer bestimmten Handlung) bestimmt. Bei genauerer Betrachtung erweist sich negative Freiheit dabei als Voraussetzung der positiven: Es ist gerade das Freisein von Beeinträchtigungen, das zu verschiedenen Freiheitsvollzügen befähigt.

Am Beispiel der Fortbewegungsfreiheit kann an dieser Stelle eine erste Annäherung unternommen werden, wie diese Unterscheidung auf die Thematik der vorliegenden Arbeit anwendbar ist. Mit Berlin können bezüglich der Anwendung von FeM Aspekte von negativer und positiver Freiheit identifiziert werden: Fortbewegungsfreiheit kann zunächst vor allem als negative Freiheit definiert werden, insofern sie in einer relativen Abwesenheit von Bewegungseinschränkungen besteht: Das bedeutet etwa, dass der betroffene Mensch nicht durch andere Personen oder äußere Mittel von der freien Bewegung abgehalten wird und deswegen frei ist, sich zu bewegen. Fortbewegungsfreiheit ist, negativ bestimmt, also gerade die Freiheit von Einschränkungen und somit letztlich auch von FeM. Wichtig ist, dass Fortbewegungsfreiheit aber nicht nur negativ als Abwesenheit von Einschränkungen und Hindernissen definiert werden kann, sondern auch positiv als die Freiheit zur Bewegung: Sie eröffnet eine Bandbreite an möglichen Fortbewegungen einschließlich der Freiheit, sich nicht zu bewegen, sondern zu ruhen.

Die Unterscheidung Berlins kann auf diese Weise als Instrument dienen, FeM danach zu befragen, inwieweit diese die Fortbewegungsfreiheit – verstanden als negative Freiheit von Hindernissen – einschränken. Zugleich ist mit Blick auf positive Freiheit zu fragen, wie FeM als Zwangsmaßnahmen die Freiheit zu Handlungen und Bewegungen beeinflussen. In diesem Sinn hält auch der Deutsche Ethikrat fest:

[U]nter idealen Bedingungen erschöpft sich Freiheit […] nicht in der Zurückweisung äußerer Fremdbestimmung (negative Freiheit). Die Lebenspläne, zu denen eine Person sich in ihrer Freiheit selbstbestimmt entschließt, sind Optionen der Lebensgestaltung, die sich […] inmitten eines Netzes aus kooperativen und kommunikativen Beziehungen realisieren lassen, in denen Menschen zu anderen stehen. Diese positive Freiheit eröffnet ein umso weiteres Spektrum an verfügbaren Entscheidungs- und Handlungsoptionen für den Einzelnen […].Footnote 17

Diese Fokussierung auf Freiheit als positive hilft, den zentralen Aspekt der Selbstbestimmung in den Blick zu nehmen. FeM werden auf diese Weise nicht mehr nur von einer vornehmlich negativ definierten Freiheit von Einschränkungen her gedacht, sondern auch auf ihre Auswirkungen auf die Selbstbestimmung von betroffenen Menschen befragt. Der menschlichen Selbstbestimmung bzw. Autonomie kommt daher ihrem Wesen entsprechend eine besondere Rolle in der ethischen Beurteilung von FeM zu.

Gleichzeitig ist damit jedoch eine bereits angesprochene Problematik verbunden, da in Bezug auf Menschen mit Demenz auf den ersten Blick gar nicht deutlich erkennbar scheint, ob diese zu autonomen Entscheidungen noch befähigt sind. Dieses Problem wird besonders an der Frage der Freiverantwortlichkeit von Menschen mit Demenz bzw. ihren Handlungen deutlich. Es kann hier sinnvoll sein, auf die theoretischen Vorbemerkungen dieser Arbeit (siehe Abschn. 1.2.) zurückzugreifen, um diese Freiverantwortlichkeit genauer zu bestimmen. Um eine differenzierte Darstellung verschiedener denkbarer Situationen zu geben, führte der Deutsche Ethikrat eine Typologie von drei Fallkonstellationen ein, die eine erste Orientierung dafür bietet, die Frage der ethischen Legitimierbarkeit wohltätiger Zwangsmaßnahmen als ultima ratio zu beantworten:

  1. a)

    Der Sorgeadressat äußert Wünsche und Bedürfnisse, ist aber in der konkreten Situation unzweifelhaft nicht zu einer freiverantwortlichen Entscheidung in der Lage. Für diese Personengruppe kann wohltätiger Zwang unter bestimmten Umständen gerechtfertigt sein.

  2. b)

    Der Sorgeadressat entscheidet, wobei in der vorliegenden Situation aber begründete Zweifel an der Freiverantwortlichkeit seiner Entscheidung bestehen. Bereits in solchen Zweifelsfällen kann wohltätiger Zwang unter Umständen gerechtfertigt sein.

  3. c)

    Der Sorgeadressat entscheidet unzweifelhaft freiverantwortlich. In diesem Fall kann wohltätiger Zwang nicht gerechtfertigt sein – selbst in solchen Fällen nicht, wo dies aufseiten des Sorgeadressaten zu einer schweren Selbstschädigung und aufseiten der Sorgenden zu einer extremen Herausforderung ihrer professionellen Sorgeverbindlichkeiten führt.Footnote 18

Wie an den Hervorhebungen deutlich wird, ist nach Ansicht des Deutschen Ethikrates eines der wichtigsten Kriterien für die Entscheidung, ob eine wohltätige Zwangsmaßnahme gerechtfertigt ist, die Freiverantwortlichkeit: „Folgt man dieser Position, […] ist die Zuschreibung, ob eine Person freiverantwortlich oder nicht freiverantwortlich handelt, von entscheidender Bedeutung für die Legitimation solchen Zwangs.“Footnote 19 Zwar ist die Beurteilung, ob eine Person freiverantwortlich handelt, „per se problematisch und in der Praxis mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden, andererseits aber unverzichtbar“Footnote 20.

Freiverantwortliches Handeln im terminologisch strengen Sinn wird nun weiterhin in drei Elemente gefasst, zu denen die jeweilige Person im Stande sein muss, um als freiverantwortlich zu gelten:

  • Wissen um die Folgen und Nebenfolgen der beabsichtigen Handlung / Unterlassung,

  • Wollen oder Inkaufnehmen dieser Folgen und Nebenfolgen auf dem Hintergrund der eigenen fundamentalen Lebensoptionen

  • Wählenkönnen zwischen realen Alternativen von Handlungsoptionen.Footnote 21

Freiverantwortlichkeit nach diesen Kriterien kann, so ist mit Blick auf dieselben festzuhalten, aufgrund verschiedener körperlicher oder psychischer Beeinträchtigungen vorübergehend oder langfristig eingebüßt werden.Footnote 22 Wie ist vor diesem Hintergrund nun die Freiverantwortlichkeit von Menschen mit einer Demenzerkrankung zu bewerten? Der Versuch einer Anwendung dieser drei Aspekte auf Menschen mit Demenz ist, wie bereits angemerkt wurde, schon durch die Individualität der Personen sowie die Vielfältigkeit und Unvorhersehbarkeit individueller Krankheitsverläufe äußert erschwert. Nicht nur hängt eine Zuordnung zu den Fallkonstellationen a), b) oder c) von der Phase der Erkrankung ab, auch können sich bis in späte Stadien einer Demenz Phasen deutlicher kognitiver Luzidität einstellen. Hier ist davon auszugehen, dass nicht zuletzt aufgrund des graduellen Charakters kognitiver Einschränkungen kaum klare Grenzziehungen vollzogen werden können. Ohnehin sind solche, wenn überhaupt, nur in Einzelfällen möglich.Footnote 23 Auf Grundlage der Ergebnisse der vorangegangenen Analysen ist jedoch davon auszugehen, dass die Anwendung von FeM vornehmlich bei Menschen angedacht wird, die sich in einem eher fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung befinden und somit die oben genannten Kriterien der Selbstverantwortlichkeit aufgrund der krankheitsbedingten kognitiven Einbußen in ihrer Gänze kaum erfüllen können. Dies legt sich besonders vor dem Hintergrund empirischer Ergebnisse nahe, die eine klare Assoziation fortgeschrittener Demenzerkrankungen und der Anwendung von FeM aufgewiesen haben (siehe Abschn. 2.8.1).

Es lässt sich daraus schlussfolgern, dass FeM vor allem in solchen Situationen erwogen werden, in denen die Freiverantwortlichkeit des Handelns einer Person mit Demenz sowie ihr Wille nicht eindeutig ermittelt werden können – Situationen also, die den Konstellationen a) oder b) zuzuteilen wären. Ohnehin könnte eine Person, die unzweifelhaft zu freiverantwortlichem Handeln in der Lage ist, schlichtweg zu ihrem Willen bezüglich einer FeM befragt werden und etwa durch Einwilligung deren Zwangscharakter aufheben. Dies bedeutet jedoch für die vorliegende Thematik, dass die Kategorie der Freiverantwortlichkeit in dem oben bestimmten Sinn nur von begrenzter Anwendbarkeit ist. Es bedarf daher einer genaueren Analyse der zahlreichen graduellen Abstufungen, in denen menschliche Autonomie sich manifestieren kann. Auch oder gerade wenn nicht von einer Freiverantwortlichkeit im vollen Sinn des Wortes ausgegangen werden kann, sind eingeschränktere Formen der Selbstbestimmung und Willensbekundung zu beachten:

Personen, die nicht freiverantwortlich handeln können, sind nicht schon deshalb willenlos. Auch sie bringen ihre Wünsche und ihr Streben zum Ausdruck: Sie wollen sich fortbewegen, akzeptieren eine medizinische Maßnahme oder lehnen diese ab usw.Footnote 24

Ausdrücklich sei darauf hingewiesen, dass wohltätige Zwangsmaßnahmen auch dann eine ultima ratio mit allen in der Konsequenz zu beachtenden Kriterien darstellen, wenn die betroffene Person bzw. ihr Handeln nicht eindeutig als freiverantwortlich zu erweisen ist.Footnote 25 Damit gewinnen all jene verbalen wie nonverbalen Ausdrucks- und Interaktionsformen von Menschen mit Demenz an Bedeutung, die zunächst zwar einen fragmentierten und partiellen Charakter aufweisen, jedoch ohne Zweifel Manifestationen von deren Selbst darstellen: „[A]uch Handlungen, die nicht den Kriterien freiverantwortlicher Selbstbestimmung genügen, können – zumindest in einem einfachen Sinne – wesentliche Aspekte des Selbst ausdrücken.“Footnote 26 Insofern in diesen Kommunikationsmustern somit eine – wenn auch eingeschränkte – Autonomie des Menschen mit Demenz zum Ausdruck kommt, ist mit der Feststellung einer (vermeintlich) nicht vorhandenen Freiverantwortlichkeit also nicht jede weitere ethische Erwägung ausgeschlossen: Vielmehr gebietet sich gerade aufgrund der besonderen situativen Vulnerabilität von Menschen mit Demenz eine besondere Sorgfalt und Achtsamkeit in der Betrachtung ihrer Autonomie. FeM stellen auch bzw. gerade bei Personen, die nur eingeschränkt selbstbestimmt sind, einen paternalistischen Eingriff in deren Autonomie dar, der prinzipiell der ethischen Rechtfertigung bedarf.

4.2.2 Autonomie und Paternalismus

Für FeM gilt, wie für alle wohltätigen Zwangsmaßnahmen allgemein, dass hier „Fürsorge (‚Wohltat‘) dem Hilfeabhängigen gegenüber und Eingriffe in die Selbstbestimmung (‚Zwang‘) eines pflegebedürftigen Menschen […] dicht nebeneinander [liegen]“Footnote 27. Die Spannung, die sich aus dieser Grundstruktur der wohltätigen Zwangshandlung ergibt, kann dabei näher als Spannung zwischen der Autonomie des Sorgeempfängers und dem Paternalismus seitens des Sorgenden charakterisiert werden, wobei der Begriff Paternalismus dem allgemeinen Verständnis nach solche Handlungen umfasst, die sich „erstens bewusst über die Willensbekundungen des Adressaten hinwegsetzen und zweitens ausschließlich oder zumindest vorrangig das Ziel verfolgen, den Adressaten vor gravierender Selbstgefährdung […] zu schützen“Footnote 28.

An sich ist paternalistisches Handeln ein häufiges Phänomen der pflegerischen Praxis, zumal der professionellen Sorgebeziehung eine strukturelle Asymmetrie eignet (siehe Abschn. 1.2), die ‚Machtgefälle‘ zwischen Pflegenden und Pflegeempfängern begünstigen kann, in denen es vermehrt zu einer fürsorglich intendierten Hinwegsetzung über den Willen des Betroffenen kommen kann.Footnote 29 Das pflegerische Handeln ist in solchen Handlungen durch eine gewisse Ambivalenz gekennzeichnet, da es sowohl unterstützen als auch in dieser Unterstützung einschränken kann.Footnote 30 Philosophisch kann diese Ambivalenz mit einer Unterscheidung Heideggers ausgedrückt werden, auf die sich auch der Deutsche Ethikrat bezieht. So unterscheidet Heidegger in Sein und Zeit eine „einspringend-beherrschende“ und eine „vorspringend-befreiende“ Art der Fürsorge, die gleichsam zwei Enden eines Spektrums bilden:Footnote 31

Die Fürsorge hat […] zwei extreme Möglichkeiten. Sie kann dem Anderen die „Sorge“ gleichsam abnehmen und im Besorgen sich an seine Stelle setzen, für ihn einspringen. Diese Fürsorge übernimmt das, was zu besorgen ist, für den Anderen. Dieser wird dabei aus seiner Stelle geworfen, er tritt zurück […]. In solcher Fürsorge kann der Andere zum Abhängigen und Beherrschten werden, mag diese Herrschaft auch eine stillschweigende sein und dem Beherrschten verborgen bleiben. […] Ihr gegenüber besteht die Möglichkeit einer Fürsorge, die für den Anderen nicht so sehr einspringt, als daß sie ihm in seinem existenziellen Seinkönnen vorausspringt, nicht um ihm die „Sorge“ abzunehmen, sondern erst eigentlich als solche zurückzugeben. Diese Fürsorge […], verhilft dem Anderen dazu, in seiner Sorge sich durchsichtig und für sie frei zu werden.Footnote 32

Was von Heidegger phänomenologisch als Grundstruktur zwischenmenschlicher Fürsorge herausgearbeitet wurde, lässt sich besonders an der professionellen Sorge veranschaulichen: In einer einspringend-beherrschenden Fürsorge wird die ‚Stelle‘ des Anderen, d. h. dessen freie Selbstbestimmung durch die paternalistische Bevormundung gänzlich von der Fremdbestimmung durch den Pflegenden eingenommen. In einer vorspringend-befreienden Fürsorge findet dagegen weniger eine Fremdbestimmung seitens des Pflegenden, sondern vielmehr eine Befreiung bzw. Ermöglichung der Selbstbestimmung des Pflegeempfängers in solchen Situationen statt, in denen er zu der Sorge um sich selbst nicht mehr oder nur noch eingeschränkt fähig ist. An dem exemplarischen Fall auffordernden Verhaltens lässt sich illustrieren, wie diese Unterscheidung auf FeM anwendbar ist: Eine vorspringend-befreiende Fürsorge bestünde in diesem Fall darin, die einer auffordernden Verhaltensweise zugrundeliegenden Bedürfnisse und Intentionen zu ergründen und unterstützend deren Erfüllung zu ermöglichen, bspw. indem der betroffene Mensch bei einem Toiletten- oder Spaziergang begleitet wird. Eine medikamentöse Ruhigstellung könnte demgegenüber eine einspringend-beherrschende Fürsorgehandlung darstellen, wenn sie – um mit Riedel und Linde zu sprechen – „den Menschen mit Demenz zum Objekt der Fürsorge und Medikalisierung degradier[t]“Footnote 33. Fürsorgliches Handeln muss – so kann aus dieser Unterscheidung abgeleitet werden – stets auf die zugrundeliegende Intention sowie auf das Maß, in dem es die Autonomie einer Person einschränkt oder implizit abspricht, befragt werden.

Zunächst ist bezüglich der Intention hinter paternalistischem Handeln anzunehmen, dass diese in den allermeisten Fällen wohl eine gute sein wird, die einer fürsorglichen Haltung professionell Sorgender entspringt. Jedoch ist mit Remmers darauf hinzuweisen, dass potenziell „some of the caring profession’s fundamental attitudes and approaches, such as helpfulness, selflessness, sacrifice, have a counterproductive impact if they are situationally inappropriate or associated with inadequate images of aging“Footnote 34. An sich gute Haltungen können daher, wenn sie gepaart mit defizitorientierten Altersbildern (siehe Abschn. 3.1) auftreten, zu dem führen, was mit Kruse als falsch verstandenes Fürsorgemotiv beschrieben werden kann:

Dieses Erkennen und Anerkennen [der Verletzlichkeit alter Menschen] darf […] nicht in eine „Demütigung“ münden, etwa der Art, dass man alten Menschen mit einem falsch verstandenen Fürsorge- oder sogar Barmherzigkeitsmotiv begegnet, dass man ihnen die Fähigkeit und den Willen zum selbstständigen und selbstverantwortlichen Leben abspricht, […] dass man ihnen einen „Teil des ganzen Menschen abspricht“ […], nur weil sie in bestimmten Fähigkeiten, Fertigkeiten und Funktionen geschwächt sind. Das ist ja die große Gefahr: dass – um sinnbildlich zu sprechen – aus der Mutter das „Mütterchen“, aus dem Vater das „Väterchen“, aus der Großmutter das „Omchen“, aus der in einem hohen Alter stehenden Person ein „wunderlicher Alter“ wird. Dies sind genauso Spielarten einer Demütigung wie die Vorenthaltung bestimmter Aufgabenbereiche und Rollen, bestimmter Dienst- und (medizinischer) Versorgungsleistungen allein oder primär aufgrund des Lebensalters. Wir neigen dazu, gerade Menschen im hohen Lebensalter übermäßig zu behüten und zu beschützen, zu reglementieren, mithin Freiheit zu nehmen.Footnote 35

Besonders illustrativ sind die hier angeführten alltagssprachlichen Beispiele, da diese eine – bei aller Fürsorglichkeit – letztlich implizit demütigende Haltung gegenüber alten, pflegebedürftigen Menschen verraten: Sprachlich sind die oben zitierten Verniedlichungen dabei in den weiteren Kontext des „Elderspeak“ einzuordnen, d. h. solcher Sprechweisen, die sich häufig in intergenerationalen Beziehungen nachweisen lassen und mit negativen Vorurteilen sowie einer schlechteren Pflege und Versorgung betroffener Menschen assoziiert sein können.Footnote 36 Typische Elemente von „Elderspeak“ sind dabei „inappropriate use of diminutives, collective pronouns, and tag questions as well as exaggerated prosody, reduced fluency, lower grammatical complexity, and simplified vocabulary“Footnote 37, d. h. letztlich solche, die auch in der Kommunikation gegenüber Kindern Anwendung finden.

Tatsächlich besteht eine Form der Demütigung, die nach Margalit besonderer Aufmerksamkeit bedarf, in dem Infantilisieren von erwachsenen Personen(gruppen): Zwar kann man „gewiß nicht sagen, in unserer Kultur würden die Erwachsenen die Kinder als subhumane Wesen behandeln“Footnote 38, jedoch kann es trotzdem eine demütigende bzw. dehumanisierende Behandlung von erwachsenen Menschen sein, „wenn man sich zu ihnen benimmt, als wären sie Kinder, die niemals erwachsen werden und für ihre Handlungen nicht verantwortlich zu machen sind“Footnote 39. Dass ein solches Infantilisieren sich negativ auf die pflegerische Beziehung auswirkt, liegt auf der Hand; es sei daran erinnert, dass Kitwood unter dem Phänomen der malignen Sozialpsychologie (3.1.3) auch die Kategorie des Infantilisierens aufführt. Dabei definiert Kitwood das Infantilisieren als „jemanden sehr väterlich bzw. mütterlich autoritär behandeln, etwa wie ein unsensibler Elternteil dies mit einem sehr kleinen Kind tun würde“Footnote 40. Dass eine solche ‚elterliche‘ Haltung auch und gerade in paternalistischen Handlungen zum Vorschein tritt, legt sich schon von der Etymologie des Begriffs her nahe (lat. pater = Vater).

Sind damit die Risiken falsch verstandener Fürsorge bzw. paternalistischer Haltungen aufgezeigt, so ist doch noch keine genauere Orientierung gewonnen, unter welchen Umständen Paternalismus ethisch gerechtfertigt sein kann. Dazu gilt es zunächst, das Spannungsfeld von Autonomie und Paternalismus in Grundzügen zu skizzieren. Seinem historischen Ursprung gemäß bezeichnete Autonomie (von gr. autos = selbst und nomos = Gesetz) zunächst einen politischen Status der griechischen Polis, sich selbst verwalten und eigene Gesetze geben zu dürfen.Footnote 41 Mit der zunehmenden Erkenntnis der menschlichen Personalität übertrug sich dieser politische Begriff vom Staat auf das Individuum und wurde vor allem mit Kant „[a]uf seinen eigentlichen ethischen Kern […] transparent, mit dem der Autonomiegedanke ins Zentrum der Moralphilosophie rückt“Footnote 42. Kant war es auch, der in diesem Kontext im Deutschen erstmals den Begriff der Selbstbestimmung verwendete, der besonders geeignet ist, Aspekte der „Selbsterkenntnis“ (Bestimmung im Sinne des Sich-Definierens) und Aspekte der „Selbstbeherrschung“ (Bestimmung als Sich-selbst-Gesetze-Geben) abzudecken.Footnote 43 Da Kant unter Autonomie im engen Sinne die Selbstgesetzgebung der praktischen Vernunft nach Maßgabe des kategorischen Imperativs versteht,Footnote 44 zieht der Deutsche Ethikrat im Kontext der Thematik des wohltätigen Zwangs in professionellen Sorgebeziehungen vor, den Terminus „Autonomie“ entweder in einem allgemeineren Sinn zu verwenden oder durchgehend den Begriff „Selbstbestimmung“ anzusetzen, um Missverständnisse zu vermeiden.Footnote 45 In der nachfolgenden Darstellung wird Autonomie in einem allgemeinen und mit „Selbstbestimmung“ synonymen Sinn verwendet, der zunächst keiner bestimmten ethischen Tradition verpflichtet ist.

Als Antonym der Autonomie bezeichnet nun der Begriff der Heteronomie (von gr. heteros = anders) die Fremdbestimmung. Dabei kann dieselbe im Kontext professioneller Sorgebeziehungen die Form des Paternalismus annehmen, bei der die betroffene Person zu ihrem eigenen Wohl bevormundet wird. Paternalismus in solchen Kontexten äußert sich – um eine Formel Rehbocks aufzugreifen – demnach darin, dass man „primär das Wohl, nicht den Willen des Patienten [bzw. allgemeiner des Betroffenen] im Auge hat“Footnote 46. Mit einer klassischen Unterscheidung der Ethik kann Paternalismus darüber hinaus in einen weichen und einen harten Paternalismus unterschieden werden:

Weich sei paternalistisches Handeln dann, wenn der Akteur mit der Zustimmung des Adressaten rechnen könnte, sofern dieser aktuell zu einer freiverantwortlichen Entscheidung bzw. Willensbildung fähig wäre. Zwar mag der Adressat paternalistischer Handlungen sehr wohl gewisser Grade von Selbstbestimmung fähig sein, die sich in spezifischen Situationen in Gestalt des natürlichen Willens äußern. Gleichwohl reichen die kognitiven oder volitiven Fähigkeiten noch nicht, grundsätzlich nicht oder nicht mehr aus, um in der jeweiligen Situation eine im Vollsinn freiverantwortliche Entscheidung zu treffen. Auch dann sind diese Erscheinungsformen selbstbestimmter Entscheidungen jedoch zu achten, haben allerdings nicht dieselbe Dignität freiverantwortlicher Entscheidungen. Hart dagegen sei ein paternalistisches Handeln, wenn es sich über eine freiverantwortliche und in diesem Sinn gänzlich selbstbestimmte Entscheidung des Adressaten hinwegsetzt.Footnote 47

Aus dieser Unterscheidung ergibt sich wiederum – folgt man dem Deutschen Ethikrat – eine gestufte Kriteriologie für die Bewertung paternalistischer Handlungen: Ist eine Person nicht mehr eindeutig zu freiverantwortlichen Entscheidungen fähig wie im Falle der obigen Fallkonstellationen a) und b), so kann eine wohltätige Zwangsmaßnahme als weichpaternalistische Handlung unter Umständen moralisch gerechtfertigt sein. Wesentlich schwerer lässt sich demgegenüber eine wohltätige Zwangsmaßnahme rechtfertigen, wenn dem Betroffenen unzweifelhaft Freiverantwortlichkeit zukommt wie in Fallkonstellation c), da es sich hier um harten Paternalismus handeln würde.Footnote 48 Daher gilt, dass die „entscheidende Schwelle zwischen weichem und hartem Paternalismus, welche die ersten beiden Fallkonstellationen von der dritten abgrenzt, […] das Vorliegen einer freiverantwortlichen Entscheidung“Footnote 49 darstellt.

Welche Implikationen ergeben sich nun für die vorliegende Thematik? Ist mit der Feststellung, dass es sich bei FeM in den meisten Fällen aufgrund der unklaren Freiverantwortlichkeit von Menschen mit Demenz um weichpaternalistische Handlungen handelt, gleichzeitig gesagt, dass sich diese umso einfacher rechtfertigen lassen? Diese Frage ist eindeutig zu verneinen. Mit Rehbock kann festgehalten werden,

dass die Paternalismusproblematik im Gegenteil sich gerade dann am stärksten und brennendsten stellt, wenn ein Mensch nicht in der Lage ist, sich über seine Situation klar zu werden, seinen Willen zu artikulieren, eigenständige Entscheidungen zu fällen, für seine Interessen einzutreten usw. Solche asymmetrischen Situationen der Schwäche und Unterlegenheit begünstigen die Gefahr paternalistischen Handelns, da sie dieses scheinbar rechtfertigen und zugleich den Betroffenen hindern, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Das lässt sich freilich nur zeigen, wenn Paternalismus […] als eine Form der Fürsorge für das Wohl eines Menschen ohne Rücksicht auf seinen Willen verstanden wird. So verstanden ist Paternalismus unter keinen Umständen moralisch zu rechtfertigen, also nicht normativ neutral. Fürsorge […] hat nicht nur das Wohl, sondern immer auch den Willen eines Menschen zu achten. Es mag im Einzelfall sehr schwierig sein, diesen Willen zu erkennen, wenn eine („kompetente“) Willensäußerung nicht möglich ist. Gleichwohl ist auch der Wille von schwer psychisch oder geistig kranken, ja sogar von komatösen und toten Menschen zu achten.Footnote 50

Besondere Aufmerksamkeit verdient hier die Formulierung „Form der Fürsorge für das Wohl eines Menschen ohne Rücksicht auf seinen Willen“, da Rehbock somit aufzeigt, dass es prinzipiell von dem Wohlbegriff abhängt, wie fürsorgliches paternalistisches Handeln in Einzelfällen ethisch gerechtfertigt wird. Tatsächlich ist die Frage zu stellen, ob der Begriff des Wohls sich überhaupt losgelöst von der – wenn auch eingeschränkten – Autonomie der betroffenen Person bestimmen lässt.

Das Konzept des Wohls, das von zentraler Bedeutung für die ethische (sowie im Übrigen auch rechtliche) Bewertung von FeM ist, lässt sich in eine objektive und eine subjektive Komponente ausdifferenzieren. Traditionell wird das Wohl des Menschen dabei zunächst ausgehend von objektiven Kriterien definiert und an die Wahrung der Menschenrechte, die Gewährleistung basaler Grundbedürfnisse und die Abwehr von Schädigungen der Integrität der Person geknüpft.Footnote 51 Dabei ist bereits mit dem Verhindern von Schädigung die Notwendigkeit verbunden, eine Differenzierung der verschiedenen Schäden vorzunehmen, die sich aus einer Situation ergeben und im unterschiedlichen Maße eine paternalistische Handlung rechtfertigen können. An erster Stelle sind dabei unmittelbar lebensbedrohliche körperliche Schäden zu nennen: Bedeutet der abzuwendende Schaden für die betroffene Person eine Lebensgefahr, so ist es nicht nur erlaubt, sondern unter Umständen gar geboten, ihn vor diesem zu schützen.Footnote 52 Im Falle von FeM ist eine solche Situation weniger in Fällen bspw. auffordernder Verhaltensweisen gegeben, sondern vor allem dann, wenn es etwa im intensivmedizinischen Kontext um die Sicherung medizinischer Vorrichtungen wie z. B. Sonden und venöser Zugänge geht, durch deren Manipulation oder Entfernung sich ein Mensch mit Demenz in Lebensgefahr begäbe. Gleichzeitig ist der Schadensbegriff jedoch zu weiten, um kognitive, soziale und affektive Kompetenzen miteinzubeziehen: In Pflegesituationen, in denen dieselben auf eine ähnlich substanzielle Weise gefährdet sind, wäre unter Umständen ebenfalls paternalistisch einzugreifen.Footnote 53 Schwieriger gestaltet sich die Bewertung bei Schäden, die zunächst keine existenzielle Gefahr für den Betroffenen darstellen: Den betroffenen Menschen „von solchen Schädigungen mit den Mitteln des Zwangs abzubringen, könnte selbst andere erhebliche Schäden, zum Beispiel der Selbstachtung (‚sekundäre Vulnerabilität‘ […]), verursachen.“Footnote 54 Vor dem Hintergrund der weitreichenden Konsequenzen von FeM, die bereits dargestellt wurden (siehe Abschn. 2.9), ist demnach die Frage zu stellen, ob nicht ein Teil der FeM, die bei einer vermeintlichen oder tatsächlichen Sturzgefahr oder bei aufforderndem Verhalten Anwendung finden, Schäden dieser dritten Kategorie betreffen und damit schwierig zu rechtfertigen sind.

Den obersten objektiven Orientierungsrahmen bildet bei alledem die Würde der Person mit den daraus erwachsenen moralischen AnsprüchenFootnote 55 – man könnte mit Blick auf die vorliegende Arbeit auch sagen: die Anerkennung der Personalität und Vulnerabilität des Menschen. Gleichzeitig hat sich jedoch bereits gezeigt, dass eine solche Achtung immer auch die Achtung der Autonomie des Menschen mit Demenz einschließt, woraus sich wiederum die Notwendigkeit ergibt, das Konzept des Wohls auch von subjektiven Kriterien aus zu denken.

Tatsächlich ist bezüglich der subjektiven ‚Seite‘ des Wohles zu betonen, dass „keine Bestimmung des Wohl-Begriffs zu überzeugen [vermag], in der nicht auch das subjektive Selbsterleben des Betroffenen […] maßgeblich berücksichtigt wird. Daher sollte das Wohl […] immer vom Betroffenen her bestimmt werden“Footnote 56. Die Autonomie des betroffenen Menschen ist, so kann mit Bezug auf die obigen Ausführungen Rehbocks ausgedrückt werden, explizit mit in die Bestimmung des Wohls aufzunehmen, von dem her sich die paternalistische Handlung rechtfertigt. Für die ethische Bewertung von FeM bei Menschen mit Demenz ergibt sich daraus die Konsequenz, dass auch und gerade ihre eingeschränkt vorhandene bzw. zum Ausdruck kommende Autonomie einen Maßstab des fürsorglichen Handels professionell Pflegender darstellt.

Wird Autonomie als eine beziehungslose Autarkie und Unabhängigkeit des Subjekts verstanden, das sich in uneingeschränkter Freiheit selbst bestimmt, so erscheint es auf den ersten Blick schwierig, Menschen mit einer weit fortgeschrittenen Demenzerkrankung noch Autonomie zuzuschreiben. Jedoch gilt es, zu reflektieren, ob es Menschen prinzipiell überhaupt möglich ist, in einem solchen absoluten Sinne autonom zu sein. In diesem Zusammenhang hält Remmers fest:

Needing the assistance of others represents a fundamental situation of human beings. No person is able to lead an autonomous life without having ever experienced help, support, and encouragement (as a baby, child, adolescent). In the first place, reciprocal dependencies are characteristic of the social existence of humans.Footnote 57

Übereinstimmend formuliert der Deutsche Ethikrat:

Auch das gehört zu einem gehaltvollen Verständnis von Autonomie: Sie darf nicht mit normativer oder sozialer Bindungslosigkeit verwechselt werden. Autonomie ist vielmehr die selbstbestimmte und selbstverantwortete Lebensgestaltung eines Menschen inmitten jener Lebensbeziehungen, innerhalb deren er überhaupt erst er selbst werden kann.Footnote 58

Es lässt sich also die Frage formulieren: Ist Autonomie überhaupt unabhängig von den Beziehungen zu denken, in denen sich der Mensch aufgrund seiner prinzipiellen Vulnerabilität (siehe Abschn. 3.2.1) immer schon wiederfindet? An dieser Stelle soll vor dem Hintergrund dieser Fragestellung der Versuch unternommen werden, sich der Autonomie von Menschen mit Demenz – selbstverständlich weit entfernt von einer erschöpfenden Analyse dieses komplexen Themenbereichs – anzunähern.

Um dem Umstand Rechnung zu tragen, dass sich Autonomie stets in zwischenmenschlichen Beziehungen ereignet, bietet sich das Konzept der sog. relationalen Autonomie an, das ursprünglich der feministischen Ethik entstammt: Das Attribut der Relationalität weist dabei darauf hin, dass die Bezogenheit auf andere bzw. den Anderen der Autonomie nicht per se abträglich ist, sondern vielmehr den ‚Ort‘ bildet, an dem sich diese verwirklicht.Footnote 59 Darüber hinaus ist damit auch die Erkenntnis verbunden, dass Autonomie kein Absolutum darstellt, sondern „eine fließende Größe, die in den unterschiedlichen Sphären des Lebens mitunter sehr unterschiedlich verstanden werden kann“Footnote 60. Für das hohe Lebensalter kann durch diesen graduellen Charakter des Konzepts ein weitaus konkreteres Autonomieverständnis erreicht werden, das dem Umstand gerecht wird, dass das Autonomie- und Würdeerleben eines Menschen nicht nur von dessen körperlichen oder kognitiven Integrität abhängt, sondern besonders von den sozialen Beziehungen, in denen derselbe Anerkennung erfährt. Autonomie und Würde sind nicht nur als Abstraktum festzustellen bzw. anzuerkennen – sie ‚wollen‘ konkret und in zwischenmenschlichen Beziehungen gelebt und vollzogen werden.Footnote 61 Im Falle professioneller Sorgebeziehungen bedeutet dies, dass besonders die Beziehungsdimension von Pflege sowie die Frage institutioneller Rahmenbedingungen in den Blick kommt, da sich relationale Autonomie nur innerhalb derselben verwirklichen kann.Footnote 62 Die Kompatibilität dieses Autonomieverständnisses mit dem beziehungszentrierten Pflegeansatz von Nolan et al. (siehe Abschn. 3.2.4) wird somit unmittelbar deutlich.Footnote 63

Legt man ein relationales Autonomieverständnis als ethischen Maßstab an die Frage wohltätiger Zwangsmaßnahmen an, so gewinnen damit all jene Formen der Willensartikulation an Bedeutung, die zwar nicht im vollen Sinne den obigen Kriterien der Freiverantwortlichkeit entsprechen, jedoch trotzdem als auf ihre Weise autonom wahrgenommen und anerkannt werden sollten.Footnote 64 Dies erlaubt auch eine Neukonzeptualisierung der Fürsorge, die nun sozusagen in den Dienst relationaler Autonomie genommen werden kann:

Fürsorge würde dann im Dienst des Gelingens von Autonomie in einem umfassenden Sinne stehen. Fürsorge erscheint dann oftmals im Modus der Assistenz: Es geht, dieser Sichtweise folgend, immer dann um die Unterstützung bei der Ausübung persönlicher Autonomie („assistierte Autonomie“), wenn die mitunter anspruchsvollen Voraussetzungen autonomer Entscheidungen noch nicht, derzeit nicht, nicht mehr oder über die ganze Lebensspanne hinweg in keinem eigentlich erforderlichen Maß vorliegen.Footnote 65

Der Begriff der assistierten Autonomie ist dabei besonders geeignet, die Form der Fürsorge anzusprechen, die mit Heidegger als vorspringend-befreiende Fürsorge charakterisiert wurde. Bereits in seiner Stellungnahme Demenz und Selbstbestimmung hatte der Deutsche Ethikrat im Jahr 2012 herausgestellt, dass ein solches Verständnis – hier auch als „assistierte Selbstbestimmung“Footnote 66 bezeichnet – besonders in professionellen Sorgebeziehungen mit Menschen mit Demenz seine Anwendbarkeit erweist. Eine Pflegekultur, die sich u. a. nach dem Grundsatz ausrichtet, der Autonomie des Menschen mit Demenz zu assistieren, wird sich auch mit einer erhöhten Achtsamkeit weniger deutlichen Signalen derselben zuwenden:

Wie man die Äußerungen eines Menschen mit Demenz auffasst, bestimmt den Umgang professioneller Begleiter mit ihm. Es ist ein grundsätzlicher und erheblicher Unterschied, ob eine Äußerung bezüglich einer medizinischen oder pflegerischen Maßnahme als Wahrnehmung des Selbstbestimmungsrechts respektiert oder lediglich als Hinweis auf eine Stimmungslage des Betroffenen gewertet wird, der im Rahmen eines therapeutischen Umgangs gegebenenfalls übergangen werden kann.Footnote 67

Ist somit ein Weg aufgezeigt, wie sich die Autonomie von Menschen mit Demenz konzeptualisieren lässt, so ist damit zugleich ein Hinweis darauf gegeben, wie man dieselbe in Situationen, die eine FeM zu erfordern scheinen, wahrnehmen und (an)erkennen kann: Mittels einer achtsamen Haltung, die im Verhalten und Ausdruck des Betroffenen die Mitteilung einer vulnerablen Form der Autonomie sieht. Damit rückt konsequenterweise erneut die Leiblichkeit des Menschen in das Zentrum der Überlegungen.

4.2.3 Die leiblich vermittelte Autonomie von Menschen mit Demenz

„[V]on einer Würdigung der Leiblichkeit kann erst dann gesprochen werden, wenn sie integriert wird in das Verständnis von Autonomie und den Vorgang der Selbstbestimmung des Menschen.“Footnote 68 Es hat sich aus der vorangegangenen Analyse des Spannungsfeldes zwischen Autonomie und Paternalismus ergeben, dass besonders bei Menschen mit einer weit fortgeschrittenen Demenzerkrankung, deren autonome Willensbildung bzw. -äußerung an sich eingeschränkt bzw. schwer zu ermitteln ist, leibliche, häufig nonverbale Manifestationen von Autonomie in den Fokus gerückt werden sollten. Zu diesem Zweck gilt es zunächst, das Verhältnis zwischen menschlicher Freiheit bzw. Autonomie auf der einen und menschlicher Leiblichkeit auf der anderen Seite genauer zu betrachten, um daraufhin ethische Implikationen dieses Sachverhaltes für die Bewertung der Anwendung von FeM in professionellen Sorgebeziehungen abzuleiten.

Wie sich bereits gezeigt hat, fungiert der menschliche Leib auf eine Weise, die von sich aus jede dualistische Reduktion verbietet, als Medium des menschlichen Selbst- und Welterlebens (siehe Abschn. 3.1.2) sowie der zwischenmenschlichen Begegnung (siehe Abschn. 3.2.3); darüber hinaus ist jedoch auch das Phänomen der Freiheit bzw. der Autonomie ohne eine Reflexion auf den Leib als vermittelndes Medium kaum greifbar. Das menschliche Leben und Erleben ereignet sich nicht in einem sozusagen ‚luftleeren‘ Raum des Denkens, sondern immer in der leiblichen Integration in eine Um- und Mitwelt: Als Lebewesen weist der Mensch ein „Innen“ auf, das sich immer schon leiblich nach „außen“ ausdrückt und manifestiert. Damit geht einher, dass etwa die Bewegung eines Leibes im Vergleich zu der Bewegung unbelebter Körper nicht ausschließlich durch das Wirken äußerer Faktoren und physikalischer Kräfte zu erklären ist; vielmehr gilt für den Leib, dass er sich aus einer bestimmten inneren Intention des Handelnden heraus bewegt:Footnote 69

Während das Wirken physikalischer Kräfte per definitionem ziel- und bedeutungslos ist, bewegt sich der Leib zielgeleitet. […] Intentionalität umfasst […] nicht nur bewusste Akte des Wissens, Wollens und Urteilens, sondern jede Form zielgeleiteten Verhaltens. Durch den Leib vollzieht sich eine Bewegung auf die Welt zu, die ihrerseits zur Stütze der Bewegung wird. Dadurch gewinnt alles, was geschieht, eine spezifische Bedeutung, die das Verhalten bestimmt. Als Ausdruck des Inneren ist der Leib die Vermittlung zur Welt.Footnote 70

Um die Metapher des Außen und Innen aufzugreifen, kann also gesagt werden, dass der Leib in der Wahrnehmung als Vermittlung äußerer Erscheinungen an das Innenleben der Person dient, während er in der intentionalen Handlung als Vermittlung zwischen der inneren Intention und der Außenwelt fungiert. Der Leib dient somit nicht nur als Wahrnehmungs-, sondern auch als Handlungsmedium.Footnote 71 Um diese Seiten bzw. Aspekte des Leibes zum Ausdruck zu bringen, lässt sich angelehnt an Husserl von dem ästhesiologischen Leib und dem Willensleib sprechen.Footnote 72 Illustrieren lässt sich die Vermittlung des Willensleibes dabei bspw. an der Eigenbewegung, da etwa die Entscheidung, sich an einen bestimmten Ort zu begeben, erst durch den Leib verwirklicht werden kann. Mit Husserl kann der Leib hier ebenfalls als „Umschlagstelle von geistiger Kausalität in Naturkausalität“Footnote 73 charakterisiert werden, insofern – um bei dem Beispiel zu bleiben – die geistige Entscheidung zur Eigenbewegung durch den Leib in die kausalen, biologisch-physiologischen Prozesse ‚übersetzt‘ wird, die von außen als die physikalische Bewegung des Körpers beschreibbar sind:Footnote 74

[D]ie Person wirkt auf den Leib, indem sie ihn bewegt und der Leib wirkt auf andere Dinge der Umwelt, die Person wirkt dabei durch den Leib auf diese Dinge als Dinge der Umwelt. Das freie Bewegen meines Leibes und mittelbar anderer Dinge ist ein Wirken auf die Natur, insofern als das umweltliche Leibesding zugleich bestimmbar ist als naturwissenschaftliches Ding. Die Wirkung des Geistes auf den Leib und des Leibes auf andere Dinge vollzieht sich als geistige in der geistigen Umwelt. Aber vermöge des hier waltenden Entsprechens vollziehen sich auch Änderungen in der Natur und im physikalischen Sinn.Footnote 75

Was bereits für jede Eigenbewegung gilt, bedeutet wiederum in der Konsequenz, dass sich menschliche Freiheit und Autonomie erst in diesem Medium des Leibes konkretisieren bzw. verwirklichen kann, denn „[e]s ist diese Leiblichkeit, in deren Vollzug das Seelisch-Geistige erst wirklich wird […], in der es erst Gestalt und Wirkmacht, Tatsächlichkeit erhält“Footnote 76. Mithilfe einer aus der Theologie entlehnten Metapher kann diese Vermittlung sogar als eine Art ‚Inkarnation‘, d. h. ‚Fleischwerdung‘ bzw. Verleiblichung der Freiheit gedeutet werden: „[I]n der leiblichen Gestalt [...] eines Menschen liegt selbst die Möglichkeit und in zunehmendem Maß die Verwirklichung, die Inkarnation seiner personalen Freiheit. Die Person realisiert sich nur durch ihren Leib […].“Footnote 77 Eine weitere Metapher, die Splett in diesem Kontext entwickelt, um sich dem Sachverhalt zu nähern, ist diejenige des Leibs als Symbol:

Symbol ist […] Selbstvollzug, Selbstsetzung eines Seienden im anderen: sein Sich-Ausdrücken, darin es selber wirkend erst zu sich selbst kommt und in neuem Maße wirklich wird. […] Ursymbol ist für uns derart der menschliche Leib, in dem die Person sich zur Mitwelt hin aussagt […] und sich so erscheinend verwirklicht. […] Vollzug im Vollsinn (nicht bloß Geschehen, sondern Tat) ist Freiheitsvollzug, Selbstsetzung von Freiheit. In diesem Sinn sind Symbole „mehr“ als ihre physisch fassliche Realität. Doch sind sie zugleich auch „weniger“ als das, was sie „eigentlich“ meinen, was weniger sie ausdrücken, als dass es sich in ihnen ausdrückt: die (sich) symbolisierende Freiheit.Footnote 78

Wenn sich die Freiheit des Menschen solchermaßen „symbolisch“ in dessen Leiblichkeit verwirklicht und ausdrückt, so bedeutet dies wiederum aus Perspektive der Ethik, dass sich auch die moralischen Ansprüche der Person auf keine Weise von deren Leib(lichkeit) trennen lassen:

Als Verwirklichungsort der Freiheit ist der Leib auch Träger und Versichtbarung der Würde des Menschen. So lässt sich aus der Menschenwürde eine eigene Würde des Leibes ableiten, die sich z. B. in dem Recht auf körperliche und seelische (man könnte auch zusammenfassend sagen leibliche) Unversehrtheit niederschlägt – ja, strenggenommen sind diese „zwei Würden“ gar nicht voneinander zu trennen. So erscheint es verkürzt zu sagen, man schade durch körperliche oder seelische Gewalt lediglich dem Leib einer Person und nicht der Person selbst.Footnote 79

Mit dem von Fuchs entlehnten Begriff der Würde des Leibes wird dabei zum Ausdruck gebracht, dass sich die Menschenwürde in einer Form der leiblichen Souveränität äußert, in der der Mensch frei über seinen Leib verfügt und dies etwa im aufrechten Gang, im gemessenen Schritt, in Mimik sowie Gestik, aber auch in der Kontrolle der Ausscheidungen und der Körperpflege zum Ausdruck bringt.Footnote 80 Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass Würdeverletzungen vor allem in der Erniedrigung oder Brechung dieser leiblichen Souveränität durch Dritte bestehen können. Durch solche Handlungen wird dem Menschen die inhärente Würde zwar nicht genommen – denn dies bleibt aufgrund der unveräußerlichen Personalität des Menschen unmöglich (siehe Abschn. 3.1.1) –, jedoch wird sie gleichsam daran gehindert oder darin eingeschränkt, sich leiblich zu manifestieren.Footnote 81 Mit Fuchs ist dementsprechend festzuhalten, dass neben Gewalthandlungen als solchen eine besonders massive Würdeverletzung darin besteht, die freie Verfügung einer Person über ihren Leib zu entziehen und somit ihre leibliche Souveränität zu brechen.Footnote 82 An dieser Stelle sei noch einmal an Margalit erinnert, der die Freiheitsbegrenzung als Form der Demütigung auf eine ähnliche Weise – wenn auch ohne die Leiblichkeit im selben Maße zu betonen – schildert: „Wenn man die Freiheit eines anderen beschneidet und ihm mit entsprechenden Gesten deutlich macht, daß er die Kontrolle über sich weitgehend verloren hat, kann dies bedeuten, seine Menschlichkeit zu leugnen.“Footnote 83

Im Falle von Menschen mit Demenz könnte in diesem Kontext ein Einwand lauten, dass die Freiheit bzw. Autonomie der Betroffenen besonders in späten Stadien einer Demenzerkrankung so weitgehend beeinträchtigt sein dürfte, dass eine Einschränkung derselben etwa durch FeM nicht vergleichbar schwer wiegen würde wie im Falle unzweifelhaft freiverantwortlicher Personen. Jedoch geht eine solche Position nicht nur von einem fragwürdigen Konzept der Autonomie aus, in dem diese häufig als völlige Unabhängigkeit und Autarkie gedacht wird (siehe Abschn. 4.2.2), sie bleibt durch ihre Engführung von kognitiven Fähigkeiten und Autonomie auch letztlich einem dualistischen Verständnis der Person (siehe Abschn. 3.1.2) verhaftet. Gegen einen einseitigen Autonomiebegriff, der die Relationalität und Gradualität von Autonomie verkennt sowie gegen einen einseitigen Personbegriff, der den leiblichen Aspekt der Person verkennt, ist nochmals zu betonen, dass sich in leiblichen Vollzügen von Menschen mit Demenz – wenn auch fragmentiert – ihre Autonomie ausdrückt. Ein Ruf, eine abwehrende Geste, die Abwendung des Blicks, das Rütteln an einem aufgestellten Bettgitter, ein versuchtes Aufstehen aus dem Bett – dies sind keine ‚Symptome‘ einer Krankheit, sondern leiblicher Ausdruck einer auf ihre Weise autonomen Person. Husserls nachfolgende allgemeine Charakterisierung, wie sich Personalität und Wille eines Menschen leiblich manifestieren, greift also auch bei dem Menschen mit Demenz:

Was nun die Personen anbelangt, die uns in der Gesellschaft gegenüberstehen, so sind für uns ihre Leiber natürlich […] anschaulich gegeben und damit in eins ihre Personalität. Aber wir finden da nicht zwei äußerlich miteinander verflochtene Sachen: Leiber und Personen. Wir finden einheitliche Menschen, die mit uns verkehren, und die Leiber sind mit in der menschlichen Einheit. In ihrem anschaulichen Gehalt – im Typischen der Leiblichkeit überhaupt, in vielen von Fall zu Fall wechselnden Besonderungen: des Mienenspiels, der Geste, des gesprochenen „Wortes“, seines Tonfalls usw. – drückt sich das geistige Leben der Personen, ihr Denken, Fühlen, Begehren, ihr Tun und Lassen aus. Desgleichen auch schon ihre individuelle geistige Eigenart […]. Ich höre den Anderen sprechen, sehe sein Mienenspiel […] und lasse mich dadurch so und so bestimmen. Das Mienenspiel ist gesehenes Mienenspiel und ist unmittelbarer Sinnesträger für das Bewußtsein des Anderen, darunter z. B. für seinen Willen, der […] charakterisiert ist als wirklicher Wille dieser Person und als an mich durch seine Mitteilung adressierter Wille.Footnote 84

In diesen leiblichen Manifestationen des Menschen u. a. in Gestik und Mimik ist somit, um erneut mit Lévinas zu sprechen, das Antlitz des Anderen in seiner Vulnerabilität und mit dem unmittelbar aus derselben hervorgehenden ethischen Anspruch präsent (siehe Abschn. 3.2.3).

Für die Bewertung von FeM bei Menschen mit Demenz in professionellen Sorgebeziehungen lassen sich aus diesen Überlegungen verschiedene ethische Implikationen ableiten. Zunächst bedeutet dies im positiven Sinn, dass in der professionellen Sorge alle Anstrengungen darauf zu richten sind, die leiblich vermittelte Autonomie von Menschen mit Demenz zu erkennen bzw. anzuerkennen und sie im Sinne relational-assistierter Autonomie in ihrer Verwirklichung zu unterstützen. Dies beginnt bereits mit der Erkenntnis, dass Menschen mit Demenz vor allem in frühen und mittleren Stadien der Erkrankung oftmals – nicht zuletzt aufgrund des Leibgedächtnisses (siehe Abschn. 3.1.2) – noch zu vielfachen Tätigkeiten der Selbstsorge fähig sind:

Die allgemeine Tendenz zu einer düsteren Prognose der Demenz legt die Annahme nahe, dass alle Menschen mit Demenz nicht mehr in der Lage sind, ihre Bedürfnisse auszudrücken, und nur noch passive Objekte von Entscheidungen und Maßnahmen anderer darstellen. Doch gerade das Leibgedächtnis mit seinen Ressourcen trägt in früheren und mittleren Stadien der Demenz auch wesentlich dazu bei, dass Betroffene ihr Leben und ihre Umwelt noch aktiv zu gestalten, ja sogar eine Kultur der Selbstsorge zu entwickeln vermögen.Footnote 85

In dem Maße, in dem die Fähigkeit zur Selbstsorge im Krankheitsverlauf ggf. nachlässt, ist der professionell Sorgende entsprechend dazu verpflichtet, den Sorgeadressaten bei der eingeschränkten Ausübung seiner Autonomie zu unterstützen – bereits beginnend bei der leiblichen Selbstkultivierung und alltäglichen Verrichtungen. Damit wird im Übrigen auch die ethische Tiefendimension vermeintlich trivialer grundpflegerischer Tätigkeiten deutlich: Sie ermöglichen es, die leibliche Souveränität eines Menschen zu erhalten und zu fördern, der nur noch eingeschränkt dazu im Stande ist, diese auszuüben. Zugleich ist damit jedoch auch negativ eine ethische Grenze aufgezeigt, die FeM oftmals zu überschreiten drohen, denn „[i]n dem Maße, in dem eine feM in die leiblich manifeste Freiheit des Menschen mit Demenz eingreift, spitzt sich auch die Gefahr der Brechung der leiblichen Souveränität zu“Footnote 86.

Diese Gefahr soll abschließend an einer Erscheinungsform von FeM erörtert werden, die auf den ersten Blick aufgrund ihrer vermeintlich sanften Wirkung wenig mit einer solchen Brechung zu tun zu haben scheint, sich jedoch bei genauerem Hinsehen als besonders problematisch erweist: die Verabreichung von Psychopharmaka mit dem Primärziel der Ruhigstellung. Dass an diese immer noch recht verbreitete Art von FeM „wegen der besonderen Eingriffstiefe […] sowohl an die konkrete Diagnose, Indikationsstellung und Dosierung als auch an die regelmäßige Überprüfung der Notwendigkeit einer Fortsetzung […] besonders strenge Sorgfaltskriterien anzulegen“Footnote 87 sind, ist bereits mit Blick auf ihre möglichen Konsequenzen für die Betroffenen deutlich geworden (siehe Abschn. 2.5 und 2.9): So ist bspw. die Verabreichung von Neuroleptika an Menschen mit Demenz mit ernstzunehmenden extrapyramidalen, kardialen und orthostatischen Nebenwirkungen, zerebrovaskulären Ereignissen, einer beschleunigten kognitiven Verschlechterung sowie einer erhöhten Sturzgefahr und einem erhöhten Mortalitätsrisiko assoziiert.Footnote 88 Es droht also, wie bereits dargelegt, ein Teufelskreis, insofern Psychopharmaka sowohl Mitursache von als auch Reaktion auf bestimmte Risiken wie vor allem die Sturzgefahr darstellen können.

Über diese grundsätzliche pflegefachliche sowie ethische Fragwürdigkeit hinaus ist die medikamentöse Ruhigstellung auch noch aus weiteren Gründen ethisch reflexionsbedürftig. Insofern sich ähnlich problematische kausale Zusammenhänge etwa auch bei mechanischen FeM nachweisen lassen – z. B. im Fall von aufgestellten Bettgittern, die die Sturzgefahr unter Umständen erhöhen –, besteht darin an sich noch kein besonderer Unterschied zu anderen Formen der Freiheitseinschränkung. Die Berücksichtigung des Konzepts der Leiblichkeit kann hier dazu dienen, genauer zu bestimmen, worin der spezifische ethische Unterschied zwischen medikamentösen und anderen Formen von FeM liegt: Zunächst einmal erscheint die Ruhigstellung durch Psychopharmaka als ein geringerer Eingriff in die Freiheit (und besonders die psychophysische Integrität) des betroffenen Menschen als mechanische FeM wie z. B. körpernahe Fixierungen. Mit dem Terminus „chemische Fixierung“, der im fachwissenschaftlichen Diskus oftmals für die medikamentöse FeM Verwendung findet, wird jedoch bereits angedeutet, dass auch hier eine Form der tief(er)greifenden Fixierung des Menschen stattfindet: Das verwendete Psychopharmakon bleibt dem Menschen nicht wie eine körpernahe oder körperferne mechanische FeM ‚äußerlich‘, sondern dringt durch seine Wirkung – sowohl wörtlich als auch im übertragenen Sinn – in das Innere des Menschen ein. Durch die Trübung des Bewusstseinszustandes, die bis zur Sedierung reichen kann, wird nicht nur der Körper einer Person affiziert, sondern die Person als leibliche, psychophysische Einheit. Besonders durch die Sedierung wird dabei letztlich die Vermittlungsfunktion des Leibes aufgehoben oder zumindest gehemmt: der Leib kann – um erneut mit Husserl zu sprechen – nun nicht mehr als Umschlagstelle geistiger Kausalität in Naturkausalität fungieren, da dem Menschen die freie Verfügung über den eigenen Leib genommen wird:Footnote 89 „Die Freiheit der betroffenen Person, die sich besonders in der Leiblichkeit und hier noch einmal in hoch individueller Art und Weise im Leibgedächtnis zu erkennen geben möchte, wird an ihrer Verwirklichung gehindert.“Footnote 90 Auch mechanischen Erscheinungsformen von FeM eignet selbstverständlich der Charakter, dem leiblichen Vollzug der Freiheit Grenzen zu setzen, jedoch sind diese im Falle pharmakologischer FeM sozusagen enger gezogen, insofern nun nicht mehr nur die Willensausübung, sondern durch die Bewusstseinsveränderung auch noch zusätzlich die Willensbildung der Person erschwert oder gar verunmöglicht wird. Wird etwa ein ‚verhaltensauffälliger‘ Mensch mit Demenz durch die vorübergehende Sedierung ‚chemisch fixiert‘, so nimmt man ihm den Raum, seine Autonomie im Rahmen seiner Möglichkeiten leiblich auszudrücken. Auch wenn der Leib des Menschen durch die Sedierung selbstverständlich nicht aufhört, Leib zu sein, so ist doch mit diesem medikamentösen Eingriff auf ihn eine gewisse Korporifizierung gegeben, in der der menschliche Leib zu einem bloßen Körper als Objekt paternalistischen medizinisch-pflegerischen Handelns reduziert wird.

Eine Reflexion der leiblichen Vermittlung menschlicher Autonomie kann also, so ist zusammenfassend herauszustellen, konkret greifbar machen, dass sich die Spannung zwischen Autonomie und Paternalismus nicht nur in der Theorie abspielt, sondern unmittelbar am und im Leib des Menschen mit Demenz bzw. in der zwischenleiblichen Beziehung zwischen diesem und dem professionell Sorgenden. Negativ formuliert stellt die leibliche Souveränität des Menschen dabei die ethische Grenze des pflegerischen Handelns dar, was besonders in der Thematik der Anwendung von FeM seine Bedeutung bewiesen hat. Gleichzeitig eröffnet dies jedoch positiv den Raum, in dem die spezifische Art und Weise des Menschen mit Demenz, innerhalb seiner Möglichkeiten seinen Bedürfnissen und Wünschen leiblich Ausdruck zu verleihen, vonseiten Pflegender anerkannt, erkannt und unterstützt werden kann.

4.3 Zwischenfazit

Die Grundlagen eines ethisch sowie pflegefachlich fundierten und reflektierten Umgangs mit FeM bei Menschen mit Demenz bestehen – so hat sich in diesem letzten Kapitel der Arbeit erwiesen – letztlich vor allem in einer Konkretion aller vorangegangenen Grundlagen und Überlegungen: Die Anerkennung der Personalität und der Vulnerabilität von Menschen mit Demenz drückt sich in Pflegesituationen, die aus verschiedenen Gründen die Intervention mittels einer FeM zu erfordern scheinen, konkret in der Achtung und dem Schutz von dessen Freiheit und Autonomie aus. Es war die Intention dieses Kapitels, zu analysieren, was dieser Anspruch näher bedeutet und wie er sich im Hinblick auf die verschiedenen ethischen Kategorien, die durch FeM berührt werden, entfalten lässt.

Den Startpunkt dieser Analyse bildeten die fünf Kriterien des Deutschen Ethikrats für die ethische Zulässigkeit wohltätiger Zwangsmaßnahmen, die in der ein oder anderen Weise bereits wiederholt in der Arbeit anklangen (man denke an den Begriff der ultima ratio), jedoch noch nicht in einer Gesamtschau thematisiert worden waren. Angelehnt an den Deutschen Ethikrat wurden dabei das Selbstbestimmungskriterium (1), das Angemessenheitskriterium (2), das Nichtschadenskriterium (3), das Kriterium des letztmöglichen Mittels (4) sowie schließlich das Kriterium des mutmaßlichen Willens (5) unterschieden. Die Einführung dieser Kriterien sollte dabei nicht als thetische Setzung missverstanden werden, vielmehr ergeben sich diese aus den vorangegangenen Erkenntnissen des Kapitels 2 auf der einen und den ethischen Prinzipien aus Kapitel 3 auf der anderen Seite.

Sicherlich nicht zufällig steht an erster Stelle dieser Kriterien das 1) Selbstbestimmungskriterium, das besagt, dass wohltätige Zwangsmaßnahmen dazu dienen sollen, die selbstbestimmte Lebensführung und Alltagsgestaltung der pflegebedürftigen Person zu erhalten, zu fördern oder wiederherzustellen. Auch für FeM gilt also, dass sie sich diesem Ziel unterzuordnen haben, das im Rahmen professioneller Sorgebeziehungen übergeordnet verfolgt wird. Tatsächlich ist dieses Kriterium auf den ersten Blick überraschend: Nicht das psychophysische Wohl, das allgemein an der ersten Stelle von Begründungsansätzen für FeM steht, wird hier betont, sondern die Autonomie der Person. Damit ist das psychophysische Wohl zugleich nicht ausgeblendet, da es als notwendige Bedingung der Möglichkeit von Selbstbestimmung mitangesprochen ist, jedoch deutet sich hier bereits eine Fokusverschiebung an, die im Laufe dieses Kapitels noch ausführlicher entwickelt wurde.

Das 2) Angemessenheitskriterium bildet des Weiteren den sozusagen instrumentellen Aspekt der Thematik ab und formuliert die Grundregel, dass die jeweilige wohltätige Zwangsmaßnahme eine spezifische Eignung für den jeweiligen Einzelfall aufweisen und notwendig sein muss, um die selbstbestimmte Lebensführung der Person (sowie die anderen Kriterien) sicherzustellen. Diesem Kriterium entspricht dabei im rechtlichen Kontext ungefähr das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Für die Problematik von FeM ist aus dem Angemessenheitskriterium unmittelbar abzuleiten, dass eine besondere Aufmerksamkeit auf die Prüfung milderer oder alternativer Mittel verwendet werden sollte; zudem ist bei FeM genau zu prüfen, ob diese den versprochenen Nutzen auch tatsächlich garantieren können. Dass dies in vielen Fällen fragwürdig sein dürfte, ist dabei etwa mit einem Blick auf das Thema Sturzprävention klar, insofern die Effizienz von FeM hier (nach wie vor) nicht nachgewiesen ist.

Mit Blick auf die vielen negativen Folgen körperlicher, psychischer oder sozialer Art, die mit FeM assoziiert sein können, gewinnt sodann das 3) Nichtschadenskriterium an Relevanz, das formuliert, dass die Zwangsmaßnahme, die einen Schaden abwenden soll, keine anderen unangemessenen oder gar irreversiblen Schäden auslösen darf. In diesem Kriterium wird noch einmal vor Augen geführt, welche konkreten Folgen die Reflexion der primären und sekundären Vulnerabilität des Menschen (mit Demenz) für die ethische Bewertung von wohltätigen Zwangsmaßnahmen hat. Für FeM ist dabei festzuhalten, dass sich damit auch das Aufwiegen verschiedener Schadensarten verbietet, insofern FeM nun nicht bspw. mit dem Vorrang des körperlichen vor dem psychischen Wohl begründet werden können. Ethisch verbietet sich ein solches Inkaufnehmen bzw. Auslösen sekundärer Vulnerabilität zugunsten einer Prävention primärer Vulnerabilität. FeM kommen – wie wohltätige Zwangsmaßnahmen überhaupt – nur als ultima ratio in Frage, wie das 4) Kriterium des letztmöglichen Mittels festhält. Zwangsmaßnahmen stellen aufgrund ihres schwerwiegenden Charakters prinzipiell zu rechtfertigende Eingriffe in die Freiheit des Menschen dar, die deswegen zusätzlich zu den bereits genannten Kriterien nur dann in Frage kommen, wenn alle möglichen Alternativmaßnahmen und milderen Mittel erwogen und erprobt wurden.

Ein letztes Kriterium bildet das 5) Kriterium des mutmaßlichen Willens, das zugleich eine Heuristik an die Hand gibt, wie in Situationen zu Verfahren ist, in denen der Wille einer betroffenen Person nicht eindeutig zu ermitteln ist. An dieser Stelle sind alle Hinweise zu berücksichtigen, die Kenntnis darüber liefern könnten, wie die Person – wäre sie zu einer selbstverantwortlichen Entscheidung fähig – zu der Maßnahme stünde. Dabei kann etwa die hypothetische Frage hilfreich sein, ob der Betroffene bei Kenntnis um das durch die Maßnahme angezielte Wohl durch seine Zustimmung den Zwangscharakter derselben aufhöbe. Vor allem einer achtsamen und fortlaufenden Biografiearbeit sowie der Ermöglichung von Fallbesprechungen unter Einbeziehung An- und Zugehöriger, rechtlicher Betreuer und/oder Bevollmächtigter kommt dabei eine zentrale Rolle zu. Zugleich sollte dieses Kriterium im Rahmen dieser Arbeit bewusst nicht allzu stark gewichtet werden, da sich mit einer Überbetonung eines hypothetisch formulierten mutmaßlichen Willens die Gefahr verbinden könnte, tatsächlich noch vorhandene Ressourcen des Menschen mit Demenz zur Willensbildung und Willensbekundung zu übersehen bzw. zu verkennen und zu vorschnell zu paternalistischen Entscheidungen über den mutmaßlichen Willen einer Person zu gelangen. In dieser Hinsicht kann sich vor allem das Selbstbestimmungskriterium als Orientierungspunkt anbieten.

Ein Motiv, das sich wie ein roter Faden durch diese Kriteriologie ebenso wie durch einen Großteil der Arbeit zieht, ist dabei die Einzelfallabhängigkeit: Selbstbestimmung, Angemessenheit, Nichtschaden, ultima-ratio-Charakter und mutmaßlicher Wille lassen sich nur in dem je individuellen Fall genauer fassen. Dabei sollte diese Einzelfallabhängigkeit jedoch nicht dazu führen, die Frage nach allgemeingültigen Kriterien abzutun, die in allen Einzelfällen jeweils Anwendung zu finden haben. Neben den bereits dargelegten gewissermaßen inhaltlichen Kriterien, bedeutet dies auch, dass gewisse formale, verfahrensbezogene Kriterien einzuhalten sind: Dies beginnt bereits mit der Forderung, dass wohltätige Zwangshandlungen sich nach dem aktuellen Stand der fachlichen Erkenntnisse zu richten haben, und reicht bis hin zu der Forderung einer präzisen Erfassung der je individuellen Pflegesituation, die ein Assessment aller in Frage kommenden alternativen Maßnahmen einschließt. Auch die Einbeziehung von An- und Zugehörigen bzw. rechtlichen Betreuern oder Bevollmächtigten sowie die Forderung einer umfassenden, kontinuierlichen Überwachung, Dokumentation und Evaluation der FeM und ihrer Anwendung konnte in diesem Kontext noch einmal unterstrichen werden.

Über die Anwendung dieser Kriterien hinaus bedurfte es zur ethischen Bewertung von FeM noch einer vertieften Analyse ihrer spezifischen Handlungsstruktur im Spannungsfeld zwischen Autonomie und Paternalismus. Der normative Anspruch der Anerkennung sowie des Schutzes der Freiheit von Menschen mit Demenz lässt sich nur begründen, indem diese Freiheit selbst genauer in den Blick genommen wird. In einem ersten Schritt wurde zu diesem Zweck ein genauerer Begriff der Freiheit sowie der Freiverantwortlichkeit erarbeitet, da diese als Ausgangspunkt der Analyse dienen sollten. Freiheit ist zunächst in Anlehnung u. a. an Berlin in einem doppelten Sinn aufzufassen: Negative Freiheit bezeichnet dabei die Freiheit von etwas, während positive Freiheit die Freiheit zu etwas erfasst. In der Anwendung dieser Unterscheidung auf die Thematik von FeM ergab sich dabei die Beobachtung, dass FeM besonders häufig unter den Vorzeichen der negativen Freiheit betrachtet und beleuchtet werden (und dies durchaus zurecht, da sie zuvorderst eine Beeinträchtigung derselben darstellen) und weniger vor dem Hintergrund positiver Freiheit. Es kann an dieser Stelle ebenfalls ertragreich sein, die Frage zu stellen, welche positiven Freiheiten (etwa zur Bewegung o. ä.) die Person mit Demenz aufweist und wie eine Alternative zu FeM vor allem darin bestehen kann, diese positive Freiheit zu erkennen und zu ihrer Verwirklichung beizutragen. Aus diesen Überlegungen ergibt sich sodann ein besonderes Augenmerk auf der freien Selbstbestimmung der Person und der Frage, wie FeM diese betreffen können.

Der menschlichen Selbstbestimmung bzw. Autonomie kommt ihrem Wesen nach eine besondere Rolle in der ethischen Beurteilung von FeM zu. Dies ist auch deshalb paradox, da zugleich festgehalten werden muss, dass schon die Frage, ob Menschen etwa mit einer weit fortgeschrittenen Demenz noch autonom sind, nicht ohne Weiteres eindeutig beantwortbar erscheint. Fasst man Autonomie von ihrer ‚höchsten‘ Form her auf, die mit dem Deutschen Ethikrat mit dem Begriff der Freiverantwortlichkeit zu fassen ist, so besteht diese in einem Wissen um die Folgen und Nebenfolgen einer beabsichtigen Handlung, dem Wollen oder Inkaufnehmen dieser Folgen und Nebenfolgen vor dem Hintergrund der eigenen fundamentalen Lebensoptionen sowie dem Wählenkönnen zwischen realen Alternativen von Handlungsoptionen. Auch wenn Menschen mit Demenz hoch individuelle Biografien und Krankheitsverläufe aufweisen, so ist angesichts eines solchermaßen aufgefassten Konzepts der Freiverantwortlichkeit vor allem bei späten Stadien einer Demenzerkrankung in Frage zu stellen, ob die betroffenen Menschen aufgrund ihrer kognitiven Einbußen noch freiverantwortlich sind bzw. handeln können. Vor allem FeM finden in professionellen Sorgebeziehungen gerade dann Anwendung, wenn die Freiverantwortlichkeit des Handelns eines Menschen mit Demenz gerade nicht mehr eindeutig feststellbar ist. Die Hürde, die die Freiverantwortlichkeit eines Menschen mit Demenz für wohltätige Zwangsmaßnahmen darstellt – es sei an den Deutschen Ethikrat erinnert, der die Fallkonstellationen a) „unzweifelhaft nicht freiverantwortlich“, b) „zweifelhaft freiverantwortlich“ und c) „unzweifelhaft freiverantwortlich“ unterscheidet –, ist also nur von begrenzter Anwendbarkeit für die Thematik von FeM bei Menschen mit Demenz. Auch die eng mit der Frage der Freiverantwortlichkeit verknüpfte ethische Unterscheidung zwischen einem harten Paternalismus, der sich über den unzweifelhaft autonomen Willen einer Person hinwegsetzt und einem weichen Paternalismus, bei dem der betroffene Mensch nicht im Vollsinn autonom ist, kann die vorliegende Problematik noch nicht eindeutig erhellen: In den meisten Fällen wird es sich bei der Anwendung von FeM bei Menschen mit einer weit fortgeschrittenen Demenz um Formen bzw. Maßnahmen des weichen Paternalismus handeln, jedoch sind diese deswegen noch nicht notwendigerweise ethisch gerechtfertigt.

Tatsächlich hat sich gezeigt, dass die damit aufgeworfene Problematik des Spannungsfeldes zwischen Autonomie und Paternalismus sich auch oder gerade dann besonders virulent stellt, wenn Menschen nicht mehr den hohen Anforderungen für Freiverantwortlichkeit entsprechen können und in ihrer Autonomie eingeschränkt sind. Mit der Feststellung der tatsächlich oder vermeintlich nicht (mehr) vorhandenen Freiverantwortlichkeit ist also nicht jede weitere ethische Erwägung ausgeschlossen: Vielmehr gebietet sich gerade aufgrund der Vulnerabilität von Menschen mit Demenz eine besondere Sorgfalt und Achtsamkeit in der Anerkennung ihrer eingeschränkten Autonomie. FeM stellen auch bzw. gerade bei Personen, die nur eingeschränkt selbstbestimmt sind, einen paternalistischen Eingriff in deren Autonomie dar, der prinzipiell der ethischen Rechtfertigung bedarf. Um dies besser zu fassen, wurde der Versuch unternommen, zunächst den in FeM impliziten Paternalismus genauer darzustellen und daraufhin die spezifische Autonomie von Menschen mit Demenz zu untersuchen.

Zunächst ist besonders die Intention paternalistischen Handelns in den Blick zu nehmen: Hier konnte mithilfe von Heideggers Unterscheidung von einspringend-beherrschender und vorspringend-befreiender Fürsorge beschrieben und anhand von Phänomenen wie infantilisierender Elderspeak illustriert werden, dass es eine Fürsorge geben kann, die den Willen des Anderen bevormundend substituiert, aber auch umgekehrt eine Fürsorge, die dem Anderen, der in der Verwirklichung seiner Selbstbestimmung eingeschränkt ist, bei derselben unterstützt. Erstere ist zwar häufig positiv intendiert, da sie auf das Wohl des Betroffenen abzielt, jedoch lässt sich hier eine falsch verstandene Fürsorge vermuten, besonders dann, wenn bei den solchermaßen fürsorglich Handelnden defizitorientierte Altersbilder vorherrschen.

Eine nähere Bestimmung des Wohlbegriffs kann hier helfen, Klarheit zu gewinnen. Zusätzlich zu einem objektiven Wohlverständnis, das in dem Vermeiden von verschiedenen Schäden für Leib und Seele (die wiederum eine differenzierte Abstufung von lebensbedrohlichen zu weniger bedrohlichen Schädigungen erlauben) die Garantie für das Wohl eines Menschen sieht, ist hier auch die subjektive Seite des Wohls einer Person zu berücksichtigen: Tatsächlich ist die Autonomie des betroffenen Menschen explizit mit in die Bestimmung des Wohls aufzunehmen, von dem her sich die paternalistische Handlung rechtfertigt. Für die ethische Bewertung von FeM bei Menschen mit Demenz folgt daraus, dass auch und gerade ihre eingeschränkt vorhandene bzw. zum Ausdruck kommende Autonomie einen Maßstab des fürsorglichen Handels professionell Pflegender darstellt.

Auf welche Weise Menschen auch in späten Stadien einer Demenzerkrankung noch Freiheit und Autonomie zuzusprechen sind, wurde abschließend aufgezeigt, indem die Gradualität, Relationalität und zuletzt die leibliche Vermitteltheit von Autonomie analysiert wurden, woraus sich wiederum ethische Implikationen für die Anwendung von FeM ergaben. Denkt man Autonomie nicht als losgelöste Autarkie, die nur sozusagen ‚ganz oder gar nicht‘ vorliegt, sondern legt ein graduales und relationales Konzept der Autonomie als ethischen Maßstab an, so gewinnen damit all jene Formen der Willensartikulation von Menschen mit Demenz an Bedeutung, die zwar nicht im vollen Sinne den Kriterien der Freiverantwortlichkeit entsprechen mögen, jedoch trotzdem als auf ihre Weise autonom anerkannt werden sollten. Aus dieser Erkenntnis heraus lässt sich weiterhin eine Neukonzeptualisierung der Fürsorge vornehmen, die nun sozusagen in den Dienst relationaler Autonomie genommen werden kann – man kann mit dem Deutschen Ethikrat geradezu von assistierter Autonomie sprechen. Ist mithilfe der Konzeptionen relationaler und assistierter Autonomie aufgezeigt, wie sich die Autonomie von Menschen mit Demenz begrifflich fassen lässt, so ist damit zugleich ein Hinweis darauf gegeben, wie man dieselbe in Situationen, die eine FeM zu erfordern scheinen, wahrnehmen und (an)erkennen kann: Es bedarf hier einer achtsamen Haltung, die im leiblichen Verhalten und Ausdruck des Betroffenen die Mitteilung einer vulnerablen Form der Autonomie wahrnimmt. Damit rückt – wie auch in der Reflexion auf die Personalität und die Vulnerabilität des Menschen – die Leiblichkeit in das Zentrum der Überlegungen. Erkennt man in dem Leib nicht nur das Wahrnehmungsmedium, durch das die Außenwelt sich dem Inneren des Menschen erschließt, sondern ebenso das Handlungsmedium, durch das der Mensch seinen inneren Willen in eine äußere Tat verwirklichen kann, so wird deutlich, dass der Leib geradezu die Manifestation, die Versichtbarung und letztlich die Verwirklichung menschlicher Freiheit darstellt. Der Leib stellt, mit Husserl gesprochen, die Umschlagstelle dar, an der die Willenskausalität des Menschen in die äußere Naturkausalität umschlägt und sich in dieser verwirklicht.

Ob man das Verhältnis mit der Metapher der Inkarnation oder mit der Metapher des Symbols belegt: In jedem Fall gilt, dass sich die Freiheit und Autonomie des Menschen durch die Vermittlung des Leibes ausdrückt. Ethisch ist mit dieser aus der Leibphänomenologie abgeleiteten Erkenntnis wiederum verbunden, dass die Leiblichkeit von Menschen mit Demenz als der ‚Ort‘ entdeckt wird, an dem sich ihre Freiheit und Autonomie zeigt. Besonders die leibliche Souveränität als Versichtbarung der Würde des Leibes, die sich in der Mimik und Gestik, aber auch in der Selbstkultivierung und in alltäglichen Verrichtungen ausdrückt, gewinnt hier an Relevanz: Pflegerisches Handeln sollte darauf gerichtet sein, in diesen Handlungen den leiblichen Ausdruck des Willens einer Person zu erkennen bzw. im Sinne assistierter Autonomie dort zu ermöglichen, wo er aufgrund der Pflegebedürftigkeit einer Person nur noch eingeschränkt möglich ist. In dem Maße, in dem die Fähigkeit zur Selbstsorge im Krankheitsverlauf unter Umständen nachlässt, ist entsprechend der professionell Sorgende dazu verpflichtet, den Sorgeadressaten bei der eingeschränkten Ausübung seiner Autonomie zu unterstützen. Damit ist ein genaueres Verständnis davon gewonnen, worin konkret die Anerkennung und der Schutz der leiblich vermittelten Freiheit einer Person besteht.

Umgekehrt bedeutet dieser Fokus auf der Leiblichkeit als Freiheitsvermittlung jedoch auch, dass manche Erscheinungsformen von FeM einer Neubewertung unterzogen werden müssen, wie am Schluss des Kapitels anhand pharmakologischer FeM argumentiert wurde: Auf den ersten Blick scheint die Verabreichung von Medikamenten mit dem Primärziel der Ruhigstellung besonders im Vergleich zu anderen Erscheinungsformen von FeM eine geringere Eingriffstiefe aufzuweisen. Jedoch konnte durch die Analyse der Leiblichkeit gezeigt werden, dass eine solche Maßnahme dem Menschen nicht wie eine körpernahe oder körperferne mechanische FeM ‚äußerlich‘ bleibt, sondern bis in das Innere des Menschen eindringt. Durch die Sedierung bspw. wird letztlich die Vermittlungsfunktion des Leibes aufgehoben oder zumindest gehemmt: der Leib kann nun nicht mehr als Umschlagstelle geistiger Kausalität in Naturkausalität fungieren, da dem Menschen die freie Verfügung über den eigenen Leib genommen wird. Dies reicht sogar noch weiter, insofern nicht nur die Willensausübung, sondern bereits die Willensbildung durch eine Sedierung verunmöglicht werden kann. Dieses Beispiel illustriert also abschließend, welche weitreichenden ethischen Implikationen die Anerkennung der leiblich vermittelten Freiheit von Menschen mit Demenz als Grundlage eines ethisch-fachlich fundierten Umgangs mit FeM hat.